Language of document : ECLI:EU:C:2014:2094

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

17. Juli 2014(*)

„Vorabentscheidungsersuchen – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2003/109/EG – Art. 2, 4 Abs. 1, 7 Abs. 1 und 13 – ‚Langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU‘ – Voraussetzungen für die Gewährung – Rechtmäßiger und ununterbrochener Aufenthalt im Empfangsmitgliedstaat während der letzten fünf Jahre vor Stellung des Antrags – Person, die in einer familiären Beziehung zu dem langfristig Aufenthaltsberechtigten steht – Günstigere nationale Bestimmungen – Wirkungen“

In der Rechtssache C‑469/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Verona (Italien) mit Entscheidung vom 27. August 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 30. August 2013, in dem Verfahren

Shamim Tahir

gegen

Ministero dell’Interno,

Questura di Verona

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und B. Beutler als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch F.‑X. Bréchot und D. Colas als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Noort und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou‑Durande und A. Aresu als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 7 Abs. 1 und 13 in Verbindung mit den Art. 2 Buchst. e und 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 (ABl. L 132, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2003/109).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Tahir auf der einen Seite und dem Ministero dell’Interno (Ministerium des Innern) sowie der Questura di Verona (Quästur Verona) auf der anderen Seite über die Ablehnung eines Antrags durch Letztere, mit dem Frau Tahir die Ausstellung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU begehrte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2003/109

3        Die Erwägungsgründe 4 und 6 der Richtlinie 2003/109 lauten:

„(4)      Die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, trägt entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bei, der als eines der Hauptziele der [Union] im Vertrag angegeben ist.

(6)      Die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. Der Aufenthalt sollte rechtmäßig und ununterbrochen sein, um die Verwurzlung der betreffenden Person im Land zu belegen. Eine gewisse Flexibilität sollte vorgesehen werden, damit Umstände berücksichtigt werden können, die eine Person veranlassen können, das Land zeitweilig zu verlassen.“

4        Im 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird ausgeführt:

„Die Harmonisierung der Bedingungen für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten fördert das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten. In einigen Mitgliedstaaten sind die Bedingungen für die Erteilung dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel günstiger als die in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen. Die Möglichkeit, günstigere nationale Bestimmungen anzuwenden, wird von dem Vertrag nicht ausgeschlossen. Dennoch sollte für die Zwecke dieser Richtlinie vorgesehen werden, dass Aufenthaltstitel, für deren Erteilung günstigere Bedingungen gelten, nicht das Recht auf Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten begründen.“

5        Art. 1 („Gegenstand“) Buchst. a der Richtlinie bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung

a)      der Bedingungen, unter denen ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhält, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen oder entziehen kann, sowie der mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte …

…“

6        Gemäß den in Art. 2 Buchst. b, e und g dieser Richtlinie enthaltenen Definitionen bezeichnet im Sinne der Richtlinie der Ausdruck

„b)      ‚langfristig Aufenthaltsberechtigter‘ jeden Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Artikel 4 bis 7 besitzt;

e)      ‚Familienangehöriger‘ den Drittstaatsangehörigen, der sich in dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung [ABl. L 251, S. 12] aufhält;

g)      ‚langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]‘ den Aufenthaltstitel, der bei der Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten von dem betreffenden Mitgliedstaat ausgestellt wird.“

7        Art. 3 der Richtlinie 2003/109 regelt deren Anwendungsbereich. Gemäß Art. 3 Abs. 1 „[findet d]iese Richtlinie … auf Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten“. Art. 3 Abs. 2 und 3 stellt klar, dass die Richtlinie 2003/109 keine Anwendung auf bestimmte Kategorien von Drittstaatsangehörigen findet und dass sie vorbehaltlich günstigerer Bestimmungen in bestimmten internationalen Übereinkünften Anwendung findet.

8        Kapitel II dieser Richtlinie, das die Art. 4 bis 13 umfasst, betrifft die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem Mitgliedstaat.

9        Art. 4 („Dauer des Aufenthalts“) Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten erteilen Drittstaatsangehörigen, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.“

10      Art. 5 („Bedingungen für die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten“) der Richtlinie 2003/109 sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten verlangen vom Drittstaatsangehörigen den Nachweis, dass er für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen über Folgendes verfügt:

a)       feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und ‑renten beim Antrag auf Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten berücksichtigen;

b)       eine Krankenversicherung, die im betreffenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind.“

11      In Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Um die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu erlangen, reicht der Drittstaatsangehörige bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, einen Antrag ein. Dem Antrag sind vom nationalen Recht zu bestimmende Unterlagen beizufügen, aus denen hervorgeht, dass er die Voraussetzungen der Artikel 4 und 5 erfüllt, sowie erforderlichenfalls ein gültiges Reisedokument oder eine beglaubigte Abschrift davon.

