Language of document : ECLI:EU:C:2012:213

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

19. April 2012(*)

„Richtlinie 2008/7/EG – Indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital – Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und 6 Abs. 1 Buchst. e – Geltungsbereich – Jährliche Abgabe an die örtlichen Kammern für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft“

In der Rechtssache C‑443/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG und Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Cosenza (Italien) mit Entscheidungen vom 5. November 2009 und 13. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 13. November 2009 und 20. September 2010, in dem Verfahren

Camera di Commercio, Industria, Artigianato e Agricoltura (CCIAA) di Cosenza

gegen

Grillo Star Srl, in Insolvenz,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters J. Malenovský, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis und D. Šváby (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Oktober 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Camera di Commercio, Industria, Artigianato e Agricoltura (CCIAA) di Cosenza, vertreten durch O. Morcavallo und F. Sciaudone, avvocati,

–        der Grillo Star Srl, vertreten durch R. Mastroianni, avvocato,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigten,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Aresu und M. Afonso als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Januar 2012

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und 6 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2008/7/EG des Rates vom 12. Februar 2008 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 46, S. 11).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen des Verfahrens zur Feststellung der Verbindlichkeiten der Grillo Star Srl (im Folgenden: Grillo Star), über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet ist, durch den für Insolvenzsachen zuständigen Richter des Tribunale di Cosenza, der über die Anmeldung einer Forderung der Camera di Commercio, Industria, Artigianato e Agricoltura di Cosenza (Kammer für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft Cosenza, im Folgenden: CCIAA di Cosenza) zu befinden hat, die sich daraus ergibt, dass Grillo Star für das Jahr 2009 nicht die von jedem im Unternehmensregister eingetragenen oder aufgeführten Unternehmen geschuldete jährliche Abgabe (im Folgenden: jährliche Abgabe) gezahlt hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 2 („Kapitalgesellschaft“) der Richtlinie 2008/7 lautet:

„(1)      Kapitalgesellschaften im Sinne dieser Richtlinie sind

a)      jede Gesellschaft, die eine der im Anhang aufgeführten Formen aufweist;

b)      jede Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristische Person, deren Kapital- oder Vermögensanteile in einem der Mitgliedstaaten börsenfähig sind;

c)      jede Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristische Person mit Erwerbszweck, deren Mitglieder berechtigt sind, ihre Anteile ohne vorherige Genehmigung an Dritte zu veräußern, und deren Mitglieder für Schulden der Gesellschaft, Personenvereinigung oder juristischen Person nur bis zur Höhe ihrer Beteiligung haften.

(2)      Für die Zwecke dieser Richtlinie werden den Kapitalgesellschaften alle anderen Gesellschaften, Personenvereinigungen oder juristischen Personen gleichgestellt, die einen Erwerbszweck verfolgen.“

4        Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erheben von Kapitalgesellschaften keinerlei indirekten Steuern auf

c)      die der Ausübung einer Tätigkeit vorangehende Eintragung oder sonstige Formalität, der eine Kapitalgesellschaft auf Grund ihrer Rechtsform unterworfen werden kann;

…“

5        In Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Unbeschadet von Artikel 5 dürfen die Mitgliedstaaten folgende Abgaben und Steuern erheben:

e)      Abgaben mit Gebührencharakter;

…“

 Nationales Recht

6        In ihrer Fassung vor der Neufassung durch Art. 1 Abs. 19 des Decreto legislativo n. 23 recante riforma dell’ordinamento relativo alle camere di commercio, industria, artigianato e agricoltura, in attuazione dell’articolo 53 della legge 23 luglio 2009, n. 99 (Gesetzesdekret Nr. 23 über die Neuordnung der Kammern für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft zur Umsetzung von Art. 53 des Gesetzes Nr. 99 vom 23. Juli 1999) vom 15. Februar 2010 (GURI Nr. 46 vom 25. Februar 2010, S. 1), in Kraft getreten am 12. März 2010, waren folgende innerstaatlichen Bestimmungen auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar.

