Language of document : ECLI:EU:C:2022:991

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY MICHAEL COLLINS

vom 15. Dezember 2022(1)

Rechtssache C204/21

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

„Art. 258 AEUV – Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Disziplinarregelung für Richter – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit von Richtern – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 267 AEUV – Kontrolle der Beachtung des unionsrechtlichen Erfordernisses eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts – Ausschließliche Zuständigkeit der Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Unabhängigkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – Recht auf Achtung des Privatlebens – Recht auf Schutz personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679“






Inhaltsverzeichnis



I.      Gegenstand der Klage

1.        Diese Klage nach Art. 258 AEUV geht auf den Erlass der Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019(2) (im Folgenden: Änderungsgesetz) durch die Republik Polen zurück. Der Sache nach macht die Europäische Kommission geltend, einige Bestimmungen des Änderungsgesetzes verstießen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), Art. 267 AEUV, den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts sowie das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, die durch Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 sowie Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)(3) (im Folgenden: DSGVO) gewährleistet seien.

2.        Die Klage der Kommission umfasst fünf Rügen.

3.        Mit den ersten drei Rügen, die miteinander zusammenhängen, wird geltend gemacht, dass das Änderungsgesetz die Möglichkeit für ein nationales Gericht, den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht für Einzelpersonen sicherzustellen, die Rechte aus dem Unionsrecht geltend machten, einschränke oder ausschließe und damit gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV verstoße. Mit den ersten beiden Rügen wird zudem eine Verletzung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts beanstandet. In die Anwendung oder die Auslegung von Unionsrecht betreffenden Fällen müssten die Mitgliedstaaten die Beachtung des Grundrechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht sicherstellen. Die Verletzung dieses Rechts müssten Einzelpersonen grundsätzlich vor einem nationalen Gericht rügen können. Folglich müsse ein nationales Gericht in Fällen, in denen es um unionsrechtliche Rechte des Einzelnen gehe, prüfen können, ob das Recht des Einzelnen verletzt sei, seinen Fall von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht untersuchen zu lassen. Jede Einschränkung oder jeder Ausschluss der Möglichkeit für ein nationales Gericht, sich davon zu überzeugen, dass Einzelne, die ihnen aus dem Unionsrecht erwachsende Rechte geltend machten, Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht hätten, stelle eine Verletzung der mit den vorgenannten Bestimmungen aufgestellten Verpflichtungen dar(4).

4.        Die vierte Rüge betrifft die der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) (im Folgenden: Disziplinarkammer) mit dem Änderungsgesetz übertragene Zuständigkeit für die Entscheidung über den Status der Richter. Die Kommission macht geltend, da die Disziplinarkammer nicht den geltenden Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genüge, beeinträchtige dieses Gesetz die Unabhängigkeit der Richter, deren Status Gegenstand einer Überprüfung durch die Disziplinarkammer sein könne, und verstoße dadurch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

5.        Die fünfte Rüge betrifft die Richtern durch das Änderungsgesetz auferlegte Verpflichtung, Angaben zu ihren öffentlichen und sozialen Aktivitäten in Vereinigungen und Stiftungen ohne Gewinnzweck, einschließlich der Mitgliedschaft in einer politischen Partei vor ihrer Ernennung, zu machen, und die Veröffentlichung dieser Angaben. Nach Ansicht der Kommission sind diese Verpflichtungen unverhältnismäßig und verletzen das Recht auf Achtung des Privatlebens sowie das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, die durch Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 sowie Art. 9 Abs. 1 DSGVO gewährleistet seien.

II.    Rechtlicher Rahmen – Polnisches Recht

A.      Geändertes Gesetz über das Oberste Gericht

6.        Mit der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017(5) wurden zwei neue Kammern innerhalb des Obersten Gerichts geschaffen, die Disziplinarkammer und die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, im Folgenden: Außerordentliche Kammer).

7.        Für das vorliegende Verfahren ist von Belang, dass das Gesetz über das Oberste Gericht durch das Änderungsgesetz wie folgt geändert wurde: In Art. 26 wurden die §§ 2 bis 6, in Art. 27 § 1 eine Nr. 1a, in Art. 45 ein § 3 und in Art. 82 die §§ 2 bis 5 eingefügt, Art. 29 und Art. 72 § 1 wurden geändert.

8.        In Art. 26 §§ 2 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht heißt es:

„§ 2.      Die [Außerordentliche Kammer] ist zuständig für Anträge oder Erklärungen betreffend die Ablehnung eines Richters oder die Bestimmung des Gerichts, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit denen die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts oder des Richters gerügt wird. Das mit der Sache befasste Gericht übermittelt dem Präsidenten der [Außerordentlichen Kammer] unverzüglich den Antrag, damit dieser nach den in gesonderten Vorschriften festgelegten Regeln weiter behandelt wird. Durch die Übermittlung des Antrags an den Präsidenten der [Außerordentlichen Kammer] wird das laufende Verfahren nicht ausgesetzt.

§ 3.      Der Antrag nach § 2 wird nicht geprüft, wenn er die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betrifft.

§ 4.      Die [Außerordentliche Kammer] ist für Klagen zuständig, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen des [Obersten Gerichts], der ordentlichen Gerichte, der Militärgerichte und der Verwaltungsgerichte einschließlich des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] gerichtet sind, wenn die Rechtswidrigkeit darin besteht, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person in Frage gestellt wird, die in der Sache entschieden hat.

§ 5.      Für das Verfahren in den Sachen nach § 4 gelten die Bestimmungen über die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen entsprechend, und in Strafsachen die Bestimmungen über die Wiederaufnahme eines durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenen Gerichtsverfahrens. Es ist nicht erforderlich, dass ein durch den Erlass der Entscheidung, die Gegenstand der Klage ist, verursachter Schaden vorliegt oder glaubhaft gemacht wird.

§ 6.      Eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung nach § 4 kann [bei der Außerordentlichen Kammer] ohne Befassung des Gerichts, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, erhoben werden, und zwar auch dann, wenn eine Partei die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe, einschließlich des außerordentlichen Rechtsbehelfs beim Obersten Gericht, nicht ausgeschöpft hat.“

9.        Art. 27 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„Die Disziplinarkammer ist zuständig für:

1a)      Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter, Gerichtsassessoren [(Richter auf Probe)], Staatsanwälte und Staatsanwaltsassessoren [(Staatsanwälte auf Probe)] strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder in Untersuchungshaft genommen werden.

2)      arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen, die Richter des Obersten Gerichts betreffen;

3)      Sachen betreffend die Versetzung eines Richters des Obersten Gerichts in den Ruhestand.“

10.      Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„§ 2.      Im Rahmen der Tätigkeiten des Obersten Gerichts oder seiner Organe darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.

§ 3.      Das Oberste Gericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich daraus ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“

11.      Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht lautet:

„Die Erklärung nach Art. 88a des [geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] ist von den Richtern des Obersten Gerichts gegenüber dem Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts und vom Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts gegenüber der Krajowa Rada Sądownictwa [(Landesjustizrat, Polen, im Folgenden: KRS)] abzugeben.“

12.      Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„Ein Richter des Obersten Gerichts kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für:

1)      die offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften;

2)      Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können;

3)      Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird.“

13.      Nach Art. 73 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ist die Disziplinarkammer das Disziplinargericht zweiter (und letzter) Instanz für die Richter der ordentlichen Gerichte und das Disziplinargericht erster und zweiter Instanz für die Richter des Obersten Gerichts.

14.      Art. 82 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt:

„…

§ 2.      Prüft das Oberste Gericht eine Sache, in der sich eine Rechtsfrage stellt, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts betrifft, so setzt es die Entscheidung aus und legt diese Frage einem Spruchkörper vor, der aus sämtlichen Mitgliedern der [Außerordentlichen Kammer] besteht.

§ 3.      Hat das Oberste Gericht bei der Prüfung eines Antrags nach Art. 26 § 2 ernste Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die Entscheidung zu ergehen hat, so kann es das Verfahren aussetzen und einem aus sämtlichen Mitgliedern der [Außerordentlichen Kammer] bestehenden Spruchkörper eine Rechtsfrage vorlegen.

§ 4.      Beim Erlass eines Beschlusses nach § 2 oder § 3 ist die [Außerordentliche Kammer] nicht an einen Beschluss eines anderen Spruchkörpers des Obersten Gerichts gebunden, es sei denn, es handelt sich um einen Beschluss mit den Wirkungen eines Rechtsgrundsatzes.

§ 5.      Ein von sämtlichen Mitgliedern der [Außerordentlichen Kammer] auf der Grundlage von § 2 oder § 3 erlassener Beschluss ist für alle Spruchkörper des Obersten Gerichts verbindlich. Eine Abweichung von einem Beschluss, der die Wirkung eines Rechtsgrundsatzes hat, erfordert eine erneute Entscheidung durch einen Beschluss des Plenums des Obersten Gerichts in Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Richter jeder der Kammern. Art. 88 findet keine Anwendung.“

B.      Geändertes Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit

15.      Durch das Änderungsgesetz wurde die Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001(6) u. a. durch Einfügung von Art. 42a und von § 4 in Art. 55 sowie durch Änderung von Art. 107 § 1 und von Art. 110 § 2a geändert.

16.      Art. 42a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1.      Im Rahmen der Tätigkeiten der Gerichte oder der Organe der Gerichte darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.

§ 2.      Ein ordentliches Gericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich daraus ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.

…“

17.      Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit sieht vor:

„Ein Richter kann über alle Sachen an seinem Dienstort und in den gesetzlich vorgesehenen Fällen in anderen Gerichten entscheiden (Zuständigkeit des Richters). Die Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper beschränken nicht die Zuständigkeit des Richters und können keine Grundlage für die Feststellung sein, dass ein Spruchkörper im Widerspruch zu Rechtsvorschriften steht, dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist.“

18.      Gemäß Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit(7) müssen Richter bestimmte Angaben zur Veröffentlichung im Biuletyn Informacji Publicznej (Bulletin für öffentliche Informationen) machen:

„§ 1.      Ein Richter ist verpflichtet, eine schriftliche Erklärung mit folgenden Angaben abzugeben:

1)      seine Mitgliedschaft in einer Vereinigung, u. a. einem Verein, einschließlich des Namens und des eingetragenen Sitzes der Vereinigung, der dort eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft;

2)      die in einer Stiftung ohne Gewinnzweck eingenommenen Positionen, einschließlich des Namens und des eingetragenen Sitzes der Stiftung und des Zeitraums, in dem diese Position eingenommen wurde;

3)      seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei vor seiner Ernennung auf die Stelle eines Richters sowie seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei während seiner Amtszeit vor dem 29. Dezember 1989, einschließlich des Namens der Partei, der eingenommenen Positionen und des Zeitraums der Mitgliedschaft.

§ 2.      Die Erklärungen nach § 1 sind von Richtern gegenüber dem Präsidenten des zuständigen Berufungsgerichts und von den Präsidenten der Berufungsgerichte gegenüber dem Minister Sprawiedliwości [(Justizminister)] abzugeben.

§ 3.      Die Erklärungen nach § 1 sind binnen 30 Tagen ab dem Amtsantritt des Richters und binnen 30 Tagen ab dem Eintritt der in § 1 bezeichneten Ereignisse abzugeben.

§ 4.      Die in den Erklärungen nach § 1 enthaltenen Angaben sind öffentlich und werden nicht später als 30 Tage nach der Abgabe der Erklärung gegenüber der zuständigen Stelle in dem im Gesetz vom 6. September 2001 bezeichneten Bulletin für öffentliche Informationen veröffentlicht.“

19.      In Art. 107 § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit heißt es:

„Ein Richter kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für:

2)      Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können;

3)      Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird;

…“

20.      Art. 110 § 2a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit lautet:

„Für die Prüfung der in Art. 37 § 5 und Art. 75 § 2 Nr. 3 genannten Sachen ist das Disziplinargericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der von dem Verfahren betroffene Richter sein Amt ausübt. In den Sachen nach den Art. 80 und 106zd entscheidet im ersten Rechtszug das Oberste Gericht in der Besetzung mit einem Richter der Disziplinarkammer und im zweiten Rechtszug das Oberste Gericht in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer.“

C.      Geändertes Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit

21.      Durch das Änderungsgesetz wurde die Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 25. Juli 2002(8) u. a. wie folgt geändert: In Art. 5 wurden die §§ 1a und 1b und in Art. 8 wurde ein § 2 eingefügt, Art. 29 § 1 und Art. 49 § 1 wurden geändert.

22.      Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1a.      Im Rahmen der Tätigkeiten eines Verwaltungsgerichts oder seiner Organe darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden.

§ 1b.      Ein Verwaltungsgericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich daraus ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“

23.      Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit lautet:

„Die Erklärung nach Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist von den Richtern eines Wojewódzki sąd administracyjny [(Woiwodschaftsverwaltungsgericht)] gegenüber dem zuständigen Präsidenten eines Woiwodschaftsverwaltungsgerichts, vom Präsidenten eines Woiwodschaftsverwaltungsgerichts und von den Richtern des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] gegenüber dem Präsidenten des Obersten Verwaltungsgerichts und vom Präsidenten des Obersten Verwaltungsgerichts gegenüber der [KRS] abzugeben.“

24.      Nach Art. 29 § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten die in Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgesehenen Disziplinarvergehen auch für die Richter der Verwaltungsgerichte.

25.      Nach Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelten die in Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht vorgesehenen Disziplinartatbestände auch für die Richter des Obersten Verwaltungsgerichts.

D.      Änderungsgesetz – Übergangsbestimmungen

26.      Nach Art. 8 des Änderungsgesetzes gilt Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch für Sachen, die vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes, d. h. vor dem 14. Februar 2020, eingeleitet oder abgeschlossen wurden.

27.      Art. 10 des Änderungsgesetzes lautet:

„§ 1.      Die Bestimmungen des [Gesetzes über das Oberste Gericht] in der Fassung des vorliegenden Gesetzes finden auch auf Sachen Anwendung, die der Prüfung durch die [Außerordentliche Kammer] unterliegen und vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet und nicht durch eine rechtskräftige Entscheidung, einschließlich eines Beschlusses, abgeschlossen worden sind.

§ 2.      Das Gericht, bei dem eine Sache nach § 1 anhängig ist, verweist diese unverzüglich, spätestens sieben Tage nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, an die [Außerordentliche Kammer], die die zuvor vorgenommenen Handlungen aufheben kann, soweit sie der weiteren Prüfung der Sache im Einklang mit dem Gesetz entgegenstehen.

§ 3.      Gerichtliche Handlungen und Handlungen der Parteien oder Verfahrensbeteiligten in Verfahren in den in § 1 genannten Sachen, die nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes unter Verstoß gegen § 2 vorgenommen werden, haben keine verfahrensrechtlichen Wirkungen.“

III. Vorverfahren

28.      Da die Kommission der Ansicht ist, dass die Republik Polen mit dem Erlass des Änderungsgesetzes gegen ihre Verpflichtungen aus den in Nr. 1 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Bestimmungen verstoßen habe, richtete sie am 29. April 2020 ein Mahnschreiben an diesen Mitgliedstaat. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 29. Juni 2020, in dem sie jeden Verstoß gegen das Unionsrecht zurückwies.

29.      Am 30. Oktober 2020 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass das Änderungsgesetz gegen die in dieser Stellungnahme genannten unionsrechtlichen Bestimmungen verstoße.

30.      Am 3. Dezember 2020 übersandte die Kommission ein ergänzendes Mahnschreiben hinsichtlich der Rechtsprechungstätigkeit der Disziplinarkammer nach Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in der Fassung des Änderungsgesetzes in Sachen, die den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren betreffen.

31.      In ihrer Antwort vom 30. Dezember 2020 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission vom 30. Oktober 2020 stellte die Republik Polen die gerügten Rechtsverstöße in Abrede. Am 4. Januar 2021 antwortete die Republik Polen auf das ergänzende Mahnschreiben der Kommission vom 3. Dezember 2020, dass die Rügen der Kommission in Bezug auf die fehlende Unabhängigkeit der Disziplinarkammer unbegründet seien.

32.      Am 27. Januar 2021 übersandte die Kommission eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme zur Rechtsprechungstätigkeit der Disziplinarkammer in Sachen betreffend den Status von Richtern und Assessoren. Mit Schreiben vom 26. Februar 2021 antwortete die Republik Polen, dass die in dieser ergänzenden Stellungnahme erhobene Rüge unbegründet sei.

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

33.      Mit am 1. April 2021 eingereichter Klageschrift erhob die Kommission beim Gerichtshof die vorliegende Klage gemäß Art. 258 AEUV. Sie beantragt fünf Feststellungen dahin gehend,

–      dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) zu Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Art. 8 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die Anforderungen der Europäischen Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, untersagt ist;

–      dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 10 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Außerordentliche Kammer zuständig ist;

–      dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV verstoßen hat, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als „Disziplinarvergehen“ gewertet werden kann;

–      dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, etwa zum einen in Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zum anderen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Obersten Gerichts sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand;

–      dass die Republik Polen dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO niedergelegt sind, verletzt hat, dass sie Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen und beibehalten hat.

34.      Die Kommission beantragt zudem, der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

35.      In ihrer am 17. Juni 2021 eingereichten Klagebeantwortung beantragt die Republik Polen, die vorliegende Klage als in vollem Umfang unbegründet abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

36.      Die Kommission hat am 28. Juli 2021 eine Erwiderung, die Republik Polen am 7. September 2021 eine Gegenerwiderung eingereicht.

37.      Mit am 1. April 2021 eingereichtem gesondertem Schriftsatz hat die Kommission gemäß Art. 279 AEUV beantragt, der Republik Polen im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, bis zum Erlass des Urteils des Gerichtshofs die Anwendung einer Reihe von mit dem Änderungsgesetz eingeführten Bestimmungen auszusetzen.

38.      Mit Beschluss vom 14. Juli 2021(9) hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs dem Antrag der Kommission auf Erlass einstweiliger Anordnungen bis zur Verkündung des das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache beendenden Urteils stattgegeben und die Kostenentscheidung vorbehalten(10).

39.      Am 16. August 2021 hat die Republik Polen, nach deren Ansicht mit dem Erlass des Urteils des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) vom 14. Juli 2021 in der Rechtssache P 7/20 (im Folgenden: Urteil des Trybunał Konstytucyjny [Verfassungsgerichtshof] in der Rechtssache P 7/20) eine Änderung der Umstände eingetreten ist, beantragt, den Beschluss des Gerichtshofs vom 14. Juli 2021 gemäß Art. 163 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufzuheben. Zudem hat sie die Prüfung der Klage durch die Große Kammer des Gerichtshofs beantragt(11).

40.      Mit Beschluss vom 6. Oktober 2021(12) hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs den Antrag der Republik Polen zurückgewiesen und die Kostenentscheidung vorbehalten. Diesem Beschluss zufolge verpflichtet der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts alle mitgliedstaatlichen Stellen, den unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf. Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, der klar, präzise und nicht an Bedingungen geknüpft ist, hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als Gerichte zur Entscheidung über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden. Nationale Bestimmungen über die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten können im Kontext einer Vertragsverletzungsklage Gegenstand einer Überprüfung am Maßstab von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und demzufolge von einstweiligen Anordnungen sein, die auf die Aussetzung dieser Bestimmungen in diesem Kontext gerichtet sind. Der Umstand, dass ein nationales Verfassungsgericht befindet, dass solche einstweiligen Anordnungen gegen die Verfassungsordnung des betreffenden Mitgliedstaats verstoßen, ändert nichts an dieser Beurteilung. Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts kann die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben(13).

41.      In der Zwischenzeit hat die Kommission am 7. September 2021 geltend gemacht, aus den von der Republik Polen mit Schreiben vom 16. August 2021 übermittelten Angaben gehe nicht hervor, dass sie alle Maßnahmen ergriffen habe, die zur Durchführung der im Beschluss vom 14. Juli 2021 getroffenen einstweiligen Anordnungen erforderlich seien. Zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Beschlusses vom 14. Juli 2021, der effektiven Anwendung des Unionsrechts und der Wahrung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Integrität der Unionsrechtsordnung sei es erforderlich, der Republik Polen die Zahlung eines täglichen Zwangsgelds in einer Höhe aufzuerlegen, die geeignet sei, diesen Mitgliedstaat dazu zu veranlassen, den in diesem Beschluss getroffenen einstweiligen Anordnungen unverzüglich in vollem Umfang nachzukommen. Die Republik Polen hat geltend gemacht, sie habe alle zur Durchführung des Beschlusses vom 14. Juli 2021 erforderlichen Maßnahmen getroffen.

42.      Mit Beschluss vom 27. Oktober 2021(14) hat der Vizepräsident des Gerichtshofs die Republik Polen verurteilt, an die Kommission ein Zwangsgeld in Höhe von 1 000 000 Euro pro Tag zu zahlen, und zwar ab dem Tag der Zustellung dieses Beschlusses an die Republik Polen bis zu dem Tag, an dem dieser Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus dem Beschluss vom 14. Juli 2021 nachkommt, oder andernfalls bis zum Tag der Verkündung des Urteils, mit dem das vorliegende Verfahren beendet wird, und hat die Kostenentscheidung vorbehalten.

43.      Mit Entscheidung vom 30. September 2021 hat der Präsident des Gerichtshofs das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen. Diese Mitgliedstaaten haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht.

44.      Am 7. Oktober 2021 hat der Präsident entschieden, dass die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang zu entscheiden ist.

45.      Am 28. Juni 2022 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Polen die Republik Finnland, das Königreich Schweden und die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben und Fragen des Gerichtshofs beantwortet haben.

V.      Rechtlicher Kontext

46.      Im Hinblick auf die Entscheidung der Streitfragen, die dem Gerichtshof mit der vorliegenden Vertragsverletzungsklage unterbreitet werden, ist auf folgende gefestigte Rechtssätze hinzuweisen.

47.      Die Europäische Union ist auf allen Mitgliedstaaten gemeinsame Werte in einer Gesellschaft gegründet, die sich durch Gerechtigkeit auszeichnet(15). Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen ihren Gerichten beruht auf der Prämisse, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen. Daraus folgt, dass die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben(16).

48.      Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit ist einer dieser gemeinsamen Werte, der in Art. 19 Abs. 1 EUV seine konkrete Ausprägung findet. Nach Unterabs. 2 dieser Bestimmung müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Art. 47 der Charta, in dem der allgemeine Grundsatz wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes zum Ausdruck kommt, sieht auch vor, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird(17). Zudem haben Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta unmittelbare Wirkung und verleihen dem Einzelnen Rechte, die er als solche geltend machen kann(18).

49.      Es ist Sache der Mitgliedstaaten(19), ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das einen wirksamen Rechtsschutz(20) in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet und sicherstellt, dass die innerhalb dieses Systems tätigen Gerichte, die über die Anwendung oder die Auslegung von Unionsrecht zu entscheiden haben, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen(21). Die Mitgliedstaaten müssen deshalb die zur Überprüfung der Gültigkeit einer nationalen Bestimmung zuständigen Gerichte und/oder Stellen bestimmen und die Rechtsbehelfe und Verfahren vorsehen, die es ermöglichen, diese Gültigkeit zu bestreiten sowie, im Fall der Begründetheit des Rechtsbehelfs, die betreffende Bestimmung für nichtig zu erklären und die Wirkungen dieser Nichtigerklärung zu bestimmen(22). Soweit das Unionsrecht nicht etwas anderes vorsieht, schreibt es den Mitgliedstaaten weder ein bestimmtes Gerichtsverfassungsmodell(23) noch den Erlass eines besonderen Systems von Rechtsbehelfen vor, solange die verfügbaren Rechtsbehelfe den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen(24). Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben(25). Dieser Ansatz spiegelt die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 5 EUV sowie die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wider(26).

50.      Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV steht nationalen Vorschriften über die Organisation der Justiz entgegen, die den Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die Garantien für die richterliche Unabhängigkeit, vermindern. Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Mitgliedstaat seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern darf, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird. Die Mitgliedstaaten müssen daher den Erlass von Regeln unterlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden(27).

51.      Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, der wiederum Teil des in Art. 47 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren ist. In diesem Zusammenhang ist die Unabhängigkeit der Richter der Mitgliedstaaten für die Rechtsordnung der Union von fundamentaler Bedeutung(28).

52.      Das Gebot der Unabhängigkeit der Gerichte hat zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass ein Gericht seine Funktionen autonom ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass es auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils seiner Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt hängt mit dem Begriff der Unparteilichkeit zusammen. Er bezieht sich darauf, dass das Gericht den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet. Dieser Aspekt verlangt, dass die Gerichte Sachlichkeit obwalten lassen und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits haben(29).

53.      Auch das Gebot der Unparteilichkeit hat zwei Aspekte. Zum einen muss das Gericht subjektiv unparteiisch sein, d. h., keines seiner Mitglieder darf Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile erkennen lassen. Die persönliche Unparteilichkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Zum anderen muss das Gericht objektiv unparteiisch sein, d. h., hinreichende Garantien bieten, um jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen(30).

54.      Mit dem Erfordernis schließlich, dass das Gericht „zuvor durch Gesetz errichtet“ sein muss, soll Art. 47 der Charta sicherstellen, dass die Organisation des Justizsystems durch ein von der Legislative im Einklang mit den Vorschriften über die Ausübung seiner Zuständigkeit erlassenes Gesetz geregelt wird, um zu verhindern, dass diese Organisation in das Ermessen der Exekutive gestellt wird. Dieses Erfordernis gilt für die Rechtsgrundlage für die Existenz eines Gerichts selbst sowie für alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Mitwirkung eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die betreffende Rechtssache fehlerhaft macht, wie etwa die Vorschriften über die Besetzung des Spruchkörpers(31).

55.      Das Erfordernis, dass ein Gericht auf Gesetz beruht, ist verletzt, wenn eine Unregelmäßigkeit bei der Ernennung von Richtern(32) von einer Art und Schwere ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – einen unzulässigen Einfluss ausüben können, um die Integrität des Ernennungsverfahrens zu beeinträchtigen. Das ist der Fall, wenn es um die Anwendung von Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betreffenden Justizsystems sind(33). Eine solche Unregelmäßigkeit kann beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit(34) und der Unparteilichkeit des oder der so ernannten Richter wecken.

56.      Die Erfordernisse der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit und der vorherigen Errichtung durch Gesetz hängen eng miteinander zusammen und überschneiden sich. Die Verletzung eines von ihnen kann die Verletzung eines oder sogar aller anderen nach sich ziehen(35).

57.      Die Mitgliedstaaten, insbesondere ihre rechtsprechende Gewalt, müssen die den Einzelnen durch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verliehenen Rechte auf zweierlei Weise schützen.