…“

12      Art. 8 („Langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]“) Abs. 2 und 4 der Richtlinie bestimmt:

„(2) Die Mitgliedstaaten stellen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine ‚langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]‘ aus. Dieser Aufenthaltstitel ist mindestens fünf Jahre gültig und wird – erforderlichenfalls auf Antrag – ohne weiteres verlängert.

(4) Stellt ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, dem er internationalen Schutz gewährt hat, eine ‚langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU‘ aus, so muss das Eintragungsfeld ‚Anmerkungen‘ dieser langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU den folgenden Hinweis enthalten: ‚Durch [Name des Mitgliedstaats] am [Datum] internationaler Schutz gewährt‘.“

13      Art. 13 („Günstigere nationale Bestimmungen“) der Richtlinie 2003/109 lautet:

„Die Mitgliedstaaten können für die Ausstellung dauerhafter oder unbefristeter Aufenthaltstitel günstigere Voraussetzungen als diejenigen dieser Richtlinie vorsehen. Diese Aufenthaltstitel begründen nicht das Recht auf Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten gemäß Kapitel III.“

14      Kapitel III („Aufenthalt in den anderen Mitgliedstaaten“) dieser Richtlinie sieht in Art. 14 Abs. 1 vor:

„Ein langfristig Aufenthaltsberechtigter erwirbt das Recht, sich länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, aufzuhalten, sofern die in diesem Kapitel festgelegten Bedingungen erfüllt sind.“

15      Art. 16 dieses Kapitels betrifft die Familienangehörigen und bestimmt in seinen Abs. 1 und 2:

„(1)       Übt der langfristig Aufenthaltsberechtigte sein Aufenthaltsrecht in einem zweiten Mitgliedstaat aus und bestand die Familie bereits im ersten Mitgliedstaat, so wird den Angehörigen seiner Familie, die die Bedingungen des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 2003/86/EG erfüllen, gestattet, den langfristig Aufenthaltsberechtigten zu begleiten oder ihm nachzureisen.

(2)       Übt der langfristig Aufenthaltsberechtigte sein Aufenthaltsrecht in einem zweiten Mitgliedstaat aus und bestand die Familie bereits im ersten Mitgliedstaat, so kann den Angehörigen seiner Familie, die nicht als Familienangehörige im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 2003/86/EG gelten, gestattet werden, den langfristig Aufenthaltsberechtigten zu begleiten oder ihm nachzureisen.“

 Richtlinie 2003/86

16      Nach Art. 1 der Richtlinie 2003/86 ist Ziel dieser Richtlinie „die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten“.

 Italienisches Recht

17      Art. 9 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 286 vom 25. Juli 1998 mit dem Vereinheitlichen Text der Bestimmungen über die Regelung der Einwanderung und die Rechtsstellung des Ausländers (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 139 vom 18. August 1998, im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 268/1998) in der durch das Gesetzesvertretende Dekret Nr. 3 vom 8. Januar 2007 zur Anwendung der Richtlinie 2003/109 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (GURI Nr. 24 vom 30. Januar 2007) geänderten Fassung sieht in Abs. 1 vor:

„Ein Ausländer, der seit mindestens fünf Jahren eine gültige Aufenthaltsberechtigung besitzt und nachweist, dass er über ein Einkommen, das den Jahresbetrag der Sozialhilfe nicht unterschreitet, und – bei einem Antrag für Familienangehörige – über ein ausreichendes Einkommen … und eine geeignete Wohnung verfügt, die den nach [den einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts] geltenden Mindestbedingungen entspricht, kann bei der Questura die Ausstellung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung [– EU] für sich und seine Familienangehörigen beantragen, wie sie in Art. 29 Abs. 1 definiert sind.“

18      Art. 29 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 286/1998 sieht vor:

„Ein Ausländer kann die Familienzusammenführung für folgende Familienangehörige beantragen:

a)      den Ehegatten, der nicht von ihm gesetzlich getrennt und nicht jünger als achtzehn Jahre ist …“