 Codice Civile

7        Mit Art. 2188 Abs. 1 des italienischen Zivilgesetzbuchs (Codice Civile, im Folgenden: CC) wurde das Unternehmensregister eingeführt, in das sich nach Art. 2195 CC alle Industrie-, Handels- und Finanzunternehmen unabhängig davon, ob sie als Einzelunternehmen oder als Gesellschaft geführt werden, und gemäß Art. 2200 CC insbesondere Gesellschaften und Genossenschaften, auch wenn sie keine geschäftliche Tätigkeit ausüben, einzutragen haben.

 Gesetz Nr. 580/1993 mit Durchführungsvorschriften

8        Nach Art. 8 Abs. 1 und 2 der Legge n. 580 recante riordinamento delle camere di commercio, industria, artigianato e agricoltura (Gesetz Nr. 580 über die Neuordnung der Kammern für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft) vom 29. Dezember 1993 (Supplemento ordinario alla GURI Nr. 7 vom 11. Januar 1994, im Folgenden: Gesetz Nr. 580/1993) ist die Führung des Unternehmensregisters den Kammern für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft übertragen.

9        Art. 18 Abs. 3 bis 5 des Gesetzes Nr. 580/1993 regelt, wie die jährliche Abgabe berechnet wird.

10      Das Decreto del Ministro dello Sviluppo economico – Determinazione delle misure del diritto annuale dovuto per l’anno 2009, dalle imprese alle camere di commercio (Dekret des Ministers für Wirtschaftsentwicklung über die Festlegung der Höhe der jährlichen Abgabe, die die Unternehmen den Handelskammern für das Jahr 2009 schulden) vom 30. April 2009 (GURI Nr. 114 vom 19. Mai 2009, S. 37) legt die Höhe der jährlichen Abgabe für das im Ausgangsverfahren maßgebliche Jahr fest. Die Abgabe beläuft sich auf einen Pauschalbetrag von 200 Euro für Unternehmen mit einem Umsatz von weniger als 100 000 Euro; liegt der Umsatz höher, wird die Abgabe stufenweise als Prozentsatz vom Umsatz des betroffenen Unternehmens festgelegt.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11      Mit Urteil vom 29. April 2009 erklärte die Insolvenzabteilung des Tribunale di Cosenza Grillo Star für zahlungsunfähig und eröffnete das Verfahren über die Aufnahme der Gläubiger in die Insolvenztabelle gemäß Art. 93 des Insolvenzgesetzes.

12      Im Rahmen dieses Verfahrens meldete die CCIAA di Cosenza am 4. Juni 2009 eine Forderung in Höhe von 200 Euro zuzüglich 113,39 Euro wegen der jährlichen Abgabe für das Jahr 2009 zur Insolvenztabelle an.

13      Der für Insolvenzsachen zuständige Richter des Tribunale di Cosenza, der über die Anmeldung dieser Forderung zur Insolvenztabelle von Grillo Star zu befinden hat, zweifelt an der Vereinbarkeit der italienischen Regelung über die Festlegung der jährlichen Abgabe mit der Richtlinie 2008/7.

14      Er verweist hierzu auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere auf die Urteile vom 20. April 1993, Ponente Carni und Cispadana Costruzioni (C‑71/91 und C‑178/91, Slg. 1993, I‑1915), vom 2. Dezember 1997, Fantask u. a. (C‑188/95, Slg. 1997, I‑6783), und vom 10. September 2002, Prisco und CASER (C‑216/99 und C‑222/99, Slg. 2002, I‑6761), in denen definiert wird, wann die Abgaben, die die Mitgliedstaaten aufgrund der in Art. 12 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25) vorgesehenen und im Wesentlichen in Art. 6 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2008/7 übernommenen Ausnahmeregelung erheben dürfen, Gebührencharakter haben. Der für Insolvenzsachen zuständige Richter neigt der Auffassung zu, dass der jährlichen Abgabe ein solcher Gebührencharakter fehle, da ihre Berechnung nicht an die Kosten der Dienstleistung anknüpfe, die den Unternehmen in Bezug auf die Aufrechterhaltung ihrer Eintragung in das von den Kammern für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft geführte Register erbracht werde.