58.      Erstens folgt aus dem Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht, dass der Einzelne die Möglichkeit haben muss, sich auf dieses Recht zu berufen(36). Wenn eine entsprechende Rüge erhoben wird, die nicht von vornherein offensichtlich unbegründet ist(37), muss jedes Gericht(38) überprüfen, ob es nach seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist. Diese Überprüfung ist erforderlich, um das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft zu erhalten. Sie stellt daher ein wesentliches Formerfordernis dar, das zwingend zu beachten und dessen Einhaltung auf eine entsprechende Rüge der Parteien hin oder von Amts wegen zu prüfen ist(39). In außergewöhnlichen Fällen können die Gerichte eines Mitgliedstaats zu entscheiden haben, ob das Grundrecht eines Einzelnen auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht in einem anderen Mitgliedstaat verletzt worden ist(40).

59.      Zweitens müssen die Gerichte den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts beachten(41). Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, sind verpflichtet, für dessen volle Wirksamkeit Sorge zu tragen, indem sie erforderlichenfalls jede nationale Regelung oder Rechtsprechung, die dem Unionsrecht zuwiderläuft, unangewendet lassen(42). Um eine Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, muss das mit der Anwendung von Unionsrecht betraute Gericht in der Lage sein, zu beurteilen und festzustellen, ob diese nationale Bestimmung dem Unionsrecht zuwiderläuft. Gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts(43) ist klar zu unterscheiden zwischen einer Befugnis, in einem bestimmten Fall eine unionsrechtswidrige Vorschrift des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, und jener, eine solche Vorschrift mit der weiter reichenden Wirkung zu beseitigen, dass diese für keinen Zweck mehr rechtsgültig ist(44).

60.      Zu der in der Gegenerwiderung angesprochenen Rolle der nationalen Verfassungen und Verfassungsgerichte(45) hat der Gerichtshof entschieden, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet. Das Unionsrecht gibt den Mitgliedstaaten kein konkretes verfassungsrechtliches Modell vor. Die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten müssen jedoch die Unabhängigkeit ihrer Gerichte sicherstellen. Sofern ein Verfassungsgericht wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewährleisten kann, steht Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats an eine Entscheidung des Verfassungsgerichts dieses Mitgliedstaats gebunden sind, mit der eine nationale Rechtsvorschrift für mit der Verfassung dieses Mitgliedstaats vereinbar erklärt wird. Das gilt jedoch nicht, wenn die Anwendung der nationalen Regelung diese ordentlichen Gerichte daran hindert, die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu prüfen, die das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für mit einer nationalen Verfassungsvorschrift, die den Vorrang des Unionsrechts vorsieht, vereinbar erklärt hat. Nach dem letztgenannten Grundsatz kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen des nationalen Rechts, und hätten sie Verfassungsrang, berufen, um die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu beeinträchtigen. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts bindet alle Emanationen des Mitgliedstaats, und innerstaatliches Recht, einschließlich seiner Verfassungsbestimmungen, kann dem nicht entgegenstehen. In Ausübung seiner ausschließlichen Zuständigkeit für die endgültige Auslegung von Unionsrecht ist es Sache des Gerichtshofs, in Wahrnehmung seiner ausschließlichen Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts zu klären(46).

61.      In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich zunächst die zweite Rüge der Kommission behandeln, die ein vermeintliches Rechtsprechungsmonopol für Entscheidungen über den Vorwurf fehlender Unabhängigkeit eines Gerichts und somit für die Bestimmung des Rechts auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht betrifft. Diese Rüge reicht weniger weit als die erste, die das Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta betrifft. Außerdem kann der Entscheidungsvorschlag zur zweiten Rüge Folgen für die Entscheidung über die erste Rüge haben.

VI.    Rechtliche Würdigung

A.      Zweite Rüge – Ausschließliche Zuständigkeit der Außerordentlichen Kammer für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters

1.      Vorbringen der Parteien

62.      Mit ihrer zweiten Rüge macht die Kommission geltend, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen habe, dass sie der Außerordentlichen Kammer die ausschließliche Zuständigkeit für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters zugewiesen habe. Die Rüge richtet sich gegen den Erlass und die Aufrechterhaltung von Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der Fassung des Änderungsgesetzes und von Art. 10 des Änderungsgesetzes.

63.      In der Sitzung hat die Kommission ihre Auffassung bekräftigt, dass die Außerordentliche Kammer für die Prüfung von Fragen betreffend die Unabhängigkeit der Gerichte, Spruchkörper und Richter ausschließlich zuständig sei. Solche Fragen könnten nicht auf Rechtsmittel vor einem anderen Gericht geprüft werden. Das Monopol der Außerordentlichen Kammer für die Prüfung der Unabhängigkeit sei zudem äußerst begrenzt, da diese nach Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht nicht für die Prüfung von Fragen der Unabhängigkeit betreffend die Ernennung eines Richters oder dessen Befugnis zur Wahrnehmung richterlicher Funktionen zuständig sei. Entgegen dem Vorbringen der Republik Polen widersprächen die ersten drei Rügen einander nicht, da die anwendbaren Bestimmungen des polnischen Rechts sicherstellten, dass das Verfahren zur Ernennung eines Richters nicht überprüft werden könne.

64.      Die zweite Rüge besteht aus vier Teilen. Erstens verleihe Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht der Außerordentlichen Kammer die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Anträge betreffend die Ablehnung von Richtern und die Bestimmung des zuständigen Gerichts in Sachen, in denen die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters geltend gemacht werde. Ein Gericht, bei dem ein solcher Antrag gestellt werde, müsse diesen unverzüglich der Außerordentlichen Kammer übermitteln. Deren Entscheidung binde dieses Gericht unabhängig davon, ob diese Kammer in dem Fall für eine Sachentscheidung zuständig sei.

65.      In Rn. 166 des Urteils A. K. hat der Gerichtshof ausgeführt, dass ein Gericht, das mit einem Rechtsstreit befasst ist, für den nach nationalem Recht eine andere Einrichtung zuständig ist, die nicht den Anforderungen an Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit genügt, zur Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne von Art. 47 der Charta verpflichtet ist, diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, damit der Rechtsstreit von einem Gericht entschieden werden kann, das diesen Anforderungen genügt.

66.      Mit der Übertragung der ausschließlichen Zuständigkeit für diese Fragen auf die Außerordentliche Kammer entziehe Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht den nationalen Gerichten mit Ausnahme dieser Kammer das Recht, dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV eine Frage zur Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta zur Vorabentscheidung vorzulegen. Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht hindere die nationalen Gerichte daran, aus eigener Entscheidungsbefugnis(47) oder auf Antrag einer Partei des Rechtsstreits(48) zu prüfen, ob ein Richter, der mit einem unter Unionsrecht fallenden Rechtsstreit befasst sei, dem Erfordernis der Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta genüge. Die Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters sei eine Querschnittsfrage, die sich in jeder beliebigen Sache stellen könne, und jedes Gericht, das mit einem Rechtsstreit mit unionsrechtlichem Bezug befasst sei, müsse zu ihrer Prüfung in der Lage sein. Die Übertragung einer ausschließlichen Zuständigkeit für die Entscheidung über solche Fragen sei auch nicht durch eine Notwendigkeit der Schaffung hierauf spezialisierter Gerichte gerechtfertigt.

67.      Zweitens führt die Kommission aus, nach Art. 82 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sei die Außerordentliche Kammer ausschließlich zuständig für die Entscheidung über Rechtsfragen in beim Obersten Gericht anhängigen Sachen, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts beträfen. Nach Art. 82 §§ 3 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlasse die Außerordentliche Kammer als Plenum in solchen Sachen eine Entscheidung, die alle Spruchkörper des Obersten Gerichts binde und die nur durch einen Beschluss des Plenums des Obersten Gerichts bestehend aus mindestens zwei Dritteln der Richter jeder seiner Kammern aufgehoben werden könne. Beim Erlass ihrer Entscheidung sei die Außerordentliche Kammer nicht an irgendeine Entscheidung des Obersten Gerichts gebunden, es sei denn, es handle sich um eine Entscheidung mit der „Wirkung eines Rechtsgrundsatzes“. Die vorgenannten Bestimmungen hinderten die anderen Kammern des Obersten Gerichts an der Entscheidung über solche Fragen und verletzten damit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta.

68.      Drittens macht die Kommission geltend, auch Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht verstoße gegen diese unionsrechtlichen Bestimmungen, da er der Außerordentlichen Kammer die ausschließliche Zuständigkeit für Klagen zuweise, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen aller polnischen Gerichte, einschließlich der anderen Kammern des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts, gerichtet seien, wenn die vermeintliche Rechtswidrigkeit den Status des Richters betreffe, der in der Sache entschieden habe. Solche Klagen könnten bei der Außerordentlichen Kammer ohne Befassung des Gerichts, das die angefochtene Entscheidung erlassen habe, erhoben werden, und zwar auch dann, wenn eine Partei nicht alle anderen verfügbaren Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe.

69.      Viertens verstoßen nach Ansicht der Kommission auch die Übergangsbestimmungen von Art. 10 des Änderungsgesetzes gegen das Unionsrecht. Nach diesen Bestimmungen seien die polnischen Gerichte verpflichtet gewesen, am 14. Februar 2020 anhängige Sachen, die nach Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 4 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in die ausschließliche Zuständigkeit der Außerordentlichen Kammer fielen, vor dem 21. Februar 2020 an diese zu verweisen. Nach der Verweisung dieser Sachen könne die Außerordentliche Kammer „die zuvor vorgenommenen Handlungen aufheben …, soweit sie der weiteren Prüfung der Sache im Einklang mit dem Gesetz entgegenstehen“. Zudem nehme das Änderungsgesetz nach dem 14. Februar 2020 vorgenommenen Handlungen, insbesondere richterlichen Handlungen, die verfahrensrechtliche Wirkung.

70.      Nach Auffassung der Kommission verstoßen die vorstehend bezeichneten Befugnisse der Außerordentlichen Kammer gegen Art. 267 AEUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta. Sie liefen auch der Verpflichtung der nationalen Gerichte zuwider, gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta anzuwenden.

71.      Was die Unabhängigkeit von Richtern und Gerichten angehe, müssten alle nationalen Gerichte in der Lage sein, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta anzuwenden, um so das Grundrecht des Einzelnen auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu gewährleisten. In einem bei ihm anhängigen Rechtsstreit sei ein im Rahmen seiner Zuständigkeit handelndes Gericht eines Mitgliedstaats verpflichtet, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta anzuwenden und jede nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung zuwiderlaufe. Die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen nähmen allen polnischen Gerichten mit Ausnahme der Außerordentlichen Kammer das Recht, über Inzidenzfragen wie die Ablehnung eines Richters in einem Spruchkörper eines Gerichts und die Bestimmung der Zuständigkeit eines Gerichts zu entscheiden. Diese Bestimmungen verwehrten es den nationalen Gerichten auch, einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen durch die Nichtanwendung nationaler Bestimmungen, mit denen in Sachen, die unter das Unionsrecht fielen, Gerichte und Richter für zuständig erklärt würden, die nicht die Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta erfüllten.

72.      Seit dem 14. Februar 2020 nähmen die im vorliegenden Verfahren gerügten Bestimmungen anderen nationalen Gerichten das Recht und im Fall eines letztinstanzlich entscheidenden Gerichts die Verpflichtung, nach Art. 267 AEUV Fragen nach der Auslegung der unionsrechtlichen Erfordernisse der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit eines Gerichts zur Vorabentscheidung vorzulegen. Insbesondere sei den nationalen Gerichten mit Ausnahme der Außerordentlichen Kammer die Möglichkeit der Entscheidung über solche Fragen genommen. Art. 26 §§ 4 bis 6 und Art. 82 §§ 2 bis 4 des Gesetzes über das Oberste Gericht seien auch nicht auf Inzidenzfragen beschränkt, da sie der Außerordentlichen Kammer eine ausschließliche Zuständigkeit zuwiesen. Dieses Recht und diese Verpflichtung seien dem mit Art. 267 AEUV geschaffenen System der Zusammenarbeit und den Pflichten inhärent, die Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einem mit der Anwendung von Unionsrecht betrauten Richter zuweise.

73.      Auch die Übergangsbestimmungen von Art. 10 des Änderungsgesetzes verstießen gegen Art. 267 AEUV, da sie die nationalen Gerichte daran hinderten, vor dem 14. Februar 2020 vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten. Art. 10 § 2 des Änderungsgesetzes erlaube es der Außerordentlichen Kammer, Handlungen eines nationalen Gerichts aufzuheben und insbesondere von diesem zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen zurückzuziehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stehe fest, dass einem nationalen Gericht die Aufrechterhaltung eines Ersuchens um Vorabentscheidung möglich sein müsse, damit die Effektivität der ihm durch Art. 267 AEUV übertragenen Befugnisse sichergestellt sei.

74.      In der Erwiderung hebt die Kommission hervor, dass sie nicht das Recht der nationalen Gesetzgeber in Frage stelle, die Zuständigkeit der Gerichte gesetzlich zu regeln. Sie ziehe vielmehr das der Außerordentlichen Kammer verliehene Monopol für die Prüfung in Zweifel, ob ein Gericht oder ein Richter das unionsrechtliche Erfordernis der Unabhängigkeit erfülle, könnten solche Fragen doch vor allen nationalen Gerichten aufgeworfen werden. Sie sei nicht der Ansicht, dass ein Gericht, das mit einer Frage betreffend das unionsrechtliche Erfordernis der Unabhängigkeit befasst werde, diese stets prüfen müsse. In einem Mitgliedstaat mit 10 000 Richtern könne jedoch die Zuständigkeit für die Anwendung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta nicht einer Kammer mit 20 Richtern vorbehalten werden. Zudem sei die Außerordentliche Kammer gemäß dem Gesetz über das Oberste Gericht vom 8. Dezember 2017 eingerichtet worden, und ihre Mitglieder seien auf Vorschlag der KRS ernannt worden. Da die Rolle der KRS bei der Ernennung von Richtern häufig zu Ablehnungsanträgen führe, sei die Außerordentliche Kammer in Fragen der richterlichen Unabhängigkeit möglicherweise selbst nicht unparteiisch und objektiv(49).

75.      In der Sitzung hat die Kommission auf eine Frage des Gerichtshofs bestätigt, dass die Frage der Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters nicht vor einem Rechtsmittelgericht aufgeworfen werden könne. Somit besitze die Außerordentliche Kammer die ausschließliche Zuständigkeit für alle Fragen betreffend die Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters.

76.      Die Republik Polen ist der Ansicht, dass die zweite Rüge unbegründet und in vollem Umfang zurückzuweisen sei.

77.      Zum Vorwurf der Verletzung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta meint die Republik Polen, dass die Kommission das Urteil A. K. missverstehe. Aus diesem Urteil ergebe sich, dass, wenn eine Sache mit unionsrechtlichem Bezug einem nicht zuständigen Gericht zugewiesen worden sei und eine Partei geltend mache, dass die Prüfung der Sache durch ein zuständiges Gericht ihre Rechte aus Art. 47 der Charta verletze, das nicht zuständige Gericht diesem Einwand folgen und die Sache an ein anderes unabhängiges Gericht verweisen könne, das zuständig wäre, wenn dem nicht die Bestimmungen entgegenstünden, die die Zuständigkeit einem nicht unabhängigen Gericht vorbehielten. Im Urteil A. K. sei nicht entschieden worden, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV den Mitgliedstaaten den Erlass von Bestimmungen über die Zuständigkeit der Gerichte verwehre. Zudem unterscheide sich die Stellung eines Gerichts, das eine Sache an ein dafür zuständiges Gericht verweisen müsse, grundlegend von der eines Gerichts, das mit einem gegen es selbst gerichteten Ablehnungsantrag befasst sei bzw. vor dem eine Rechtsfrage oder ein Zweifel hinsichtlich der Rechtmäßigkeit eines rechtskräftigen Urteils aufgeworfen werde. Die Auffassung der Kommission würde zu einer Verletzung des Rechts auf ein durch Gesetz errichtetes Gericht und, in Fällen betreffend die Ablehnung eines Richters, des Rechts auf ein unabhängiges Gericht führen. Die Zuweisung der Zuständigkeit an die Gerichte in allen vor sie gebrachten Sachen sei eine conditio sine qua non des Zugangs zu einem durch Gesetz errichteten Gericht.

78.      Den Mitgliedstaaten komme, so die Republik Polen, eine ausschließliche Zuständigkeit für den Erlass von Bestimmungen über die Zuständigkeit ihrer Gerichte zu. Die Mitgliedstaaten müssten zwar Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV beachten, doch könne dieser nicht die Zuständigkeitsverteilung zwischen den nationalen Gerichten regeln. Die Kommission habe nicht die Unabhängigkeit der Außerordentlichen Kammer in Frage gestellt. Die zweite Rüge sei somit auf das Vorbringen gestützt, dass die nationalen Gerichte ein Recht zur Entscheidung bestimmter Sachen hätten, ein Recht, das nach Ansicht der Kommission durch die anderen Gerichten übertragene sachliche Zuständigkeit beeinträchtigt würde. Die vorlegenden Gerichte in der Rechtssache, in der das Urteil A. K. ergangen sei, seien in den bei ihnen anhängigen Sachen nicht zuständig gewesen und hätten diese an das zuständige Gericht verwiesen. Diese Verweisung sei in Art. 200 § 14 der polnischen Zivilprozessordnung (im Folgenden: Zivilprozessordnung) geregelt, wonach jedes Gericht seine Zuständigkeit prüfen und bei deren Fehlen die Sache an das zur Entscheidung über diese Frage zuständige Gericht verweisen müsse.

79.      Zu Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betreffend die Ablehnung von Richtern macht die Republik Polen geltend, ein Richter oder ein Spruchkörper eines Gerichts, der mit einem Ablehnungsantrag befasst sei, müsse diesen Antrag an einen anderen Spruchkörper oder ein höheres Gericht verweisen. Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht entziehe somit dem zuständigen Richter, Spruchkörper oder Gericht nicht die Befugnis zur Entscheidung über solche Inzidenzfragen. In der Sitzung hat die Republik Polen auf eine Frage des Gerichtshofs bestätigt, dass die Frage der Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters im Rechtsmittelverfahren aufgeworfen werden könne.

80.      Nach Ansicht der Republik Polen ist eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung nach Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht keine Vor- oder Inzidenzfrage, sondern muss bei einem spezialisierten Gericht mit der Zuständigkeit zur Entscheidung darüber erhoben werden. Das Verfahren werde mit einer außerordentlichen Klage gegen eine rechtskräftige Entscheidung eingeleitet, die nach dem Vorbringen einer Partei materielles Recht oder Verfahrensrecht verletzt und ihr Schaden zugefügt haben solle. Einer Person die Möglichkeit einzuräumen, eine solche Frage vor jedem Gericht in jedem beliebigen Verfahren aufzuwerfen, würde u. a. die Grundsätze der Rechtskraft und der Rechtssicherheit untergraben. Es liege auf der Hand, dass das Gericht, das die beanstandete Entscheidung erlassen habe, eine solchen Antrag nicht prüfen könne. Anhand des Urteils A. K. lasse sich auch nicht nachvollziehen, warum die Kommission der Ansicht sei, dass ein wirksamer Rechtsbehelf im Fall eines Verstoßes gegen Art. 47 der Charta nur gegeben sei, wenn ein solcher Antrag von dem Gericht geprüft werde, das das angefochtene Urteil erlassen habe. Die Übertragung der Zuständigkeit auf eine auf die Prüfung solcher Fragen spezialisierte Kammer stärke den verfahrensrechtlichen Schutz der Parteien und beeinträchtige nicht das Recht auf ein Gericht.

81.      Das Vorbringen der Kommission zu Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und zur Zuständigkeit der Außerordentlichen Kammer für Rechtsfragen betreffend die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts sei unbegründet. Nach Art. 1 § 1 Buchst. a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sei das Oberste Gericht zuständig für den Erlass von Beschlüssen, mit denen alle Rechtsfragen in Sachen, die in seine Zuständigkeit fielen, geklärt würden. Zudem übertrage Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht der Außerordentlichen Kammer die Zuständigkeit für die Auslegung des Gesetzes. Er beschränke somit nicht das Recht anderer Gerichte zur Feststellung des Sachverhalts. Überdies seien die Gerichte berechtigt, aber nicht verpflichtet, solche Fragen der Außerordentlichen Kammer vorzulegen.

82.      Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 10 des Änderungsgesetzes beschränkten nicht die Zuständigkeit der Gerichte für die Vorlage von Fragen zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV. Jedenfalls sei die Außerordentliche Kammer ein letztinstanzliches Gericht, das gemäß Art. 267 AEUV bei Zweifeln hinsichtlich der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorlagepflichtig sei.

83.      Da die Kommission nicht erläutert habe, inwiefern die mit der zweiten Rüge beanstandeten Bestimmungen des nationalen Rechts den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verletzten, sei diese Rüge zurückzuweisen(50).

84.      Zu den Übergangsbestimmungen von Art. 10 des Änderungsgesetzes führt die Republik Polen aus, diese Vorschrift sei bereits ausgelaufen. Die Kommission lege keinen Beweis, sei es gestützt auf den Wortlaut dieser Bestimmung oder auf die Praxis der Außerordentlichen Kammer, dafür vor, dass die Kammer diese Vorschrift für die Rücknahme von Vorabentscheidungsersuchen anderer polnischer Gerichte oder für die Beeinträchtigung der Wirksamkeit der Urteile des Gerichtshofs genutzt habe oder nutzen könne. Zudem sei die Zuständigkeit der Gerichte durch Art. 200 § 1 der Zivilprozessordnung und durch Art. 35 § 1 der polnischen Strafprozessordnung (im Folgenden: Strafprozessordnung) geregelt, deren Rechtmäßigkeit die Kommission nicht in Frage gestellt habe.

85.      In der Gegenerwiderung weist die Republik Polen darauf hin, dass das in Nr. 74 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegebene Vorbringen der Kommission zur fehlenden Unabhängigkeit der Außerordentlichen Kammer nicht in der Klageschrift enthalten gewesen sei. Als neues Vorbringen müsse es gemäß Art. 127 Abs. 1 der Verfahrensordnung zurückgewiesen werden.

2.      Würdigung

a)      Zulässigkeit

86.      Das Vorbringen der Kommission, die Außerordentliche Kammer sei wegen der Beteiligung der KRS an der Ernennung der dieser Kammer angehörenden Richter und wegen ihrer Besetzung mit nur 20 Richtern(51) nicht unabhängig, ist erstmals in der Erwiderung enthalten(52).

87.      Hierzu genügt der Hinweis, dass nach Art. 127 Abs. 1 der Verfahrensordnung das Vorbringen neuer Klage- und Verteidigungsgründe im Laufe des Verfahrens unzulässig ist, es sei denn, dass sie auf rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind.

88.      Während des Vorverfahrens und bei Einreichung der vorliegenden Klage war der Kommission(53) die Einrichtung der Außerordentlichen Kammer durch das Gesetz über das Oberste Gericht vom 8. Dezember 2017 bekannt. Sie kannte demnach die Zahl der Richter, mit der diese Kammer besetzt ist, und die Art und Weise ihrer Ernennung, insbesondere die Rolle der KRS. Soweit sich das Vorbringen der Kommission auf diese Fragen bezieht, ist es demnach als unzulässig zurückzuweisen.

89.      Nach dem Urteil Disziplinarordnung für Richter(54) bestehen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS und ihrer Rolle bei der Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts. Dem Gerichtshof zufolge war dies zusammen mit anderen Faktoren geeignet, bei den Rechtsuchenden berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer aufkommen zu lassen. Er entschied deshalb, dass die Republik Polen dadurch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht sichergestellt hat.

90.      Auch wenn es Sache der Kommission ist, dass sie eine entsprechende Rüge in Bezug auf die Außerordentliche Kammer in keinem Stadium des vorliegenden Verfahrens vorgebracht hat, überrascht es doch etwas. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass das Urteil des Gerichtshofs zum Versäumnis der Republik Polen, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer zu gewährleisten, auf eine Reihe von Faktoren gestützt war, die nicht auf Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS beschränkt waren(55). Selbst wenn sich der Gerichtshof auf seine Feststellungen zur Unabhängigkeit der KRS im Urteil Disziplinarordnung für Richter(56) stützen könnte, würde das allein nicht genügen, um im vorliegenden Verfahren eine Entscheidung zu rechtfertigen, dass die Außerordentliche Kammer nicht unabhängig ist(57).

91.      Zudem hat der EGMR in seinem Urteil vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen(58), einstimmig festgestellt, dass die Republik Polen gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen habe, da die Außerordentliche Kammer kein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ sei(59). Für diese Schlussfolgerung bezog sich der EGMR ausführlich auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu jüngsten Reformen der polnischen Justiz. Die Entscheidung des EGMR war auf die Feststellung gestützt, dass offenkundige Verletzungen nationalen Rechts vorlägen, die das Wirken grundlegender Verfahrensregeln für die Ernennung von Richtern der Außerordentlichen Kammer beeinträchtigten. Diese Unregelmäßigkeiten im Ernennungsverfahren stellten die Legitimität der Außerordentlichen Kammer in einem Ausmaß in Frage, dass ihr die Merkmale eines „Gerichts“ fehlten, das „gesetzmäßig“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei. In dieser Hinsicht stellte der EGMR unmissverständlich fest, dass „die Empfehlung von Kandidaten für die Berufung zum Richter der [Außerordentlichen Kammer] – conditio sine qua non für die Ernennung durch den Präsidenten der Republik Polen[(60)] – der [KRS] übertragen ist, einer Einrichtung, die keine hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive bietet“(61).