19      Art. 16 („Antrag auf Aufenthaltsberechtigung“) des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 394 vom 31. August 1999 mit Durchführungsbestimmungen zum Vereinheitlichten Text der Bestimmungen über die Regelung der Einwanderung und die Rechtsstellung des Ausländers gemäß Art. 1 Abs. 6 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. [286/1998] (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 190 vom 3. November 1999) in der durch das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 334 vom 18. Oktober 2004 zur Änderung und Ergänzung des Dekrets Nr. 394 vom 31. August 1999 im Bereich der Einwanderung (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 17 vom 10. Februar 2005) geänderten Fassung bestimmt in seinen Abs. 1 bis 4:

„1.      Für die Ausstellung der Aufenthaltskarte im Sinne von Art. 9 des [Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 286/1998] hat der Betroffene einen schriftlichen Antrag auf einem Formblatt zu stellen, das dem durch Dekret des [Ministers des Innern] genehmigten Muster entspricht.

2.      Bei Antragstellung, die bei der Questura am Wohnsitz des Ausländers zu erfolgen hat, sind anzugeben:

a)      die vollständigen Personalien;

b)      der Ort oder die Orte, an denen sich der Betroffene in Italien in den letzten fünf Jahren aufgehalten hat;

c)      der Wohnsitz;

d)      die Einkommensquellen …

4.      Unbeschadet der Bestimmungen des Art. 9 Abs. 2 und des Art. 30 Abs. 4 des Vereinheitlichten Textes müssen sich im Fall eines Antrags für Familienangehörige im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 Buchst. b-bis des Vereinheitlichten Textes die Angaben nach Abs. 2 und die Dokumente nach Abs. 3 dieses Artikels auch auf den Ehegatten und die mit dem Berechtigten zusammenlebenden Kinder unter 18 Jahren beziehen, für die ebenfalls eine Aufenthaltskarte beantragt wird. Außerdem sind Dokumente vorzulegen, aus denen sich ergibt:

a)      die Stellung als Ehegatte oder als minderjähriges Kind …

b)      die Verfügbarkeit einer Wohnung …

c)      das Einkommen … unter Berücksichtigung des Einkommens der zusammenlebenden nicht unterhaltsberechtigten Familienangehörigen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

20      Am 28. Februar 2012 stellte Frau Tahir, eine pakistanische Staatsbürgerin, bei der Questura di Verona einen Antrag auf Ausstellung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU als Ehegattin des Herrn Tahir, der ebenfalls pakistanischer Staatsangehöriger ist und eine solche Aufenthaltsberechtigung besitzt.

21      Der Antrag wurde von der Questura di Verona mit der Begründung abgelehnt, dass Frau Tahir, die sich erst seit dem 15. März 2010 aufgrund eines Einreisevisums zur Familienzusammenführung mit ihrem Ehegatten in Italien aufhalte, nicht die in Art. 9 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 286/1998 vorgesehene Voraussetzung erfülle, seit mindestens fünf Jahren im Besitz einer gültigen Aufenthaltsberechtigung zu sein.

22      Frau Tahir focht diese ablehnende Entscheidung beim Tribunale di Verona an. Unter Berufung auf die italienischen Rechtsvorschriften behauptet sie, Anspruch auf eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU zu haben, da sie Familienangehörige von Herrn Tahir sei, der bereits die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in Italien genieße, und somit von der angeführten Voraussetzung befreit zu sein. Frau Tahir macht u. a. geltend, ihre Auslegung von Art. 9 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 286/1998 sei durch Art. 13 der Richtlinie 2003/109 gerechtfertigt. Dieser Art. 9 sehe nämlich eine günstigere Maßnahme als die von der Richtlinie 2003/109 festgelegte vor, da der Familienangehörige des langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht die Voraussetzung des fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts in Italien zu erfüllen brauche.

23      Die Questura di Verona trägt vor, dass die in besagtem Art. 9 vorgesehene Aufenthaltsvoraussetzung eine unabdingbare Voraussetzung für die Erteilung der langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU sei, da sie in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 aufgestellt worden sei und die in Rede stehende Regelung insoweit keine Abweichung vorsehe.

