Language of document : ECLI:EU:C:2020:985

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 3. Dezember 2020(1)

Rechtssache C650/18

Ungarn

gegen

Europäisches Parlament

„Nichtigkeitsklage – Art. 7 Abs. 1 EUV – Begründeter Vorschlag des Europäischen Parlaments – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Art. 263 AEUV – Art. 269 AEUV – Entschließung zu einem Vorschlag, mit dem der Rat aufgefordert wird, festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der gemeinsamen Werte der Union durch Ungarn besteht – Regeln für die Stimmenauszählung gemäß Art. 354 AEUV und Art. 178 der Geschäftsordnung des Parlaments – Begriff der abgegebenen Stimme – Nichtberücksichtigung von Stimmenthaltungen“






I.      Einleitung

1.        Am 12. September 2018 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung zu einem Vorschlag an, mit dem der Rat aufgefordert wurde, im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 EUV festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn bestehe (im Folgenden: angefochtene Entschließung)(2). Mit seiner Klage beantragt Ungarn, diese Entschließung gemäß Art. 263 AEUV für nichtig zu erklären.

2.        Die Klage wirft zwei wichtige Rechtsfragen auf. Erstens stellt sich insbesondere im Hinblick auf Art. 269 AEUV die Frage, ob gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV angenommene begründete Vorschläge der gerichtlichen Kontrolle nach Art. 263 AEUV zugänglich sind. Zweitens stellt sich, falls dies der Fall sein sollte, die Frage, wie bei der Feststellung der nach Artikel 354 AEUV erforderlichen Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen die Stimmenthaltungen im Parlament zu berücksichtigen sind.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Die EU-Verträge

3.        Art. 7 EUV bestimmt:

„(1)      Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 [EUV] genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

Der Rat überprüft regelmäßig, ob die Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, noch zutreffen.

(2)      Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.

(3)      Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen.

Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedstaats sind für diesen auf jeden Fall weiterhin verbindlich.

(4)      Der Rat kann zu einem späteren Zeitpunkt mit qualifizierter Mehrheit beschließen, nach Absatz 3 getroffene Maßnahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zur Verhängung dieser Maßnahmen geführt hat, Änderungen eingetreten sind.

(5)      Die Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke dieses Artikels für das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat gelten, sind in Artikel 354 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegt.“

4.        Gemäß Art. 263 AEUV überwacht der Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtmäßigkeit der Handlungen des Europäischen Parlaments mit Rechtswirkung gegenüber Dritten.

5.        Art. 269 AEUV bestimmt:

„Der Gerichtshof ist für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit eines nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union erlassenen Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates nur auf Antrag des von einer Feststellung des Europäischen Rates oder des Rates betroffenen Mitgliedstaats und lediglich im Hinblick auf die Einhaltung der in dem genannten Artikel vorgesehenen Verfahrensbestimmungen zuständig.

Der Antrag muss binnen eines Monats nach der jeweiligen Feststellung gestellt werden. Der Gerichtshof entscheidet binnen eines Monats nach Antragstellung.“

6.        Die allgemeine Regel für Abstimmungen im Europäischen Parlament findet sich in Art. 231 AEUV: Soweit die Verträge nicht etwas anderes bestimmen, beschließt das Europäische Parlament mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Die Geschäftsordnung legt die Beschlussfähigkeit fest.

7.        Art. 354 AEUV bestimmt:

„Für die Zwecke des Artikels 7 des Vertrags über die Europäische Union über die Aussetzung bestimmter mit der Zugehörigkeit zur Union verbundener Rechte ist das Mitglied des Europäischen Rates oder des Rates, das den betroffenen Mitgliedstaat vertritt, nicht stimmberechtigt und der betreffende Mitgliedstaat wird bei der Berechnung des Drittels oder der vier Fünftel der Mitgliedstaaten nach den Absätzen 1 und 2 des genannten Artikels nicht berücksichtigt. Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem Erlass von Beschlüssen nach Absatz 2 des genannten Artikels nicht entgegen.

Für den Erlass von Beschlüssen nach Artikel 7 Absätze 3 und 4 des Vertrags über die Europäische Union bestimmt sich die qualifizierte Mehrheit nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b dieses Vertrags.

Beschließt der Rat nach dem Erlass eines Beschlusses über die Aussetzung der Stimmrechte nach Artikel 7 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union auf der Grundlage einer Bestimmung der Verträge mit qualifizierter Mehrheit, so bestimmt sich die qualifizierte Mehrheit hierfür nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b dieses Vertrags oder, wenn der Rat auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik handelt, nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe a.

Für die Zwecke des Artikels 7 des Vertrags über die Europäische Union beschließt das Europäische Parlament mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“

8.        Der „Einzige Artikel“ von Protokoll Nr. 24 über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestimmt:

„In Anbetracht des Niveaus des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten die Mitgliedstaaten füreinander für alle rechtlichen und praktischen Zwecke im Zusammenhang mit Asylangelegenheiten als sichere Herkunftsländer. Dementsprechend darf ein Asylantrag eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats von einem anderen Mitgliedstaat nur berücksichtigt oder zur Bearbeitung zugelassen werden,

a)      wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger der Antragsteller ist, nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam Artikel 15 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anwendet und Maßnahmen ergreift, die in seinem Hoheitsgebiet die in der Konvention vorgesehenen Verpflichtungen außer Kraft setzen;

b)      wenn das Verfahren des Artikels 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union eingeleitet worden ist und bis der Rat oder gegebenenfalls der Europäische Rat diesbezüglich einen Beschluss im Hinblick auf den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger der Antragsteller ist, gefasst hat;

c)      wenn der Rat einen Beschluss nach Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union im Hinblick auf den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger der Antragsteller ist, erlassen hat, oder wenn der Europäische Rat einen Beschluss nach Artikel 7 Absatz 2 des genannten Vertrags im Hinblick auf den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger der Antragsteller ist, erlassen hat;

…“

B.      Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments

9.        Art. 83 („Verletzung von wesentlichen Grundsätzen und Werten durch einen Mitgliedstaat“) der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (im Folgenden: Geschäftsordnung)(3) bestimmt:

„1.      Das Parlament kann auf der Grundlage eines Sonderberichts des zuständigen Ausschusses gemäß den Artikeln 45 und 52:

a)      über einen begründeten Vorschlag abstimmen, mit dem der Rat aufgefordert wird, Maßnahmen nach Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union zu treffen;

b)      über einen Vorschlag abstimmen, mit dem die Kommission oder die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, einen Vorschlag nach Artikel 7 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union vorzulegen;

c)      über einen Vorschlag abstimmen, mit dem der Rat aufgefordert wird, Maßnahmen nach Artikel 7 Absatz 3 oder – zu einem späteren Zeitpunkt – nach Artikel 7 Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union zu treffen.

2.      Alle Ersuchen des Rates um Zustimmung zu einem Vorschlag gemäß Artikel 7 Absätze 1 und 2 des Vertrags über die Europäische Union werden zusammen mit der Stellungnahme des betroffenen Mitgliedstaats dem Parlament bekannt gegeben und gemäß Artikel 99 an den zuständigen Ausschuss überwiesen. Das Parlament beschließt außer in dringlichen und begründeten Fällen auf Vorschlag des zuständigen Ausschusses.

3.      Gemäß Artikel 354 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union bedürfen die in den Absätzen 1 und 2 dieses Artikels genannten Beschlüsse zu ihrer Annahme durch das Parlament der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments.

…“

10.      Art. 178 („Abstimmung“) der Geschäftsordnung bestimmt:

„1.      Das Parlament stimmt in der Regel durch Handzeichen ab.

Der Präsident kann jedoch jederzeit entscheiden, dass die Abstimmungen mittels elektronischer Abstimmungsanlage vorgenommen werden.

3.      Für die Annahme oder Ablehnung eines Textes werden nur die abgegebenen Ja- und Nein-Stimmen bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses berücksichtigt, ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist.

…“

11.      Art. 226 Abs. 1, der die Anwendung der Geschäftsordnung betrifft, bestimmt:

„Treten Zweifel bezüglich der Anwendung oder Auslegung dieser Geschäftsordnung auf, kann der Präsident die Angelegenheit zur Prüfung an den zuständigen Ausschuss überweisen.

Die Ausschussvorsitze können ebenso verfahren, wenn sich im Verlauf der Arbeiten des Ausschusses ein solcher Zweifel im Zusammenhang mit der Ausschussarbeit ergibt.“

III. Sachverhalt und Verfahren vor dem Gerichtshof

12.      Am 17. Mai 2017 nahm das Europäische Parlament (im Folgenden: Beklagter) eine Entschließung an, mit der es den Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (im Folgenden: LIBE‑Ausschuss) beauftragte, einen Sonderbericht im Hinblick darauf auszuarbeiten, im Plenum über einen begründeten Vorschlag abzustimmen, mit dem der Rat aufgefordert wird, Maßnahmen nach Art. 7 Abs. 1 EUV in Bezug auf Ungarn (im Folgenden: Kläger) zu treffen(4).

13.      Am 4. Juli 2018 nahm der der LIBE‑Ausschuss den Bericht an(5), der auch unter dem Namen der Berichterstatterin als der Sargentini-Bericht bekannt ist.

14.      Am 7. September 2018 übermittelte der Juristische Dienst des Europäischen Parlaments auf Verlangen des Präsidenten des Parlaments diesem ein Rechtsgutachten, das darauf abzielte, die für das Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV geltenden Regeln für die Stimmenauszählung klarzustellen, insbesondere, ob für die Feststellung, ob eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erreicht wurde, Enthaltungen als abgegebene Stimmen zu berücksichtigen sind.

15.      Mit Schreiben vom 10. September 2018 teilte der Ständige Vertreter Ungarns bei der Europäischen Union dem Generalsekretär des Europäischen Parlaments mit, dass nach Ansicht der ungarischen Regierung Stimmenthaltungen bei der Abstimmung über die angefochtene Entschließung des Parlaments zu berücksichtigen seien.

16.      Am selben Tag teilte der Stellvertretende Generalsekretär des Parlaments den Mitgliedern des Europäischen Parlaments (im Folgenden: MdEP) über E‑Mail mit, dass nur die für und gegen die angefochtene Entschließung abgegebenen Stimmen berücksichtigt würden.

17.      Am 12. September 2018 nahm das Europäische Parlament die angefochtene Entschließung an. Für die Entschließung gab es 448 Ja-Stimmen; 197 Nein-Stimmen wurden dagegen abgegeben. Es gab 48 Stimmenthaltungen.