92.      Das Urteil des EGMR bindet den Gerichtshof nicht, da die Union der EMRK nicht beigetreten ist. Nach Art. 52 Abs. 3 der Charta muss der Gerichtshof jedoch darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierten Schutzniveau zurückbleibt(62). Der mit dem endgültigen Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen(63) gesetzte Maßstab kann somit in jedem künftigen Verfahren vor dem Gerichtshof relevant sein. Es sei noch angemerkt, dass die Republik Polen gemäß Art. 46 EMRK dem endgültigen Urteil Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen(64) nachkommen und die dafür angemessenen Maßnahmen rasch treffen muss(65).

b)      Begründetheit

93.      Zur Untermauerung ihrer zweiten Rüge stützt sich die Kommission in hohem Maß auf das Urteil A. K. In jener Rechtssache war die ausschließliche Zuständigkeit der Disziplinarkammer für auf Unionsrecht gestützte Klagen von Richtern(66) mit der Begründung in Frage gestellt worden, dass dieser Kammer die nach Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta erforderliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit fehle. Da die Kommission und die Republik Polen über die Auslegung dieses Urteils sehr unterschiedlicher Meinung sind, führe ich hier dessen Rn. 165 und 166 an:

„165      Eine nationale Bestimmung, die einer bestimmten Einrichtung, die den sich aus Art. 47 der Charta ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht genügt, die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Rechtsstreit zuwiese, in dem ein Einzelner – wie im vorliegenden Fall – eine Verletzung von Rechten geltend macht, die sich aus den Vorschriften des Unionsrechts ergeben, würde dem Betroffenen jeden wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 vorenthalten und den Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf verkennen …

166      Somit ist, wenn sich herausstellt, dass eine nationale Bestimmung die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Rechtsstreit wie die Rechtsstreitigkeiten des Ausgangsverfahrens einer Einrichtung vorbehält, die nicht den Anforderungen an die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit genügt, die sich aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 47 der Charta, ergeben, eine andere Einrichtung, die mit einem solchen Rechtsstreit befasst ist, zur Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne von Art. 47 der Charta gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, damit der Rechtsstreit von einem Gericht entschieden werden kann, das diesen Anforderungen genügt und in dem entsprechenden Bereich zuständig wäre, stünde dem nicht diese Bestimmung entgegen. Das ist in der Regel das Gericht, das nach den Rechtsvorschriften zuständig war, die galten, bevor die Gesetzesänderung erfolgte, mit der die Zuständigkeit der diesen Anforderungen nicht genügenden Einrichtung zugewiesen wurde …“(67)

94.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich klar, dass im Urteil A. K. nicht die ausschließliche Zuständigkeit beanstandet worden ist, die das nationale Recht der Disziplinarkammer für die Entscheidung in Sachen zuweist, die von Richtern in Bezug auf Rechte aus der Richtlinie 2000/78 anhängig gemacht werden. Der Gerichtshof hat vielmehr entschieden, dass das nationale Recht die ausschließliche Zuständigkeit nicht einem Gericht vorbehalten kann, das den Anforderungen an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 47 der Charta nicht genügt(68). Die vorstehenden Nummern zeigen ebenso klar, dass der Gerichtshof nicht befunden hat, dass irgendein anderes Gericht, das diesen Anforderungen genügt, für die Entscheidung über diese Frage zuständig wäre oder sein sollte. Er hat lediglich festgestellt, dass das Gericht für die Entscheidung der Sache zuständig ist, das nach den zuvor geltenden Rechtsvorschriften für die Entscheidung über solche Fragen zuständig war(69).

95.      Das Urteil A. K. bestätigt das Recht jedes Mitgliedstaats, gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie seine eigene Gerichtsverfassung zu bestimmen und Verfahrensregeln für Klagen zu erlassen, die den Einzelnen den Schutz der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte ermöglichen. Abgesehen von dem feststehenden Erfordernis, das die nationalen Gerichte unabhängig, unparteiisch und zuvor durch Gesetz errichtet sein müssen(70), müssen die für solche Klagen geltenden Bestimmungen die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachten. Die aus diesen Grundsätzen folgenden Anforderungen gelten für die Bestimmung der Gerichte, die für die Entscheidung über auf Unionsrecht gestützte Klagen zuständig sind, und für die für solche Klagen geltenden Verfahrensregeln. Die Beachtung dieser Anforderungen ist unter Berücksichtigung der Stellung der betreffenden Bestimmungen im gesamten Verfahren, seines Ablaufs und der Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu beurteilen(71).

96.      Die Kommission macht nicht geltend, dass Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 10 des Änderungsgesetzes nicht im Einklang mit dem Äquivalenzgrundsatz stünden. Sie zielt mit ihrer Rüge vielmehr auf den Effektivitätsgrundsatz und insbesondere das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Sie macht ganz grundsätzlich geltend, dass Fragen betreffend die Unabhängigkeit eines Gerichts oder Richters Querschnittsfragen seien, die sich in jeder Sache stellen könnten, und dass alle nationalen Gerichte, die mit einer Sache mit unionsrechtlichem Bezug befasst seien, in der Lage sein müssten, diese Fragen zu prüfen. Die Zuständigkeit für solche Fragen dürfe daher nicht spezialisierten Gerichten vorbehalten werden.

97.      Eine Prüfung von Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zeigt, dass der Außerordentlichen Kammer damit die ausschließliche Zuständigkeit dafür zugewiesen wird, über Anträge zu entscheiden, mit denen u. a. die fehlende Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts geltend gemacht wird, und in diesem Zusammenhang Abhilfe zu schaffen. Alle Gerichte, einschließlich derer, die mit einer Sache mit unionsrechtlichem Bezug befasst sind, müssen daher einen Antrag(72), mit dem die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters gerügt wird, dem Präsidenten der Außerordentlichen Kammer übermitteln(73).

98.      Der Ausdruck „ist zuständig“ in Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ist eindeutig und genügt meines Erachtens für die Feststellung, dass die Frage der Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters in die ausschließliche Zuständigkeit der Außerordentlichen Kammer fällt(74). Der Wortlaut dieser Bestimmung stützt nicht das Vorbringen der Republik Polen, dass Fragen der Unabhängigkeit in einem Rechtsmittelverfahren aufgeworfen werden könnten. Zudem hat die Republik Polen, als der Gerichtshof dies in der Sitzung angesprochen hat, keinen überzeugenden Beweis dafür vorgelegt, dass diese Fragen in einem Rechtsmittelverfahren gebührend behandelt werden können. Allerdings hat die Kommission weder geltend gemacht noch ergibt sich aus Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, dass die Frage der Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts im Wege einer gesonderten, selbständigen Klage vor die Außerordentliche Kammer gebracht werden müsste. Vielmehr wird ein unter Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht fallender Streit als ein vor die Außerordentliche Kammer zu bringender Zwischenstreit oder Antrag behandelt. Die Kommission hat nicht geltend gemacht, dass das Erfordernis der Verweisung eines solchen Zwischenstreits oder Antrags an die Außerordentliche Kammer so belastend sei, dass es die volle Wirksamkeit der den Einzelnen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 und Art. 47 der Charta erwachsenden Rechte beeinträchtigte. Auch spricht nichts dafür, dass die Übermittlung dieser Fragen an die Außerordentliche Kammer den Einzelnen die Wahrnehmung ihrer Rechte aus Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta übermäßig erschwert. Fragen betreffend die Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters mögen Querschnittsfragen sein, die nicht die Befassung eines spezialisierten Gerichts erfordern, doch ist es nicht rechtswidrig, sie von einem anderen Gericht oder Spruchkörper entscheiden zu lassen. Eine solche Praxis ist möglicherweise sogar geeignet, eine bessere und einheitliche Anwendung der geltenden Regeln zu fördern und dadurch wirksamen Rechtsschutz in vom Unionsrecht erfassten Bereichen bei voller Beachtung des Grundsatzes des Vorrangs sicherzustellen.

99.      Wenn die fragliche nationale Bestimmung die Wirksamkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta(75) beeinträchtigt, etwa dadurch, dass sie einem Gericht, das selbst nicht unabhängig ist, ein Monopol für die Entscheidung über die Unabhängigkeit eines anderen Gerichts einräumt, müsste nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts das mit einer solchen Klage(76) befasste Gericht alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die volle Wirksamkeit dieser unionsrechtlichen Bestimmungen dadurch sicherzustellen, dass es erforderlichenfalls jede unionsrechtswidrige nationale Bestimmung oder Rechtsprechung unangewendet lässt(77).

100. In Ermangelung eines Verstoßes gegen den Äquivalenz- oder Effektivitätsgrundsatz bin ich daher der Ansicht, dass nationale Verfahrensbestimmungen, die die Gerichte oder Spruchkörper, die über Fragen der Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters entscheiden können, begrenzen oder beschränken, nicht gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta oder gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen.

101. Folglich hindert Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht die nationalen Gerichte nicht an der Prüfung, ob sie dem Erfordernis der Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta genügen(78). Er weist der Außerordentlichen Kammer lediglich die ausschließliche Zuständigkeit dafür zu, nach der Übermittlung einer solchen Frage an sie über die Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters zu entscheiden.

102. Das in den Nrn. 67 und 68 der vorliegenden Schlussanträge zusammengefasste Vorbringen der Kommission zu Art. 26 §§ 4 bis 6 und Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht beschreibt nur den Inhalt dieser Bestimmungen(79). Wie aus Nr. 66 der vorliegenden Schlussanträge hervorgeht, macht die Kommission grundsätzlich geltend, dass Fragen der Unabhängigkeit von Richtern und Gerichten ihrem Wesen nach Querschnittsfragen seien. Demgemäß verstießen diese Bestimmungen des nationalen Rechts gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta, indem sie allen polnischen Gerichten mit Ausnahme der Außerordentlichen Kammer das Recht nähmen, über Fragen der Unabhängigkeit von Gerichten oder Richtern zu entscheiden, die sich in von diesen Bestimmungen des nationalen Rechts erfassten Verfahren stellten. Die Kommission hat jedoch nicht dargetan, dass diese Bestimmungen des nationalen Rechts und die in ihnen für Zuständigkeitsfragen festgelegten Verfahren und Regelungen die volle Wirksamkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta oder den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts beeinträchtigen. Vielmehr ist es ihr nicht gelungen, das Vorbringen der Republik Polen zu entkräften, dass die Behandlung solcher Verfahren durch ein spezialisiertes Gericht im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta stehe.

103. Was das Vorbringen der Kommission angeht, Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht verstießen gegen Art. 267 AEUV, hat diese, abgesehen davon, dass die genannten Bestimmungen in keiner Weise auf diesen Artikel Bezug nehmen, nicht dargetan, dass sie es einem anderen nationalen Gericht als der Außerordentlichen Kammer, das mit einer Sache befasst ist, in der die Frage der Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters aufgeworfen wird, tatsächlich oder rechtlich verwehren oder es daran hindern(80), gemäß Art. 267 AEUV um eine Vorabentscheidung zu ersuchen(81).

104. In dieser Hinsicht folgt sowohl aus dem Wortlaut als auch dem Aufbau von Art. 267 AEUV, dass das Vorabentscheidungsverfahren voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der die Vorabentscheidung des Gerichtshofs berücksichtigt werden kann(82).

105. Folglich ist über die Ausübung der ausschließlichen Zuständigkeit hinaus, die der Außerordentlichen Kammer mit Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6(83) sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zugewiesen wird, die Frage der Unabhängigkeit von Gerichten, Spruchkörpern und Richtern eine Querschnittsfrage, die sich vor jedem Gericht stellen kann, wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat. Ein Gericht, das in einem bei ihm anhängigen Verfahren mit Fragen betreffend die Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters befasst wird, kann erforderlichenfalls den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersuchen.

106. Art. 267 AEUV verleiht den nationalen Gerichten ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, deren Beantwortung für die Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits erforderlich ist. Den nationalen Gerichten steht es zudem frei, diese Möglichkeit in jedem Moment des Verfahrens zu nutzen, den sie für geeignet halten(84). Auch dann, wenn ein Gericht nach nationalem Recht durch die Entscheidungen eines übergeordneten Gerichts gebunden ist, nimmt ihm dies allein nicht das Recht, gemäß Art. 267 AEUV Fragen nach der Auslegung und der Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen. Dem erstgenannten Gericht steht es insbesondere dann frei, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen, wenn es der Ansicht ist, dass es aufgrund der rechtlichen Beurteilung des übergeordneten Gerichts zu einem unionsrechtswidrigen Urteil gelangen könnte(85). Zudem bindet eine Entscheidung des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung der betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens(86).

107. Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Gerichte in der Republik Polen dem Gerichtshof jede aus ihrer Sicht gebotene Frage in jedem ihrer Ansicht nach geeigneten Stadium des Verfahrens, und zwar auch am Ende eines Verfahrens, wie es in Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geregelt ist, zur Vorabentscheidung vorlegen können. Sie können auch alle notwendigen Maßnahmen erlassen, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte sicherzustellen, und am Ende des Verfahrens die in Rede stehende nationale Rechtsvorschrift oder das Urteil der Außerordentlichen Kammer unangewendet lassen, wenn sie diese für unionsrechtswidrig halten. Als Gericht letzter Instanz ist die Außerordentliche Kammer nach Art. 267 Abs. 3 AEUV grundsätzlich zur Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet, wenn vor ihr eine Frage betreffend die Auslegung des AEU-Vertrags aufgeworfen wird.

108. Was das Vorbringen der Kommission zu den Übergangsmaßnahmen in Art. 10 des Änderungsgesetzes angeht, so ist nach ständiger Rechtsprechung das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war(87). Art. 10 des Änderungsgesetzes ist am 14. Februar 2020 in Kraft getreten. In Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs hat die Kommission bestätigt, dass sie keinen Beweis dafür hat, dass diese Bestimmung nach dem Ende des in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgelegten Zeitraums, d. h. nach dem 30. Dezember 2020, weiter Wirkungen entfaltet hat. Sie hat damit anerkannt, dass Art. 10 des Änderungsgesetzes zu diesem Zeitpunkt „ausgelaufen“ ist. Folglich ist die Rüge der Kommission betreffend Art. 10 des Änderungsgesetzes unzulässig.

109. Jedenfalls kann in Ermangelung jedes Beweises, der die Legitimität der Übertragung der ausschließlichen Zuständigkeit für die Entscheidung über eine Frage der Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters nach Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht an die Außerordentliche Kammer in Frage stellen würde, die Rüge der Kommission betreffend die Übergangsmaßnahmen nach Art. 10 des Änderungsgesetzes, der lediglich die zeitliche Geltung der vorgenannten Bestimmungen regelt, keinen Erfolg haben.

110. Die Kommission beantragt auch die Feststellung, dass die Republik Polen mit der Anwendung der mit der vorliegenden Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen den Vorrang des Unionsrechts verletzt habe. Dazu genügt der Hinweis, dass der Vorwurf in Bezug auf den Vorrang die Durchführung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV durch die Republik Polen betrifft. Es handelt sich somit nicht um einen eigenständigen Vorwurf, so dass darüber nicht gesondert zu entscheiden ist(88).

111. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Rüge zurückzuweisen.

B.      Erste Rüge – Verbot für die nationalen Gerichte, die Beachtung des unionsrechtlichen Erfordernisses eines wirksamen Rechtsbehelfs vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht zu prüfen

1.      Vorbringen der Parteien

112. Die Kommission macht geltend, mit dem Verbot für die nationalen Gerichte, die Beachtung des unionsrechtlichen Erfordernisses eines wirksamen Rechtsbehelfs vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht zu prüfen, habe die Republik Polen gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta im Licht der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen.

113. Die Kommission trägt erstens vor, Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit untersagten es diesen nationalen Gerichten, die Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern oder die Legitimität gerichtlicher Einrichtungen in der Republik Polen zu prüfen und somit zu kontrollieren, ob ein Gericht, dem ein Richter angehöre, zuvor durch Gesetz errichtet worden sei im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta im Licht des Urteils Guðmundur Andri Ástráðsson/Island des EGMR(89). In ihrer Erwiderung macht die Kommission geltend, die vorgenannten Bestimmungen des polnischen Rechts unterschieden ihrem Wortlaut nach nicht zwischen der gerichtlichen Überprüfung des Rechtsakts zur Ernennung eines Richters durch den Präsidenten der Republik und der gerichtlichen Überprüfung, mit der die Beachtung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sichergestellt werden solle. Die Ordnungsgemäßheit des zur Ernennung eines Richters führenden Verfahrens berühre nicht nur die Gültigkeit des Ernennungsakts, sondern auch die Anwendung des unionsrechtlichen Erfordernisses des Zugangs zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta. Nach Rn. 134 des Urteils A. K. müssten die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für die Ernennung von Richtern so beschaffen sein, dass sie bei den Einzelnen keine berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität gegenüber den widerstreitenden Interessen aufkommen ließen.

114. Zweitens macht die Kommission geltend, dass Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit die polnischen Gerichte an der Prüfung hindere, ob Mitglieder eines Spruchkörpers rechtmäßig richterliche Aufgaben wahrnähmen. Er untersage es den Gerichten, von sich aus oder auf Antrag einer Partei auf der Grundlage der „Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper“ zu entscheiden, dass ein Spruchkörper des Gerichts nicht ordnungsgemäß besetzt oder unzureichend mit Personal ausgestattet sei oder dass einer Person die Befugnis oder die Zuständigkeit für eine Entscheidung fehle. Diese Bestimmung hindere die Gerichte somit daran, durch die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Urteils zu überprüfen, ob ein Gericht ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sei und ob es demnach für die Entscheidung der Sache zuständig gewesen sei. Zudem finde Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach Art. 8 des Änderungsgesetzes auch auf anhängige Sachen Anwendung. In der Erwiderung wird erläutert, dass gemäß Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit ein Richter, der im Einklang mit den Vorschriften über die Zuweisung von Sachen bestimmt worden sei, als zuständig für die ordnungsgemäße Entscheidung in einer Sache angesehen werde. Damit werde verhindert, dass die Erfordernisse eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Rahmen eines Rechtsmittels gegen ein Urteil geprüft würden.

115. Nach Ansicht der Kommission hindern die vorgenannten nationalen Bestimmungen ein polnisches Gericht daran, seiner Verpflichtung nachzukommen, von sich aus oder auf Antrag einer Partei zu prüfen, ob es in Anbetracht seiner Besetzung ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sei. Zudem hinderten diese Bestimmungen die Gerichte, wenn diese Frage von Bedeutung für ihr eigenes Urteil sei (z. B. bei einem Rechtsbehelf, der auf die Aufhebung einer Entscheidung wegen nicht ordnungsgemäßer Besetzung eines Gerichts gerichtet sei), an der Feststellung, ob ein anderes Gericht in Anbetracht der Umstände der Ernennung eines Richters oder hinsichtlich der Legitimität einer gerichtlichen Einrichtung den unionsrechtlichen Erfordernissen eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta im Licht der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK genüge.

116. Der Kommission zufolge erfordert die gerichtliche Überprüfung des Erfordernisses eines unabhängigen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta nicht die Einführung eines diesem Zweck dienenden besonderen Mechanismus. Es sei auch nicht unbedingt erforderlich, dass ein nationaler Richter den Rechtsakt zur Ernennung eines Richters aufhebe oder die ernannte Person abberufe. Daher sei es irrelevant, dass nach der Verfassung der Republik Polen der Rechtsakt zur Ernennung eines Richters unanfechtbar sei. Es obliege dem mit der Sache befassten nationalen Gericht, die Folgen einer Verletzung des Erfordernisses eines unabhängigen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts auf der Grundlage des anwendbaren nationalen Rechts unter gebührender Berücksichtigung der Effektivität des Unionsrechts und solcher Gesichtspunkte wie des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu bestimmen.

117. Nach Ansicht der Republik Polen hat die Kommission nicht nachgewiesen, dass Art. 267 AEUV und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verletzt seien. Zudem habe sich die Kommission nicht zu Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geäußert und nicht erläutert, inwiefern dieser gegen Unionsrecht verstoßen solle.

118. Die Republik Polen unterscheidet klar zwischen der gerichtlichen Überprüfung des Rechtsakts zur Ernennung eines Richters und seiner Wirkungen und der gerichtlichen Überprüfung des Schutzes, den ein Gericht gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sicherstellen müsse. Das polnische Recht lasse die erstgenannte Form der gerichtlichen Prüfung nicht zu, was der Gerichtshof im Urteil A. K. nicht beanstandet habe(90). Nach der Verfassung der Republik Polen und der ständigen Rechtsprechung der polnischen Gerichte sei die Ernennung der Richter ein Vorrecht des Präsidenten der Republik. Diese Befugnis unterliege keiner gerichtlichen Kontrolle und habe ihr nie unterlegen, da eine solche dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter zuwiderliefe. Dies stehe im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die Voraussetzungen für die Abberufung eines Richters gesetzlich bestimmt, gerechtfertigt und verhältnismäßig sein müssten. Es stehe auch im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, nach der die Organisation der Justiz nicht in das Ermessen der Richterschaft gestellt sein sollte. Vielmehr sehe das polnische Recht die gerichtliche Kontrolle des Rechts auf ein unabhängiges Gericht und die Gewähr der vom Unionsrecht vorgesehenen Garantien vor. Die von der Kommission vertretene Auslegung der beanstandeten Bestimmungen werde durch die Rechtsprechung nicht gestützt.

119. Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit beschränkten nicht die Befugnis der nationalen Gerichte, die Verfügbarkeit der den Einzelnen durch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta eingeräumten Rechte zu kontrollieren.

120. Hierzu weist die Republik Polen erstens darauf hin, dass bei Zweifeln an der Unparteilichkeit eines Richters dessen Ablehnung gemäß den Art. 48 bis 54 der Zivilprozessordnung(91), den Art. 40 bis 44 der Strafprozessordnung(92) oder den Art. 18 bis 24 der polnischen Verwaltungsgerichtsordnung(93) (im Folgenden: Verwaltungsgerichtsordnung) beantragt werden könne.

121. Zweitens könne eine Sache, in der die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts in Frage gestellt werde oder Zweifel betreffend das Recht eines Einzelnen auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht geäußert würden, an ein anderes nach nationalem Recht zuständiges Gericht verwiesen werden(94), das Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV entspreche.

122. Drittens müsse, wenn das befasste Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei oder ein abgelehnter Richter an einer Sache mitgewirkt habe, das Rechtsmittelgericht das Verfahren von Amts wegen aufheben und das Urteil gemäß Art. 379 § 4 der Zivilprozessordnung, Art. 349 § 1 Nr. 1 der Strafprozessordnung bzw. Art. 183 § 2 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung aufheben. Die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 47 der Charta könne dazu führen, dass ein Rechtsmittelgericht das Verfahren und das Urteil mit der Begründung aufhebe, dass es nicht von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht erlassen worden sei. Das Rechtsmittelgericht könne jedoch nicht das Mandat oder die Zuständigkeit des Richters in Frage stellen, der das aufgehobene Urteil erlassen habe.

123. In ihrer Gegenerwiderung führt die Republik Polen aus, Zweck von Art. 42a §§ 1 und 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit sei es, zu verhindern, dass die Mandate oder Dienstverhältnisse von Richtern in anderen als den in der Verfassung der Republik Polen und in den Gesetzen zu ihrer Durchführung vorgesehenen Verfahren in Frage gestellt würden. Art. 45 der Verfassung der Republik Polen, völkerrechtliche Verträge und die Charta gewährleisteten zudem das Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht. Nationale Rechtsvorschriften seien im Licht aller dieser Bestimmungen auszulegen. Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung von Richtern oder eine Verletzung des Rechts auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zögen nicht die Aufhebung des Rechtsakts der Ernennung eines Richters oder des Verfahrens nach sich, in dem dieser Richter mitgewirkt habe(95).

124. Der Republik Polen zufolge hat die Kommission Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit missverstanden. Diese Bestimmung stehe einer Prüfung der ordnungsgemäßen Besetzung eines Gerichts nicht entgegen. Sie kodifiziere lediglich die Rechtsprechung des Obersten Gerichts, nach der die Behandlung einer Sache unter Verstoß gegen die Bestimmungen über die Zuweisung von Sachen an die Richter eines Gerichts kein Grund für eine außerordentliche Überprüfung nach Art. 387 der Zivilprozessordnung und Art. 439 § 1 Nr. 2 der Strafprozessordnung sei, da dies zur Aufhebung des angefochtenen Verfahrens und Urteils führen würde. Ein derartiger Rechtsverstoß könne jedoch ein Grund für eine ordentliche Überprüfung sein. Eine Partei könne demgemäß die Aufhebung eines Urteils mit der Begründung anstreben, dass ein Verstoß gegen die anwendbare Prozessordnung den Ausgang des Verfahrens für sie negativ beeinflusst habe. Zudem könne eine Partei die Ablehnung eines Richters betreiben, wenn dessen Mitwirkung in der Sache das Recht auf ein unparteiisches Gericht verletze.

125. Entgegen dem in Nr. 114 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegebenen Vorbringen der Kommission beziehe sich Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht auf die Überprüfung der Frage durch das Gericht, ob ein Gericht, das ein Urteil erlassen habe, ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sei. Diese Bestimmung beziehe sich nur auf die Folgen eines Verstoßes gegen die Regeln über die Zuweisung von Sachen und die Zusammensetzung der Gerichte. Daher sei die Rüge der Kommission betreffend Art. 8 des Änderungsgesetzes, wonach Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch für anhängige Sachen gelte, ebenfalls zurückzuweisen.

2.      Würdigung

a)      Zulässigkeit

126. Nach Ansicht der Republik Polen sind die mit der ersten Rüge der Kommission beanstandeten Verstöße gegen Art. 267 AEUV und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht dargetan. Zudem habe die Kommission nicht begründet oder nachgewiesen, dass Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht gegen Unionsrecht verstoße. Außerdem habe die Kommission ihre Erklärungen und Beweise für dieses Vorbringen verspätet vorgelegt, so dass der Gerichtshof sie nicht berücksichtigen dürfe.

127. In einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV muss die Kommission dem Gerichtshof alle für die Prüfung der Vertragsverletzung erforderlichen Anhaltspunkte liefern, ohne sich auf irgendeine Vermutung stützen zu können(96). Nach Art. 21 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung sind in der nach Art. 258 AEUV eingereichten Klageschrift die Rügen, über die der Gerichtshof entscheiden soll, genau anzugeben und zumindest in gedrängter Form die rechtlichen und tatsächlichen Umstände darzulegen, auf die diese Rügen gestützt sind(97). Die Begründetheit einer Klage nach Art. 258 AEUV ist daher allein anhand der in der Klageschrift enthaltenen Anträge zu prüfen.

128. In ihrer ersten Rüge bezieht sich die Kommission schlicht auf Art. 267 AEUV, ohne auch nur summarisch zu erläutern, inwiefern die von ihr bezeichneten Bestimmungen des polnischen Rechts gegen diesen verstoßen sollen. Dass sie in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 30. Oktober 2020 die Relevanz von Art. 267 AEUV im Kontext dieser Rüge erläutert hat, genügt nicht für die Zwecke von Art. 21 der Satzung des Gerichtshofs und Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung. Zudem kann die Kommission entgegen ihrem Vorbringen in der Erwiderung nicht das Bestehen eines „funktionalen Zusammenhangs“ zwischen dem geltend gemachten Verstoß gegen Art. 267 AEUV und den fraglichen Bestimmungen des polnischen Rechts vermuten. Die Kommission mag zwar diesen „funktionalen Zusammenhang“ im Rahmen ihrer zweiten Rüge erläutert haben, doch ist diese Rüge gegen andere Bestimmungen des polnischen Rechts gerichtet.

129. Dagegen erläutert die Kommission meines Erachtens in Rn. 75 der Klageschrift, warum ihrer Ansicht nach die in ihrer ersten Rüge bezeichneten Bestimmungen des polnischen Rechts den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verletzen. Da zudem Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht im Wesentlichen dieselbe Regelung enthält wie dessen Art. 29 Abs. 3(98), brauchte die Kommission im Rahmen der ersten Rüge nur auf Art. 26 § 3 Bezug zu nehmen, da sich deren Formulierung insgesamt klar entnehmen lässt, warum sie in der letztgenannten Bestimmung einen Verstoß gegen Unionsrecht sieht.

130. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorbringen der Kommission zu Art. 267 AEUV im Rahmen ihrer ersten Rüge als unzulässig zurückzuweisen.

b)      Begründetheit

1)      Vorbemerkungen – Gegenstand der ersten und der zweiten Rüge der Kommission

131. Die Republik Polen macht geltend, die von der Kommission in ihrer zweiten Rüge angeführten Gründe seien mit der ersten Rüge nicht vereinbar und stünden im Widerspruch zu dieser. Die Kommission hält dieses Vorbringen für unbegründet.

132. Die zweite Rüge betrifft die ausschließliche Zuständigkeit, die das nationale Recht der Außerordentlichen Kammer für die Entscheidung über Fragen der Unabhängigkeit von Gerichten, Spruchkörpern und Richtern zuweist. Mit der ersten Rüge wird u. a. beanstandet, dass bestimmte Vorschriften des polnischen Rechts es allen nationalen Gerichten, einschließlich der Außerordentlichen Kammer(99), untersagten, die Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern zu prüfen. Die erste Rüge geht somit dahin, dass kein Gericht in Polen befugt sei, die Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern nach Unionsrecht zu prüfen. Daher bin ich der Ansicht, dass die beiden Rügen miteinander vereinbar sind.

2)      Recht auf einen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht

133. Die Republik Polen stellt nicht in Abrede, dass die ordentlichen Gerichte, das Oberste Gericht und die Verwaltungsgerichte Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta im Licht der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zu beachten haben. Sie stellt auch nicht in Abrede, dass diese Gerichte prüfen müssen, ob das Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Einklang mit dem Urteil Simpson gewahrt ist. Sie macht geltend, dass die von der Kommission bezeichneten nationalen Bestimmungen nur die Anfechtung des Rechtsakts zur Ernennung eines Richters durch den Präsidenten der Republik untersagten. In diesem Zusammenhang führt sie eine Reihe anderer Bestimmungen des polnischen Rechts an, nach denen Richter prüfen könnten, ob der Zugang zu einem unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht sichergestellt sei.

134. Entgegen dem Vorbringen der Republik Polen stellt die Kommission im vorliegenden Verfahren weder das Vorrecht des Präsidenten der Republik zur Ernennung von Richtern noch den Umstand in Frage, dass der Rechtsakt zur Ernennung eines Richters nach polnischem Recht nicht angefochten werden kann(100).

135. In Rn. 133 des Urteils A. K. hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Umstand, dass der Präsident der Republik die Richter ernennt, keine Abhängigkeit von ihm schafft oder Zweifel an der Unparteilichkeit der so ernannten Personen aufkommen lässt, wenn die Richter nach ihrer Ernennung keinem Einfluss ausgesetzt sind. In den Rn. 129 bis 136 des Urteils A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf)(101) wird festgestellt, dass sich das etwaige Fehlen der Möglichkeit, im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Ernennung von Richtern eines nationalen obersten Gerichts einen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen, als unproblematisch für die Anwendung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen erweisen kann, sofern andere effektive gerichtliche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen. Dies kann anders sein, wenn bis dahin bestehende Rechtsbehelfsmöglichkeiten beseitigt worden sind und andere Umstände, die ein Ernennungsverfahren in einem gegebenen nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext kennzeichnen, bei den Einzelnen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter wecken können(102).

136. Somit ist die erste Rüge der Kommission auf das Vorbringen beschränkt, dass es allen ordentlichen Gerichten und Verwaltungsgerichten sowie dem Obersten Gericht, einschließlich der Außerordentlichen Kammer(103), untersagt sei, von sich aus oder auf Antrag der Parteien zu prüfen, ob ein Gericht in unter Unionsrecht fallenden Bereichen das Recht der Einzelnen auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht sicherstellt(104). Der Kommission zufolge haben die beanstandeten Bestimmungen mindestens zwei schädliche Auswirkungen. Erstens hinderten sie die Gerichte an der Prüfung solcher Fragen, unabhängig von der Art und der Reichweite des nach nationalem Recht möglicherweise gegebenen Rechtsbehelfs. Zweitens hinderten sie die Gerichte auch daran, nationale Bestimmungen, die Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta zuwiderliefen, unangewendet zu lassen.

137. Die Kommission und die Republik Polen streiten über die Reichweite der mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Rechtsvorschriften.

138. Art. 42a § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 5 § 1b des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit untersagen es den in Rede stehenden Gerichten ausdrücklich, die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters festzustellen oder zu beurteilen. Nach denselben Bestimmungen ist es den Gerichten auch untersagt, die sich aus dieser Ernennung ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung festzustellen oder zu beurteilen.

139. Nach Art. 42a § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 29 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 5 § 1a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit darf von diesen Gerichten auch „die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe … und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden“. Nach Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 8 des Änderungsgesetzes(105) können Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung von Spruchkörpern keine Grundlage für die Beschränkung der Zuständigkeit des Richters oder für die Feststellung sein, dass ein Spruchkörper im Widerspruch zu Rechtsvorschriften steht, dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder dafür nicht zuständig ist.

140. Diese Bestimmungen sind ihrem Wortlaut nach offensichtlich nicht auf das Verbot für ein Gericht beschränkt, einen Rechtsakt des Präsidenten der Republik zur Ernennung eines Richters mit Wirkung erga omnes aufzuheben. Vielmehr hindern sie alle polnischen Gerichte klar daran, von sich aus oder auf Antrag der Parteien unter welchen Umständen und aus welchem Grund auch immer die Frage aufzuwerfen oder zu prüfen, ob ein Richter rechtmäßig ernannt worden ist oder richterliche Aufgaben wahrnehmen kann, ungeachtet der Art der geltend gemachten Gesetzwidrigkeit, des beanstandeten Rechtsakts oder Verfahrens oder des verfügbaren Rechtsbehelfs. Der Wortlaut dieser Bestimmung ist demnach so weit gefasst, dass damit die Möglichkeit für nationale Gerichte beseitigt wird, Fragen der Unabhängigkeit eines Spruchkörpers eines Gerichts zu prüfen, wie es das Urteil Simpson(106) verlangt.

141. Ungeachtet der für die nationalen Gerichte bestehenden Verpflichtung, Fragen hinsichtlich der Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts nach Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht an die Außerordentliche Kammer zu verweisen, schließt Art. 26 § 3 dieses Gesetzes es ausdrücklich aus, dass die Außerordentliche Kammer die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder dessen Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung beurteilt. Zudem darf nach Art. 42a § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 29 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 5 § 1a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit kein polnisches Gericht die Legitimität eines Gerichts in Frage stellen. Die Inanspruchnahme entsprechender Rechtsbehelfe nach nationalem Recht ist demzufolge gleichermaßen eingeschränkt.

142. Während die in Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 8 des Änderungsgesetzes enthaltenen Verbote, wie die Republik Polen geltend macht, in vielen Fällen rein organisatorische Fragen, darunter solche der Geschäfts- und Arbeitslastverteilung, betreffen mögen, ist es zudem auch möglich, dass solche Fragen Bedenken aufkommen lassen, ob ein Gericht ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht oder ob es unparteiisch ist. Ein radikales Verbot, solche Fragen unter den Umständen, die in den beanstandeten Rechtsvorschriften beschrieben sind, auch nur aufzuwerfen oder zu behandeln, geht über das hinaus, was die Republik Polen als Ziele dieser Bestimmungen ausgibt, und steht der Verfügbarkeit gerichtlicher Rechtsbehelfe zur Heilung eines solchen Verstoßes entgegen. Folglich sind die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften so weit gefasst, dass sie alle Aspekte der Überprüfung des in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta niedergelegten Rechts auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht regeln.

143. Die Republik Polen hat auf Aufforderung des Gerichtshofs als Beweis eine Vielzahl anderer nationaler Rechtsvorschriften vorgelegt, in denen u. a. die Ablehnung von Richtern, die Verweisung einer Sache an ein anderes Gericht und die Aufhebung eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen die Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta vorgesehen sind. So seien z. B. nach Art. 48 der Zivilprozessordnung und Art. 40 der Strafprozessordnung Richter unter bestimmten, im Einzelnen geregelten Voraussetzungen von Amts wegen von der Ausübung ihres Amtes ausgeschlossen. Nach Art. 49 der Zivilprozessordnung und den Art. 41 und 42 der Strafprozessordnung könne sich ein Richter für befangen erklären oder eine Partei könne die Ablehnung eines Richters beantragen. Nach Art. 379 § 4 der Zivilprozessordnung und Art. 439 der Strafprozessordnung führe die Mitwirkung eines Richters, der von Amts wegen von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen sei, zur Aufhebung des betreffenden Verfahrens.

144. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der Republik Polen zufolge das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in einer Reihe von Fällen die Reichweite der nationalen Bestimmungen über die Ablehnung von Richtern begrenzt hat. So ist Art. 49 der Zivilprozessordnung am 9. Juni 2020 teilweise außer Kraft getreten, soweit danach die Ablehnung eines Richters wegen nicht ordnungsgemäßer Ernennung durch den Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS möglich war(107). Diese Bestimmung ist ferner am 28. Februar 2022 außer Kraft getreten, soweit danach das Verfahren zur Ernennung eines Richters durch den Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS als ein Umstand galt, der berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in einer gegebenen Sache aufkommen lassen konnte(108). Art. 41 § 1 und Art. 42 § 1 der Strafprozessordnung sind am 12. März 2020 außer Kraft getreten, soweit danach die Prüfung eines Antrags auf Ablehnung eines Richters wegen eines Fehlers bei der Ernennung durch den Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS möglich war(109). Mit dieser Rechtsprechung wird die Möglichkeit der Ablehnung eines Richters wegen einer Unregelmäßigkeit bei seiner Ernennung im Unterschied zur Anfechtung des Rechtsakts zur Ernennung eines Richters durch den Präsidenten der Republik klar eingeschränkt.

145. Auch die verschiedenen Bestimmungen des polnischen Rechts über die Ablehnung von Richtern ändern nichts an der Tatsache, dass der Wortlaut von Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Art. 8 des Änderungsgesetzes sehr weit und nicht auf Verfahren beschränkt ist, die auf die Anfechtung des Rechtsakts zur Ernennung gerichtet sind. Stattdessen soll mit diesen Bestimmungen verhindert werden, dass die Besetzung der Richterbank oder irgendeine Handlung, die zur Ernennung eines Richters geführt hat, von einem Gericht überprüft wird, womit jeder Rechtsbehelf im Fall eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ausgeschlossen wird.

146. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass andere nationale Rechtsvorschriften es den Gerichten erlaubten, zumindest bis zu einem gewissen Grad die Beachtung der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta niedergelegten Garantien zu überprüfen(110), schaffen doch das Nebeneinander dieser Bestimmungen und der von der Kommission mit ihrer ersten Rüge beanstandeten nationalen Rechtsvorschriften sowie die in der Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) aufgestellten Beschränkungen ihrer Anwendung erhebliche Rechtsunsicherheit und beeinträchtigen damit entgegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta für Gerichte und Parteien die Möglichkeiten des Zugangs zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht. Die Kommission beantragt auch die Feststellung, dass die Republik Polen durch die Anwendung der in der ersten Rüge bezeichneten nationalen Rechtsvorschriften den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verletzt hat. Wie ich in der Antwort auf die zweite Rüge ausgeführt habe(111), ist der Vorwurf betreffend den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts kein eigenständiger Vorwurf, so dass darüber nicht gesondert zu entscheiden ist.

147. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, zu entscheiden, dass die mit der ersten Rüge beanstandeten nationalen Rechtsvorschriften die Zuständigkeit der polnischen Gerichte für die Prüfung beeinträchtigen können, ob die Anforderungen in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta erfüllt sind, und dadurch gegen diese Bestimmungen des Unionsrechts verstoßen.

C.      Dritte Rüge – Wertung der Prüfung der Erfüllung der unionsrechtlichen Anforderungen in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht als Disziplinarvergehen

1.      Vorbringen der Parteien

148. Diese Rüge bezieht sich auf die Einfügung zweier Disziplinartatbestände in Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit(112) und Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht(113), zusammen mit dem Änderungsgesetz, mit dem in Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ein Disziplinarvergehen der „offensichtliche[n] und grobe[n] Missachtung von Rechtsvorschriften“ eingefügt wurde. Der Kommission zufolge gilt nach Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht die Beurteilung der Unabhängigkeit eines Gerichts oder einer gerichtlichen Einrichtung und deren Status als „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ durch ein anderes Gericht als Disziplinarvergehen. Damit verletze die Republik Polen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und aus Art. 267 AEUV.

149. Ausgangspunkt der Kommission ist, dass es nicht als Disziplinarvergehen angesehen werden und keine Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen dürfe, wenn ein nationales Gericht den Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta nachkomme.

150. Der Kommission zufolge besteht das erste Disziplinarvergehen nach den in Nr. 148 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Bestimmungen in Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könnten. Das zweite bestehe in Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt werde.

151. Richter ordentlicher Gerichte oder von Verwaltungsgerichten, die sich dieser Vergehen schuldig machten, liefen Gefahr, entlassen oder an ein anderes Gericht versetzt zu werden. Richter könnten wegen Handlungen, die als geringfügigere Vergehen beschrieben würden, mit einer Geldbuße belegt oder ihres Amtes enthoben werden(114). Richter des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts seien wegen solcher Vergehen(115) bedingungslos zu entlassen. Die Kommission weist darauf hin, dass der Republik Polen zufolge mit diesen Disziplinartatbeständen die „Effektivität“ von Art. 42a und Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sichergestellt(116) und gewährleistet werden solle, dass die nationalen Gerichte die ausschließlich der Außerordentlichen Kammer übertragenen neuen Befugnisse beachteten(117).

152. Die Kommission macht geltend, wenn ein Gericht die Ordnungsgemäßheit des Verfahrens zur Ernennung von Richtern gemäß dem Urteil Simpson(118) prüfe, könne dies nach Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht als Handlung eingestuft werden, „mit [der] das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters [oder] die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters … in Frage gestellt wird“.

153. Zudem hält es die Kommission, wie sie im Rahmen ihrer zweiten Rüge ausgeführt hat, für erforderlich, dass alle nationalen Gerichte die Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters, die mit einer bestimmten Sache befasst seien, beurteilen könnten. Für diese Beurteilung sei gegenwärtig ausschließlich die Außerordentliche Kammer zuständig. Jedem nationalen Gericht, das den in der zweiten Rüge genannten nationalen Rechtsvorschriften unter Berufung auf den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zuwiderhandle, drohe ein Disziplinarverfahren nach Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht wegen einer Handlung oder Unterlassung, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könne.

154. Die Entscheidung eines Gerichts, dass ein Gericht aufgrund von Mängeln des Verfahrens, das zur Ernennung eines Richters geführt habe, kein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht sei, könne eine Handlung darstellen, mit der „die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters“ in Frage gestellt werde, und damit als Vergehen nach Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht eingestuft werden.

155. Die mit Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht geschaffenen Disziplinartatbestände berührten auch den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen, mit denen die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit eines anderen Richters oder Gerichts oder der Status eines „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ beurteilt würden. Dies laufe dem Urteil Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems)(119) zuwider, wonach das Gebot gerichtlicher Unabhängigkeit verlange, dass die Disziplinarregelung nicht als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt werde.

156. Dieselben nationalen Rechtsvorschriften erleichterten es auch, Vorabentscheidungsersuchen eines Gerichts nach Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta, die sich aus Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Zuständigkeit eines Gerichts ergäben, als Disziplinarvergehen zu behandeln(120).

157. Nach Ansicht der Kommission stehen diese Disziplinartatbestände entgegen dem Vorbringen der Republik Polen nicht im Einklang mit dem Urteil A. K. Führe die Anwendung der in den Rn. 132 bis 154 dieses Urteils aufgestellten Kriterien zu dem Schluss, dass ein Gericht nicht unabhängig und unparteiisch im Sinne von Art. 47 der Charta sei, müsse ein nationales Gericht die nationalen Bestimmungen, mit denen einem solchen Gericht die Zuständigkeit übertragen werde, unangewendet lassen. Ein derartiges Vorgehen könne als Disziplinarvergehen nach Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht angesehen werden, da es eine Handlung oder Unterlassung darstellen könne, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könne. Zudem habe der Gerichtshof entgegen dem Vorbringen der Republik Polen in Rn. 133 des Urteils A. K. nicht entschieden, dass die Ernennung von Richtern durch den Präsidenten der Republik nicht gerichtlich überprüfbar sei. Der Gerichtshof habe festgestellt, dass der bloße Umstand, dass ein Richter vom Präsidenten der Republik ernannt werde, keine Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufkommen lassen könne, wenn die betreffende Person nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sei und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliege.

158. Mit dem Änderungsgesetz sei in Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ein Disziplinartatbestand der „offensichtliche[n] und grobe[n] Missachtung von Rechtsvorschriften“ eingefügt worden. Dieser Disziplinartatbestand habe gemäß Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit bereits für die Richter der ordentlichen Gerichte gegolten. Im Urteil Disziplinarordnung für Richter sei die Vereinbarkeit der letztgenannten Bestimmung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geprüft worden. Der Disziplinartatbestand einer „offensichtliche[n] und grobe[n] Missachtung von Rechtsvorschriften“ sei ein vages Konzept, durch das der Inhalt gerichtlicher Entscheidungen beschränkt werden könne. Es sei nicht auszuschließen, dass Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in einem Kontext vermehrten Tätigwerdens von Disziplinarbeamten und von der Exekutive ausgehenden Drucks auf die Disziplinarbehörden im Gefolge der Änderungen durch das Gesetz über das Oberste Gericht vom 8. Dezember 2017(121) für eine politische Kontrolle der Rechtsprechungstätigkeit seiner Richter genutzt werden könne.

159. In ihrer Erwiderung betont die Kommission, dass die dritte Rüge Inhalt und Wortlaut der in Rede stehenden Rechtsvorschriften betreffe und nicht die rechtliche Beurteilung ihrer Anwendung. Im Urteil Disziplinarordnung für Richter(122) habe es der Gerichtshof als wesentlich bezeichnet, dass Regeln vorgesehen würden, mit denen die Verhaltensweisen, die die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern begründen könnten, klar und präzise definiert würden, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten und zu verhindern, dass Richter der Gefahr ausgesetzt würden, dass ihre disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit allein aufgrund ihrer Entscheidung ausgelöst werde. Die Worte „Handlungen, mit denen … in Frage gestellt wird“ in Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht seien nicht auf die Anfechtung des Rechtsakts zur Ernennung eines Richters durch den Präsidenten der Republik beschränkt.

160. Nach Ansicht der Kommission bestreitet die Republik Polen auch nicht die Ähnlichkeiten zwischen Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 107 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Erwägungen im Urteil Disziplinarordnung für Richter gälten erst recht für Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht.

161. Die Republik Polen hält die dritte Rüge für unbegründet, da die Kommission ihrer Beweislast nach Art. 258 AEUV nicht genügt habe. Die Kommission stütze sich auf den Wortlaut der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften und habe keinen Beweis vorgelegt, der deren Durchführung oder die Rechtsprechung zu ihrer Auslegung betreffe.

162. Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht orientierten sich am französischen Recht(123). Die Kommission habe zu keiner Zeit die Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit dem Unionsrecht in Frage gestellt. Zudem könne aus diesen nationalen Rechtsvorschriften nicht abgeleitet werden, dass sie für Sachen gälten, in denen Unionsrecht einschließlich Art. 19 Abs. 1 EUV Anwendung finde. Die Anwendung von Unionsrecht sei keine Handlung oder Unterlassung, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könne.

163. Der von der Kommission vertretenen Auslegung von Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht stehe auch das mit diesen Bestimmungen verfolgte Ziel entgegen, sicherzustellen, dass Richter als Angehörige eines auf dem Vertrauen der Öffentlichkeit beruhenden Berufsstands sich nicht in einer Weise verhielten, die mit der Würde ihres Amtes nicht vereinbar sei. Da ein Gericht verpflichtet sei, das Gesetz anzuwenden und Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, gehe die Ansicht der Kommission fehl, diese Handlungen könnten Disziplinarvergehen darstellen. Diese Bestimmungen erlaubten es auch nicht, als Folge einer Prüfung der Frage, ob das Recht auf ein Gericht gewährleistet sei, Gerichtsentscheidungen zu überprüfen oder Richter disziplinarisch zur Verantwortung zu ziehen. Der Standpunkt der Kommission sei somit aus sprachlicher, logischer und empirischer Sicht unbegründet und werde nicht durch nationale Rechtsprechung gestützt.

164. Zu Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht(124) führt die Republik Polen aus, die Kommission verwechsle die Prüfung der Beachtung der Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta durch ein nationales Gericht mit der Auswirkung dieser Prüfung, die darauf hinauslaufe, die Ausübung des Vorrechts des Präsidenten der Republik zur Ernennung eines bestimmten Richters in Frage zu stellen.

165. Die fraglichen Disziplinarvergehen bestünden nicht in der Prüfung, ob das Recht eines Einzelnen auf ein Gericht gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV beachtet worden sei. Vielmehr verwehrten es diese nationalen Rechtsvorschriften einem Gericht, die Gültigkeit der Ernennung eines Richters in einem anderen Verfahren in Frage zu stellen als dem, das in der Verfassung der Republik Polen oder in den auf ihrer Grundlage erlassenen Bestimmungen vorgesehen sei.

166. Die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften schlössen nicht die Verfügbarkeit von Rechtsbehelfen gegen die Verletzung von Rechten einer Partei aus Art. 47 der Charta aus, wie etwa die Aufhebung eines Urteils, die Ablehnung eines Richters oder die Verweisung einer Sache an ein anderes Gericht, das dieser Bestimmung der Charta im Einklang mit dem Urteil A. K. genüge. Ebenso wenig stünden sie Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV entgegen. Seit ihrem Erlass hätten polnische Gerichte eine Reihe von Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV an den Gerichtshof gerichtet. Die Kommission behaupte nicht, dass irgendeines der Gerichte, die solche Ersuchen vorgelegt hätten, einem Disziplinarverfahren ausgesetzt gewesen sei, und dies sei auch nicht der Fall gewesen.

167. Die Republik Polen bestätigt auch, dass Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht Art. 107 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit entspreche, wonach ein Richter wegen „offensichtliche[r] und grobe[r] Missachtung von Rechtsvorschriften“ disziplinarisch belangt werden könne. Die letztgenannte Bestimmung gelte unverändert seit dem 1. Oktober 2001. Sie habe bis heute keinen Anlass zu Beanstandungen gegeben. Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht vereinheitliche somit nur die Definition disziplinarischen Fehlverhaltens, die bereits für die Richter der ordentlichen Gerichte gelte. Nach Ansicht der Republik Polen wäre es unannehmbar, würde der Gesetzgeber die Richter des Obersten Gerichts – die dem höchsten Maßstab für rechtmäßiges Verhalten und Rechtskenntnis genügen müssten – davon freistellen, sich wegen offensichtlicher und grober Missachtung von Rechtsvorschriften in Disziplinarverfahren verantworten zu müssen.

168. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichts sei ein Verstoß gegen Rechtsvorschriften „offensichtlich“, wenn der „Fehler des Richters sich leicht feststellen lässt, wenn er begangen worden ist, obwohl die Bedeutung der in Rede stehenden Bestimmung auch bei Personen mit durchschnittlicher rechtlicher Qualifikation keinen Anlass zu Zweifeln gibt, und wenn deren Anwendung keine weitere Analyse erfordert“(125) oder „wenn er aus der Sicht jedes Juristen ohne weitere Überlegungen keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass ein Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift vorliegt“(126). Demnach gehe aus dem Wortlaut von Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht wie aus der Rechtsprechung dazu klar hervor, dass die Beachtung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV keine offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften darstelle.

169. In der Gegenerwiderung wird geltend gemacht, dass entgegen dem in Nr. 159 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegebenen Vorbringen der Kommission nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(127) bei der Beurteilung nationaler Rechtsvorschriften deren Anwendung in der Praxis, einschließlich nationaler Rechtsprechung zu ihrer Auslegung, berücksichtigt werden müsse.

2.      Würdigung

a)      Vorbemerkungen zum Gegenstand der zweiten und der dritten Rüge der Kommission

170. Die Republik Polen macht geltend, die von der Kommission in ihrer zweiten Rüge angeführten Gründe seien mit der dritten Rüge nicht vereinbar und stünden im Widerspruch zu dieser. Nach Ansicht der Kommission ist dieses Vorbringen zurückzuweisen. Die zweite Rüge betrifft die ausschließliche Zuständigkeit, die bestimmte nationale Rechtsvorschriften der Außerordentlichen Kammer für die Entscheidung über Fragen der Unabhängigkeit von Gerichten, Spruchkörpern und Richtern zuweisen. Die dritte Rüge geht dahin, dass es als Disziplinarvergehen eingestuft werde, wenn ein Gericht die Beachtung der Anforderungen in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht prüfe. Diese beiden Rügen sind offenkundig verschieden. Ich kann daher keinen offensichtlichen Widerspruch zwischen beiden erkennen und schlage dem Gerichtshof vor, den dahin gehenden Einwand der Republik Polen zurückzuweisen.

b)      Disziplinarverfahren

171. Aus den Anforderungen in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta folgt, dass die für Richter geltende Disziplinarregelung die notwendigen Garantien dafür bieten muss, dass jede Gefahr ihrer Nutzung als ein System zur Ausübung politischer Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen ausgeschlossen ist. Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen darstellen und welche Sanktionen dafür gelten, die die Befassung einer unabhängigen Einrichtung gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und nach denen die Möglichkeit besteht, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, bilden ein Gefüge von Garantien, die für die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz wesentlich sind(128).

172. Die Disziplinarregelung für Richter gehört zur Organisation der Justiz und fällt damit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern kann, je nachdem wie ein Mitgliedstaat sie ausgestaltet, zur Verantwortlichkeit und zur Effizienz der Justiz beitragen. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht beachten, indem sie insbesondere die Unabhängigkeit der Gerichte, die über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben, sicherstellen, um den Einzelnen den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebotenen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten(129).

173. Die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit schließt es nicht völlig aus, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters in sehr seltenen und ganz außergewöhnlichen Fällen durch von ihm erlassene richterliche Entscheidungen ausgelöst werden kann. Das Erfordernis der Unabhängigkeit ist nicht auf die Billigung völlig unentschuldbarer Verhaltensweisen von Richtern gerichtet wie vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen, oder willkürliches Handeln oder Rechtsverweigerung, wenn sie über Streitigkeiten zu entscheiden haben(130).

174. Für die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit und um zu verhindern, dass die Disziplinarregelung entgegen ihrem legitimen Zweck eingesetzt werden kann, ist es von grundlegender Bedeutung, dass ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und/oder der Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und/oder des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit des betreffenden Richters auslösen kann(131).