24      Das vorlegende Gericht führt in seiner Entscheidung aus, dass Art. 9 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 286/1998 unter bestimmten Voraussetzungen, die sich auf ein ausreichendes Einkommen und eine geeignete Wohnung bezögen, die Möglichkeit der Ausstellung der langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU auf die Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen, der eine solche Berechtigung bereits erhalten habe, erstrecke. Für diesen Zweck gelte die Voraussetzung des fünfjährigen Aufenthalts nur für diesen und nicht auch für seine Familienangehörigen. Diese Auslegung werde im Übrigen auch durch einige Entscheidungen nationaler Gerichte bestätigt. Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob diese Bestimmung der Richtlinie 2003/109 zuwiderlaufe, da sich aus Letzterer ergebe, dass der Antragsteller für die Ausstellung dieser Berechtigung langfristig in dem betroffenen Mitgliedstaat ansässig sein müsse.

25      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Verona beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen, dass die Voraussetzung des rechtmäßigen und ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthalts im Mitgliedstaat nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109, deren Erfüllung bei der Stellung des Antrags auf Ausstellung der langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU durch Unterlagen nachzuweisen ist, auch auf eine andere Person als den Antragsteller, die zu ihm in familiärer Beziehung im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2003/109 steht, bezogen werden kann?

2.      Ist Art. 13 Satz 1 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen, dass zu den günstigeren Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten dauernde oder unbefristete langfristige Aufenthaltsberechtigungen – EU ausstellen können, auch die Möglichkeit gehört, den rechtmäßigen und ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthalt eines bereits langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem betreffenden Mitgliedstaat im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 bei seinen Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2003/109 unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts im Mitgliedstaat der Antragstellung als Voraussetzung für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten mitzuberücksichtigen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

26      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass ein Familienangehöriger des bereits langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie von der Voraussetzung nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie befreit werden kann, wonach sich der Drittstaatsangehörige zur Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufgehalten haben muss.

27      Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass in der mit der Richtlinie 2003/109 geschaffenen Regelung klar festgelegt ist, dass die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Richtlinie einem besonderen Verfahren unterliegt und außerdem von der Erfüllung der in Kapitel II der Richtlinie angegebenen Voraussetzungen abhängt (Urteil Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 66).

28      So hat der Gerichtshof ausgeführt, dass nach Art. 4 der Richtlinie 2003/109 die Mitgliedstaaten die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vorbehalten, die sich unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten haben. Art. 5 dieser Richtlinie verlangt für die Zuerkennung dieser Rechtsstellung den Nachweis, dass der Drittstaatsangehörige, der diese Rechtsstellung beantragt, über ausreichende Einkünfte sowie eine Krankenversicherung verfügt. Art. 7 der Richtlinie schließlich legt die für die Erlangung dieser Rechtsstellung geltenden verfahrensrechtlichen Voraussetzungen fest (Urteil Kamberaj, EU:C:2012:233, Rn. 67).

29      Nichts im Wortlaut dieses Art. 7 oder irgendeiner anderen Vorschrift der Richtlinie 2003/109 lässt aber die Annahme zu, dass ein Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie für die Erlangung der von dieser Richtlinie vorgesehenen Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten von der Voraussetzung des ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats während der letzten fünf Jahre vor der Stellung des entsprechenden Antrags befreit werden könnte.

30      Aus einer Zusammenschau der Art. 4 und 7 im Licht des sechsten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2003/109 ergibt sich im Gegenteil, dass diese Aufenthaltsvoraussetzung eine unabdingbare Voraussetzung für die Erteilung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ist.

31      Zum einen ist nämlich darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/109 eine ausdrückliche Verweisung auf die in ihren Art. 4 und 5 aufgezählten Voraussetzungen enthält. Daher sind dem vom Drittstaatsangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellten Antrag Unterlagen beizufügen, aus denen hervorgeht, dass er diese Voraussetzungen und damit insbesondere die Aufenthaltsvoraussetzung erfüllt. Zum anderen sollte nach dem sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. In diesem Erwägungsgrund heißt es weiter, dass der Aufenthalt rechtmäßig und ununterbrochen sein sollte, um die Verwurzelung der Person im Land zu belegen.

32      So hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass namentlich aus den Erwägungsgründen 4 und 6 der Richtlinie 2003/109 hervorgeht, dass deren vorrangiges Ziel die Integration von Drittstaatsangehörigen ist, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Singh, C‑502/10, EU:C:2012:636, Rn. 45).

33      Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass es, wie sich aus Art. 4 Abs. 1 und dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 ergibt, die Dauer des ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts von fünf Jahren ist, die belegt, dass die betreffende Person im Land verwurzelt und damit langfristig ansässig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Singh, EU:C:2012:636, Rn. 46).