18.      Mit der vorliegenden Klage beantragt der Kläger, dass der Gerichtshof die angefochtene Entschließung für nichtig erklärt und die Kosten dem Beklagten auferlegt.

19.      Der Beklagte beantragt, die Klage als offensichtlich unzulässig, hilfsweise als unbegründet, abzuweisen und die Kosten dem Kläger aufzuerlegen.

20.      Mit Beschluss vom 14. Mai 2019 hat der Gerichtshof auf Antrag des Parlaments entschieden, das Gutachten des Juristischen Dienstes des Parlaments, das in Anlage 5 zur Klage enthalten war, aus den Akten zu entfernen. Ungarns Antrag auf Offenlegung des Dokuments wurde mithin zurückgewiesen(6).

21.      Mit Beschluss des Gerichtshofs vom 22. Mai 2019 wurde Polen (im Folgenden: Streithelfer) als Streithelfer zur Unterstützung des Klägers zugelassen.

22.      Der Kläger, der Beklagte und der Streithelfer haben an der mündlichen Verhandlung teilgenommen, die am 29. Juni 2020 stattfand.

IV.    Würdigung

23.      Diese Schlussanträge sind wie folgt gegliedert. Ich werde zunächst die Zulässigkeit der vorliegenden Nichtigkeitsklage prüfen. Diesbezüglich ist, kurz gesagt, zu entscheiden, ob begründete Vorschläge, die das Verfahren nach Art. 7 EUV auslösen, nach den allgemeinen Bestimmungen von Art. 263 AEUV der Kontrolle unterliegen und ob Art. 269 AEUV diesen allgemeinen Grundsatz möglicherweise in der einen oder anderen Weise berührt (A). Sodann werde ich mich der Begründetheit der Klage zuwenden, insbesondere dem ersten und dritten Klagegrund: Wie sind bei der Prüfung der Frage, ob die angefochtene Entschließung die nach Art. 354 AEUV erforderliche Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erreicht hat, die Stimmenthaltungen von MdEP zu berücksichtigen (B)? Da die Auslegung der einschlägigen Vorschriften und die diesbezügliche Praxis des Parlaments im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall meines Erachtens nicht zu beanstanden ist, schlage ich vor, die Klage als unbegründet abzuweisen.

A.      Zulässigkeit

1.      Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

a)      Kläger

24.      Der Kläger ist der Ansicht, dass die angefochtene Entschließung der Kontrolle nach Art. 263 AEUV unterliege, da sie in dreierlei Hinsicht erhebliche rechtliche und politische Wirkung entfalte. Erstens sei die angefochtene Entschließung nicht nur stigmatisierend für den betroffenen Mitgliedstaat, sondern sie eröffne dem Rat auch die Möglichkeit, eine Feststellung gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV bezüglich dieses Mitgliedstaats zu treffen. Zweitens habe die Entschließung den automatischen Verlust des Status als sicheres Herkunftsland in Asylsachen zur Folge. Drittens betreffe sie die Vollstreckung von Instrumenten der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, z. B. im Falle Europäischer Haftbefehle.

25.      Darüber hinaus ist der Kläger der Ansicht, dass mit der angefochtenen Entschließung der endgültige Standpunkt des Parlaments festgelegt werde. Die anschließende Mitwirkung des Parlaments im Rahmen des Verfahrens nach Art. 7 EUV, wodurch dem Rat die Zustimmung zum Treffen einer Feststellung erteilt werde, sei vom anfänglichen Vorschlag des Parlaments verschieden. Sie betreffe eine andere Handlung, die von einem anderen Organ angenommen werde und einen anderen Inhalt und Gegenstand habe. Das Verfahren nach Art. 7 EUV sei nicht mit einem Rechtsetzungsverfahren vergleichbar. Die angefochtene Entschließung entspreche daher nicht den Kommissionsvorschlägen für Rechtsakte. Das Verfahren nach Art. 7 EUV sei ein einzigartiges Sanktionsverfahren, das in allen seinen Verfahrensstufen Rechtswirkungen erzeuge, selbst wenn die nächste Stufe nicht ausgelöst werden sollte. Es sei keinesfalls sicher, ob eine festgestellte Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entschließung zu einem späteren Zeitpunkt behoben werden könne, da es keine Garantie dafür gebe, dass der Rat letztlich eine Entscheidung darauf gründen werde.

26.      Die gegen die angefochtene Entschließung erhobene Nichtigkeitsklage sei nicht aufgrund Art. 269 AEUV unzulässig. Diese Bestimmung finde nur auf diejenigen Rechtsakte Anwendung, die darin genannt seien. Auf die angefochtene Entschließung sei sie daher nicht anwendbar. Art. 269 AEUV enthalte eine Ausnahme zu den allgemeinen Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit und sei deshalb eng auszulegen. Die Bestimmung sei im Licht der durch den Vertrag von Lissabon eingeführten konstitutionellen Änderungen auszulegen, durch die die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf alle vom Unionsrecht abgedeckten Bereiche erweitert worden sei. Jede Phase des Verfahrens nach Art. 7 EUV müsse allen einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts genügen. Art. 269 AEUV könne daher nicht dahin ausgelegt werden, dass die angefochtene Entschließung gerade im Rahmen eines Verfahrens, das auf den Schutz der Rechtsstaatlichkeit abziele, zumindest hinsichtlich der Zuständigkeits- und Verfahrensregeln von einer gerichtlichen Überprüfung ausgenommen wäre.

b)      Beklagter

27.      Nach Ansicht des Beklagten ist die Nichtigkeitsklage gegen die angefochtene Entschließung unzulässig. Im vorliegenden Fall finde Art. 269 AEUV Anwendung, welcher eine lex specialis zu Art. 263 AEUV, der lex generalis, sei. Art. 269 AEUV sei eine von mehreren anderen Bestimmungen, die die Zuständigkeit des Gerichtshofs in besonderen Bereichen einschränkten. Er stehe einer gerichtlichen Überprüfung der angefochtenen Entschließung durch den Gerichtshof entgegen. Die Verfasser der Verträge hätten nicht die Absicht gehabt, einen breiten gerichtlichen Überprüfungsspielraum für Handlungen im Zusammenhang mit dem Verfahren nach Art. 7 EUV zu eröffnen.

28.      Das Verfahren nach Art. 7 EUV stelle einen außerordentlichen politischen Schutzmechanismus dar, der der Zuständigkeit des Gerichtshofs weitgehend entzogen sei. Von den verschiedenen Maßnahmen, die gemäß Art. 7 EUV in Betracht kämen, sei es allein die vom Europäischen Rat oder vom Rat getroffene Feststellung, die der gerichtlichen Überprüfung gemäß Art. 269 AEUV unterliege. Unlogisch wäre insbesondere, wenn die vorbereitenden Handlungen der vollen gerichtlichen Überprüfung nach Art. 263 AEUV unterlägen, die Feststellungen dagegen einer eingeschränkten Überprüfung gemäß Art. 269 AEUV. Dies würde bedeuten, dass die politische Debatte, die im Rat stattfinden sollte, dann im Gerichtssaal stattfände. Der Gerichtshof könne die Verfahrensfehler, die bei der Annahme einer Handlung wie der angefochtenen Entschließung unterlaufen sein sollen, noch später im Zuge der gerichtlichen Überprüfung der vom Rat oder vom Europäischen Rat getroffenen Feststellung untersuchen.

29.      Auch wenn der Gerichtshof anderer Ansicht sein sollte, bleibe der Beklagte bei seiner Auffassung, dass die angefochtene Entschließung nicht angreifbar sei, da es ihr an Rechtswirkung fehle. Erstens bewirke die Entschließung keinerlei Änderung der Rechtslage des Klägers. Es stehe dem Rat völlig frei, dem Vorschlag des Parlaments zu folgen oder nicht. Zweitens sei, selbst wenn die angefochtene Entschließung dafür von Belang wäre, ob es ungarischen Staatsangehörigen möglich wäre, in einem anderen Mitgliedstaat Asyl zu beantragen, dies für den Inhalt der endgültigen Entscheidung, die der betreffende Mitgliedstaat in dieser Hinsicht treffe, nicht maßgeblich. Jedenfalls handele es sich bei der angefochtenen Entschließung um eine Zwischenmaßnahme, die nicht gerichtlich anfechtbar sei. Sie enthalte nicht den endgültigen Standpunkt des Parlaments, da in einem späteren Verfahrensstadium dessen Zustimmung zu der vom Rat gemäß Art. 7 EUV getroffenen Feststellung eingeholt werde. Die fragliche Entschließung sei mit Vorschlägen der Kommission im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vergleichbar.

c)      Streithelfer

30.      Der Streithelfer trägt vor, dass der Antrag auf gerichtliche Überprüfung der angefochtenen Entschließung gemäß Art. 263 AEUV zulässig sei. Die Handlung sei keine vorbereitende Handlung für die dem Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV vorbehaltene Feststellung. Die geltend gemachten Verfahrensfehler bei der Annahme der angefochtenen Entschließung könnten mithin nicht später in Klagen wegen Verfahrensfehlern des Rates beim Treffen seiner Feststellung gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV angeführt werden. Der begründete Vorschlag des Parlaments gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV könne nicht den Vorschlägen der Kommission im Gesetzgebungsverfahren gleichgesetzt werden. Im Gesetzgebungsverfahren begrenze der Vorschlag der Kommission die Beurteilungsbefugnis des Rates. Bei den begründeten Vorschlägen des Parlaments gemäß Art. 7 EUV sei dies jedoch nicht der Fall. Der eigenständige Charakter der begründeten Vorschläge werde dadurch bestätigt, dass das Parlament auch noch in einer späteren Phase des Verfahrens einbezogen werde.

31.      Die Möglichkeit, die angefochtene Entschließung einer gerichtlichen Überprüfung nach Art. 263 AEUV zu unterziehen, stehe weder zur historischen noch zur teleologischen Auslegung von Art. 269 AEUV im Widerspruch. Anders als der frühere Art. 46 des Vertrags über die Europäische Union sehe Art. 269 AEUV keine Beschränkung der Zuständigkeit des Gerichtshofs auf einen abgeschlossenen Katalog von Handlungen vor. Art. 269 AEUV ziele lediglich auf die Begrenzung der gerichtlichen Überprüfung von politisch bedeutsamen Ermessensentscheidungen, wie z. B. den Feststellungen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EUV, ab. Die übrigen gemäß Art. 7 EUV angenommenen Handlungen seien daher nach Art. 263 AEUV überprüfbar.