175. Folglich müssen für die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit objektive und überprüfbare Kriterien, die sich aus den wesentlichen Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ergeben, und Garantien gelten, die darauf abzielen, jede Gefahr eines Drucks von außen auf den Inhalt von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden und damit bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität hinsichtlich der widerstreitenden Interessen auszuräumen(132). Wesentlich dafür ist, dass Regeln vorgesehen werden, in denen die Verhaltensweisen, die die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern begründen können, klar und präzise definiert sind, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten und sie vor der Gefahr zu schützen, dass ihre disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit aufgrund des Inhalts ihrer Entscheidungen ausgelöst wird(133). Wie der Gerichtshof ebenfalls entschieden hat, stellt es eine wesentliche Garantie für die Unabhängigkeit der nationalen Richter dar, dass sie wegen Ausübung der Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV keine Disziplinarverfahren oder ‑maßnahmen zu gewärtigen haben(134).

176. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Bedeutung der nationalen Rechtsvorschriften, die Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sind, im Allgemeinen unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte zu beurteilen(135). In ihrem Vorbringen zur dritten Rüge macht die Kommission geltend, dass der Wortlaut der nationalen Bestimmungen selbst klar gegen identifizierbare Bestimmungen des Unionsrechts verstoße, so dass nicht geprüft zu werden brauche, wie diese Bestimmungen in der Praxis angewandt würden(136). Da sich die Kommission dafür entschieden hat, ihre Rüge in dieser Weise vorzubringen, sehe ich keinen Grund, warum der Gerichtshof sie nicht auf dieser Grundlage zulassen und über sie entscheiden könnte, auf die Gefahr hin, dass die Kommission in diesem Punkt unterliegt.

177. Die Republik Polen macht geltend, der Text von Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht gleiche entsprechenden Bestimmungen des französischen Rechts, deren Gültigkeit die Kommission nie in Frage gestellt habe. Zudem räume Art. 72 § 1 Nr. 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht der Einrichtung, die mit der Entscheidung über eine Streitigkeit betraut sei, keinen weiteren Ermessensspielraum ein als entsprechende Bestimmungen des belgischen, des dänischen und des niederländischen Rechts.

178. Hierzu genügt der Hinweis, dass sich das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Polen richtet. Da die Rechtmäßigkeit von in anderen Mitgliedstaaten geltenden Bestimmungen nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist, kann sich die Republik Polen nicht auf sie berufen, um darzutun, dass sie nicht gegen das Unionsrecht verstoßen habe(137).

179. Soweit die dritte Rüge der Kommission Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betrifft, hängt sie eng mit der zweiten zusammen. Nach Ansicht der Kommission müssen alle nationalen Gerichte prüfen können, ob die Anforderungen in Bezug auf Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und vorherige Errichtung durch Gesetz erfüllt sind. Die Kommission versteht die vorgenannten Bestimmungen so, dass eine solche Prüfung als eine Handlung angesehen werden kann, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung wesentlich erschwere oder mit der das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters oder die Wirksamkeit seiner Ernennung in Frage gestellt werde.

180. Wie ich in meinem Antwortvorschlag zur zweiten Rüge ausgeführt habe, bin ich in Ermangelung eines Verstoßes gegen den Äquivalenz- oder Effektivitätsgrundsatz der Ansicht, dass nationale Verfahrensbestimmungen zur Begrenzung oder Beschränkung der Gerichte oder Spruchkörper, die über Fragen der Unabhängigkeit eines Gerichts, eines Spruchkörpers oder eines Richters entscheiden können, grundsätzlich nicht gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta oder gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen. Sofern die Verfahrensbestimmungen klar und präzise sind, darf ein Gericht, ein Spruchkörper oder ein Richter im gewöhnlichen Ablauf eines Verfahrens die Befugnisse eines anderen Gerichts nicht an sich ziehen.

181. Meines Erachtens ist der Text von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht so weit gefasst und so ungenau, dass er bei vernünftiger Betrachtung offen für eine Auslegung dahin erscheint, dass es ein Disziplinarvergehen darstellen kann, wenn ein Richter die Beachtung einer der Anforderungen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht prüft(138). Das Argument erscheint plausibel, dass einem im Rahmen seiner Zuständigkeit handelnden Gericht, das prüft, ob es selbst oder ein anderes Gericht Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta genügt, oder das dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV Fragen zur Vorabentscheidung vorlegt(139), vorgeworfen werden könnte, dass es das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung wesentlich erschwert oder die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters in Frage gestellt habe.

182. Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht beziehen sich auf Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können. Sie sehen nicht vor, dass diese Handlungen oder Unterlassungen nach nationalem Recht oder nach Unionsrecht unrechtmäßig sein müssen. Das Vorbringen der Republik Polen, dass eine Handlung in den Grenzen und in Anwendung des Rechts kein Disziplinarvergehen nach diesen Bestimmungen darstellen könne, ist somit nicht haltbar. Den in Rede stehenden Bestimmungen lässt sich auch nicht mit der rechtlich gebotenen Klarheit und Präzision entnehmen, ob ein Disziplinarvergehen vorliegt oder, wie im vorliegenden Fall geltend gemacht wird, nicht vorliegt.

183. Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht beziehen sich auf Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird. Diese Bestimmungen sind so weit gefasst, dass Fragen in ihren Anwendungsbereich fallen, die über die Anfechtung des Rechtsakts zur Ernennung eines Richters durch den Präsidenten der Republik hinausgehen. Der Text erfasst meines Erachtens alle Versuche, irgendeinen Aspekt des Verfahrens in Frage zu stellen, das zur Ernennung eines Richters geführt hat(140), einschließlich z. B. der Frage, ob das Erfordernis erfüllt ist, dass ein Gericht im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta zuvor durch Gesetz errichtet worden ist. Angesichts der weiten Formulierung von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht besteht eindeutig die Gefahr, dass eine Vorlage an den Gerichtshof zur Vorabentscheidung betreffend diese unionsrechtlichen Bestimmungen als ein Disziplinarvergehen angesehen werden könnte.

184. Dieselben Erwägungen gelten für die Prüfung der Unparteilichkeit eines Gerichts. Das polnische Recht enthält zwar zahlreiche Bestimmungen über die Ablehnung von Richtern, doch ist deren Reichweite durch Urteile des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) erheblich eingeschränkt worden(141). Die Prüfung eines Antrags auf Ablehnung eines Richters wegen eines Mangels des Verfahrens, das zu seiner Ernennung geführt hat, kann somit ein Disziplinarvergehen darstellen.

185. Was Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht angeht, so hat dieser unstreitig denselben Wortlaut, Gegenstand und Zweck wie Art. 107 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit. In den Rn. 140 und 141 des Urteils Disziplinarordnung für Richter hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 107 § 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit den Anforderungen an Klarheit und Präzision nicht genügt. Nach Prüfung der Anwendung dieser Bestimmung u. a. im Licht der von der Republik Polen angeführten nationalen Rechtsprechung hat der Gerichtshof befunden, dass die Wendung „offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften“ nicht ausschließt, dass Richter allein aufgrund des angeblich fehlerhaften Inhalts ihrer Entscheidungen disziplinarisch zur Verantwortung gezogen werden können, und nicht sichergestellt ist, dass diese Verantwortlichkeit stets streng auf ganz außergewöhnliche Fälle beschränkt bleibt.

186. Im vorliegenden Fall stützt sich die Republik Polen auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichts zu Art. 107 § 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, um darzutun, dass Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht nicht dahin auszulegen sei, dass er disziplinarische Sanktionen als Folge der Beachtung der Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta vorschreibe.

187. Die von der Republik Polen angeführte Rechtsprechung zu Art. 107 § 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit – mit einer letzten Entscheidung aus dem Jahr 2015(142) -ist die der Kammer des Obersten Gerichts, die vor der Reform dieses Gerichts durch das Gesetz über das Oberste Gericht vom 8. Dezember 2017 zuständig war(143), und keine Rechtsprechung der Disziplinarkammer in ihrer gegenwärtigen Form.

188. Zudem hat der Gerichtshof, wie die Kommission in der Erwiderung ausführt, im Urteil Disziplinarordnung für Richter(144) befunden, dass die gegenwärtige Disziplinarkammer in einer neueren Entscheidung(145) Art. 107 § 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine weite Auslegung gegeben habe, die von der vorherigen Rechtsprechung des Obersten Gerichts abweiche und einen Rückschritt beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit bedeute(146). Nach ständiger Rechtsprechung ist, wenn unterschiedliche gerichtliche Auslegungen einer nationalen Regelung berücksichtigt werden können, die teils zu einer mit dem Unionsrecht vereinbaren, teils zu einer damit unvereinbaren Anwendung dieser Regelung führen, diese Regelung zumindest nicht hinreichend klar und präzise, um eine mit dem Unionsrecht vereinbare Anwendung zu gewährleisten(147).

189. Nach Art. 73 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ist die Disziplinarkammer das Disziplinargericht zweiter (und letzter) Instanz für die Richter der ordentlichen Gerichte und das Disziplinargericht erster und zweiter Instanz für die Richter des Obersten Gerichts. Da die Disziplinarkammer den Anforderungen in Bezug auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht genügt(148), besteht eine erhöhte Gefahr, dass Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht(149) so ausgelegt wird, dass der Einsatz der Disziplinarregelung zur Beeinflussung von Gerichtsentscheidungen erleichtert wird(150).

190. Da ich dem Gerichtshof die Feststellung empfehle, dass die Republik Polen mit dem Erlass von Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verletzt hat, schlage ich vor, der dritten Rüge zu folgen.

D.      Vierte Rüge – Zuständigkeit der Disziplinarkammer für die Entscheidung von Sachen, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken

1.      Vorbringen der Parteien

191. Mit ihrer vierten Rüge, die sich auf eine Reihe von Bestimmungen von Art. 27 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bezieht, macht die Kommission geltend, die Republik Polen habe dadurch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, dass sie der Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs gewährleistet seien(151), die Zuständigkeit für die Entscheidung von Sachen übertragen habe, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirkten.

192. Nach Ansicht der Kommission lässt eine Gesamtbeurteilung einer Reihe von Gesichtspunkten betreffend die Zusammensetzung und die Zuständigkeit der Disziplinarkammer, die Bedingungen, unter denen ihre Mitglieder ernannt worden seien, insbesondere die Rolle der KRS, der nach der Verfassung für die Gewährleistung der Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern zuständigen Einrichtung, und die Tatsache, dass die Maßnahmen im polnischem Recht gleichzeitig erlassen worden seien, einen „systemischen Bruch“ mit der vorherigen Regelung erkennen. Das führe nicht nur zu berechtigten Zweifeln an der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer, ihrer Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und ihrer Unparteilichkeit in Bezug auf die Interessen, um die es in den in ihre Zuständigkeit fallenden Sachen gehe, sondern untergrabe auch unmittelbar die Unabhängigkeit der ihrer Zuständigkeit unterstellten Richter.

193. Die Kommission führt aus, dass der neu geschaffenen Disziplinarkammer bestimmte Kategorien von Sachen betreffend den Status von Richtern zugewiesen worden seien, für die zuvor die ordentlichen Gerichte oder andere Gerichte zuständig gewesen seien. Zudem seien sämtliche Mitglieder der Disziplinarkammer in einem Verfahren ernannt worden, in dem die KRS in neuer Zusammensetzung mitgewirkt habe. Dazu seien das vierjährige Mandat von 15 Mitgliedern der KRS beendet und das Verfahren zur Auswahl künftiger Mitglieder geändert worden, um den Einfluss des Sejm auf die Zusammensetzung der KRS zu verstärken. Auch die Einfügung der §§ 1b und 4 in Art. 44 des Gesetzes über die KRS(152) habe die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle von Beschlüssen der KRS eingeschränkt, mit denen dem Präsidenten der Republik Bewerber für das Amt eines Richters am Obersten Gericht vorgeschlagen würden(153). Schließlich verweist die Kommission auch auf die stärkere organisatorische, funktionelle und finanzielle Autonomie der Disziplinarkammer im Vergleich zu den anderen vier Kammern des Obersten Gerichts.

194. Die vierte Rüge richtet sich gegen drei Bestimmungen des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht: erstens dessen Art. 27 § 1 Nr. 1a betreffend Anträge auf Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, zweitens dessen Art. 27 § 1 Nr. 2 betreffend arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen, die Richter des Obersten Gerichts betreffen, und drittens dessen Art. 27 § 1 Nr. 3 betreffend die Versetzung von Richtern in den Ruhestand.

195. Wie der Gerichtshof entschieden habe, verlange richterliche Unabhängigkeit, dass die Bestimmungen der Disziplinarregelung für diejenigen, die mit der Aufgabe, Recht zu sprechen, betraut seien, die erforderlichen Garantien aufwiesen, damit jede Gefahr verhindert werde, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt werde. Regeln, die insbesondere festlegten, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen darstellten und welche Sanktionen dafür drohten, die die Befassung einer unabhängigen Einrichtung gemäß einem Verfahren vorsähen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstelle, und nach denen die Möglichkeit bestehe, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, bildeten ein Gefüge von Garantien, die für die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz wesentlich seien(154).

196. Die Kommission macht geltend, wenn die Disziplinarkammer vor der Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter in erster und zweiter Instanz über die Aufhebung von dessen richterlicher Immunität entscheide, müsse sie prüfen, ob es triftige Gründe für den Verdacht der Begehung der vermeintlichen Straftat gebe. Die Disziplinarkammer müsse zudem über zusätzliche Maßnahmen entscheiden, darunter die Suspendierung des Richters in diesem Kontext. Damit greife die Disziplinarkammer unmittelbar in die richterliche Tätigkeit dieses Richters ein. Da die Suspendierung eines Richters für eine unbestimmte Zeit andauern könne, in der dessen Dienstbezüge um 25 % bis 50 % gekürzt würden, könne die Aussicht auf die Verhängung dieser zusätzlichen Maßnahmen ein Mittel zur Ausübung von Druck auf Richter sein und den Inhalt ihrer Urteile beeinträchtigen.

197. Ferner wirke sich die ausschließliche Zuständigkeit der Disziplinarkammer für arbeitsrechtliche, sozialrechtliche sowie ruhestandsrechtliche Sachen, einschließlich Fragen betreffend Vergütung, Urlaub und Fehltage, Krankheitsgründe, Zulagen und Ruhestand aus Krankheitsgründen oder wegen körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung, unmittelbar auf die Bedingungen aus, unter denen die Richter des Obersten Gerichts ihre Rechtsprechungstätigkeit ausübten.

198. Der Kommission zufolge erachtet sich die Disziplinarkammer für zuständig für die Prüfung von Sachen, in denen über das Dienstverhältnis von Richtern des Obersten Gerichts in Verfahren nach Art. 189 der Zivilprozessordnung entschieden werde. Wie im Fall von Disziplinarverfahren und Entscheidungen zur Aufhebung der Immunität von Richtern sei es wichtig, dass ein unabhängiges Gericht solche Entscheidungen erlasse oder überprüfe, um die Richter vor ungerechtfertigtem Druck und Unsicherheiten zu schützen, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen könnten.

199. In der Erwiderung macht sich die Kommission die Ausführungen in den Rn. 88 bis 110 des Urteils Disziplinarordnung für Richter zu eigen, in denen der Gerichtshof entschieden habe, dass die Republik Polen die Unabhängigkeit der Richter der ordentlichen Gerichte und des Obersten Gerichts dadurch beeinträchtigt habe, dass sie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewährleistet habe, womit sie gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen habe. Die Mitgliedstaaten könnten zwar Bestimmungen über die richterliche Immunität erlassen, diese dürften jedoch nicht die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen. Im Übrigen habe der EGMR im Urteil Reczkowicz/Polen(155) entschieden, dass die Disziplinarkammer kein auf Gesetz beruhendes Gericht sei.

200. Die Republik Polen beantragt, die vierte Rüge zurückzuweisen. Der Umstand, dass die Richter von einem Organ der Exekutive ernannt würden, schaffe keine Abhängigkeit von diesem und lasse keine Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen, wenn sie nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt seien und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterlägen(156). Eine Gesamtbeurteilung des Verfahrens zur Ernennung der Richter der Disziplinarkammer und des Systems von Garantien, durch das sie nach ihrer Ernennung geschützt seien, zeige, dass es keine Möglichkeit gebe, von außen Druck auf sie auszuüben.

201. In der polnischen Verfassung sei das Verfahren zur Ernennung sämtlicher Richter, einschließlich derjenigen der Disziplinarkammer, festgelegt. Gemäß Art. 179 in Verbindung mit Art. 144 Abs. 3 Nr. 17 der Verfassung der Republik Polen ernenne der Präsident der Republik die Richter auf Vorschlag der KRS auf unbestimmte Zeit. Die Ernennung von Richtern sei ein traditionelles Vorrecht des Präsidenten der Republik, das dieser gemäß Art. 31 des Gesetzes über das Oberste Gericht nach Einholung der Auffassung des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts ausübe. Der Präsident der Republik veröffentliche eine Anzeige im Monitor Polski (Polnischer Staatsanzeiger), mit der die Zahl der zu besetzenden Richterstellen in jeder Kammer des Obersten Gerichts bekannt gegeben werde. Art. 30 des Gesetzes über das Oberste Gericht enthalte eine abschließende Liste der Voraussetzungen, die Bewerber für eine Richterstelle am Obersten Gericht erfüllen müssten(157). Binnen eines Monats ab dem Tag der Veröffentlichung der Bekanntmachung könne sich jede Person, die die Voraussetzungen für die Ernennung zum Richter am Obersten Gericht erfülle, bei der KRS auf eine Richterstelle bei der in der Bekanntmachung bezeichneten Kammer bewerben. Nach der Feststellung, dass die Bewerber die Voraussetzungen und formalen Anforderungen erfüllten, berufe der Präsident der KRS gemäß Art. 31 § 1 des Gesetzes vom 12. Mai 2011 über die KRS eine aus mindestens drei Mitgliedern der Einrichtung bestehende Gruppe, die eine Stellungnahme zu den eingereichten Bewerbungen abgebe. Nach Prüfung der in diesem Verfahren eingereichten Bewerbungen lege die KRS dem Präsidenten der Republik einen Vorschlag für die Ernennung von Richtern auf die freien Stellen beim Obersten Gericht vor. Während dieser Vorschlag den Präsidenten der Republik nicht binde, könne dieser keine Person ernennen, die nicht als Richter von der KRS vorgeschlagen worden sei. Damit unterscheide sich die Rolle der KRS nicht von der solcher Gremien in anderen Mitgliedstaaten.

202. Die Unabhängigkeit der Richter der Disziplinarkammer folge nicht nur aus dem Verfahren zu ihrer Ernennung, sondern vor allem aus dem umfangreichen System von Garantien, das sicherstelle, dass alle Richter der Disziplinarkammer ihre Entscheidungen völlig frei von äußerem Druck treffen könnten. Nach Art. 179 der Verfassung der Republik Polen würden Richter auf unbestimmte Zeit ernannt. Gemäß Art. 180 der Verfassung der Republik Polen seien Richter unabsetzbar. Ein Richter könne nicht gegen seinen Willen entlassen, vom Amt suspendiert, an ein anderes Gericht oder in ein anderes Amt versetzt werden, es sei denn aufgrund einer justiziellen Entscheidung und nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen. Ein Richter trete in den Ruhestand bei Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze und könne wegen einer Krankheit oder eines Gebrechens, die ihm die Wahrnehmung seiner Pflichten unmöglich machten, in den Ruhestand versetzt werden. Nach Art. 181 der Verfassung der Republik Polen genieße ein Richter Immunität vor Strafverfolgung und könne daher nicht ohne vorherige Zustimmung eines durch Gesetz bestimmten Gerichts strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder seiner Freiheit beraubt werden. Richter müssten zudem nach Art. 178 Abs. 3 der Verfassung der Republik Polen politisch neutral sein. Gemäß Art. 44 des Gesetzes über das Oberste Gericht dürften dessen Richter (einschließlich derjenigen seiner Disziplinarkammer) grundsätzlich kein anderes Amt innehaben. Zugleich genössen die Richter des Obersten Gerichts angemessene materielle Bedingungen, durch die die für sie geltenden Verbote und Einschränkungen ausgeglichen werden sollten. Richter der Disziplinarkammer hätten gemäß den Regeln über die Unvereinbarkeit mit der Wahrnehmung anderer Funktionen Anspruch auf zusätzliche Dienstbezüge in Höhe von 40 % des gesamten Grundgehalts und auf eine Zulage für die Wahrnehmung ihrer Pflichten (mit Ausnahme des Falles, dass ein Richter eine Stelle als wissenschaftliche Lehrkraft oder als Wissenschaftler innehabe, für die Zeit vom Antritt dieser Stelle bis zum Ausscheiden).

203. Nach Ansicht der Republik Polen hat die Kommission nicht erläutert, inwiefern die Autonomie der Disziplinarkammer es möglich machen solle, dass auf einen Richter dieser Kammer Druck ausgeübt werde. Die Schaffung der Disziplinarkammer sei durch die Ineffizienz von Disziplinarverfahren und die Unfähigkeit des Obersten Gerichts gerechtfertigt gewesen, richterliches Fehlverhalten disziplinarisch zu ahnden. Die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer innerhalb des Obersten Gerichts zusammen mit dem Fehlen jeder Abhängigkeit von anderen Gewalten zeige, dass die Vorwürfe der Kommission unbegründet seien. Überdies sei die Übertragung der Zuständigkeit auf die Disziplinarkammer mit der Organisation der Justiz verknüpft, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. In der Tat genössen Richter in manchen Mitgliedstaaten(158) keine Immunität. Wenn die Kommission richterliche Immunität für ein unionsrechtliches Erfordernis halte, müsse sie diese von allen Mitgliedstaaten verlangen.

204. Die Republik Polen macht geltend, das Verfahren zur Ernennung der Richter der Disziplinarkammer biete weitaus höhere Garantien für Unabhängigkeit als die Verfahren, die nach Ansicht des Gerichtshofs den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genügten(159). Von einem „systemischen Bruch“ könne keine Rede sein, und die Kommission messe offenkundig mit zweierlei Maß. Sie habe den Begriff „systemischer Bruch“ nicht erläutert, der kein Rechtsbegriff und in der völkerrechtlichen Rechtsprechung unbekannt sei. Auch die Reform des Justizsystems habe mit einem „Bruch“ nichts zu tun. Die Disziplinarkammer nehme im Gegenteil die Aufgaben eines Disziplinargerichts erster und zweiter Instanz wahr.

2.      Würdigung

205. Die Organisation der Justiz einschließlich der Regeln für Strafverfahren gegen Richter fällt zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch muss diese Zuständigkeit im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt werden. Sieht ein Mitgliedstaat spezifische Vorschriften für Strafverfahren gegen Richter vor, so gebietet das Erfordernis der Unabhängigkeit, um bei den Einzelnen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, die ihre Entscheidungen leiten könnten, auszuräumen, dass diese spezifischen Vorschriften durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sind. Diese Vorschriften müssen wie diejenigen über die disziplinarische Haftung von Richtern die notwendigen Garantien dafür vorsehen, dass diese Strafverfahren nicht als System der politischen Kontrolle der Tätigkeit der betreffenden Richter eingesetzt werden können und dass sie die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte in vollem Umfang gewährleisten(160).

206. Gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass Gerichte, die möglicherweise über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden(161). Schon ihrer Natur nach können Sachen, die gemäß Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in die Zuständigkeit der Disziplinarkammer fallen, offenkundig unmittelbare Auswirkungen auf den Status und die Amtsausübung der Richter haben(162). Angesichts der schwerwiegenden Auswirkungen, die Disziplinarmaßnahmen auf deren Leben und Laufbahn haben können, ist es geboten, dass Maßnahmen, die nach Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht gegenüber Richtern getroffen werden, die möglicherweise über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben, von einer Einrichtung überprüft werden, die ihrerseits die Garantien für einen wirksamen Rechtsschutz im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfüllt(163).

207. Folglich muss die Disziplinarkammer, die für die Anwendung von Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zuständig ist, alle notwendigen Garantien hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bieten, damit jede Gefahr ausgeschlossen ist, dass aufgrund dieser Bestimmungen erlassene Maßnahmen als Mittel zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt werden können. In diesem Zusammenhang ist es irrelevant, dass andere Mitgliedstaaten die richterliche Immunität vor Strafverfolgung anders geregelt haben(164).

208. In seinem Urteil Disziplinarordnung für Richter hat der Gerichtshof auf der Grundlage einer Reihe von Faktoren kategorisch festgestellt, dass die Disziplinarkammer den Anforderungen in Bezug auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht genügt. Hierfür hat er sich weitgehend auf die Faktoren gestützt, die er schon im Urteil A. K. angeführt hatte, auf das in der Klageschrift verwiesen wird. Die Klagebeantwortung ist am 17. Juni 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht worden, d. h. etwa einen Monat vor dem Erlass des Urteils Disziplinarordnung für Richter. Während in der Erwiderung vom 28. Juli 2021 zur Stützung der vierten Rüge auf dieses Urteil Bezug genommen wird, enthält die am 7. September 2021 eingereichte Gegenerwiderung keine Ausführungen zu dieser Rüge.

209. Das Urteil Disziplinarordnung für Richter(165) ist für die Beurteilung der vierten Rüge von einer solchen Bedeutung, dass ich seine relevanten Randnummern kurz zusammenfassen möchte(166). Unter Bezugnahme auf seine verschiedenen Erwägungen in den Rn. 89 bis 110 dieses Urteils und nicht auf irgendeinen einzelnen Faktor hat der Gerichtshof befunden, dass die Republik Polen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, da die Disziplinarkammer nicht die Anforderungen in Bezug auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllt(167). Er hat sich u. a. darauf gestützt, dass die Schaffung der Disziplinarkammer ex nihilo mit ausschließlicher Zuständigkeit für bestimmte Disziplinarsachen zeitlich mit dem Erlass nationaler Bestimmungen zusammenfiel, die die Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit der Richter des Obersten Gerichts beeinträchtigten. Er hat darauf hingewiesen, dass die Disziplinarkammer innerhalb dieses Gerichts im Vergleich zu dessen anderen Kammern über eine besonders weitgehende organisatorische, funktionelle und finanzielle Autonomie verfügt. Die Dienstbezüge der Richter der Disziplinarkammer sind ohne jede Rechtfertigung um etwa 40 % höher als die der den anderen Kammern des Obersten Gerichts zugewiesenen Richter. Bei ihrer Einrichtung sollte die Disziplinarkammer ausschließlich mit neuen, vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannten Richtern besetzt werden(168).

210. Bevor diese Ernennungen erfolgten, wurde die KRS vollständig neu gebildet(169). Dem Gerichtshof zufolge bergen solche Änderungen die – im Rahmen des bisher geltenden Wahlverfahrens nicht bestehende – Gefahr eines größeren Einflusses der Legislative und Exekutive auf die KRS und einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit dieser Einrichtung. Überdies wurde die neu zusammengesetzte KRS unter Verkürzung der bis dahin geltenden vierjährigen Amtszeit ihrer bisherigen Mitglieder eingerichtet. Der Gerichtshof hat auch darauf hingewiesen, dass die gesetzliche Reform der KRS gleichzeitig mit dem Erlass des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht(170) erfolgte, mit dem dieses erheblich reformiert wurde(171).