15      Der für Insolvenzsachen zuständige Richter des Tribunale di Cosenza hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Laufen die Kriterien für die Festlegung der jährlichen Abgabe gemäß Art. 18 Buchst. b des Gesetzes Nr. 580/1993, wie sie in dessen Abs. 3, 4, 5 und 6 vorgesehen sind, der Richtlinie 2008/7 zuwider, weil sie verhindern, dass die jährliche Abgabe unter die in Art. 6 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie vorgesehene abweichende Regelung fällt?

2.      Insbesondere:

–        Hat eine jährliche Abgabe, bei deren Festlegung auf den „Bedarf für die Erbringung der Dienstleistungen“ abgestellt wird, „die das System der Handelskammern im gesamten Staatsgebiet zu erbringen hat“, Gebührencharakter?

–        Bewirkt der Umstand, dass ein „Ausgleichsfonds“ vorgesehen ist, der dazu dient, eine gleichmäßige Erfüllung aller den Handelskammern durch Gesetz übertragenen Verwaltungsaufgaben im gesamten Staatsgebiet zu erreichen, dass die jährliche Abgabe keinen Gebührencharakter hat?

–        Ist die den einzelnen Handelskammern übertragene Befugnis, die jährliche Abgabe um bis zu 20 % zu erhöhen, um Initiativen zur Steigerung der Produktion und zur Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen in ihrem Gebiet mitzufinanzieren, mit dem Gebührencharakter dieser Abgabe vereinbar?

–        Steht es der Feststellung des Gebührencharakters der jährlichen Abgabe entgegen, dass die Bestimmung des Bedarfs der Handelskammern hinsichtlich der Verwaltung und der Aktualisierung der Eintragungen und Nennungen im Unternehmensregister nicht genau geregelt ist?

–        Ist es mit dem Gebührencharakter der Abgabe vereinbar, dass diese pauschal festgelegt wird und keine Regelung über die Überprüfung der Angemessenheit dieser Abgabe in „regelmäßigen Abständen“ im Hinblick auf die durchschnittlichen Kosten der Dienstleistungen existiert?

16      Hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2008/7 auf die jährliche Abgabe hat der für Insolvenzsachen zuständige Richter des Tribunale di Cosenza es für erforderlich erachtet, seine Vorlageentscheidung vom 5. November 2009 um folgende Fragen zu ergänzen:

1.      Läuft die Verpflichtung einer Kapitalgesellschaft, die keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt – und eine solche Tätigkeit niemals ausgeübt hat – und sich somit als „untätig“ erweist, zur Zahlung der jährlichen Abgabe der Richtlinie 2008/7 zuwider?

2.      Läuft die konstitutive Natur der Eintragung der sich konstituierenden Unternehmen in das Unternehmensregister, die in der italienischen nationalen Rechtsordnung zwingend mit dem Erwerb der Rechtspersönlichkeit der Kapitalgesellschaften verknüpft ist, und folglich die Zahlung der damit verbundenen „jährlichen Abgabe“ der genannten Richtlinie zuwider?

17      Im Anschluss an diese ergänzende Vorlageentscheidung hat der Präsident des Gerichtshofs mit Beschluss vom 20. Oktober 2010 die Wiedereröffnung des schriftlichen Verfahrens angeordnet.

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

18      Die CCIAA di Cosenza macht im Wesentlichen geltend, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vorliegenden Vorabentscheidungsfragen unzuständig sei, da der für Insolvenzsachen zuständige Richter des Tribunale di Cosenza nicht als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden könne. Hierzu führt sie aus, dass das Verfahren vor diesem Richter nicht zu einer Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter führe. Der betreffende Richter sei im Wesentlichen damit befasst, das Verfahren zur Feststellung der Verbindlichkeiten zu beaufsichtigen und seinen ordnungsgemäßen Ablauf zu kontrollieren, indem er jede Anmeldung einer Forderung ganz oder teilweise zulasse, zurückweise oder für unzulässig erkläre. Außerdem sei der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens vor einem solchen Richter in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt.