32.      Was die begründeten Vorschläge angehe, so könnten diese wegen ihrer erheblichen politischen und rechtlichen Wirkungen nicht der gerichtlichen Überprüfung, zumindest im Hinblick auf die Einhaltung der Verfahrensregeln, entzogen sein. Eine gerichtliche Überprüfung sei auch im Hinblick darauf gerechtfertigt, dass die nachteiligen Auswirkungen begründeter Vorschläge zeitlich unbegrenzt seien. Sollten begründete Vorschläge von der gerichtlichen Überprüfung gemäß Art. 263 AEUV ausgenommen sein, wären auch andere Handlungen nicht überprüfbar, etwa vom Rat angenommene Beschlüsse gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV, mit denen Rechte eines Mitgliedstaats ausgesetzt würden. Das Ziel des Verfahrens nach Art. 7 EUV, die Mitgliedstaaten zur Achtung der Werte der Union anzuhalten, würde zunichte gemacht, wenn die zur Zielerreichung ergriffenen Maßnahmen ihrerseits individuelle Rechte, einschließlich der aus der Unionsbürgerschaft abgeleiteten, gefährden könnten.

2.      Würdigung

a)      Ausgangspunkt: ein vollständiges Rechtsschutzsystem

33.      Nach ständiger Rechtsprechung ist die Union eine Rechtsunion, in der die Handlungen ihrer Organe der Kontrolle unterliegen, ob sie insbesondere mit den Verträgen, den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und den Grundrechten im Einklang stehen(7). Zu diesem Zweck hat der AEU-Vertrag ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, das die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle der Unionshandlungen gewährleisten soll, mit der der Unionsrichter betraut wird(8).

34.      Ein solches vollständiges System von Rechtsbehelfen steht naturgemäß jedem Kläger zur Verfügung, unabhängig davon, ob es sich um eine natürliche Person, ein Organ oder einen Mitgliedstaat handelt. Folglich können sich auch Mitgliedstaaten zum eigenen Nutzen auf den Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes berufen(9). Außerdem braucht ein Mitgliedstaat als privilegierter Kläger im Sinne von Art. 263 Abs. 2 AEUV keine eigene unmittelbare und individuelle Betroffenheit nachzuweisen. Für die Zulässigkeit seiner Klage genügt es gemäß Art. 263 AEUV grundsätzlich, dass der Mitgliedstaat dartut, dass eine Handlung – im vorliegenden Falle eine des Europäischen Parlaments – dazu gedacht war, Rechtswirkung gegenüber Dritten zu erzeugen. Ein Mitgliedstaat kann also selbst dann gegen eine Unionshandlung vorgehen, wenn die Handlung ihm gegenüber keine spezifischen rechtlichen Wirkungen erzeugt(10).

35.      Aus der Existenz eines vollständigen Systems von Rechtsbehelfen ergibt sich eine wichtige Folge. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat der Gerichtshof grundsätzlich eine Zuständigkeit für alle von Unionsorganen angenommenen Handlungen, zumindest für diejenigen, die Rechtswirkung haben sollen. Daraus folgt, dass dem Gerichtshof die Zuständigkeit nur dann fehlt, wenn in den Verträgen ausdrückliche Ausnahmen niedergelegt sind. Solche Ausnahmen sind z. B. in Art. 275 Abs. 1 AEUV und in Art. 276 AEUV in Bezug auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bzw. in Bezug auf die in den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit vorgesehen.

36.      Selbst in solchen Fällen hat der Gerichtshof indessen darauf bestanden, dass Art. 19 EUV dem Gerichtshof eine allgemeine Zuständigkeit einräumt, um die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu gewährleisten. Jede Abweichung von dieser Regel ist folglich eng auszulegen(11).

37.      Zusammenfassend ist festzustellen, dass die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergebende Grundregel kompromisslos einfach ist: Soweit der Vertrag keine eindeutige und ausdrückliche Ausnahme vorsieht, unterliegen alle Unionshandlungen der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Darüber hinaus ist jedweder solche ausdrückliche Ausschluss eng auszulegen.

b)      Art. 7 EUV und in seinem Rahmen angenommene Handlungen

38.      Art. 7 EUV, der ursprünglich als Art. F.1 EUV nummeriert war, geht auf den Vertrag von Amsterdam von 1997 zurück. In Art. 7 Abs. 1 EUV ist die erste Phase des Verfahrens geregelt, die den Fall einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat betrifft. Art. 7 Abs. 2 EUV regelt die nächste Phase, in der das Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat festgestellt werden kann. In Art. 7 Abs. 3 EUV ist sodann der Erlass von Sanktionen gegen den betreffenden Mitgliedstaat vorgesehen.

39.      Für jede dieser Phasen gestattet Art. 7 EUV die Annahme einer Reihe von Rechtsakten durch eines oder mehrere der relevanten Organe. Art. 7 Abs. 1 EUV setzt erstens einen begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission voraus, mit dem der Rat ersucht wird, tätig zu werden. Der Rat kann zweitens Empfehlungen an den betroffenen Mitgliedstaat richten. Drittens kann der Rat die Feststellung treffen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht; dazu bedarf er der Zustimmung des Parlaments.

40.      Art. 7 Abs. 2 EUV folgt weitgehend demselben Muster (jedoch mit einigen geringfügigen Abweichungen), führt allerdings zu der Feststellung, dass eine Verletzung bereits vorliegt. Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Kommission kann der Europäische Rat feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt. Das Parlament muss seine Zustimmung erteilt haben und der betroffene Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert worden sein.

41.      Art. 7 Abs. 3 EUV schließlich kann als die Endstufe der beiden vorhergehenden Phasen angesehen werden, in der es in letzter Konsequenz gestattet ist, einen Beschluss über die Aussetzung bestimmter Rechte des betroffenen Mitgliedstaats, einschließlich seiner Stimmrechte, zu fassen. Dies wird durch Art. 7 Abs. 4 EUV ergänzt, der es gestattet, später einen Beschluss zur Abänderung oder Aufhebung der getroffenen Aussetzungsmaßnahmen zu fassen, wenn sich die Lage geändert hat.

42.      Daraus folgt, dass die Organe gemäß dem Verfahren nach Art. 7 EUV, abgesehen von begründeten Vorschlägen nach Art. 7 Abs. 1 EUV, ein breites Spektrum von Rechtsakten beschließen können, bevor diese potenziell darin kulminieren, dass der Rat Sanktionsmaßnahmen nach Art. 7 Abs. 3 EUV beschließt. Auf den ersten Blick ist recht klar zu erkennen, dass das Verfahren nach Art. 7 EUV wahrscheinlich weder ein schnelles noch ein unkompliziertes Verfahren ist; die Gliederung dieser Bestimmung hat jedoch eine gewisse Logik. Die Kaskade der einzelnen Beschlüsse folgt einem bestimmten Muster, das sich auch in der gewählten Begrifflichkeit widerspiegelt.

c)      Art. 269 AEUV – eine die Zuständigkeit ausschließende Klausel?

43.      Wie fügt sich Art. 269 AEUV, der zusammen mit Art. 263 AEUV im Mittelpunkt dieser Nichtigkeitsklage steht, bezüglich des oben beschriebenen spezifischen Verfahrens nach Art. 7 EUV in das vollständige Rechtsschutzsystem der Union ein? Ist er, wie der Beklagte meint, eine lex specialis, die auf das gesamte Verfahren nach Art. 7 EUV Anwendung findet und jede gerichtliche Überprüfung von in diesem Verfahren ergangenen Handlungen ausschließt, abgesehen von den Rechtsakten, die ausdrücklich in Art. 269 AEUV aufgeführt werden? Oder ist er vielmehr, so wie der Kläger und der Streithelfer meinen, eine Ausnahme von den allgemeinen Verfahrensregeln, indem er lediglich für die letztgenannten Rechtsakte eine besondere Art von Überprüfung vorschreibt, ohne jedoch die Überprüfung der sonstigen gemäß Art. 7 EUV ergangenen Handlungen auszuschließen?

44.      Der Wortlaut (nachfolgend unter 1), der historische Zusammenhang (nachfolgend unter 2) und vor allem das System und die Logik (nachfolgend unter 3) des Art. 269 AEUV lassen mich zu dem Schluss gelangen, dass es sich bei der Bestimmung nicht um eine die Zuständigkeit ausschließende Klausel handelt. Im System und nach der Logik der Klagebefugnis gemäß Art. 263 AEUV, insbesondere im Hinblick darauf, dass vorbereitende Handlungen von der gerichtlichen Überprüfung ausgenommen sind, hat Art. 269 AEUV genau die gegenteilige Wirkung, nämlich dass er ausdrücklich eine (allerdings in der Tat eingeschränkte) Zuständigkeit des Gerichtshofs für bestimmte Arten von Rechtsakten (Feststellungen des Europäischen Rates oder des Rates) bestätigt und dem Gerichtshof mithin eine Zuständigkeit zuweist, die, wenn die allgemeinen Regeln anwendbar wären, ausgeschlossen sein könnte. Folglich regelt Art. 269 AEUV nicht die Erhebung von Nichtigkeitsklagen gegen andere Handlungen gemäß Art. 7 EUV und kann solche Klagen somit auch nicht ausschließen; solche andere Handlungen sind diejenigen, die nicht in Art. 269 AEUV aufgeführt sind, wozu auch der begründete Vorschlag des Parlaments gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV gehört. Auf diese Handlungen finden die allgemeinen Regeln gemäß Art. 263 AEUV Anwendung.

1)      Wortlaut

45.      Der Wortlaut von Art. 269 AEUV bezieht sich auf die gerichtliche Überprüfung „eines nach Artikel 7 [EUV] erlassenen Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates“. Abgesehen von dieser Beschränkung des Anwendungsbereichs auf bestimmte Organe ist die Überprüfung in zweierlei Weise weiter eingeschränkt: erstens hinsichtlich des potenziellen Klägers (klagebefugt ist nur der betroffene Mitgliedstaat) und zweitens hinsichtlich des Umfangs der Überprüfung (die auf Verfahrensfragen beschränkt ist, da der Gerichtshof lediglich die Einhaltung der in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrensbestimmungen zu prüfen hat).