34      Folglich ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 vorgesehene Voraussetzung des ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats während der letzten fünf Jahre vor der Stellung des entsprechenden Antrags eine unabdingbare Voraussetzung für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Richtlinie ist, so dass ein Drittstaatsangehöriger einen Antrag nach Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie zwecks der Erlangung dieser Rechtsstellung nur dann stellen kann, wenn er selbst persönlich diese Voraussetzung erfüllt.

35      Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof unterbreiteten Akte hervor, dass sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens im Zeitpunkt der Stellung ihres Antrags auf Ausstellung einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU weniger als zwei Jahre lang im italienischen Hoheitsgebiet aufgehalten hatte. Daher ist nicht ersichtlich, dass sie die Voraussetzung des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 erfüllte, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

36      Im Übrigen enthält diese Richtlinie zwar Vorschriften zum Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen im Sinne ihres Art. 2 Buchst. e. Diese Vorschriften stellen jedoch auf den Sonderfall der Familienangehörigen eines Drittstaatsangehörigen ab, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem ersten Mitgliedstaat hat und sein Aufenthaltsrecht in einem zweiten Mitgliedstaat ausübt. Somit legt Art. 16 der Richtlinie 2003/109 das Recht und die Voraussetzungen dafür fest, dass die besagten Angehörigen den in diesem zweiten Mitgliedstaat Aufenthaltsberechtigten begleiten oder ihm nachreisen können.

37      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 4 Abs. 1 und 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen sind, dass ein Familienangehöriger des bereits langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie nicht von der Voraussetzung nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie befreit werden kann, wonach sich der Drittstaatsangehörige zur Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufgehalten haben muss.

 Zur zweiten Frage

38      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einem Mitgliedstaat gestattet, einem Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU unter günstigeren Voraussetzungen als denjenigen der Richtlinie auszustellen.

39      Hierzu ist vorab festzustellen, dass die Möglichkeit eines solchen Drittstaatsangehörigen, einen Aufenthaltstitel ausgestellt zu bekommen, ohne die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehene Voraussetzung des ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat zu erfüllen, unter die in Art. 13 der Richtlinie 2003/109 vorgesehene Möglichkeit fallen kann, die es den Mitgliedstaaten gestattet, dauerhafte oder unbefristete Aufenthaltstitel unter günstigeren Voraussetzungen als denjenigen dieser Richtlinie auszustellen.

40      Ausweislich des 17. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2003/109 fördert die Harmonisierung der Bedingungen für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten. In diesem Zusammenhang heißt es an gleicher Stelle, dass dauerhafte oder unbefristete Aufenthaltstitel, für deren Erteilung günstigere als die in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen gelten, nicht das Recht auf Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten begründen.

41      Somit lässt Art. 13 der Richtlinie 2003/109 den Mitgliedstaaten zwar die oben erwähnte Möglichkeit, doch kann es sich dabei nach dem eindeutigen Wortlaut des zweiten Satzes dieser Vorschrift nur um „Aufenthaltstitel“ handeln, die „nicht das Recht auf Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten gemäß Kapitel III [dieser Richtlinie] [begründen]“.

42      Wie sich insbesondere aus Art. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 ergibt, verleiht eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU ihrem Inhaber grundsätzlich das Recht, sich länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, aufzuhalten.

43      Folglich kann es sich bei einem Aufenthaltstitel, der einem Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2003/109 von einem Mitgliedstaat nach Art. 13 dieser Richtlinie unter günstigeren Voraussetzungen als denen des Unionsrechts ausgestellt würde, in keinem Fall um eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU im Sinne der genannten Richtlinie handeln.

44      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 13 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, einem Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU unter günstigeren Voraussetzungen als denen der Richtlinie auszustellen.

 Kosten

45      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Art. 4 Abs. 1 und 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass ein Familienangehöriger des bereits langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie nicht von der Voraussetzung nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie befreit werden kann, wonach sich der Drittstaatsangehörige zur Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten unmittelbar vor der Stellung des entsprechenden Antrags fünf Jahre lang ununterbrochen rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufgehalten haben muss.

2.      Art. 13 der Richtlinie 2003/109 in der durch die Richtlinie 2011/51 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, einem Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU unter günstigeren Voraussetzungen als denen der Richtlinie auszustellen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.