211. Dem Gerichtshof zufolge sind alle diese Faktoren geeignet, bei den Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der Disziplinarkammer für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen. Sie können dazu führen, dass die Disziplinarkammer nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das in einer demokratischen Gesellschaft unerlässliche Vertrauen der Rechtsuchenden in die Justiz beeinträchtigt werden kann(172).

212. Entgegen dem Vorbringen der Republik Polen schließt eine Gesamtbeurteilung des Verfahrens zur Ernennung der Richter der Disziplinarkammer und der Arbeitsbedingungen dieser Kammer vernünftige Zweifel nicht aus, dass von außen Druck auf sie ausgeübt werden könnte. Zur Zeit der Abfassung dieser Schlussanträge bestehen die im Urteil Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts)(173) und im Urteil A. K. dargelegten berechtigten Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer fort.

213. Folglich bin ich der Auffassung, dass die Republik Polen dadurch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie der Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs gewährleistet sind, die Zuständigkeit für die Entscheidung von Sachen übertragen hat, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, wie Anträge auf Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen, die Richter des Obersten Gerichts betreffen, sowie Sachen betreffend ihre Versetzung in den Ruhestand.

E.      Fünfte Rüge – Verletzung des Grundrechts von Richtern auf Achtung ihres Privatlebens und des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten

1.      Vorbringen der Parteien

214. Die Kommission macht geltend, die Republik Polen habe dadurch, dass sie jeden Richter verpflichte, binnen 30 Tagen ab Erhalt der Benachrichtigung von seiner Ernennung und vor dem Amtsantritt Angaben zur Mitgliedschaft in einer berufsständischen Einrichtung oder Vereinigung, zu den von ihm in Stiftungen ohne Gewinnzweck ausgeübten Funktionen und zur Mitgliedschaft in einer politischen Partei zu machen und diese Angaben im Bulletin für öffentliche Informationen zu veröffentlichen, das Grundrecht von Richtern auf Achtung ihres Privatlebens und deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten verletzt, die durch Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 sowie Art. 9 Abs. 1 DSGVO gewährleistet seien.

215. Nach Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit müssten Richter eine schriftliche Erklärung über ihre Mitgliedschaft in den in Art. 88a § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit genannten Einrichtungen abgeben. Diese Angaben seien im Bulletin für öffentliche Informationen nicht später als 30 Tage nach der Abgabe der Erklärung zu veröffentlichen(174). Nach Ansicht der Kommission betreffen diese Bestimmungen die Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 4 Abs. 1 DSGVO, nämlich Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. Da die in Art. 88a § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit bezeichneten Informationen die politischen Meinungen eines Richters vor seiner Ernennung zum Richter(175) oder mit der Mitgliedschaft in einer Vereinigung oder Stiftung zusammenhängende weltanschauliche Überzeugungen(176) beträfen, gehörten sie zu einer besonderen Kategorie personenbezogener Daten im Sinne von Art. 9 Abs. 1 DSGVO.

216. Da die Verarbeitung personenbezogener Daten von Richtern der DSGVO unterliege, könne sich die Republik Polen nicht auf die in deren Art. 2 Abs. 2 Buchst. a vorgesehene Ausnahme berufen. Dies ergebe sich schon aus dem 20. Erwägungsgrund(177) und aus Art. 37 Abs. 1 Buchst. a DSGVO, die zur Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz eine Abweichung von der DSGVO nur für die Zuständigkeit von Aufsichtsbehörden für Gerichte vorsähen, die im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit handelten.

217. Die Kommission macht weiter geltend, die Verpflichtungen von Richtern, vor ihrer Ernennung Angaben zur Mitgliedschaft in einer politischen Partei und zur öffentlichen und sozialen Betätigung in einer Vereinigung oder einer Stiftung zu machen und zu veröffentlichen, seien unvereinbar mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da sie zur Erreichung des von der Republik Polen angeführten Ziels der Stärkung der Unparteilichkeit der Richter weder geeignet noch notwendig seien. Sie seien daher sowohl mit den Art. 7 und 8 der Charta als auch mit Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 sowie Art. 9 Abs. 1 DSGVO unvereinbar. Diese Verpflichtungen beschränkten das Recht von Richtern auf Achtung ihres Privatlebens(178) und ihr Recht auf Schutz ihrer personenbezogener Daten(179). Einschränkungen dieser Rechte seien nur zulässig, wenn sie gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen seien und den Wesensgehalt der in den Art. 7 und 8 der Charta anerkannten Rechte achteten. Gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müssten sie notwendig sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

218. Nach Art. 6 Abs. 3 DSGVO müsse das Recht der Mitgliedstaaten, das die Rechtsgrundlage für die Verarbeitungen personenbezogener Daten festlege, die zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung oder für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich seien, die im öffentlichen Interesse liege oder in Ausübung von dem Verantwortlichen übertragener öffentlicher Gewalt erfolge, ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen(180). Zudem müsse die Verarbeitung sensibler Daten, aus denen die politischen Meinungen eines Richters vor seiner Ernennung und mit der Mitgliedschaft in einer Vereinigung oder Stiftung zusammenhängende weltanschauliche Überzeugungen hervorgingen, durch eine der Ausnahmen nach Art. 9 Abs. 2 DSGVO gerechtfertigt sein.

219. Es sei daher nicht auszuschließen, dass die Einrichtungen, die damit betraut seien, zu gewährleisten, dass Richter den ethischen und berufsrechtlichen Anforderungen genügten, oder Spruchkörper mit Richtern zu besetzen, Kenntnis von Tätigkeiten erlangten, denen diese außerhalb ihrer Amtspflichten nachgingen und die in einem konkreten Fall zu einem Interessenkonflikt führen könnten. Die Verarbeitung solcher Informationen müsse jedoch streng auf diesen Zweck begrenzt sein und dürfe insbesondere nicht für andere Zwecke genutzt werden, die dazu führen könnten, dass ein Richter diskriminiert oder dass von außen Druck auf ihn ausgeübt oder Einfluss auf seine Laufbahn genommen werde.

220. Nach Ansicht der Kommission sind die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften unverhältnismäßig, da sie nicht auf das beschränkt seien, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich sei, auch wenn sie nur auf die interne Kontrolle möglicher Interessenkonflikte anzuwenden sein sollten. Insbesondere betreffe eine frühere Mitgliedschaft in einer politischen Partei das Leben eines Richters vor seiner Ernennung und berühre damit nicht unmittelbar seine Amtsausübung. Was die Mitgliedschaft in einer politischen Partei und die Position in dieser vor dem 29. Dezember 1989 angehe, sei die Behauptung unhaltbar, dass eine solche Information genutzt werden könne, um die Unparteilichkeit eines Richters in Sachen zu beurteilen, mit denen er mehr als 30 Jahre später befasst sei. Es gebe auch keinen Zusammenhang zwischen dem Zugang zu solchen Daten und dem Ernennungsverfahren, da diese Daten nach dem Amtsantritt des Richters vorgelegt werden müssten.

221. Jedenfalls lasse sich das Ziel, die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten durch einen unparteiischen Richter sicherzustellen, durch weniger restriktive Mittel erreichen, wie die Ablehnung eines Richters in Sachen, in denen Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufgeworfen würden. Der Erwiderung zufolge legen die Richter bei ihrer Ernennung einen Eid ab, unparteiisch und gewissenhaft Recht zu sprechen. Richter seien gemäß Art. 82 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit ferner zur Wahrung der Würde ihres Amtes verpflichtet.

222. In der Erwiderung heißt es ferner, nach der Verfassung der Republik Polen hätten Richter unpolitisch und unparteiisch zu sein. Die Republik Polen habe nicht dargetan, dass der Erlass von Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit zur Erfüllung dieses Erfordernisses notwendig gewesen sei. Angaben zur Mitgliedschaft in einer Vereinigung, zu der in einer Stiftung ohne Gewinnzweck ausgeübten Funktion und zur Mitgliedschaft in einer politischen Partei lieferten Hinweise auf die politischen Meinungen oder die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 DSGVO. Da zudem der Begriff „Vereinigung“ im Sinne von Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit unbestimmt sei, gelte er für die Mitgliedschaft in religiösen Vereinigungen, so dass Richter ihre Glaubensüberzeugungen offenbaren müssten. Nach Auffassung der Kommission wurde diese Bestimmung eingeführt, um die danach eingeholten und verarbeiteten Informationen für andere Zwecke wie Ausübung von Druck auf Richter oder die Erweckung von Verdacht bei Menschen, die deren Überzeugungen nicht teilten, zu nutzen.

223. Nach Ansicht der Republik Polen ist die fünfte Rüge zurückzuweisen, da die beanstandeten Bestimmungen nicht in den Anwendungsbereich der DSGVO fielen. Gemäß ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. a finde die DSGVO keine Anwendung auf die Verarbeitung von Daten im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle. Da zudem die ausschließliche Zuständigkeit für die Organisation der Justiz bei den Mitgliedstaaten liege, finde die DSGVO auf diese Tätigkeit keine Anwendung.

224. Jedenfalls stünden die nationalen Rechtsvorschriften im Einklang mit der DSGVO. Informationen betreffend bestimmte Tätigkeiten von Richtern außerhalb der richterlichen Sphäre könnten für ihre Amtsausübung und für das Vorliegen von Gründen für eine Ablehnung in einer konkreten Sache relevant sein. Entgegen dem Vorbringen der Kommission könne sich die frühere Mitgliedschaft in einer politischen Partei auf die gegenwärtige Rechtsprechungstätigkeit eines Richters auswirken und Anlass zu seiner Ablehnung in einer konkreten Sache geben. Diese Verpflichtungen dienten dem Zweck, einer Partei Informationen zur Verfügung zu stellen und sie in die Lage zu versetzen, einen begründeten Ablehnungsantrag zu stellen. Sie sollten einen Richter nicht an der Ausübung von Tätigkeiten hindern, die mit der richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar seien(181), sondern es ermöglichen, sich im Einzelfall zu vergewissern, dass ein mit einer Sache befasster Richter keiner Tätigkeit nachgegangen sei, die den Eindruck vermitteln könnte, er sei nicht völlig objektiv. Die nationalen Bestimmungen stünden demnach in angemessenem Verhältnis zum Ziel der Stärkung der Unparteilichkeit und der politischen Neutralität der Richter, was, wie die Kommission selbst einräume, Zweck der beanstandeten Bestimmungen sei.

225. Nach Ansicht der Republik Polen ist das Ziel der Erlangung von Informationen über die Mitgliedschaft in einer politischen Partei vor dem 29. Dezember 1989, um die Unparteilichkeit eines Richters zu beurteilen, der mehr als 30 Jahre später in Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden habe, völlig legitim, da die Politisierung der Justiz für die früheren kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa kennzeichnend gewesen sei.

226. Die Republik Polen weist darauf hin, dass die Kommission nicht ausschließe, dass sich die Beteiligung an Tätigkeiten einer Stiftung oder Organisation ohne Gewinnzweck unmittelbar auf die gegenwärtigen Tätigkeiten eines Richters auswirken könne, die denen einer Privatperson nicht gleichgestellt werden könnten. Entgegen dem Vorbringen der Kommission solle mit der Verarbeitung der verlangten Informationen nur das öffentliche Vertrauen in die Unparteilichkeit und die politische Neutralität der Richter gestärkt werden. Derartige Daten könnten nicht für andere Zwecke genutzt werden, einschließlich solcher, die zu Diskriminierung, äußerem Druck oder Einflussnahme auf die berufliche Laufbahn eines Richters führen könnten. Die Kommission habe keinerlei Beweis für ihr Vorbringen vorgelegt, das deshalb rein hypothetisch sei.

227. Die Republik Polen weist auch das Vorbringen der Kommission zurück, die mit den nationalen Bestimmungen verfolgten Ziele ließen sich mit weniger restriktiven Maßnahmen erreichen. Zweck dieser Bestimmungen sei es, den Parteien eines Rechtsstreits ausreichende Informationen zur Verfügung zu stellen, um zu einem geeigneten Zeitpunkt vor einem Richter einen Befangenheitsantrag zu stellen. Dieses Ziel lasse sich nicht mit den von der Kommission beschriebenen Maßnahmen erreichen. Daher sei das Vorbringen der Kommission zurückzuweisen, dass die fraglichen Informationen ausschließlich im Rahmen einer internen Kontrolle möglicher Interessenkonflikte genutzt und nur an diejenigen übermittelt werden dürften, die sicherzustellen hätten, dass die Richter den ethischen und berufsrechtlichen Maßstäben genügten, sowie an diejenigen, die für die Zusammensetzung der Spruchkörper zuständig seien.

228. Die Verarbeitung von Daten betreffend die Mitgliedschaft von Richtern in Stiftungen, Vereinigungen oder politischen Parteien genüge somit dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit, wie es für die Wahrnehmung einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe gelte. Die Republik Polen ist folglich der Auffassung, dass unbeschadet ihres Standpunkts zur Anwendung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO die beanstandeten Bestimmungen auch den Kriterien von Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 2 letzter Satz in Verbindung mit Unterabs. 1 Buchst. b sowie Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e DSGVO genügten. Zudem fielen die betreffenden Daten nicht in die Kategorie der spezifischen Daten, auf die sich Art. 9 Abs. 1 DSGVO beziehe. Der von der Kommission geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung bedürfe es daher nicht. Die fraglichen Verpflichtungen zielten nicht darauf ab, von einem Richter die Abgabe einer Erklärung mit Angaben zu seinen politischen Meinungen oder religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen zu verlangen. Gemäß der Verfassung der Republik Polen hätten Richter wie andere Bürger das Recht auf Rede‑, Glaubens‑, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit(182), sofern sie bei der Ausübung dieser Rechte mit der gebührenden Achtung für die Würde ihres Amtes sowie die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt handelten.

2.      Würdigung

229. Das Vorbringen der Kommission zu Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta ist zwar knapp und stützt sich auf dieselben Argumente wie die zu den beanstandeten Verstößen gegen die DSGVO vorgetragenen, doch wird damit meines Erachtens ein eigenständiger Verstoß gegen die Charta durch die Republik Polen gerügt(183).

230. Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts. Gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV und Art. 51 Abs. 2 der Charta dehnen deren Bestimmungen in keiner Weise die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union aus. Der Gerichtshof ist somit nicht für die Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung, die nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, mit der Charta zuständig(184).

231. In Rn. 21 des Urteils Åkerberg Fransson(185) hat der Gerichtshof festgestellt, dass, da die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, keine Fallgestaltungen denkbar sind, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte Geltung hätten. Die Geltung von Unionsrecht zieht somit die der in der Charta verbürgten Grundrechte nach sich. Folglich gelten die in der Charta verbürgten Grundrechte in allen unter Unionsrecht fallenden Sachverhalten und müssen beachtet werden, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Für die Anwendbarkeit der Charta ist es zudem erforderlich, dass das Unionsrecht in dem betreffenden Bereich den Mitgliedstaaten besondere Verpflichtungen hinsichtlich des in Rede stehenden Sachverhalts auferlegt(186).

232. Die DSGVO erlegt den Mitgliedstaaten besondere Verpflichtungen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten auf. Die Informationen nach Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit beziehen sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person(187) im Sinne von Art. 4 Abs. 1 DSGVO. Ihre Erhebung und spätere Veröffentlichung stellen eine Verarbeitung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 DSGVO dar(188). Ausgehend davon, dass die mit der vorliegenden Rüge beanstandete Verarbeitung personenbezogener Daten von Richtern in den Anwendungsbereich der DSGVO fällt und damit dem Unionsrecht unterliegt, ist der Gerichtshof für die Prüfung zuständig, ob die Republik Polen mit dem Erlass der in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta verstoßen hat. Was das Vorbringen der Republik Polen angeht, die DSGVO finde keine Anwendung auf die Organisation der Justiz und/oder die Rechtspflege in einem Mitgliedstaat, weil diese Tätigkeit im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs des Unionsrechts liege, hat der Gerichtshof entschieden, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, diese jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben(189). Die DSGVO hat einen sehr weiten sachlichen Anwendungsbereich. Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 „gilt [sie] für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen“. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a bis d DSGVO nimmt die Datenverarbeitung in bestimmten Fällen vom sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung aus. Eine solche Ausnahme sieht Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO vor, wenn diese Verarbeitung im Rahmen einer Tätigkeit erfolgt, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt(190).

233. Im Urteil Latvijas Republikas Saeima (Strafpunkte)(191) hat der Gerichtshof(192) befunden, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO im Licht des 16. Erwägungsgrundes dieser Verordnung(193) vom Anwendungsbereich dieser Verordnung Verarbeitungen personenbezogener Daten ausnimmt, die staatliche Stellen im Rahmen einer Tätigkeit vornehmen, die der Wahrung der nationalen Sicherheit dient, oder einer Tätigkeit, die dieser Kategorie zugeordnet werden kann. Der Umstand, dass eine Tätigkeit eine spezifische Tätigkeit des Staates oder einer Behörde ist, reicht folglich nicht dafür aus, dass diese Ausnahme automatisch für diese Tätigkeit gilt. Entgegen dem Vorbringen der Republik Polen nimmt Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO die Organisation der Justiz und/oder die Rechtspflege in den Mitgliedstaaten nicht vom sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung aus(194).

234. Darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass die Anwendung der DSGVO in Bezug auf „Handlungen der Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit“ durch eine Reihe von Ausnahmebestimmungen begrenzt wird(195). Die DSGVO nimmt somit die Organisation der Justiz und die Rechtspflege nicht als solche von ihrem Anwendungsbereich aus, sondern begrenzt die Anwendung einiger ihrer Vorschriften in bestimmten Einzelfällen.

235. Folglich sind die Organisation der Justiz und/oder die Rechtspflege in einem Mitgliedstaat keine Tätigkeit, die nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liegt(196). Nationale Bestimmungen, die die in den Anwendungsbereich der DSGVO fallende Verarbeitung personenbezogener Daten vorsehen, müssen mit dieser im Einklang stehen und demgemäß die in der Charta niedergelegten Grundrechte beachten. Im Licht des in Art. 1 Abs. 2 DSGVO aufgestellten Ziels, die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten zu schützen, genügt eine solche Verarbeitung den Anforderungen der Art. 7 und 8 der Charta, soweit die Bedingungen für ihre rechtmäßige Verarbeitung nach dieser Richtlinie erfüllt sind(197).

236. Nach ihrem zehnten Erwägungsgrund soll die DSGVO u. a. ein hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen in der Union gewährleisten. Dazu sollten die Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten solcher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten unionsweit gleichmäßig und einheitlich angewandt werden. Wie es im vierten Erwägungsgrund der DSGVO heißt, ist das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegen andere Grundrechte abgewogen werden.

237. Vorbehaltlich der nach Art. 23 DSGVO zulässigen Ausnahmen müssen bei jeder Verarbeitung personenbezogener Daten die in ihrem Kapitel II aufgestellten Grundsätze für diese Verarbeitung und die in ihrem Kapitel III geregelten Rechte der betroffenen Person beachtet werden. Insbesondere muss jede Verarbeitung personenbezogener Daten erstens mit den Grundsätzen von Art. 5 DSGVO im Einklang stehen und zweitens die Voraussetzungen gemäß ihrem Art. 6 erfüllen(198).

238. Personenbezogene Daten müssen nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, b, c und d DSGVO auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden, für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden sowie dem Zweck angemessen und erheblich und auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein.

239. Die Kommission macht nicht geltend, dass die Republik Polen einen der in Art. 5 DSGVO aufgestellten Grundsätze betreffend die Verarbeitung personenbezogener Daten(199) verletzt habe. Zu Art. 6 DSGVO ist im Urteil Latvijas Republikas Saeima (Strafpunkte)(200) festgestellt worden, dass diese Bestimmung eine erschöpfende und abschließende Liste der Fälle enthält, in denen eine Verarbeitung personenbezogener Daten als rechtmäßig angesehen werden kann. Eine rechtmäßige Datenverarbeitung muss daher unter einen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Tatbestände subsumierbar ein(201).

240. Die Verarbeitung von Daten ist gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. c DSGVO nur rechtmäßig, wenn sie zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der der Verantwortliche unterliegt(202). Die Verarbeitung ist gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. e DSGVO nur rechtmäßig, wenn sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde(203). Da die Verarbeitung der Daten im vorliegenden Verfahren gesetzlich vorgesehen ist, muss ihre Rechtmäßigkeit anhand von Art. 6 Abs. 1 Buchst. c DSGVO geprüft werden. Nach Art. 6 Abs. 3 DSGVO muss die Rechtsgrundlage für die Verarbeitungen gemäß Abs. 1 Buchst. c durch Unionsrecht oder durch das Recht des Mitgliedstaats, dem der Verantwortliche unterliegt, festgelegt werden(204), und in dieser Rechtsgrundlage ist der Zweck der Verarbeitung festzulegen. Zudem muss gemäß Art. 6 Abs. 3 DSGVO das Unionsrecht oder das nationale Recht ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen. Nach dem 39. Erwägungsgrund der DSGVO sollten personenbezogene Daten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann.

241. Auch die in den Art. 7 und 8 der Charta und in der DSGVO niedergelegten Rechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen und gelten nach Maßgabe ihrer gesellschaftlichen Funktion(205). Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Wie der Gerichtshof zudem entschieden hat, muss eine Regelung, die einen Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten enthält, klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen(206).

242. Im Mittelpunkt der fünften Rüge der Kommission steht die Frage der Verhältnismäßigkeit der beanstandeten nationalen Bestimmungen. Die Kommission macht nicht geltend, dass das Ziel der Gewährleistung des Zugangs zu einem unparteiischen Gericht nicht im öffentlichen Interesse liege(207) und dass die Verarbeitung in dieser Hinsicht nicht im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 DSGVO sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta stehe(208). Hierzu genügt die Feststellung, dass die Mitgliedstaaten in Bereichen, die unter das Unionsrecht fallen, gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht gewährleisten müssen(209). Im Kern macht die Kommission geltend, dass die nationalen Bestimmungen nicht rechtmäßig seien, weil sie zur Erreichung des von der Republik Polen angeführten Ziels, die richterliche Unparteilichkeit sicherzustellen, weder geeignet noch erforderlich seien.

243. Art. 9 Abs. 1 DSGVO untersagt ausdrücklich die Verarbeitung bestimmter personenbezogener Daten, die als besonders sensibel gelten(210). Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit(211) verlangt Angaben zu (i) der Mitgliedschaft von Richtern in einer Vereinigung(212), einschließlich der von ihnen eingenommenen Positionen und des Zeitraums ihrer Mitgliedschaft, (ii) der in einem Organ einer Stiftung ohne Gewinnzweck eingenommenen Position und ihrer Dauer und (iii) der Mitgliedschaft in einer politischen Partei vor der Berufung in das Richteramt oder während der Ausübung dieses Amtes vor dem 29. Dezember 1989. Die Begriffe der Mitgliedschaft in einer Vereinigung oder der im Organ einer Stiftung ohne Gewinnzweck eingenommenen Position könnten sich auf die Mitgliedschaft oder auf eine Position im Organ einer Gewerkschaft, in einer Sportorganisation, in einer weltanschaulichen Gemeinschaft oder in einem Verein beziehen. Die Begriffe „Mitgliedschaft“ oder „eingenommene Position“ sind nicht definiert und könnten sich auf formelle oder informelle Mitgliedschaft oder Position beziehen. Die in den geprüften nationalen Bestimmungen verwendete Terminologie ist so weit und unpräzise, dass sie potenziell nahezu jede Form der Vereinigung von Menschen erfasst. Überdies sehen diese nationalen Bestimmungen mit Ausnahme von Art. 88a § 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit keine zeitliche Beschränkung für die geforderten Daten vor. Es ist denkbar, dass ein Richter die in seine frühe Kindheit zurückreichende Mitgliedschaft in einem Amateursportverein angeben müsste.

244. Die beanstandeten Bestimmungen reichen somit sehr weit. Das Erfordernis der Abgabe einer schriftlichen Erklärung über die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder in einer Vereinigung oder über eine im Organ einer Stiftung ohne Gewinnzweck eingenommene Position während eines unbegrenzten Zeitraums und die Veröffentlichung dieser Daten kann eine Verarbeitung personenbezogener Daten darstellen, aus denen die politischen Meinungen eines Richters, seine weltanschaulichen Überzeugungen oder seine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft hervorgehen.

245. Art. 9 Abs. 1 DSGVO untersagt die Erhebung und Veröffentlichung sensibler personenbezogener Daten, aus denen u. a. politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen. Art. 9 Abs. 2 DSGVO sieht bestimmte Ausnahmen und Abweichungen von diesem Verbot vor. Dazu gehört Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO, wonach die Verarbeitung solcher Daten zulässig ist, wenn sie „auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich“ ist(213).

246. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die Republik Polen keine Maßnahmen angeführt hat, die sie zum Schutz der Grundrechte von Richtern nach Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta oder nach der DSGVO, insbesondere nach ihren Art. 6 und 9, wie in Art. 9 Abs. 2 Buchst. g dieser Verordnung gefordert, ergriffen hätte, um die Auswirkungen der von ihr erlassenen Bestimmungen abzumildern.

247. Schon auf dieser Grundlage allein zeigt sich, dass die Republik Polen das Grundrecht von Richtern auf Achtung ihres Privatlebens und ihr Recht auf Schutz personenbezogener Daten verletzt hat, die durch Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 DSGVO gewährleistet sind.

248. Der Vollständigkeit halber werde ich prüfen, ob die nationalen Bestimmungen geeignet und erforderlich sind, um das von der Republik Polen angeführte Ziel zu erreichen, die richterliche Unparteilichkeit zu gewährleisten. An der Sicherstellung des Zugangs zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht besteht ein erhebliches öffentliches Interesse(214) im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO. Verstärkte Transparenz hinsichtlich der früheren Mitgliedschaft von Richtern in Stiftungen, Vereinigungen usw. kann grundsätzlich das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz stärken.

249. Es ist nicht nachgewiesen worden, dass der Erlass der in Rede stehenden nationalen Bestimmungen zur Verfolgung des vorgeblich verfolgten Ziels notwendig war. Erstens werden in diesen Bestimmungen nicht die Gründe für ihren Erlass genannt. Zweitens hat die Republik Polen eine solche Notwendigkeit nicht dargetan. Sie hat nicht angegeben, dass die vor dem Erlass dieser Bestimmungen geltenden nationalen Bestimmungen über die richterliche Unparteilichkeit und die Ablehnung von Richtern unzureichend gewesen wären oder dass es einen Mangel an Vertrauen in die Unparteilichkeit der Gerichte in Polen gegeben hätte. Den in Rede stehenden nationalen Bestimmungen liegt erkennbar die Annahme zugrunde, dass die Öffentlichkeit die Gerichte als voreingenommen wahrnehme. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Verpflichtung von Richtern nach Art. 88a § 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, ihre Mitgliedschaft in einer politischen Partei während ihrer Amtszeit vor dem 29. Dezember 1989 anzugeben. Im Urteil Getin Noble Bank(215) hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Tatsache der Ernennung eines Richters in der Zeit, als die Volksrepublik Polen ein kommunistischer Staat war, für sich genommen bei den Einzelnen keine berechtigten und ernsthaften Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Richters bei der Ausübung seiner richterlichen Tätigkeiten über 30 Jahre später wecken kann.