46.      Was den genauen positiven Anwendungsbereich von Art. 269 AEUV betrifft, sind die Rechtsakte, die unter diese Bestimmung fallen, auf den ersten Blick ihrer Art nach recht weit gefasst: Es geht um einen „nach [Art. 7 EUV] erlassenen Rechtsakt … des Europäischen Rates oder des Rates“. Art. 269 AEUV könnte sich also, wenn man den ersten Satz dieser Bestimmung betrachtet, auf jeden Rechtsakt beziehen, der von einem der beiden Organe im Verfahren nach Art. 7 EUV erlassen wird: nicht nur auf Feststellungen (nach Art. 7 Abs. 1 und 2 EUV) und Empfehlungen (nach Art. 7 Abs. 1 EUV), sondern auch auf Rechtsakte, die nicht ausdrücklich in Art. 7 EUV genannt sind, jedoch möglicherweise vom Europäischen Rat oder vom Rat erlassen werden können.

47.      Liest man jedoch den ersten Satz in Verbindung mit dem zweiten Satz von Art. 269 AEUV, wird recht deutlich, dass Art. 269 AEUV lediglich auf Feststellungen des Europäischen Rates oder des Rates anwendbar ist. Die Bestimmung sieht nämlich vor, dass die gerichtliche Überprüfung nur auf Antrag „des von einer Feststellung … betroffenen Mitgliedstaats“, erfolgt, wobei der Antrag „binnen eines Monats nach der jeweiligen Feststellung gestellt werden [muss]“.

48.      Betrachtet man dagegen den negativen Anwendungsbereich von Art. 269 AEUV, so fallen, jedenfalls seinem Wortlaut nach, gemäß Art. 7 EUV erlassene Rechtsakte, die keine Feststellungen sind bzw. die von anderen Organen als dem Europäischen Rat oder dem Rat erlassen werden, schlichtweg nicht unter Art. 269 AEUV. Art. 269 AEUV ist also nichts zu den Handlungen zu entnehmen, die das Parlament oder die Kommission gemäß Art. 7 EUV vornehmen können.

2)      Historischer Zusammenhang

49.      Der Wortlaut des derzeitigen Art. 269 AEUV spiegelt weitgehend den ursprünglichen Art. III‑371 des Vertrags über eine Verfassung für Europa wider. Aus den Vorbereitungsarbeiten des Konvents ist jedoch keine spezifische Diskussion dieser Bestimmung ersichtlich(12).

50.      Eine weitere historische Parallele wurde von den Beteiligten erörtert und insbesondere vom Beklagten als Argument dafür vorgebracht, dass der derzeitige Art. 269 AEUV dazu gedacht gewesen sei, das gesamte Verfahren nach Art. 7 EUV der gerichtlichen Kontrolle zu entziehen. Diese Parallele betrifft die Vorgängerregelung zu Art. 269 AEUV, den früheren Art. 46 Buchst. e des Vertrags über die Europäische Union.

51.      Nach dem Vertrag von Nizza lautete der frühere Art. 46 Buchst. e des Vertrags über die Europäische Union wie folgt: „Die Bestimmungen [der Verträge] betreffend die Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und die Ausübung dieser Zuständigkeit gelten nur für … die reinen Verfahrensbestimmungen des Artikels 7 [EUV], wobei der Gerichtshof auf Antrag des betroffenen Mitgliedstaats binnen eines Monats nach der Feststellung des Rates gemäß dem genannten Artikel entscheidet.“

52.      Zugegebenermaßen weist der Wortlaut des früheren Art. 46 Buchst. e EUV eine gewisse Ähnlichkeit zu demjenigen von Art. 269 AEUV auf. Beide Bestimmungen beschränken die gerichtliche Überprüfung auf die in Art. 7 EUV enthaltenen Verfahrensbestimmungen. Beide Bestimmungen erfordern, dass diese Überprüfung auf Antrag des betroffenen Mitgliedstaats binnen eines Monats nach der Feststellung erfolgt. Damit hört die Ähnlichkeit jedoch auf.

53.      Erstens ist, wenn man den Wortlaut betrachtet, der Kernaussage des früheren Art. 46 Buchst. e EUV lediglich klar entnommen worden, dass der Gerichtshof – im Rahmen von Art. 7 EUV – seine Befugnisse (also insbesondere seine sich aus der Vorgängerregelung zu Art. 263 AEUV ergebenden Befugnisse zur gerichtlichen Überprüfung und zur Aufhebung) nur in Bezug auf die reinen Verfahrensbestimmungen des Art. 7 EUV ausüben konnte. Der sachliche Anwendungsbereich des früheren Art. 46 Buchst. e EUV war somit nicht völlig eindeutig, da nicht genau angegeben war, auf welche Handlungen er anwendbar wäre und ob auch andere Handlungen als Feststellungen in seinen Anwendungsbereich fallen (und der dort vorgesehenen Art der Überprüfung unterliegen) könnten. Im Gegensatz dazu ist der Anwendungsbereich von Art. 269 AEUV, wie bereits ausgeführt(13), nicht nur enger, sondern auch klarer gefasst als der des früheren Art. 46 Buchst. e EUV. Anders als der genannte Art. 46 Buchst. e EUV enthält Art. 269 AEUV keinerlei Angaben dazu, ob andere Arten im Rahmen von Art. 7 EUV beschlossener Handlungen möglicherweise aufgrund einer anderen Zuständigkeitsregelung, etwa des Art. 263 AEUV, überprüfbar sind (oder nicht).

54.      Zweitens ist der Zweck, der dem früheren Art. 46 EUV insgesamt zugrunde lag, der ursprünglich mit dem Vertrag von Maastricht im Zuge der Gründung der Europäischen Union eingefügt wurde(14), beim Vertrag von Lissabon nicht gegeben. Der frühere Art. 46 EUV stand nämlich in engem Zusammenhang mit der „Säulenstruktur“: Er regelte die Zuständigkeit des Gerichtshofs und beschränkte sie hinsichtlich der zwischenstaatlichen Angelegenheiten, die zuvor dem Vertrag über die Europäische Union unterlegen hatten, indem er eine Reihe von Ausnahmen von der Zuständigkeit des Gerichtshofs vorsah(15). Damals erforderte der besondere Charakter der Europäischen Union (im Gegensatz zur Europäischen Gemeinschaft) eine Beschränkung der Zuständigkeit des Gerichtshofs in Angelegenheiten, die – wie das Verfahren nach Art. 7 – außerhalb der Gemeinschaftssäule lagen.

55.      Angesichts des mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon herbeigeführten Paradigmenwechsels erübrigt sich jede Diskussion über die möglichen textlichen Ähnlichkeiten zwischen dem heutigen Art. 269 AEUV und dem früheren Art. 46 Buchst. e EUV. Es ist nicht möglich, Art. 269 AEUV einfach als Nachfolgeregelung zum früheren Art. 46 Buchst. e EUV zu betrachten und dabei an dessen Anwendungsbereich, Zweck und Geist anzuknüpfen, da die gesamten Grundlagen, auf denen der frühere Art. 46 EUV zuvor beruhte, in Wegfall geraten sind. Es gibt jetzt keine allgemeine Bestimmung mehr, in der die verschiedenen Bereiche, in denen wegen der Säulenstruktur keine Zuständigkeit des Gerichtshofs besteht, einzeln aufgeführt sind. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde vielmehr der Grundsatz der allgemeinen Zuständigkeit eingeführt, von dem es nur einige spezifische und konkret aufgeführte Ausnahmen gibt(16).

56.      Zusammenfassend ist zu sagen, dass das auf den früheren Art. 46 EUV und den früheren Anwendungsbereich eines parallelen Ausnahmetatbestands gestützte Vorbringen kaum zu überzeugen vermag. Wenn überhaupt, ließe sich ein Umkehrschluss darauf stützen, jedoch sicherlich kein Analogieschluss.

3)      Systematik

57.      Es gibt systematische Argumente, die erklären, warum die Bestimmung in Art. 269 AEUV nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sie Ausnahmen von der Zuständigkeit des Gerichtshofs begründet. Es ist vielmehr so, dass die Bestimmung durch eine ausdrückliche Einbeziehung eine positive Zuständigkeitszuschreibung enthält.

58.      Erstens ist Art. 269 AEUV, anders als Art. 274, 275 und 276 AEUV, nicht unter den Ausnahmen von der Zuständigkeit des Gerichtshofs zu finden, die im Sechsten Teil Titel I Kapitel 1 Abschnitt 5 des AEUV geregelt sind. Art. 269 AEUV findet sich vielmehr unter den Bestimmungen, die dem Gerichtshof Zuständigkeiten zuschreiben: nach Art. 268 AEUV (Zuständigkeit des Gerichtshofs im Bereich der außervertraglichen Haftung der Union) und vor Art. 270 AEUV (Zuständigkeit des Gerichtshofs für Streitsachen zwischen der Union und deren Bediensteten).

59.      Zweitens wird diese systematische Einordnung auch durch die verwendete Formulierung bestätigt. Anders als der für echte Ausschlüsse verwendete Wortlaut („Der Gerichtshof … ist nicht zuständig“ in Art. 275 AEUV oder „ist der Gerichtshof … nicht zuständig“ in Art. 276 AEUV) enthält Art. 269 AEUV eine positive Zuweisung einer Zuständigkeit („Der Gerichtshof ist … zuständig“)(17).

60.      Drittens, und dies ist der wichtigste Gesichtspunkt, drängt sich die Frage auf, warum es denn notwendig war, die Zuständigkeit für die gemäß Art. 7 Abs. 1 oder Abs. 2 EUV getroffenen Feststellungen des Rates oder des Europäischen Rates positiv zu begründen oder vielmehr zu bestätigen und diese Zuständigkeit in Bezug auf ihre Reichweite gleichzeitig einzuschränken?

61.      Meines Erachtens war diese ausdrückliche Bestätigung gerade wegen der eher traditionellen Rechtsprechung zu Klagebefugnis und gerichtlicher Überprüfbarkeit im Rahmen von Art. 263 AEUV notwendig. Nach dieser Rechtsprechung(18) könnten Feststellungen gemäß Art. 7 Abs. 1 und 2 EUV als vorbereitende Maßnahmen zum endgültigen Aussetzungsbeschluss gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV gesehen werden. Folgte man dieser Einordnung, könnten sie als von der gerichtlichen Überprüfung ausgenommen anzusehen sein. Um jedwede solche Unsicherheit – zumal im sensiblen politischen Bereich, in dem der Gerichtshof bei der von ihm vorgenommenen Überprüfung wahrscheinlich von sich aus eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legen würde – zu beseitigen(19), wäre es durchaus sinnvoll, eine klare Regelung für die eingeschränkte Überprüfung derjenigen Rechtsakte vorzusehen, die als diejenigen ausgewählt wurden, die auf jeden Fall einer gerichtlichen Überprüfung unterliegen sollten.