19      Grillo Star hingegen trägt vor, dass das von dem für Insolvenzsachen zuständigen Richter durchgeführte Verfahren Rechtsprechungscharakter aufweise, da er nach den italienischen Rechtsvorschriften zur Aufgabe habe, über jede Anmeldung zur Insolvenztabelle mit Gründen versehene Entscheidungen zu fällen, und diese Entscheidungen, wenn sie nicht angefochten würden, in Rechtskraft erwüchsen und für die Beteiligten verbindlich seien. Außerdem ergehe die Entscheidung des für Insolvenzsachen zuständigen Richters nach einer mündlichen Verhandlung, an der teilzunehmen die Beteiligten ein Recht hätten und zu der sie geladen würden.

20      Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung zur Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne des Art. 267 AEUV handelt, auf eine Reihe von Merkmalen abstellt, wie z. B. gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (vgl. Urteil vom 14. Juni 2011, Miles u. a., C‑196/09, Slg. 2011, I‑5105, Randnr. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Zudem können die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (Beschluss vom 24. März 2011, Bengtsson, C‑344/09, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Handelt das vorlegende Organ als Verwaltungsbehörde, ohne dass es gleichzeitig einen Rechtsstreit im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheiden hat, kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass es eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt (Beschluss Bengtsson, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Hier ergibt sich aus den von Grillo Star bestätigten Angaben der CCIAA di Cosenza, dass der für Insolvenzsachen zuständige Richter die Aufgabe hat, auf der Grundlage einer vom Verwalter der insolventen Gesellschaft vorbereiteten vorläufigen Insolvenztabelle auf Antrag der Gläubiger festzustellen, welche Forderungen in diese Tabelle aufgenommen werden. Ferner ergibt sich aus dem Insolvenzgesetz, dass sowohl der Verwalter als auch die anderen Beteiligten befugt sind, vor dem für Insolvenzsachen zuständigen Richter der bei diesem vorgenommenen Anmeldung einer Forderung durch einen Gläubiger entgegenzutreten. Schließlich ist festzustellen, dass, wenn kein Widerspruch eingelegt wird, die Entscheidung dieses Richters, mit der die Eintragung einer Forderung in die Insolvenztabelle zurückgewiesen wird, verbindliche Rechtswirkungen erzeugt.

24      Zudem haben, wie die Generalanwältin in Nr. 19 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, der Verwalter und die Gläubiger Gelegenheit, schriftlich und mündlich vor dem für Insolvenzsachen zuständigen Richter Stellung zu nehmen.

25      Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass der für Insolvenzsachen zuständige Richter des Tribunale di Cosenza im Sinne des Unionsrechts keine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter zu fällen hat, um einen Rechtsstreit im Rahmen eines streitigen Verfahrens zu entscheiden.

26      Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zuständig.

 Zu den Vorlagefragen

27      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/7 und insbesondere ihre Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und 6 Abs. 1 Buchst. e dahin auszulegen sind, dass sie der Erhebung einer jährlichen Abgabe wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, die von jedem Unternehmen, das in dem von den Kammern für Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft geführten Register eingetragen oder aufgeführt ist, an diese Kammern gezahlt wird.

28      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits festgestellt hat, dass Art. 12 der Richtlinie 69/335, dessen Wortlaut im Wesentlichen mit dem des Art. 6 der Richtlinie 2008/7 übereinstimmte, eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verbot von Abgaben mit denselben Merkmalen wie die Gesellschaftsteuer darstellt, das in Art. 10 der Richtlinie 69/335 aufgestellt wurde, der seinerseits im Wesentlichen in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/7 übernommen worden ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Fantask u. a., Randnr. 20).

29      Daher ist zunächst zu prüfen, ob eine jährliche Abgabe wie die im Ausgangsverfahren streitige zu einer nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/7 verbotenen Steuer gehört.

30      Dieser Artikel verbietet u. a. in Abs. 1 Buchst. c indirekte Steuern jedweder Form auf die der Ausübung einer Tätigkeit vorangehende Eintragung oder sonstige Formalität, der eine Gesellschaft aufgrund ihrer Rechtsform unterworfen werden kann.