250. Was die Frage angeht, ob der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann, erlauben es zwar die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen, wie die Republik Polen geltend macht, sich im Einzelfall zu vergewissern, dass ein mit einer Sache befasster Richter keiner Tätigkeit nachgegangen ist, die den Eindruck vermitteln könnte, er sei nicht völlig objektiv, sie eröffnen aber auch der Öffentlichkeit einen weitreichenden Zugang zu sensiblen personenbezogenen Daten(216). Der angegebene Zweck der nationalen Bestimmungen hätte durch weit weniger einschneidende Mittel erreicht werden können, etwa indem die fraglichen Daten den Anwälten der Partei zugänglich gemacht worden wären und jede spätere Offenlegung von Daten, die nichts mit diesem konkreten und begrenzten Zweck der Gewährleistung richterlicher Unparteilichkeit zu tun haben, beschränkt worden wäre.

251. Die Verarbeitung der fraglichen personenbezogenen Daten stellt eine ernsthafte Einschränkung des Rechts von Richtern auf Achtung ihres Privatlebens und ihres Rechts auf Schutz personenbezogener Daten aus Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta und aus der DSGVO dar. Dies geht über das hinaus, was zur Erreichung des damit verfolgten Ziels erforderlich ist.

252. Ich schlage dem Gerichtshof deshalb vor, festzustellen, dass Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegen Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie gegen Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 sowie Art. 9 Abs. 1 DSGVO verstoßen.

VII. Kosten

253. Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

254. Im vorliegenden Fall haben die Kommission und die Republik Polen beantragt, die jeweils andere Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

255. Da die Kommission Kostenantrag gestellt hat und die Republik Polen, von der zweiten Rüge abgesehen, unterlegen ist, sind Letzterer vier Fünftel der Kosten, einschließlich vier Fünftel der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes, aufzuerlegen.

256. Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Dem Königreich Belgien, dem Königreich Dänemark, dem Königreich der Niederlande, der Republik Finnland und dem Königreich Schweden sind somit ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

VIII. Ergebnis

257. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verstoßen hat, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. 2001, Nr. 98, Pos. 1070) in der durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 (Dz. U. 2020, Pos. 190, im Folgenden: Änderungsgesetz) geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit), Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5) in der durch das Änderungsgesetz geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über das Oberste Gericht), Art. 5 §§ 1a und 1b der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 25. Juli 2002 (Dz. U. 2002, Pos. 1269) in der durch das Änderungsgesetz geänderten Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) sowie Art. 8 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die Anforderungen der Europäischen Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, untersagt ist;

–        festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV verstoßen hat, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als Disziplinarvergehen gewertet werden kann;

–        festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, wie erstens Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zweitens arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand;

–        festzustellen, dass die Republik Polen das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e sowie Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) niedergelegt sind, dadurch verletzt hat, dass sie Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen und beibehalten hat;

–        der Republik Polen vier Fünftel der Kosten, einschließlich vier Fünftel der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes, aufzuerlegen;

–        dem Königreich Belgien, dem Königreich Dänemark, dem Königreich der Niederlande, der Republik Finnland und dem Königreich Schweden ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Dz. U. 2020, Pos. 190. Das Änderungsgesetz trat am 14. Februar 2020 in Kraft.


3      ABl. 2016, L 119, S. 1.


4      Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982) (im Folgenden: Urteil A. K), und vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232) (im Folgenden: Urteil Simpson).


5      Dz. U. 2018, Pos. 5; es trat am 3. April 2018 in Kraft.


6      Dz. U. 2001, Nr. 98, Pos. 1070.


7      Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit findet nach Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht Anwendung auf die Richter des Obersten Gerichts und nach Art. 8 § 2 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) Anwendung auf die Richter der Verwaltungsgerichte und des Obersten Verwaltungsgerichts.


8      Dz. U. 2002, Pos. 1269.


9      Kommission/Polen (C‑204/21 R, EU:C:2021:593) (im Folgenden: Beschluss vom 14. Juli 2021).


10      Die Republik Polen wurde u. a. verpflichtet,


      –      die Anwendung der Bestimmungen, wonach die Disziplinarkammer dafür zuständig ist, über Anträge auf Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren zu entscheiden, auszusetzen;


      –      die Wirkungen der von der Disziplinarkammer bereits erlassenen Entscheidungen über die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter oder zu seiner Festnahme auszusetzen und es zu unterlassen, Sachen an ein Gericht zu verweisen, das den Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht genügt;


      –      die Anwendung der Bestimmungen, wonach die Disziplinarkammer für die Entscheidung in Sachen betreffend den Status und die Amtsausübung von Richtern des Obersten Gerichts zuständig ist, auszusetzen und es zu unterlassen, diese Sachen an ein Gericht zu verweisen, das den Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht genügt;


      –      die Anwendung der Bestimmungen, wonach Richter wegen der Prüfung der Beachtung der Anforderungen in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts disziplinarisch belangt werden können, auszusetzen;


      –      die Anwendung der nationalen Bestimmungen, soweit sie es den nationalen Gerichten verbieten, die Beachtung der Anforderungen des Unionsrechts in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zu überprüfen, und von Bestimmungen, mit denen die ausschließliche Zuständigkeit der Außerordentlichen Kammer für die Prüfung von Rügen der fehlenden Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts festgelegt wird, auszusetzen.


11      In diesem Urteil hat das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) u. a. entschieden, dass Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 279 AEUV nicht mit Art. 2, Art. 7, Art. 8 Abs. 1 und Art. 90 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen in Verbindung mit deren Art. 4 Abs. 1 vereinbar sei. Denn der Gerichtshof habe seine Zuständigkeiten überschritten, d. h., ultra vires entschieden, indem er der Republik Polen einstweilige Anordnungen in Bezug auf die Organisation und die Zuständigkeit der polnischen Gerichte und das vor ihnen zu befolgende Verfahren erteilt habe. Beschluss vom 6. Oktober 2021, Polen/Kommission (C‑204/21 R‑RAP, EU:C:2021:834, Rn. 10 und 11).


12      Polen/Kommission (C‑204/21 R‑RAP, EU:C:2021:834).


13      Beschluss vom 6. Oktober 2021, Polen/Kommission (C‑204/21 R‑RAP, EU:C:2021:834, Rn. 18 bis 24).


14      Kommission/Polen (C‑204/21 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:878).


15      Art. 2 EUV.


16      Gemäß Art. 49 EUV kann jeder europäische Staat, der die in Art. 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, beantragen, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Urteil vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 61 bis 63).


17      Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 122). Während Art. 47 der Charta zur Wahrung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz jedes Einzelnen beiträgt, der sich in einem bestimmten Fall auf ein Recht beruft, das er aus dem Unionsrecht herleitet, soll Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sicherstellen, dass das von jedem Mitgliedstaat eingerichtete Rechtsbehelfssystem einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta erfassten Bereichen gewährleistet: Urteil vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 36, 45 und 52).


18      Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 145 und 146).


19      In ihrer Gegenerwiderung macht die Republik Polen geltend, dem Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), Rechtssache P 7/20, zufolge habe der Gerichtshof mit dem Erlass einstweiliger Anordnungen in der Folge seines Beschlusses vom 14. Juli 2021 ultra vires entschieden, da die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren ausschließliche Zuständigkeit falle. Im Licht der ständigen Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) sowie des Verfassungsgerichtshofs (Belgien), des Ústavní soud (Verfassungsgericht, Tschechische Republik), des Højesteret (Oberstes Gericht, Dänemark), des Bundesverfassungsgerichts (Deutschland), des Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof, Spanien), des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), der Corte constituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) und der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) zum Grundsatz der nationalen Identität hätten die Mitgliedstaaten „das letzte Wort“ zu den mit den Verträgen übertragenen Befugnissen. Die Befugnisse der Union würden durch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung eingegrenzt, der ein Grundsatz des Unionsrechts sei, der sowohl die Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten als auch die Verpflichtungen der Union zur Achtung ihrer jeweiligen nationalen Identität umfasse.


20      Der wirksame gerichtliche Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und in den Art. 6 und 13 EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert ist. Letzterer ist daher bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu berücksichtigen. Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Im vorliegenden Verfahren ist unstreitig, dass das Oberste Gericht, die ordentlichen Gerichte und die Verwaltungsgerichte in Polen zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit in Fällen, die zu den vom Unionsrecht erfassten Bereichen im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gehören, angerufen werden können. Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 111 bis 114).


22      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána (C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 34).


23      Vgl. entsprechend Urteil A. K. (Rn. 130).


24      Die Mitgliedstaaten sind somit für die Wahrung des in Art. 47 der Charta verbürgten Rechts auf effektiven gerichtlichen Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte verantwortlich: Urteil A. K. (Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil vom 22. Oktober 1998, IN. CO. GE.’90 u. a. (C‑10/97 bis C‑22/97, EU:C:1998:498, Rn. 14). Der Effektivitätsgrundsatz und das Recht auf wirksamen gerichtlichen Schutz nach Art. 47 überschneiden sich bis zu einem gewissen Grad. Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache An tAire Talmhaíochta Bia agus Mara, Éire agus an tArd-Aighne (C‑64/20, EU:C:2021:14, Rn. 42). Vgl. entsprechend auch Urteil vom 15. April 2008, Impact (C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 46 bis 48).


25      Vgl. in diesem Sinne Urteil A. K. (Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach dem Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 36), gilt dies für nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und die gerichtliche Kontrolle solcher Ernennungsverfahren. Vgl. auch Urteil vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 48).


26      Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 42).


27      Urteil vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 63 bis 65). Vgl. auch Gutachten 2/13 (Beitritt der Europäischen Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 168).


28      Dem kommt als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, insbesondere des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zu. Urteil vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 48 bis 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


29      Urteil A. K. (Rn. 120 bis 122).


30      Urteil vom 24. März 2022, Wagenknecht/Kommission (C‑130/21 P, EU:C:2022:226). Wie der Gerichtshof entschieden hat, sind nach ständiger Rechtsprechung des EGMR für die Beurteilung der subjektiven Unparteilichkeit die persönliche Überzeugung und das Verhalten des Richters zu berücksichtigen, d. h., es ist zu prüfen, ob der Richter im betreffenden Fall Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile hat erkennen lassen. Für die Prüfung der objektiven Unparteilichkeit ist festzustellen, ob das Gericht selbst, u. a. durch seine Besetzung, hinreichende Gewähr für den Ausschluss berechtigter Zweifel an seiner Unparteilichkeit bietet. Daher ist zu prüfen, ob unabhängig vom persönlichen Verhalten des Richters bestimmte nachprüfbare Umstände Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufkommen lassen können. Hierbei kann auch ein Eindruck von Bedeutung sein. Urteil A. K. (Rn. 128 und die dort angeführte Rechtsprechung des EGMR).


31      Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 205 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung sowie die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, durch die bei den Einzelnen jeder berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität hinsichtlich der widerstreitenden Interessen ausgeräumt werden kann. Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 117).


32      Der EGMR hat in seinem Urteil vom 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 227 und 232), entschieden, dass das Verfahren zur Ernennung von Richtern zwangsläufig eng mit dem Begriff des „auf Gesetz beruhenden Gericht[s]“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK verbunden ist und dass die Unabhängigkeit eines Gerichts im Sinne dieser Bestimmung u. a. an der Art und Weise der Ernennung seiner Mitglieder gemessen wird. Vgl. auch Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht) (C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33      Urteile Simpson (Rn. 75) und, vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 130). Vgl. entsprechend Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 71 bis 73), zur Abordnung von Richtern. Nicht jeder Fehler bei der Ernennung eines Richters ist geeignet, Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Richters und somit daran aufkommen zu lassen, ob ein Spruchkörper, dem er angehört, als „unabhängiges und unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ im Sinne des Unionsrechts angesehen werden kann: Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank (C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 123). Vgl. auch Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht) (C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 71 bis 74).


34      Der Ausdruck „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ spiegelt insbesondere das Rechtsstaatsprinzip wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts selbst, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in der jeweiligen Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung dazu führt, dass die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache eine Regelwidrigkeit darstellt, was insbesondere Vorschriften über die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Mitglieder des betreffenden Gerichts einschließt. Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank (C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 118, 119 und 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).


35      Vgl. z. B. Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank (C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 117 bis 122 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36      Urteil Simpson (Rn. 55).


37      Urteil vom 1. Juli 2008, Chronopost/UFEX u. a. (C‑341/06 P und C‑342/06 P, EU:C:2008:375, Rn. 46).


38      Einschließlich des Gerichtshofs, des Gerichts und der Gerichte der Mitgliedstaaten. Vgl. in Bezug auf den Gerichtshof und das Gericht Urteile Simpson (Rn. 57) und, vom 24. März 2022, Wagenknecht/Kommission (C‑130/21 P, EU:C:2022:226, Rn. 15), und in Bezug auf die Gerichte der Mitgliedstaaten Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 126 bis 131).


39      Urteile Simpson (Rn. 55 und 57) und, vom 1. Juli 2008, Chronopost|/UFEX u. a. (C‑341/06 P und C‑342/06 P, EU:C:2008:375, Rn. 46).


40      Vgl. entsprechend Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel im Justizsystem) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 73). Vgl. auch Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht) (C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100).


41      Urteil A. K. (Rn. 157).


42      Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, EU:C:1978:49, Rn. 22), und vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 252 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 166). Nach dem Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 61), ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung zuwiderläuft, unangewendet zu lassen.


44      Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána (C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 33). Vgl. auch entsprechend Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny u. a. (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 81), mit dem ein Vorabentscheidungsersuchen in einem Verfahren über eine Klage auf Feststellung, dass eine Person nicht in einem Dienstverhältnis als Richter stehe und folglich nicht das Disziplinargericht bestimmen könne, das für die Entscheidung in einem Disziplinarverfahren gegen einen anderen Richter zuständig sei, mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen wurde, dass eine solche Klage im Wesentlichen darauf gerichtet ist, die Ernennung des fraglichen Richters mit Wirkung erga omnes für nichtig erklären zu lassen, obwohl das nationale Recht es nicht gestattet – und nie gestattet hat –, die Ernennung von Richtern mit einer Klage auf Nichtig- oder Ungültigerklärung ihrer Ernennung anzufechten.


45      Auf eine vom Gerichtshof zur Beantwortung in der Sitzung gestellte Frage führt die Kommission aus, das Vorbringen in der Gegenerwiderung sei auf der Grundlage des Urteils vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, insbesondere Rn. 19, 39, 40, 53 und 58), in vollem Umfang zurückzuweisen. Die polnischen Gerichte müssten daher Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), die den Vorrang des Unionsrechts beeinträchtige, unangewendet lassen. Nach Ansicht des Königreichs Belgien beruht das Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), Rechtssache P 7/20, auf einer unrichtigen Prämisse. Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten für die Organisation der Justiz müssten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Unionsrecht, insbesondere Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, handeln. Allein der Gerichtshof – und nicht die nationalen Verfassungsgerichte – sei für die Auslegung des Unionsrechts, einschließlich des Grundsatzes des Anwendungsvorrangs, zuständig. Art. 4 Abs. 2 EUV erlaube den nationalen Verfassungsgerichten nicht die Prüfung, ob eine unionsrechtliche Regelung die nationale Identität beeinträchtige. Zudem dürfe ein nationales Verfassungsgericht nicht befinden, dass der Gerichtshof ultra vires entschieden habe, und den Vollzug seiner Urteile verweigern. Die Beachtung aller nationalen Verfassungsregeln würde die Verpflichtung der Union untergraben, die Gleichheit der Mitgliedstaaten sowie die einheitliche und effektive Anwendung des Unionsrechts zu wahren. Das Königreich Dänemark weist jede von der Republik Polen hergestellte Analogie zwischen der Rechtsprechung des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) und der des Højesteret (Oberstes Gericht) oder der Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten zurück, da allein die Republik Polen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit selbst in Frage stelle. Das Königreich der Niederlande führt aus, der EGMR habe in seinem Urteil vom 7. Mai 2021, Xero Flor w Polsce sp. z o.o./Polen (CE:ECHR:2021:0507JUD000490718), festgestellt, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) kein durch Gesetz errichtetes Gericht, sondern ein politisches Organ sei, dessen Entscheidungen nicht bindend seien. Vgl. auch Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 44). Gemäß dem Grundsatz des Vorrangs dürfe das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) Unionsrecht oder Urteile des Gerichtshofs nicht unangewendet bzw. außer Betracht lassen. Zudem könne sich ein Mitgliedstaat nicht auf seine verfassungsrechtliche Identität berufen, wenn diese im Widerspruch zu den Grundwerten der Union im Sinne von Art. 2 EUV stehe: Urteil vom 16. Februar 2022, Polen/Parlament und Rat (C‑157/21, EU:C:2022:98, Rn. 264 bis 266). Die Nichtbeachtung der richterlichen Unabhängigkeit beeinträchtige schließlich die Zusammenarbeit in der Union auf breiter Ebene. Das Königreich Schweden macht geltend, die Mitgliedstaaten müssten dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, der klar, präzise und nicht an Bedingungen geknüpft sei, volle Wirkung verschaffen. Die Anwendung dieses Grundsatzes habe nichts mit der Frage der nationalen verfassungsrechtlichen Identität zu tun.


46      Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 43 bis 46, 51 und 52). Nach Rn. 55 dieses Urteils ist die Beachtung des Vorrangs des Unionsrechts erforderlich, um die Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen sicherzustellen, die die Möglichkeit ausschließt, eine einseitige Maßnahme welcher Art auch immer gegen die Unionsrechtsordnung durchzusetzen. Sie ist auch Ausdruck des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit, wonach jede dem Unionsrecht möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unabhängig vom Zeitpunkt ihres Erlasses unangewendet zu lassen ist.


47      Urteil A. K. (Rn. 166). Vgl. auch Urteil Simpson (Rn. 57).


48      Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a.(C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931).


49      Vgl. Urteil A. K. (Rn. 122). Nach Ansicht des Königreichs Dänemark ist die Außerordentliche Kammer ähnlich wie die Disziplinarkammer nicht unabhängig. Beide Kammern seien durch dasselbe Gesetz eingerichtet worden, nach dem ihre Mitglieder in einem Verfahren ernannt würden, an dem die KRS beteiligt sei, die selbst nicht unabhängig sei. Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 150, 152 und 153). Vgl. auch EGMR, Urteil vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen (CE:ECHR:2021:1108JUD004986819, §§ 353 bis 355), wonach die Außerordentliche Kammer kein auf Gesetz beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK ist.


50      Urteil vom 26. April 2005, Kommission/Irland (C‑494/01, EU:C:2005:250, Rn. 41).


51      In dieser Hinsicht hat die Kommission Zweifel, ob das Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz von aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten in jeder der Sachen sichergestellt werden kann, die gemäß den beanstandeten Bestimmungen des nationalen Rechts an die Außerordentliche Kammer verwiesen werden. Vgl. entsprechend Urteil A. K. (Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung).


52      Diese Fragen sind weder in der Klageschrift noch im Vorverfahren angesprochen worden.


53      Vgl. dazu Urteile A. K., vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596) (im Folgenden: Urteil Disziplinarordnung für Richter), vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798), und vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153). Die Kommission hat sich auch an mehreren Vorabentscheidungsverfahren beteiligt, in denen es um diese und ähnliche Fragen ging.


54      Vgl. Rn. 104 bis 108.


55      Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS wurden auf eine Reihe von Faktoren gestützt, darunter den Umstand, dass 23 ihrer 25 Mitglieder von der polnischen Exekutive oder Legislative ernannt worden waren oder dieser angehörten. Wie der Gerichtshof entschieden hat, kann der Umstand, dass die Mehrzahl der Mitglieder einer Einrichtung wie eines nationalen Richterwahlausschusses von der Legislative berufen wird, für sich genommen keine Zweifel an der Unabhängigkeit der so gewählten Richter begründen. Die Unabhängigkeit eines nationalen Gerichts muss – auch unter dem Blickwinkel der Bedingungen, unter denen seine Mitglieder ernannt werden – anhand aller relevanten Faktoren beurteilt werden. Urteil vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 55 und 56).


56      Vgl. Rn. 104 bis 108.


57      Vgl. auch Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie (Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht) (C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 75).


58      EGMR, Urteil vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen (CE:ECHR:2021:1108JUD004986819). Das Urteil erging auf zwei Klagen, die am 12. September 2019 bzw. am 22. Oktober 2019 und damit lange vor der vorliegenden Klage erhoben worden waren. Gemäß Art. 44 Abs. 2 EMRK wurde es am 8. Februar 2022 endgültig.


59      Der EGMR wandte das dreistufige Prüfungsschema aus seinem Urteil vom 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418), an.


60      Im Folgenden: Präsident der Republik.


61      EGMR, Urteil vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen (CE:ECHR:2021:1108JUD004986819, § 349). Vgl. auch EGMR, Urteil vom 22. Juli 2021, Reczkowicz/Polen (CE:ECHR:2021:0722JUD004344719, § 276), wonach das Verfahren zur Ernennung der Richter der Disziplinarkammer wegen der Beteiligung der KRS zwangsläufig fehlerhaft war. Dieses Urteil wurde gemäß Art. 44 Abs. 2 EMRK am 22. November 2021 endgültig.


62      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung).


63      EGMR, Urteil vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen (CE:ECHR:2021:1108JUD004986819).


64      EGMR, Urteil vom 8. November 2021, Dolińska-Ficek und Ozimek/Polen (CE:ECHR:2021:1108JUD004986819).


65      In § 368 dieses Urteils führt der EGMR aus, seiner Entscheidung sei inhärent, dass die Verletzung der Rechte der Kläger auf die Änderungen der polnischen Rechtsvorschriften zurückzuführen sei, die den polnischen Gerichten das Recht entzogen hätten, die richterlichen Mitglieder der KRS zu wählen, und es der Exekutive und der Legislative ermöglichten, direkt oder indirekt in das Verfahren der Ernennung der Richter einzugreifen, was die Legitimität eines Gerichts, das aus in dieser Weise ernannten Richtern bestehe, systematisch in Frage stelle.


66      Die nationalen Richter fochten ihre vorzeitige Versetzung in den Ruhestand aufgrund des Inkrafttretens der nationalen Rechtsvorschriften an, die ihrer Ansicht nach gegen die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) verstieß.


67      Sollte der Gerichtshof feststellen, dass die Außerordentliche Kammer nicht unabhängig ist, würde aus Rn. 165 des Urteils A. K. folgen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen hat, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 10 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend u. a. die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Außerordentliche Kammer zuständig ist.


68      Alle nationalen Gerichte, die in Sachen entscheiden, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, müssen den Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta genügen. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 63 und 64).


69      Vgl. entsprechend Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 149).


70      Ein Argument, das die Kommission im vorliegenden Verfahren nicht rechtzeitig vorgebracht hat.


71      Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a. (C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 22 bis 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Mitgliedstaaten haben bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten, dass das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt ist, einer Bestimmung, die den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt: Urteil vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe (C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 34).


72      Nichts in Art. 26 § 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht deutet darauf hin – und die Kommission hat auch nicht geltend gemacht –, dass es dem mit einer Sache befassten Gericht verwehrt wäre, die Frage der fehlenden Unabhängigkeit aufzuwerfen und dann dem Präsidenten der Außerordentlichen Kammer einen Antrag zu übermitteln.


73      Während ein Antrag unverzüglich der Außerordentlichen Kammer zu übermitteln ist, geht aus den Akten nicht hervor, ob im Gesetz eine Frist für die Entscheidung der Außerordentlichen Kammer festgelegt ist. Zügige Behandlung solcher Fragen ist zwar geboten, doch wird dies in der Rüge der Kommission nicht angesprochen.


74      Vgl. auch entsprechend die in dieser Bestimmung enthaltene Wendung „Das mit der Sache befasste Gericht übermittelt dem Präsidenten der [Außerordentlichen Kammer] unverzüglich den Antrag“.


75      Und damit das Recht auf wirksamen Rechtsschutz. Siehe Nr. 48 der vorliegenden Schlussanträge.


76      In einem vom Unionsrecht erfassten Bereich.


77      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána (C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 48 bis 50). Vgl. auch Urteile A. K. (Rn. 164), und vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 148 und 149).


78      Im Einklang mit dem Urteil Simpson.


79      In der Sitzung hat die Republik Polen in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs bestätigt, dass die Außerordentliche Kammer die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über Fragen der Unabhängigkeit im Rahmen dieser Verfahren besitzt.


80      Nach dem Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 222 bis 234) hat die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen, dass sie das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens wegen eines solchen Ersuchens eingeschränkt hat. Vgl. auch Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 56 bis 59).


81      Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Urteil A. K. (Rn. 110 bis 113) hat der Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen der Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen) des Obersten Gerichts für zulässig erklärt, obwohl die Republik Polen geltend gemacht hatte, dass diese Kammer in die ausschließliche Zuständigkeit der Disziplinarkammer eingegriffen habe.


82      Urteil vom 27. Februar 2014, Pohotovosť (C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 28).


83      Beispielsweise ist eine Klage auf Aufhebung einer rechtskräftigen Entscheidung gemäß Art. 26 §§ 4 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, die auf den rechtswidrigen Status eines Richters gestützt wird, ein außerordentlicher Rechtsbehelf vor der Außerordentlichen Kammer. Dazu genügt die Feststellung, dass das Gericht, das die rechtskräftige Entscheidung erlassen hat, dann, wenn vor ihm eine solche Frage aufgeworfen wird, bei Zweifeln über die Auslegung des Unionsrechts gemäß Art. 267 AEUV um eine Vorabentscheidung ersuchen muss.


84      Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 56). Art. 267 AEUV steht jeder nationalen Regelung oder Praxis entgegen, die die nationalen Gerichte daran hindert, von der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Befugnis Gebrauch zu machen, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, bzw. gegebenenfalls der Verpflichtung dazu nachzukommen. Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 260).


85      Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 42).


86      Somit kann es einem nationalen Gericht, das ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV vorgelegt hat, nicht verwehrt sein, das Unionsrecht nach Maßgabe der Entscheidung oder der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbar anzuwenden, da andernfalls die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung geschmälert würde: Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 257). Das nationale Gericht muss daher gegebenenfalls von der Beurteilung eines höheren nationalen Gerichts abweichen, wenn es angesichts der Auslegung durch den Gerichtshof der Auffassung ist, dass diese Beurteilung nicht dem Unionsrecht entspricht, indem es gegebenenfalls die nationale Vorschrift, die es verpflichtet, den Entscheidungen dieses höheren Gerichts nachzukommen, unangewendet lässt. Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 75).