62.      Systematisch betrachtet ist Art. 269 AEUV also in der Tat eine Art lex specialis, jedoch eine ganz andere als nach der vom Beklagten vertretenen Auffassung. Es ist nicht so (und schon aus Gründen der Logik kann es auch nicht so sein), dass Art. 269 AEUV gemäß Art. 7 EUV erlassene Handlungen, auch wenn diese gar nicht ausdrücklich in Art. 269 AEUV genannt sind, pauschal von der gerichtlichen Überprüfung ausnimmt. Vielmehr handelt es sich bei Art. 269 AEUV um eine besondere Bestätigung oder Zuweisung der Zuständigkeit für die darin genannten Rechtsakte, bei denen die Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie von der Überprüfung ausgenommen werden würden. Das bedeutet aber auch, dass diejenigen Handlungen, die nicht ausdrücklich in dieser Bestimmung genannt sind, nicht dieser Bestimmung, sondern vielmehr den allgemeinen Regeln in Art. 263 AEUV unterliegen.

4)      Gesamtlogik

63.      Es gibt ein zusätzliches systematisches Argument, das Erwähnung verdient. Es betrifft die (un)logischen Folgen, zu denen die vom Beklagten vorgeschlagene Auslegung führen würde.

64.      Nehmen wir an, die Auffassung des Beklagten wäre richtig, und der Inhalt von Art. 269 AEUV wäre – entgegen seinem Wortlaut, dem Zusammenhang und der systematischen Logik – so zu verstehen, dass er im Wesentlichen besagte, dass „der Gerichtshof keinerlei Zuständigkeit für die Überprüfung jeglicher gemäß Art. 7 EUV erlassenen Handlungen hat, außer für die vom Europäischen Rat oder vom Rat getroffenen Feststellungen“. Logischerweise wäre dann als Nächstes zu fragen, was das für die gerichtliche Überprüfung der etwaigen Aussetzungsentscheidungen bedeuten würde, die der Rat nach Art. 7 Abs. 3 EUV treffen kann.

65.      In der Verhandlung hat der Beklagte bestätigt, dass seiner Auffassung nach alle gemäß Art. 7 EUV erlassenen Handlungen, bei denen es sich nicht um Feststellungen handelt, der gerichtlichen Überprüfung entzogen seien, auch vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV beschlossene Sanktionsentscheidungen. Der Beklagte führt dazu im Wesentlichen aus, dass, falls es dem betroffenen Mitgliedstaat gestattet sei, gemäß Art. 269 AEUV gegen Feststellungen (einschließlich vom Europäischen Rat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV getroffener Feststellungen) vorzugehen, jede potenzielle Rechtswidrigkeit in dieser Phase festzustellen sei. Werde eine aufgrund Art. 7 Abs. 2 EUV getroffene Feststellung vom Gerichtshof aufgehoben, so könne kein Aussetzungsbeschluss gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV ergehen. Werde die Feststellung nicht aufgehoben, so biete sie eine solide Rechtsgrundlage für den späteren Aussetzungsbeschluss gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV, wobei Letzterer im Wesentlichen ohnehin eine politische Entscheidung sei, die nicht angegriffen werden könne.

66.      Meines Erachtens ist eine solche Auslegung unhaltbar.

67.      Erstens ist nochmals daran zu erinnern, dass die Europäische Union „eine Rechtsgemeinschaft ist, in der weder die Mitgliedstaaten noch ihre Organe der Kontrolle daraufhin, ob ihre Handlungen mit der Verfassungsurkunde …, dem Vertrag, im Einklang stehen, entzogen sind“(20). Mit Art. 7 EUV wurde ein Verfahren geschaffen, das spezifisch auf die Achtung des Rechtsstaatsprinzips durch die Mitgliedstaaten ausgerichtet ist. Unter den Rechtsstaatsgrundsätzen kommt dem des gerichtlichen Rechtsschutzes, neben anderen, die größte Bedeutung zu. Erst kürzlich hat der Gerichtshof daran erinnert, dass nach Art. 2 EUV das Vorhandensein einer wirksamen, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienenden gerichtlichen Kontrolle dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent ist(21). Im Zusammenhang mit Art. 7 Abs. 3 EUV kommt diesem strukturellen Argument besonderes Gewicht zu.

68.      Zweitens wäre es unlogisch, wenn man Art. 269 AEUV, wie vom Beklagten vorgeschlagen, so verstünde, dass Feststellungen, die als vorbereitende Handlungen zur Rechtsaussetzung angesehen werden könnten, einer eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterlägen, jedoch der endgültige Rechtsakt, z. B. der eigentliche Aussetzungsbeschluss, jeder Kontrolle entzogen wäre. Hinzu kommt, dass das (politische) Ermessen des Rates in dieser Phase, anders als in den vorausgehenden Phasen des Verfahrens nach Art. 7 EUV, ausdrücklich durch den Vertrag beschränkt ist: Wenn der Rat seinen Aussetzungsbeschluss fasst (und damit gegebenenfalls entscheidet, welche Rechte über die Stimmrechte im Rat hinaus ausgesetzt werden), „berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen“.

69.      Das würde bedeuten, dass in den Phasen, in denen der Rat prima facie uneingeschränktes politisches Ermessen hat, seine Entscheidungen der Kontrolle unterlägen. Später jedoch, wenn der Rat nur noch eingeschränktes Ermessen hat und deren Ausübung echte Wirkung zu haben beginnt, gäbe es keine Überprüfung mehr. Damit würde die gesamte (normalerweise geltende) Logik der gerichtlichen Überprüfung auf den Kopf gestellt: Die (ihrer Art nach im Wesentlichen politischen) vorbereitenden Handlungen (in Form der Feststellungen) unterlägen der Überprüfung, wohingegen die endgültigen (ihrer Art nach womöglich eher rechtlichen) Beschlüsse, die tatsächlich Dritte belasten können und für die über die politischen Erwägungen hinausgehende materiell-rechtliche Kriterien gelten, nicht überprüft werden könnten.

70.      Drittens ist durchaus klar, dass Beschlüsse nach Art. 7 Abs. 3 EUV ihrerseits endgültige Rechtsakte wären, die Rechtswirkung erzeugen können, und zwar nicht nur gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat, sondern auch, wie in der Bestimmung ausdrücklich erwähnt, gegenüber Dritten, nämlich Einzelpersonen. Art. 7 Abs. 3 EUV lässt dem Rat für seine Entscheidung, welche Rechte der Mitgliedstaaten auf welche Weise und in welchem Umfang ausgesetzt werden, einen weiten Ermessensspielraum. Es wäre jedoch – ohne hier Vermutungen über die Art und Weise oder den Umfang einer solchen von einer Einzelperson erhobenen Klage anstellen zu wollen – recht eigenartig, wenn z. B. das Einfrieren von Vermögenswerten oder andere restriktive Maßnahmen gegen eine natürliche Person nach Art. 275 Abs. 2 AEUV überprüft werden könnten, Beschlüsse nach Art. 7 Abs. 3 EUV, die gleichermaßen nachteilige oder sogar noch belastendere rechtliche Wirkungen für natürliche Personen haben können, dagegen nicht überprüfbar wären.

71.      Fraglos bin ich mit dem Beklagten einer Meinung, dass es, wie von ihm in der Verhandlung ausgeführt wurde, in dieser Sache nicht um die Zulässigkeit der gerichtlichen Überprüfung eines Aussetzungsbeschlusses gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV geht. Anhand dieser Überlegungen wird jedoch deutlich, dass die Auffassung, die der Beklagte insgesamt bezüglich der vorgeschlagenen Auslegung von Art. 269 AEUV vertritt, nicht stichhaltig ist. Das Schicksal sowohl der vor einer Feststellung nach Art. 7 Abs. 1 EUV erlassenen Handlungen als auch der nach einer Feststellung nach Art. 7 Abs. 2 EUV erlassenen Handlungen wie auch die Gesamtlogik des Art. 7 EUV müssen zumindest zu einem gewissen Grad ein zusammenhängendes Ganzes ergeben.

72.      Deshalb muss für das Verhältnis des Art. 269 AEUV zu Art. 263 AEUV dieselbe Logik gelten, die dann auch für den in seiner Gesamtheit betrachteten Art. 7 EUV gelten muss. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, bedarf es keiner mutigen Schritte zur Schaffung neuer Rechtsbehelfe, wie das Urteil in der Sache Les Verts/Parlament(22) vermuten lassen könnte, auf das sich Kläger und Streithelfer berufen haben. In der vorliegenden Rechtssache genügt es vielmehr, nicht der vom Beklagten vertretenen Auffassung zu folgen, dass die gerichtliche Überprüfbarkeit in den einzelnen Phasen verschieden sei, was letztlich darauf hinausliefe, Art. 7 EUV hinsichtlich des Zugangs zur gerichtlichen Kontrolle in voneinander losgelöste Stränge zu unterteilen, für die verschiedene Regeln oder vielmehr gar keine Regeln gälten.

5)      Zwischenergebnis: Art. 269 AEUV als eine (eine bestimmte Art) gerichtlicher Zuständigkeit zuweisende Klausel

73.      Die wörtliche, historische, kontextbezogene und logische Auslegung führt mich zu dem Schluss, dass Art. 269 AEUV die Zuständigkeit des Gerichtshofs lediglich im Hinblick auf die gerichtliche Überprüfung von Feststellungen klarstellt und regelt. Alle anderen aufgrund Art. 7 EUV erlassenen Handlungen, die nicht ausdrücklich in Art. 269 AEUV genannt werden, unterliegen den Regeln für die gewöhnliche gerichtliche Überprüfung, nämlich Art. 263 AEUV, und sind entsprechend zu prüfen.

74.      Bevor ich diese Prüfung im spezifischen Zusammenhang mit dem vorliegenden begründeten Vorschlag gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV vornehme, möchte ich mit einigen allgemeinen Ausführungen dazu schließen, warum es unwahrscheinlich ist, dass dieses Ergebnis dazu führen könnte, dass der Gerichtshof plötzlich mit essentiell politischen Fällen überschwemmt würde, so dass jedes Verfahren nach Art. 7 EUV in Stillstand geriete.

75.      Erstens sind, was Art. 263 AEUV angeht, einige der „anderen Handlungen“, die nicht in Art. 269 AEUV genannt werden, wahrscheinlich als vorbereitende Handlungen im Sinne der klassischen Rechtsprechung zu Art. 263 AEUV anzusehen. Diese Handlungen werden daher ohnehin von der gerichtlichen Überprüfung ausgenommen sein.