31      Dieses Verbot ist dadurch gerechtfertigt, dass die fraglichen Steuern zwar nicht auf die Kapitalzuführungen als solche, wohl aber wegen der Formalitäten im Zusammenhang mit der Rechtsform der Gesellschaft, also des Instruments zur Kapitalansammlung, erhoben werden, so dass ihre Beibehaltung auch die Erreichung der mit der Richtlinie 2008/7 verfolgten Ziele gefährden würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juni 2007, Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft, C‑466/03, Slg. 2007, I‑5357, Randnr. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2008/7 ist grundsätzlich weit auszulegen, und zwar dahin, dass er nicht nur die formalen, der Ausübung der Tätigkeit einer Kapitalgesellschaft vorangehenden Verfahren erfasst, sondern auch die Formalitäten, die eine Bedingung für die Ausübung und Fortführung der Tätigkeit einer solchen Gesellschaft darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft, Randnr. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Allerdings ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass dieser Artikel eine Steuer, die jährlich wegen der Eintragung eines Unternehmens bei einer Industrie‑ und Handelskammer geschuldet wird, nicht verbietet, soweit die Steuerpflicht nicht durch die Eintragung der Gesellschaft oder der juristischen Person, die Inhaber eines Unternehmens ist, sondern durch die Eintragung des Unternehmens selbst ausgelöst wird, dass eine solche Steuer von der Rechtsform des Inhabers des Unternehmens unabhängig ist und dass sie daher nicht mit Formalitäten in Zusammenhang steht, denen Kapitalgesellschaften aufgrund ihrer Rechtsform unterworfen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 1996, Denkavit Internationaal u. a., C‑2/94, Slg. 1996, I‑2827, Randnrn. 24 bis 26).

34      Es ist unstreitig, dass eine jährliche Abgabe wie die im Ausgangsverfahren streitige nach den anwendbaren italienischen Rechtsvorschriften nicht durch die Eintragung der Gesellschaft oder der juristischen Person, die Inhaber eines Unternehmens ist, sondern durch die Eintragung des Unternehmens selbst ausgelöst wird. Es handelt sich um eine Abgabe, die sämtliche Einheiten mit Erwerbszweck auf der Grundlage ihres Umsatzes trifft.

35      Eine solche Abgabe ist, wie Grillo Star in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, von der Rechtsform des Inhabers des Unternehmens unabhängig, da sie gleichzeitig Unternehmen in der Form von Kapitalgesellschaften im Sinne von Art. 2 der Richtlinie 2008/7 und solche mit einer anderen Rechtsform trifft, insbesondere diejenigen, deren Inhaber natürliche Personen sind oder die von natürlichen Personen als Einzelunternehmen geführt werden (vgl. entsprechend Urteil Denkavit Internationaal u. a., Randnr. 25).

36      Wie die italienische Regierung und die Europäische Kommission zu Recht ausführen, schließt zudem die Tatsache, dass die jährliche Abgabe im Verhältnis zum Umsatz des betroffenen Unternehmens berechnet wird, aus, dass ihre Zahlung eine Formalität ist, die für ein Unternehmen, das die Rechtsform einer Kapitalgesellschaft gewählt hat, eine schwerere Belastung darstellt als für ein Unternehmen in einer anderen Rechtsform.

37      Es ist somit klar ersichtlich, dass eine jährliche Abgabe wie die im Ausgangsverfahren streitige nicht mit Formalitäten in Zusammenhang steht, denen Kapitalgesellschaften aufgrund ihrer Rechtsform unterworfen werden können.