87      Vgl. entsprechend Urteil vom 18. Mai 2006, Kommission/Spanien (C‑221/04, EU:C:2006:329, Rn. 24 bis 26).


88      Vgl. entsprechend Urteil vom 4. Dezember 1986, Kommission/Frankreich (220/83, EU:C:1986:461, Rn. 30 und 31).


89      EGMR, Urteil vom 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418). Vgl. auch Urteil Simpson (Rn. 75).


90      Vgl. Rn. 145. Vgl. auch Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 128).


91      Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 (Dz. U 2020, Pos. 1575, in geänderter Fassung).


92      Ustawa – Kodeks postępowania karnego (Gesetz über die Strafprozessordnung) vom 6. Juni 1997 (Dz. U 2021, Pos. 534, in geänderter Fassung).


93      Ustawa – Prawo o postępowaniu pzed sądami administracyjnymi (Gesetz über die Verwaltungsgerichtsordnung) vom 30. August 2002 (Dz. U 2019, Pos. 2325, in geänderter Fassung).


94      Vgl. Art. 200 § 1 der Zivilprozessordnung und Art. 35 § 1 der Strafprozessordnung.


95      Urteil Simpson. Vgl. auch EGMR, Urteil vom 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418).


96      Urteil vom 28. Januar 2016, Kommission/Portugal (C‑398/14, EU:C:2016:61, Rn. 47).


97      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2010, Kommission/Portugal (C‑543/08, EU:C:2010:669, Rn. 20 und 21 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


98      Der wiederum dieselbe Regelung enthält wie Art. 42a § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Art. 5 § 1b des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit.


99      Vgl. u. a. Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht.


100      Vgl. Art. 179 der Verfassung der Republik Polen, wonach der Präsident der Republik auf Vorschlag der KRS die Richter auf unbestimmte Zeit ernennt. Nach Art. 180 der Verfassung der Republik Polen sind Richter unabsetzbar. Gemäß Art. 186 der Verfassung der Republik Polen ist die KRS ermächtigt, die Unabhängigkeit der Gerichte sicherzustellen.


101      Urteil vom 2. März 2021 (C‑824/18, EU:C:2021:153).


102      Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 156).


103      Vgl. Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht.


104      Vgl. Rn. 62 der Klageschrift der Kommission.


105      Wonach Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit rückwirkend Anwendung findet.


106      Vgl. Rn. 55.


107      Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 2. Juni 2020 (Rechtssache P 13/19) (Dz. U. 2020, Pos. 1017).


108      Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 23. Februar 2022 (Rechtssache P 10/19) (Dz. U. 2022, Pos. 480).


109      Darunter Richter, die nach Art. 9a der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über die KRS) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. 2011, Nr. 126, Pos. 714) in der u. a. durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 3) und die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und einiger anderer Gesetze) vom 20. Juli 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 1443) geänderten Fassung ausgewählt worden sind. Vgl. Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 4. März 2020 (Rechtssache P 22/19) (Dz. U. 2020, Pos. 413).


110      Hier die nationalen Bestimmungen betreffend die Unparteilichkeit und die Ablehnung von Richtern.


111      Siehe Nr. 110 der vorliegenden Schlussanträge.


112      Art. 29 § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit erstreckt die Anwendung von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf die Richter der Verwaltungsgerichte.


113      Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit erstreckt die Anwendung von Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht auf die Richter des Obersten Verwaltungsgerichts.


114      Vgl. Art. 109 § 1a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit.


115      D. h. Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren könnten, oder Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt werde. Diesen Richtern drohe eine Geldbuße oder die Amtsenthebung, wenn sie geringfügigerer Vergehen für schuldig befunden worden seien: Art. 75 § 1 Buchst. a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht.


116      Vgl. die erste Rüge der Kommission.


117      Vgl. die zweite Rüge der Kommission.


118      Vgl. Rn. 55. Vgl. die erste Rüge der Kommission.


119      Urteil vom 25. Juli 2018 (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 67).


120      Vgl. Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 55 bis 59).


121      Wie in der mit dem Urteil Disziplinarordnung für Richter entschiedenen Rechtssache beschrieben.


122      Vgl. Rn. 140.


123      Insbesondere Art. 10 der Ordonnance no 58-1270 portant loi organique relative au statut de la magistrature (Ordonnance Nr. 58-1270 über das Organgesetz über den Status von Richtern und Staatsanwälten) vom 22. Dezember 1958.


124      Betreffend „Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird“.


125      Urteile des Obersten Gerichts vom 8. März 2012 (Rechtssache SNO 4/12) und vom 11. Dezember 2014 (Rechtssache SNO 61/14).


126      Urteil des Obersten Gerichts vom 22. Juni 2015 (Rechtssache SNO 36/15).


127      Vgl. z. B. Urteil vom 19. März 2020, Sánchez Ruiz u. a. (C‑103/18 und C‑429/18, EU:C:2020:219).


128      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 61 und 134 und die dort angeführte Rechtsprechung).


129      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 136).


130      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 137).


131      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 138).


132      Vgl. entsprechend Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 139).


133      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 140).


134      Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).


135      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 142 und die dort angeführte Rechtsprechung).


136      Zur Widerlegung bestimmter in der Klagebeantwortung angeführter Argumente geht die Kommission in der Erwiderung kurz auf das allgemeine Disziplinarrecht in Polen zusammen mit der fehlenden Unabhängigkeit der Disziplinarkammer ein. In der Erwiderung wird bestätigt, dass diese Fragen in der Klageschrift nicht angesprochen worden sind.


137      Vgl. entsprechend Urteil vom 15. Juli 2004, Kommission/Deutschland (C‑139/03, nicht veröffentlicht, EU:C:2004:461).


138      Das Urteil Simpson verlangt eine solche Prüfung.


139      Zudem darf ein nationaler Richter nicht mit der Begründung disziplinarisch belangt werden, dass er nationales Recht unangewendet gelassen habe, um einem im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen. Vgl. entsprechend Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 88).


140      Vgl. Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 128 ff. und die dort angeführte Rechtsprechung). Es könnte z. B. geltend gemacht werden, dass die Prüfung der Rolle der KRS im Verfahren zur Ernennung eines Richters ein Disziplinarvergehen darstelle.


141      Vgl. Urteile des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 4. März 2020 (Rechtssache P 22/19) (Dz. U. 2020, Pos. 413), vom 2. Juni 2020 (Rechtssache P 13/19) (Dz. U. 2020, Pos. 1017) und vom 23. Februar 2022 (Rechtssache P 10/19) (Dz. U. 2022, Pos. 480), die in Nr. 144 der vorliegenden Schlussanträge erörtert worden sind.


142      Urteil des Obersten Gerichts vom 22. Juni 2015 (Rechtssache SNO 36/15).


143      Dz. U. 2018, Pos. 5. Vgl. entsprechend Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 145).


144      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 126, 127 und 149 ff.).


145      Vgl. Entscheidung vom 4. Februar 2020, II DO 1/20, wonach einem Richter grundsätzlich auf der Grundlage von Art. 107 § 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit ein Disziplinarvergehen vorgeworfen werden kann, wenn er den Sejm unter mutmaßlich grober und offensichtlicher Missachtung von Rechtsvorschriften angewiesen haben soll, Unterlagen über das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung vorzulegen. Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 150 und 151).


146      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 152).


147      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung).


148      Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 113 und 147).


149      Der ein Disziplinarvergehen in einer Weise definiert, die weder den in Nr. 175 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Anforderungen an Klarheit und Präzision genügt noch sicherstellt, dass die disziplinarische Verantwortlichkeit von Richtern wegen ihrer Entscheidungen strikt auf ganz außergewöhnliche Umstände wie in Nr. 173 der vorliegenden Schlussanträge beschrieben beschränkt ist.


150      Vgl. in diesem Sinne Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 145).


151      Nach Rn. 171 des Urteils A. K. sind die Anforderungen in Bezug auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht nicht erfüllt, wenn die objektiven Bedingungen, unter denen dieses Gericht geschaffen wurde, seine Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung seiner Mitglieder geeignet sind, bei den Rechtsuchenden berechtigte Zweifel an seiner Unempfänglichkeit für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an seiner Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen. Das kann dazu führen, dass dieses Gericht nicht den Eindruck von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit vermittelt, wodurch das in einer demokratischen Gesellschaft unerlässliche Vertrauen der Rechtsuchenden in die Justiz beeinträchtigt werden kann.


152      Die KRS ist geregelt durch das Gesetz über die KRS vom 12. Mai 2011 in der geänderten Fassung. Vgl. Fn. 109 der vorliegenden Schlussanträge.


153      Vgl. Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 160 bis 164).


154      Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


155      Urteil vom 22. Juli 2021, Reczkowicz/Polen (CE:ECHR:2021:0722JUD004344719).


156      Vgl. Urteil A. K. (Rn. 133).


157      Bewerbungen müssten Art. 31 § 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht entsprechen.


158      Belgien, Deutschland, Irland, Frankreich, Zypern und Finnland.


159      Vgl. Urteile vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535), vom 16. Juli 2020, Governo della Repubblica italiana (Status der italienischen Friedensrichter) (C‑658/18, EU:C:2020:572), und vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311). Vgl. auch Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 10. September 2020, Rat/Sharpston (C‑424/20 P[R], nicht veröffentlicht, EU:C:2020:705).


160      Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 210 bis 213).


161      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. (Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf) (C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).


162      Vgl. auch Beschluss vom 14. Juli 2021 (Rn. 81).


163      Vgl. entsprechend Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 80 und 83).


164      Ich pflichte den Ausführungen der Republik Finnland in der Sitzung bei, dass sich die Republik Polen nicht mit Erfolg auf einzelne Aspekte der Disziplinarregelungen für Richter in anderen Mitgliedstaaten berufen könne. Abgesehen davon, dass diese Regelungen nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind, müssen sie als Ganzes geprüft werden, unter Berücksichtigung u. a. der Merkmale des oder der in Rede stehenden Gerichte, des Kontexts, in dem diese geschaffen wurden, und des Verfahrens zur Ernennung ihrer Mitglieder.


165      Urteil vom 15. Juli 2021 (C‑791/19, EU:C:2021:596). Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, in jener Rechtssache am 17. Juli 2019. Vgl. Urteil vom 18. Oktober 2018, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑669/16, EU:C:2018:844, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall ist die mit Gründen versehene Stellungnahme deutlich nach diesem Datum ergangen. Die vom Gerichtshof im Urteil Disziplinarordnung für Richter getroffenen Feststellungen in Bezug auf die Disziplinarkammer gelten für die vorliegende Rechtssache. Daher gibt es besonders zu denken, dass die Republik Polen dem auf dieses Urteil gestützten Vorbringen der Kommission nicht entgegengetreten ist.


166      Mit ihrem Urteil vom 5. Dezember 2019 und ihren Beschlüssen vom 15. Januar 2020 hat die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen des Obersten Gerichts in den Rechtsstreitigkeiten, die zum Urteil A. K. geführt haben, entschieden, erstens sei die KRS in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung keine unparteiische, von Legislative und Exekutive unabhängige Einrichtung und zweitens sei die Disziplinarkammer in Anbetracht der Umstände ihrer Schaffung, der Reichweite ihrer Befugnisse, ihrer Zusammensetzung und der Beteiligung der KRS an ihrer Errichtung kein unabhängiges und unparteiisches Gericht.


167      Mit Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277), hat der Gerichtshof der Republik Polen aufgegeben, unverzüglich und bis zur Verkündung des das Verfahren in der Rechtssache C‑791/19 beendenden Urteils u. a. die Anwendung der Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht vom 8. Dezember 2017 auszusetzen, mit denen der Disziplinarkammer die Zuständigkeit für die Entscheidung in Disziplinarsachen gegen Richter übertragen worden ist, und es zu unterlassen, die Sachen an diese Kammer zu verweisen. Vgl. auch Beschluss vom 14. Juli 2021, Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 6. Oktober 2021, Polen/Kommission (C‑204/21 R‑RAP, EU:C:2021:834), und Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 27. Oktober 2021, Kommission/Polen (C‑204/21 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:878).


168      Damit wurde jede Möglichkeit der Versetzung amtierender Richter des Obersten Gerichts an diese Kammer ausgeschlossen, obwohl solche Versetzungen grundsätzlich zulässig waren.


169      23 der 25 Mitglieder der KRS in ihrer neuen Besetzung wurden von der polnischen Exekutive oder Legislative ernannt oder gehören diesen an. Zuvor wurden 15 Mitglieder der KRS von den Richtern aus ihren eigenen Reihen gewählt.


170      Gesetz über das Oberste Gericht vom 8. Dezember 2017 in der im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej (Amtsblatt der Republik Polen) von 2019 (Pos. 825) veröffentlichten konsolidierten Fassung.


171      Insbesondere wurden zwei neue Kammern innerhalb dieses Gerichts geschaffen, von denen eine die Disziplinarkammer ist, und es wurden ein Mechanismus zur Senkung des Ruhestandsalters von Richtern des Obersten Gerichts und dessen Anwendung auf amtierende Richter dieses Gerichts eingeführt. Die vorzeitige Beendigung der Amtszeit bestimmter Mitglieder der KRS und die Neuordnung dieser Einrichtung erfolgten in einem Kontext, in dem erwartet wurde, dass in Kürze zahlreiche Stellen am Obersten Gericht, insbesondere in der Disziplinarkammer, zu besetzen sein würden.


172      Zudem stellt, so der Gerichtshof, eine solche Entwicklung einen Rückschritt beim Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit dar. Urteil Disziplinarordnung für Richter (Rn. 112).


173      Urteil vom 24. Juni 2019 (C‑619/18, EU:C:2019:531).


174      Vgl. Art. 88a § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit.


175      Art. 178 Abs. 3 der Verfassung der Republik Polen untersagt Richtern die Mitgliedschaft in einer politischen Partei.


176      Vgl. Art. 88a § 1 Nrn. 1 und 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit.


177      Der wie folgt lautet: „Diese Verordnung gilt zwar unter anderem für die Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden, doch könnte im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten festgelegt werden, wie die Verarbeitungsvorgänge und Verarbeitungsverfahren bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte und andere Justizbehörden im Einzelnen auszusehen haben. Damit die Unabhängigkeit der Justiz bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Aufgaben einschließlich ihrer Beschlussfassung unangetastet bleibt, sollten die Aufsichtsbehörden nicht für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit zuständig sein. Mit der Aufsicht über diese Datenverarbeitungsvorgänge sollten besondere Stellen im Justizsystem des Mitgliedstaats betraut werden können, die insbesondere die Einhaltung der Vorschriften dieser Verordnung sicherstellen, Richter und Staatsanwälte besser für ihre Pflichten aus dieser Verordnung sensibilisieren und Beschwerden in Bezug auf derartige Datenverarbeitungsvorgänge bearbeiten sollten.“


178      Art. 7 der Charta.


179      Art. 8 der Charta.


180      Vgl. Art. 6 Abs. 3 Unterabs. 2, letzter Satz, in Verbindung mit Unterabs. 1 Buchst. b sowie Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e DSGVO.


181      Ein solches Erfordernis stellt Art. 178 Abs. 3 der Verfassung der Republik Polen auf.


182      Art. 53, 54, 57 und 58.


183      Dem Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauchrechte an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432), zufolge hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 63 AEUV in Verbindung mit Art. 17 der Charta verstoßen. Nach Rn. 65 dieses Urteils ist es als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen, wenn ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch nimmt, um eine Beschränkung einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen. Vgl. auch Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn (Transparenz von Vereinigungen) (C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 101 bis 104), und vom 6. Oktober 2020, Kommission/Ungarn (Hochschulausbildung) (C‑66/18, EU:C:2020:792, Rn. 212 bis 216).


184      Vgl. entsprechend Urteil vom 10. Juni 2021, Land Oberösterreich (Wohnbeihilfe) (C‑94/20, EU:C:2021:477, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).


185      Urteil vom 26. Februar 2013 (C‑617/10, EU:C:2013:105).


186      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2020, YS (Betriebspensionen leitender Angestellter) (C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 78 und 79).


187      Nach ständiger Rechtsprechung sind Informationen nicht deshalb keine personenbezogenen Daten, weil sie im Kontext einer beruflichen Tätigkeit stehen. Urteil vom 9. März 2017, Manni (C‑398/15, EU:C:2017:197, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


188      Vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 2017, Puškár (C‑73/16, EU:C:2017:725, Rn. 33 und 34). Vgl. auch Urteil vom 24. Februar 2022, Valsts ieņēmumu dienests (Verarbeitung personenbezogener Daten für steuerliche Zwecke) (C‑175/20, EU:C:2022:124, Rn. 33 bis 35). Art. 4 Abs. 2 DSGVO hat mit der Bezugnahme auf „jeden … Vorgang“ einen sehr weiten Anwendungsbereich.


189      Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank (C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).


190      Die Ausnahmen nach Art. 2 Abs. 2 DSGVO sind eng auszulegen. Urteil vom 24. Februar 2022, Valsts ieņēmumu dienests (Verarbeitung personenbezogener Daten für steuerliche Zwecke) (C‑175/20, EU:C:2022:124, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


191      Urteil vom 22. Juni 2021 (C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).


192      Unter Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO und Art. 51 Abs. 1 der Charta hat Generalanwalt Szpunar ausgeführt, dass die Grundgedanken der Charta andere seien als diejenigen der DSGVO. Die Charta solle die Ausübung von Befugnissen durch die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten im Zaum halten, soweit sie im Geltungsbereich des Unionsrechts handelten, und umgekehrt dem Einzelnen einen Schutzschild zur Geltendmachung seiner jeweiligen Rechte bieten. Im Gegensatz dazu sei der Schutz personenbezogener Daten mehr als ein Grundrecht. Wie Art. 16 AEUV belege, stelle der Datenschutz ein eigenständiges Politikfeld der Union dar. Es sei gerade der Zweck der DSGVO, auf jede Form der Verarbeitung personenbezogener Daten Anwendung zu finden, unabhängig vom jeweiligen Gegenstand und davon, ob die Verarbeitung durch Mitgliedstaaten oder Einzelpersonen erfolge. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Latvijas Republikas Saeima (Strafpunkte) (C‑439/19, EU:C:2020:1054, Nrn. 50 bis 52).


193      Der sich auf die nationale Sicherheit betreffende Tätigkeiten und auf Tätigkeiten im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union bezieht.


194      Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b und c DSGVO die Organisation der Justiz oder die Rechtsprechungstätigkeit nicht vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausnimmt. Die Republik Polen beruft sich nicht auf die Ausnahme nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. d DSGVO, der die Verarbeitung von Daten durch die zuständigen Behörden zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung betrifft. Die Akten enthalten keinen Anhaltspunkt dafür, dass die fraglichen nationalen Bestimmungen einen solchen Zweck hätten. Der Republik Polen zufolge dienen diese Verpflichtungen dem Zweck, einer Partei Informationen zur Verfügung zu stellen und ihr die Stellung eines begründeten Antrags auf Ablehnung eines Richters zu erleichtern.


195      Vgl. Art. 9 Abs. 2 Buchst. f, Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Art. 55 Abs. 3 DSGVO. Vgl. auch die Ausnahme nach Art. 23 Abs. 1 Buchst. f DSGVO hinsichtlich des Schutzes der Unabhängigkeit der Justiz und des Schutzes von Gerichtsverfahren.


196      Wie die Republik Finnland in der Sitzung ausgeführt hat.


197      Vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 2017, Puškár (C‑73/16, EU:C:2017:725, Rn. 102).


198      Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 208 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach Art. 23 DSGVO können die Union oder die Mitgliedstaaten die Pflichten und Rechte u. a. gemäß Art. 5 dieser Verordnung, insofern dessen Bestimmungen den in deren Art. 12 bis 22 vorgesehenen Rechten und Pflichten entsprechen, „im Wege von Gesetzgebungsmaßnahmen“ beschränken, sofern eine solche Beschränkung den Wesensgehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten achtet und in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme darstellt. Art. 23 Abs. 1 Buchst. f DSGVO erlaubt den Erlass von Beschränkungen, um „den Schutz der Unabhängigkeit der Justiz und den Schutz von Gerichtsverfahren“ sicherzustellen. Die Republik Polen beruft sich nicht auf diese Bestimmung und weist ausdrücklich darauf hin, dass die Ziele der in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften nicht die richterliche Unabhängigkeit beträfen.


199      Es besteht keine klare Unterscheidung zwischen den Grundsätzen von Art. 5 DSGVO und der Rechtmäßigkeit der Verarbeitung gemäß ihrem Art. 6, und die Bestimmungen überschneiden sich bis zu einem gewissen Grad. Die Kommission hat nicht geltend gemacht, dass die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen nicht im Einklang mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSGVO betreffend Datenminimierung stünden, da sie die fragliche Verarbeitung personenbezogener Daten, wie sie in den nationalen Bestimmungen geregelt ist, insgesamt für nicht rechtmäßig hält.


200      Urteil vom 22. Juni 2021 (C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 99).


201      Die Mitgliedstaaten dürfen weder neue Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten neben diesem Artikel einführen noch zusätzliche Bedingungen stellen, die die Tragweite eines der sechs darin vorgesehenen Grundsätze verändern würden. Daher muss eine Verarbeitung personenbezogener Daten unter einen der sechs in Art. 6 Abs. 1 DSGVO vorgesehenen Fälle subsumierbar sein, um als rechtmäßig angesehen werden zu können. Vgl. entsprechend Urteil vom 11. Dezember 2019, Asociaţia de Proprietari bloc M5A-ScaraA (C‑708/18, EU:C:2019:1064, Rn. 37 und 38).


202      Die Republik Polen hat in der Sitzung bestätigt, dass die Erklärungen aller Richter mit Ausnahme derjenigen der Präsidenten der ordentlichen Berufungsgerichte an den Präsidenten des jeweiligen ordentlichen Berufungsgerichts übermittelt würden und auf der Website dieser Gerichte öffentlich zugänglich seien. Die Präsidenten der ordentlichen Berufungsgerichte gäben ihre Erklärungen gegenüber dem Justizminister ab: Art. 88a § 4 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit sähen u. a. vor, dass die Richter des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts ihre Erklärungen gegenüber dem Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts bzw. dem Ersten Präsidenten des Obersten Verwaltungsgerichts abgäben und dass Letztere diese Erklärungen an die KRS weiterleiteten. Die personenbezogenen Daten der Präsidenten der Berufungsgerichte würden vom Justizminister veröffentlicht, der damit als Verantwortlicher im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO handle, da er „über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet“. Die Präsidenten der ordentlichen Berufungsgerichte handelten als Verantwortliche in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Richter der ordentlichen Gerichte. Der Erste Präsident des Obersten Gerichts und der Erste Präsident des Obersten Verwaltungsgerichts handelten als Verantwortliche in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Richter ihrer jeweiligen Gerichte, und die KRS handle als Verantwortlicher in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts. Die fragliche Verarbeitung sei für den Justizminister, die Präsidenten der Berufungsgerichte, die Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts sowie die KRS erforderlich, um ihren Verpflichtungen nach Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit nachzukommen. Vgl. Art. 6 Abs. 1 Buchst. c DSGVO.


203      Ich führe diese Bestimmungen an, weil sich die Kommission auf sie bezogen hat.


204      Vgl. auch Art. 52 Abs. 1 der Charta.


205      Urteil vom 16. Juli 2020, Facebook Ireland und Schrems (C‑311/18, EU:C:2020:559, Rn. 172 und die dort angeführte Rechtsprechung).


206      Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima (Strafpunkte) (C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 105).


207      Das Ziel der Stärkung der Unparteilichkeit und der politischen Neutralität der Richter und des Vertrauens in ihre Unparteilichkeit kann dem Gedanken der Gewährleistung des Zugangs zu einem unparteiischen Gericht zugeordnet werden.


208      Die Kommission macht zudem nicht geltend, dass die fraglichen nationalen Bestimmungen nicht hinreichend klar und präzise seien oder nicht das mit ihnen verfolgte Ziel bezeichneten, wie es Art. 6 Abs. 3 DSGVO vorschreibe. Auch wenn der Zweck dieser nationalen Bestimmungen nicht klar aus ihrem Wortlaut hervorgeht, beruht das Vorbringen der Kommission, die Republik Polen habe gegen Art. 6 Abs. 3 DSGVO verstoßen, doch nicht auf dieser Grundlage.


209      Vgl. auch Art. 45 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen.


210      Im 51. Erwägungsgrund der DSGVO heißt es, dass personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel seien, einen besonderen Schutz verdienten, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten könnten.


211      Der für die meisten praktischen Belange mit Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit übereinstimmt.


212      In Art. 88a des geänderten Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden die Begriffe „zrzeszenie“ und „stowarzyszenie“ verwendet, die sich beide mit „Vereinigung“ (bzw. Verein) übersetzen lassen. Während der Begriff „stowarzyszenie“ im polnischen Gesetz über Vereine vom 7. April 1989 definiert ist, fehlt eine Definition des Begriffs „zrzeszenie“, der weiter ist als der Begriff „stowarzyszenie“ und diesen einschließt. „Zrzeszenie“ bezieht sich auf alle Gruppierungen von Personen mit einem gemeinsamen Ziel.


213      Das Verbot von Art. 9 Abs. 1 DSGVO gilt vorbehaltlich der dort vorgesehenen Ausnahmen für jede Art der Verarbeitung der in dieser Bestimmung genannten besonderen Datenkategorien und für sämtliche Verantwortliche, die solche Verarbeitungen vornehmen: Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. (Auslistung sensibler Daten) (C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 42). Zudem verlangt der Schutz des in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta garantierten Grundrechts auf Privatleben, dass sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Schutz der personenbezogenen Daten auf das absolut Notwendige beschränken müssen. Vgl. entsprechend Urteile vom 11. Dezember 2014, Ryneš (C‑212/13, EU:C:2014:2428, Rn. 28), und vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a. (C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 52). Vgl. auch Urteil vom 3. Oktober 2019, A u. a. (C‑70/18, EU:C:2019:823, Rn. 29), zu Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31), dem Art. 9 Abs. 1 DSGVO entspricht.


214      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank (C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 95). Die Garantien von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen den Erlass von Regeln voraus, die es ermöglichen, bei den Einzelnen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der Justiz für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Rn. 119). Da der Zugang zu einem unparteiischen Gericht für die Rechtsstaatlichkeit grundlegend ist, liegt das genannte Ziel nicht nur im allgemeinen oder öffentlichen Interesse, sondern genügt meines Erachtens dem strengeren Maßstab eines „erheblichen öffentlichen Interesses“ im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. g DSGVO.


215      Urteil vom 29. März 2022 (C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 107).


216      Damit kann die Öffentlichkeit Zugang zu sensiblen personenbezogenen Daten aus Gründen erhalten, die nichts mit dem von der Republik Polen angeführten Ziel von allgemeinem Interesse zu tun haben. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima (Strafpunkte) (C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 118).