76.      Zweitens sind nicht privilegierte Kläger nur dann befugt, gemäß Art. 263 AEUV gegen derartige Handlungen, sofern es sich bei ihnen nicht um lediglich vorbereitende Handlungen handelt, vorzugehen, wenn sie nachweisen, dass sie von den Handlungen unmittelbar und individuell betroffen sind. Es ist nur schwer vorstellbar, dass diese Voraussetzungen, insbesondere diejenige der unmittelbaren Betroffenheit, bei individuellen Klägern im Falle anderer Handlungen als dem potenziellen finalen Aussetzungsbeschluss gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV erfüllt sein könnten.

77.      Drittens bedeutet gerichtliche Überprüfung nicht notwendigerweise eine in die Tiefe gehende Überprüfung. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die vier in Art. 263 Abs. 2 AEUV aufgeführten Gründe, die den potenziellen Gegenstand der Klage abgrenzen, sondern auch im Hinblick auf den besonderen und politischen Charakter von Art. 7 EUV. Nach ständiger Rechtsprechung ist den Unionsorganen ein weites Ermessen einzuräumen, wenn sie Maßnahmen in Bereichen ergreifen, in denen von ihnen u. a. politische Entscheidungen und komplexe Beurteilungen verlangt werden(23).

78.      Insgesamt führen mich die vorstehenden Erwägungen zu dem Schluss, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die vermeintliche Gefahr – nämlich die Verlagerung einer im Wesentlichen politischen Debatte aus den Hallen des Rates in den Gerichtssaal und eine dadurch verursachte Vereitelung des reibungslosen Ablaufs und der Wirksamkeit des gesamten Verfahrens nach Art. 7 EUV – durch die hier vorgeschlagene Auslegung des Verhältnisses zwischen den Art. 263 und 269 AEUV einträte.

d)      Gerichtliche Überprüfung von begründeten Vorschlägen im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EUV gemäß Art. 263 AEUV

79.      Die angefochtene Entschließung ist ein begründeter Vorschlag im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EUV, der am 12. September 2018 vom Beklagten angenommen wurde. Mit diesem Vorschlag wurde die erste Phase von Art. 7 EUV eingeleitet, die dem Rat die Möglichkeit eröffnet, gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV das Bestehen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Europäischen Union festzustellen. Allerdings ist der Rat bis zu dem Tag, an dem die vorliegende Nichtigkeitsklage erhoben wurde, und meines Wissens bis zum Zeitpunkt der Verlesung dieser Schlussanträge in keiner Weise auf diesen begründeten Vorschlag hin tätig geworden.

80.      Der begründete Vorschlag gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV ist Teil der Anfangsphase des Art. 7 EUV. Damit ist er nicht nur mehrere Stufen von der Annahme eines Aussetzungsbeschlusses gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV entfernt, sondern sogar einer Feststellung gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV vorgelagert. Sollte nicht ein begründeter Vorschlag gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV deshalb als rein vorbereitende Handlung anzusehen und nicht der gerichtlichen Überprüfung gemäß Art. 263 AEUV zugänglich sein?

81.      Meines Erachtens ist dies nicht der Fall. Ein begründeter Vorschlag gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV ist weder eine reine vorbereitende Handlung, noch fehlt es ihm an (eigener, eigenständiger) Rechtswirkung. Mit ihm wird der Standpunkt des Parlaments endgültig festgelegt (nachfolgend unter i), und etwaige Mängel dieses Verfahrens können in späteren Phasen nicht mehr behoben werden (nachfolgend unter ii). Der wichtigste Gesichtspunkt ist jedoch, dass rechtliche Wirkungen mit dem begründeten Vorschlag nicht nur beabsichtigt, sondern eindeutig erzeugt werden, und zwar (eigenständige) Rechtswirkung gegenüber Dritten im Sinne von Art. 263 Abs. 1 AEUV (nachfolgend unter iii).

1)      Endgültige Festlegung des Standpunkts des Parlaments

82.      Es ist ständige Rechtsprechung, dass im Fall von Handlungen oder Entscheidungen bzw. Beschlüssen, die in einem mehrphasigen Verfahren ergehen, eine Handlung grundsätzlich nur anfechtbar ist, wenn sie den Standpunkt des Organs, von dem sie angenommen wurde, endgültig festlegt(24). Während Kläger und Streithelfer der Ansicht sind, dass dies hier der Fall sei, ist der Beklagte entgegengesetzter Auffassung. Seiner Meinung nach ist die angefochtene Entschließung einem Legislativvorschlag der Kommission vergleichbar.

83.      Diese Auffassung des Beklagten teile ich nicht.

84.      Zunächst ist zu festzustellen, dass die angeführte Rechtsprechung vorwiegend in Bezug auf komplexe Verwaltungsverfahren entwickelt wurde, insbesondere zu solchen mit wirtschaftlichem Hintergrund, die technische Bewertungen erfordern, und zwar vor allem solche, die von der Kommission vorzunehmen sind. Es ist daher nicht ohne Weiteres ersichtlich, dass dieselben Regeln auf Legislativ- oder gar auf konstitutionelle Verfahren anwendbar sein sollten. Dennoch ist diese Rechtsprechung geltend gemacht und in der Verhandlung weiter erörtert worden; vielleicht könnte als Ausgangspunkt und allgemeine Regel, die für alle Arten von Verfahren gilt, akzeptiert werden, dass eine Handlung der gerichtlichen Überprüfung nur dann unterliegt, wenn sie den endgültigen Standpunkt des Organs, von dem sie angenommen wird, festlegt(25).

85.      Bei formeller Betrachtungsweise könnte die angefochtene Entschließung an Legislativvorschläge der Kommission erinnern, die, zumindest nach der Rechtsprechung des Gerichts, nicht der gerichtlichen Überprüfung unterliegen(26). Die Anlage zur angefochtenen Entschließung enthält in der Tat den Entwurf für einen „Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn, im Einklang mit Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union“.

86.      Damit endet jedoch die Analogie zu den Legislativvorschlägen der Kommission. Erstens muss ein begründeter Vorschlag nicht die Form der angefochtenen Entschließung aufweisen, mit einer Anlage, die einen vollständig ausformulierten Entwurf für die Feststellung des Rates enthält. Er könnte schlicht auch in Form einer Entschließung angenommen werden, die keinen solchen Entwurf im Anhang, sondern lediglich eine Begründung enthält(27): Nach dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 EUV genügt ein begründeter Vorschlag, ein Entwurf der Feststellung ist nicht erforderlich.

87.      Zweitens, und dies betrifft eher strukturelle Aspekte, ist die angefochtene Entschließung schlichtweg nicht einem Legislativvorschlag der Kommission vergleichbar. Art. 7 EUV regelt nämlich ein Sanktionsverfahren konstitutionellen Charakters gegen einen einzelnen Mitgliedstaat. Damit unterscheidet es sich grundlegend vom allgemeinen Rechtsetzungsverfahren, das darauf abzielt, politischen Programmen Gestalt zu geben(28). Noch wichtiger ist jedoch, dass Legislativvorschläge der Kommission eindeutig nicht den endgültigen Standpunkt der Kommission festlegen. Die Vorschläge bilden vielmehr die Grundlage, auf der sich die gesamten gesetzgeberischen Beratungen entfalten, bei denen mehrere Organe, einschließlich der Kommission, mitwirken.

88.      Ein begründeter Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV ist etwas ganz anderes. Es handelt sich bei ihm nicht um eine Aufforderung, in Verhandlungen einzutreten, um gemeinsam über den Wortlaut und seine einzelnen Bestimmungen zu beraten, mit dem für das Rechtsetzungsverfahren typischen Hin und Her. Ein begründeter Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV gibt den endgültigen Standpunkt seines Urhebers wider: In dem mehrstufigen Verfahren, das in Art. 7 EUV vorgesehen ist, ist er sozusagen der Staffelstab, der von einem Organ ans nächste weitergereicht wird. Er stellt den endgültigen (und damit auch unwiderruflichen) Standpunkt eines der Teilnehmer am Staffellauf dar. Das Verfahren wird endgültig (und nicht nur vorläufig) in Gang gesetzt.

89.      Anders als bei einem begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV, der von der Kommission vorgelegt wird, wird das Parlament, während die Kommission jedenfalls nicht ausdrücklich in den folgenden Phasen des Verfahrens mitwirkt, seinerseits für jedwede Feststellung, die nach Art. 7 Abs. 1 und 2 EUV möglich ist, um seine Zustimmung ersucht.

90.      Meines Erachtens ändert dieses im Nachgang bestehende Zustimmungserfordernis jedoch nichts an der Endgültigkeit des ursprünglichen begründeten Vorschlags des Parlaments. Schließlich geht es in beiden Fällen bei der Zustimmung nicht darum, dass das Parlament ersucht wird, seinen begründeten Vorschlag – wenn es denn überhaupt einen erlassen hat – zu überdenken. Die beiden Handlungen haben verschiedene Gegenstände: Während der begründete Vorschlag die Einleitung eines Verfahrens nach Art. 7 Abs. 1 EUV betrifft, betrifft das Zustimmungserfordernis den vorgesehenen Inhalt der vom Rat zu treffenden Feststellung, insbesondere dessen Feststellung der eindeutigen Gefahr oder des Vorliegens einer schwerwiegenden Verletzung von Unionswerten durch einen Mitgliedstaat.

91.      Des Weiteren ist das Parlament nur einer von dreien der in Art. 7 Abs. 1 EUV genannten Akteuren, die das Verfahren nach Art. 7 EUV durch einen begründeten Vorschlag auslösen können. Vernünftigerweise ist anzunehmen, dass einem begründeten Vorschlag im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EUV jeweils derselbe Wert zukommen sollte, unabhängig davon, von welchem Organ er angenommen wurde. Der Umstand, dass eines der drei Organe, die das Verfahren einleiten können, im weiteren Verlauf durch seine Zustimmung wieder eine Rolle spielt, sollte unerheblich sein. Es wäre etwas widersinnig, aus dem eher zufälligen Umstand, dass das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache vom Parlament – und nicht von der Kommission oder einem Drittel der Mitgliedstaaten – ausgelöst wurde, in Verbindung mit der besonderen Rolle, die der Verfasser des Vertrags dem Parlament ersichtlich im gesamten Verfahren zugewiesen hat, letztlich genau das Gegenteil dessen abzuleiten, was beabsichtigt war: nämlich die Rolle des Parlaments nicht auf-, sondern abzuwerten. Dies wäre aber das Ergebnis, wenn man die Auffassung vertreten wollte, dass ein begründeter Vorschlag des Parlaments deshalb „weniger wert“ oder „weniger endgültig“ wäre als einer der Kommission oder eines Drittels der Mitgliedstaaten und dadurch, dass im Zuge des weiteren Verfahrens die Zustimmung des Parlaments zu einem anderen Vorschlag erforderlich ist, indirekt nochmals überdacht oder sogar fallen gelassen werden könnte.