38      Der vom vorlegenden Gericht hervorgehobene Umstand, dass die Eintragung der Kapitalgesellschaften im Unternehmensregister für Kapitalgesellschaften im Sinne des fraglichen nationalen Rechts und im Unterschied zu anderen Unternehmen konstitutive Wirkung hat, kann die in der vorstehenden Randnummer getroffene Feststellung nicht in Frage stellen. Auch wenn die Eintragung in diesem Register und folglich die Zahlung der damit verbundenen jährlichen Abgabe eine Bedingung für die rechtliche Existenz der Kapitalgesellschaften darstellt, ändert dies nämlich für sich allein nicht den diese jährliche Abgabe auslösenden Tatbestand, wie er in Randnr. 34 des vorliegenden Urteils bestimmt worden ist, und wandelt diese nicht in eine Abgabe um, die aufgrund der Eintragung der das Unternehmen besitzenden Kapitalgesellschaft geschuldet wird (vgl. entsprechend Urteil Denkavit Internationaal u. a., Randnr. 28). Darüber hinaus ist unstreitig, dass eine Kapitalgesellschaft nicht im Unternehmensregister gelöscht wird, wenn sie diese Abgabe nicht zahlt.

39      Unerheblich ist auch der von der CCIAA di Cosenza geltend gemachte Umstand, dass eine Kapitalgesellschaft wie Grillo Star eine jährliche Abgabe wie die im Ausgangsverfahren streitige selbst für den Zeitraum zahlen muss, während dessen sie keine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Nach den nationalen Rechtsvorschriften, um die es im Ausgangsverfahren geht, ist eine solche Verpflichtung für die Kapitalgesellschaften zur Entrichtung der jährlichen Abgabe nämlich durch die Vermutung gerechtfertigt, dass jede Kapitalgesellschaft grundsätzlich Inhaber eines Unternehmens ist. Insoweit hat der Gerichtshof zum einen anerkannt, dass die Definition des Unternehmensbegriffs in einem Bereich, wie er von der Richtlinie 2008/7 erfasst wird, in die Zuständigkeit des nationalen Gesetzgebers fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil Denkavit Internationaal u. a., Randnr. 31), und zum anderen, dass diese Vermutung nichts an der Feststellung ändert, dass der eine Belastung wie die jährliche Abgabe auslösende Tatbestand, wie in Randnr. 34 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens in dessen Eintragung selbst besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Denkavit Internationaal u. a., Randnr. 29).

40      Außerdem ergibt sich aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, dass eine Gesellschaft wie Grillo Star, die zumindest – u. a. durch den Erwerb von Grundstücken – Vorbereitungen zur Aufnahme eines Hotelbetriebs getroffen hat, jedenfalls nicht mit einem „Firmenmantel“ im Sinne der Randnr. 29 des Urteils Denkavit u. a. gleichgesetzt werden kann, d. h. einer Gesellschaft, die über keine Aktiva verfügt und somit keine Tätigkeit mehr ausübt.

41      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass es sich bei einer jährlichen Abgabe wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht um eine verbotene Steuer im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2008/7 handelt.

42      Es kann daher dahingestellt bleiben, ob eine solche Abgabe unter die in Art. 6 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2008/7 vorgesehene Ausnahmeregelung zu diesem Artikel fällt.

43      Folglich ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2008/7 dahin auszulegen ist, dass er einer Abgabe wie der im Ausgangsverfahren streitigen, die jährlich von jedem Unternehmen aufgrund seiner Eintragung im Unternehmensregister geschuldet wird, auch dann nicht entgegensteht, wenn eine solche Eintragung für Kapitalgesellschaften konstitutive Wirkung hat und die Abgabe von diesen Gesellschaften auch für den Zeitraum geschuldet wird, während dessen sie nur Vorbereitungen für den Betrieb eines Unternehmens treffen.

 Kosten

44      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2008/7/EG des Rates vom 12. Februar 2008 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital ist dahin auszulegen, dass er einer Abgabe wie der im Ausgangsverfahren streitigen, die jährlich von jedem Unternehmen aufgrund seiner Eintragung im Unternehmensregister geschuldet wird, auch dann nicht entgegensteht, wenn eine solche Eintragung für Kapitalgesellschaften konstitutive Wirkung hat und die Abgabe von diesen Gesellschaften auch für den Zeitraum geschuldet wird, während dessen sie nur Vorbereitungen für den Betrieb eines Unternehmens treffen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.