92.      Letzteres dürfte auch kaum der Fall sein: Angenommen, das Parlament legt einen begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV vor, mit dem der Rat ersucht wird, festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung durch einen Mitgliedstaat besteht, und, als das Parlament dann später gemäß derselben Bestimmung um seine Zustimmung ersucht wird, verweigert es sie, wofür es viele Gründe geben könnte: Vielleicht ist das Parlament mit dem Wortlaut der vorgeschlagenen Feststellung nicht einverstanden; möglicherweise ist es, nach Einholung weiterer Informationen oder vielleicht nach Anhörung des betroffenen Mitgliedstaats im Rat, nicht mehr überzeugt, dass tatsächlich eine Gefahr besteht; oder vielleicht ist die Parlamentsmehrheit der Ansicht, dass die vom Rat vorgeschlagenen Empfehlungen im Hinblick auf die Lage zu dem Zeitpunkt genügen. Hätte nun in jedem dieser Fälle, und möglicherweise auch in anderen Fällen, die Verweigerung der Zustimmung Auswirkungen auf die Endgültigkeit des zuvor vorgelegten begründeten Vorschlags? Würde der vorherige Standpunkt des Parlaments dadurch „weniger endgültig“? Ich denke nicht.

93.      Daraus folgt, dass das Parlament mit der Annahme eines begründeten Vorschlags im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EUV seinen endgültigen Standpunkt bezüglich der Einleitung eines Verfahrens nach Art. 7 EUV festlegt.

2)      Rechtsschutzmöglichkeit in einem späteren Verfahrensabschnitt?

94.      Es ist außerdem ständige Rechtsprechung, dass eine Zwischenmaßnahme nicht Gegenstand einer Klage sein kann, wenn feststeht, dass die Rechtswidrigkeit dieser Handlung im Rahmen einer Klage gegen die endgültige Entscheidung, deren Vorbereitung sie dient, geltend gemacht werden kann. Unter derartigen Umständen bietet die Klage gegen die das Verfahren abschließende Entscheidung ausreichenden gerichtlichen Rechtsschutz. Ist die letztgenannte Voraussetzung jedoch nicht erfüllt, so erzeugt die Zwischenmaßnahme – unabhängig davon, ob sie eine vorläufige Meinung des betreffenden Organs zum Ausdruck bringt – eigenständige Rechtswirkungen und muss daher Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können(29).

95.      Diese Rechtsprechungslinie, die ebenfalls aus (wirtschaftlich geprägten) Verwaltungsverfahren hervorgegangen ist, fungiert in Bezug auf die im vorhergehenden Unterabschnitt dieser Schlussanträge beschriebenen Rechtslage als interner Ausnahmetatbestand. Sie eröffnet Möglichkeiten zur gerichtlichen Überprüfung von Handlungen, die zwar nicht einen endgültigen Standpunkt festlegen, aber dennoch eigenständige Rechtswirkung erzeugen. Da ich, wie im vorhergehenden Abschnitt ausgeführt, der Ansicht bin, dass die angefochtene Entschließung den endgültigen Standpunkt des Parlaments festlegt und folglich keine bloß vorbereitende Handlung ist, gehe ich auf diesen Punkt lediglich der Vollständigkeit halber ein, weil er von den Beteiligten vorgebracht und erörtert worden ist.

96.      Im Rahmen eines mehrstufigen konstitutionellen Verfahrens wie dem Verfahren nach Art. 7 EUV mag es in der Tat, jedenfalls allgemein und abstrakt betrachtet, vernünftig erscheinen, die Annahme der das betreffende Verfahren abschließenden Entscheidung abzuwarten, bevor etwaige frühere Unregelmäßigkeiten, die im Zuge des Verfahrens unterlaufen sein mögen, geltend gemacht werden können.

97.      Bei genauerer Untersuchung erweist sich jedoch, dass eine solche Vorgehensweise im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommt.

98.      Erstens ist es schon schwer vorstellbar, wie Rechtswidrigkeiten anderer konstitutioneller Akteure geltend gemacht werden könnten: In diesem Falle wäre es so, dass eine verfahrensrechtliche Unregelmäßigkeit, die dem Parlament bei der Annahme seines begründeten Vorschlags nach Art. 7 Abs. 1 EUV unterlaufen sein soll, dem Europäischen Rat oder dem Rat gegenüber geltend zu machen wäre und dann z. B. eine Klage auf Nichtigerklärung des vom Rat nach Art. 7 Abs. 3 EUV gefassten Aussetzungsbeschlusses zu erheben wäre, welche auf die zuvor dem Parlament unterlaufene Unregelmäßigkeit zu stützen wäre. Daran wird deutlich, dass der auf die „ganzheitliche Überprüfung“ abstellende Ansatz für die gerichtliche Kontrolle sehr gut funktionieren mag, wenn es um komplexe Verfahren innerhalb ein und desselben Organs oder innerhalb von Institutionen derselben Art geht, etwa wenn mehrere Einzelentscheidungen der öffentlichen Verwaltung auf eine abschließende, integrierte Entscheidung hinauslaufen. Auf eine Reihe getrennter, eigenständiger und ihrem Charakter nach unterschiedlicher Entscheidungen verschiedener konstitutioneller Akteure ist diese Logik aber schlichtweg nicht anwendbar.

99.      Zweitens ist nicht unmittelbar ersichtlich, welches denn im Kontext von Art. 7 EUV die „das Verfahren abschließende Entscheidung“ ist. Betrachtet man Art. 7 EUV im Ganzen, könnte die Entscheidung, die das mit einem begründeten Vorschlag eingeleitete Verfahren abschließt, die nach Art. 7 Abs. 1 oder 2 EUV getroffene Feststellung sein, so wie es vom Beklagten geltend gemacht wird (innerer Kreis). Allerdings könnte es auch, und dafür gibt es vielleicht sogar einen besseren Grund, die Entscheidung sein, mit der letztlich Sanktionen gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV auferlegt werden (äußerer Kreis)(30). Je nachdem, auf welche Entscheidung als die das Verfahren abschließende Entscheidung man abstellt, dürfte auch die gerichtliche Überprüfung unterschiedlich intensiv ausfallen. Wenn nämlich die relevante „Entscheidung“ die Feststellung gemäß Art. 7 Abs. 1 oder 2 EUV wäre, fände Art. 269 AEUV Anwendung, und die Überprüfung würde nach der dort vorgesehenen Regelung erfolgen. Dagegen fände, wenn es sich um einen gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV gefassten Beschluss handelte, eine gewöhnliche Überprüfung gemäß Art. 263 AEUV statt.

100. Drittens, und dies ist wohl der wichtigste Punkt, ist es durchaus möglich, dass es niemals zu einer „das Verfahren abschließenden Entscheidung“, nach welcher Regelung auch immer, kommt. Nach Art. 7 Abs. 1 und 2 EUV ist der Rat, jedenfalls, wenn man auf den Wortlaut abstellt, nicht gehalten, auf einen begründeten Vorschlag hin tätig zu werden. Gleichermaßen ist dort auch nicht vorgesehen, dass die Wirkungen des begründeten Vorschlags, falls keine Maßnahmen ergriffen werden, nach einem angemessenen Zeitraum erlöschen. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich aber, dass es das Erfordernis der Rechtssicherheit verlangt, dass die Unionsorgane ihre Befugnisse innerhalb einer angemessenen Zeitspanne wahrnehmen(31). Ich werde mich gewiss nicht auf das Minenfeld der Diskussion darüber begeben, ob der Rat möglicherweise einer rechtlichen Verpflichtung unterliegt, innerhalb angemessener Frist eine Feststellung zu treffen (oder dies ausdrücklich abzulehnen), und ob sich eine solche Verpflichtung vielleicht aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ergibt(32).

101. Für die Zwecke dieser Schlussanträge genügt es, einfach zu konstatieren, dass es geradezu kafkaesk wäre, wenn die gerichtliche Überprüfbarkeit davon abhinge, dass eines Tages vielleicht doch noch eine endgültige Entscheidung unbekannter Art erginge, während der begründete Vorschlag in der Zwischenzeit auf unbestimmte Zeit wirksam bliebe. Eine solche Rechtslage wäre wohl schwerlich mit der Beschreibung einer Rechtsunion zu vereinbaren, bei der „[d]as Vorhandensein einer wirksamen, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienenden gerichtlichen Kontrolle … dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent [ist]“(33).

102. Ich muss daher schlussfolgern, dass es ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz erfordert, dass begründete Vorschläge gemäß Art. 263 AEUV gerichtlich überprüft werden können, sofern sie (eigenständige) Rechtswirkungen erzeugen; diesem Punkt werde ich mich nunmehr abschließend zuwenden.

3)      (Eigenständige) Rechtswirkungen

103. Der begründete Vorschlag, um den es in der vorliegenden Rechtssache geht, leitete das Verfahren nach Art. 7 EUV ein und hat, so gesehen, meines Erachtens bereits dadurch eine gewisse Rechtswirkung erzeugt, oder eine solche Rechtswirkung war gewiss beabsichtigt. Allerdings hat die angefochtene Entschließung, was die Voraussetzungen nach Art. 263 Abs. 1 AEUV angeht, in ihrer Eigenschaft als begründeter Vorschlag im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EUV in der Tat mindestens zwei weitere Arten von Rechtswirkung erzeugt.

104. Erstens ergibt sich aus Buchst. b des „Einzigen Artikels“ des mit dem Vertrag von Amsterdam eingeführten Protokolls Nr. 24 über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass der Mitgliedstaat ab der Einleitung des Verfahrens des Art. 7 Abs. 1 EUV und bis der Rat diesbezüglich einen Beschluss im Hinblick auf den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger der Antragsteller ist, gefasst hat, für andere Mitgliedstaaten für alle rechtlichen und praktischen Zwecke im Zusammenhang mit Asylangelegenheiten nicht mehr als sicheres Herkunftsland gelten kann. Folglich kann der Asylantrag eines Staatsangehörigen des betroffenen Mitgliedstaats dann von anderen Mitgliedstaaten der Union berücksichtigt werden.

105. Es steht außer Zweifel, dass eine solche Folge eine (bindende) Rechtswirkung begründeter Vorschläge darstellt, die nicht nur den betroffenen Mitgliedstaat berührt, sondern auch alle anderen Mitgliedstaaten, die Organe der Union sowie die Staatsangehörigen des betroffenen Staates. Nach Protokoll Nr. 24 verliert ein Mitgliedstaat gegenüber den anderen Mitgliedstaaten (und möglicherweise auch gegenüber Drittstaaten) nämlich den Status als sicheres Herkunftsland. Diese Wirkung tritt völlig unabhängig davon ein, ob der Rat selbst letztlich einen Standpunkt bezüglich des begründeten Vorschlags einnimmt oder nicht.

106. Natürlich mag man sich fragen, ob es angemessen ist, dass bereits ein begründeter Vorschlag, der das Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV in Gang setzt, genügt, um eine so weitreichende Wirkung zu erzeugen. Man könnte auch versuchen, die Bedeutung des sogenannten Aznar-Protokolls herunterzuspielen, etwa unter Hinweis darauf, dass es zu anderen Zeiten und zu anderen Zwecken beschlossen wurde.

107. Meines Erachtens kann es jedoch angesichts des ganz eindeutigen Gesetzeswortlauts für ein Gericht nicht in Betracht kommen, die Vorschrift derart zu reduzieren. Die Verfasser des Protokolls, welchem derselbe rechtliche Wert zukommt wie den Verträgen(34), haben ihren Willen eindeutig bekundet. Mit der Annahme des begründeten Vorschlags durch das Parlament sind die Voraussetzungen dieser Bestimmung und ihrer Anwendung erfüllt.

108. Gleichermaßen halte ich die Argumentation des Beklagten für irrelevant, der im Wesentlichen ausführt, dass die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des Protokolls Nr. 24 nicht unbedingt von Einzelpersonen direkt durchsetzbare Rechte begründe oder aber dass es immer noch in das Ermessen der Behörden der anderen Mitgliedstaaten gestellt sei, ob sie Antragstellern aus Ungarn letztlich internationalen Schutz gewähren oder nicht.

109. Meines Erachtens werden bei dieser Argumentation die Klagebefugnis für Einzelpersonen (insbesondere die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit) und die Interessen eines Mitgliedstaats verwechselt. Erstens ist ein Mitgliedstaat ein privilegierter Kläger. Er braucht keine unmittelbare Betroffenheit nachzuweisen. Zweitens wäre, wenn er – was nicht der Fall ist – unmittelbare Betroffenheit nachweisen müsste, diese für den betroffenen Staat gegeben, nicht für seine Staatsbürger oder für Verwaltungsbehörden in anderen Staaten. Im vorliegenden Fall steht außer Zweifel, dass Ungarn betroffen ist, weil es seinen Status als sicheres Herkunftsland verloren hat, was bereits die klare Folge hat, dass Anträge auf internationalen Schutz, die von ungarischen Staatsangehörigen in anderen Mitgliedstaaten gestellt werden, auf ihre Begründetheit hin geprüft werden können. Ob ein solcher Antrag letztendlich Erfolg hat oder nicht, ist eine ganz andere Frage. Um es mit einer Analogie aus der Welt der Staatsanleihen zu sagen: Es ist, als ob das Kredit-Rating eines Landes über Nacht von AAA auf B herabgestuft würde und man dann sagte, eine Betroffenheit des Landes sei nicht gegeben, da einige seiner Staatsangehörigen immer noch etwas Geld hätten. Diese Argumentation mag zwar (in technischer Hinsicht) zutreffen, betrachtet man jedoch, was eigentlich auf dem Spiel steht, geht sie offensichtlich fehl.

110. Zweitens erzeugen begründete Vorschläge gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs noch eine andere Art von Rechtswirkung. Das Bestehen eines begründeten Vorschlags kann tatsächlich Auswirkungen auf das gegenseitige Vertrauen und die gegenseitige Anerkennung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben, insbesondere im Zusammenhang mit der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, aber sicherlich nicht nur in diesem Rechtsbereich.

111. In seinem Urteil in der Rechtssache LM(35) hat der Gerichtshof entschieden, dass in Fällen, in denen wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe der Person nach Einzelfallprüfung verweigern kann, wenn es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. Zu einem solchen Schluss kann die vollstreckende Justizbehörde gelangen, „wenn sie über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV – dafür verfügt, dass … eine echte Gefahr der Verletzung des … Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht“(36).

112. Sicherlich wird die etwaige Entscheidung, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, nicht automatisch getroffen werden. Ein begründeter Vorschlag ist nur Teil der verschiedenen Dokumente, die das nationale Gericht für die von ihm selbst vorzunehmende Bewertung berücksichtigen kann(37). In Rn. 61 des Urteils in der Rechtssache LM wird jedoch hervorgehoben, dass Informationen in einem begründeten Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV dabei besonders relevante Angaben darstellen(38). Im Urteil LM wurde indessen auf einen begründeten Vorschlag der Kommission Bezug genommen wurde. Diese Ausführungen bezogen sich jedoch meines Erachtens nur auf den Sachverhalt im genannten Urteil. Ich verstehe die Ausführungen jedenfalls nicht so, dass sie dem begründeten Vorschlag der Kommission zum Nachteil etwaiger begründeter Vorschläge der beiden anderen in Art. 7 Abs. 1 EUV vorgesehenen Akteure eine besondere Bedeutung beimessen sollten(39).

113. Tatsächlich gibt es also keine Folgen, die infolge des Bestehens eines begründeten Vorschlags in diesem Bereich automatisch eintreten würden. Dessen ungeachtet lässt sich aber nur schwer begründen, dass etwas, auf dessen Grundlage nach der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs gegenseitiges Vertrauen versagt und die gegenseitige Anerkennung ausgesetzt werden kann, keine Rechtswirkung haben sollte. Kann ein Dokument, das zweifellos ein rechtliches Dokument und nicht eine bloße Tatsache ist und das rechtmäßig dazu verwendet werden kann, nach dem Recht der EU eine Reihe wichtiger, auf dem primären und sekundären Unionsrecht beruhender Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu verdrängen, ohne jede Rechtswirkung sein?

114. Meines Erachtens ist eine solche Auffassung unhaltbar. Pragmatisch betrachtet, kann man die Bedeutung solcher autoritativen Erklärungen auf Unionsebene nicht hoch genug einschätzen. Es ist unwahrscheinlich, dass ein für Strafsachen zuständiges Gericht in einem Mitgliedstaat, in der Regel ein für Auslieferungsanträge zuständiges erstinstanzliches Strafgericht, die Kapazitäten hätte oder sich befugt fühlte, eine umfassende Prüfung der Qualität der Rechtsstaatlichkeit in einem anderen Mitgliedstaat vorzunehmen. Wenn aber solche Stellen ausdrücklich aufgefordert werden, sich auf Erklärungen europäischer Organe zu stützen, dann muss auch der Befugnisträger auf Unionsebene für diese Erklärungen einstehen und deren notwendige Folgen tragen, wozu auch die Gewährung angemessenen Rechtsschutzes gehört(40); es kann nicht sein, dass eine Befugnisausübung, die bereits Rechtswirkung erzeugt hat, sich in einer Art und Weise, die an das Motto von „Akte X“ erinnert, plötzlich in Luft auflöst.

115. Ungarn hat folglich ein eindeutiges Interesse daran, eine Klage gegen die angefochtene Entschließung zu erheben. Diese Entschließung ist nicht nur die Voraussetzung für die Einleitung eines Verfahrens nach Art. 7 Abs. 1 EUV, das den Rat ermächtigt, die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Unionswerte festzustellen. Die Entschließung selbst hat auch eigenständige Rechtswirkung für den betroffenen Mitgliedstaat.

116. Die vom Kläger erhobene Nichtigkeitsklage gegen die angefochtene Entschließung ist daher nach Art. 263 AEUV zulässig.

B.      Zur Begründetheit

117. Der Kläger hat vier die Begründetheit betreffende Gründe gegen die angefochtene Entschließung geltend gemacht. Zuerst werde ich die beiden Klagegründe (zusammen) behandeln, mit denen im Wesentlichen geltend gemacht wird, dass der Beklagte bei der Auszählung der abgegebenen Stimmen für die Feststellung, ob die erforderliche Mehrheit erreicht worden sei, die Stimmenthaltungen hätte berücksichtigen müssen. Sodann werde ich mich kurz den beiden anderen Klagegründen zuwenden.

1.      Zum ersten und zum dritten Klagegrund

a)      Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

118. In seinem ersten Klagegrund führt der Kläger aus, dass die angefochtene Entschließung nicht angenommen worden wäre, wenn die Stimmenthaltungen ordnungsgemäß berücksichtigt worden wären. Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung bestimme, dass nur die abgegebenen Ja- und Nein‑Stimmen berücksichtigt würden, wobei dies mit der 2016 eingeführten Einschränkung, „ausgenommen in den Fällen [gelte], für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist“. In Art. 354 AEUV sei eine solche spezifische Mehrheit vorgesehen: Danach fasse das Parlament Beschlüsse gemäß Art. 7 EUV mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Lege man Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung im Einklang mit Art. 354 AEUV aus, sei man gehalten, die Stimmenthaltungen bei der Auszählung zu berücksichtigen.

119. Der Beklagte ist der Auffassung, dass die Nichtberücksichtigung der Stimmenthaltungen weder gegen Art. 354 AEUV noch gegen Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung verstoße. Parlamente in aller Welt hätten verschiedene Regeln für die Berücksichtigung von Stimmenthaltungen. Gemäß Art. 232 AEUV könne das Parlament über seine eigene Organisation und Arbeitsweise entscheiden. Da Art. 354 AEUV keine Vorgaben dazu enthalte, wie Stimmenthaltungen zu behandeln seien, sei es Sache des Parlaments, darüber zu befinden. Diesbezüglich habe das Parlament stets eine einheitliche Praxis gepflegt, nach der Stimmenthaltungen nicht als abgegebene Stimmen berücksichtigt würden. Die Neufassung der Geschäftsordnung im Jahr 2016 habe nicht zum Ziel gehabt, eine Ausnahme von der allgemeinen Regel zu schaffen, nach der Stimmenthaltungen nicht berücksichtigt würden.

120. Der Streithelfer ist der Ansicht, dass Art. 354 Abs. 4 AEUV dahin auszulegen sei, dass er eine Verpflichtung zur Berücksichtigung von Stimmenthaltungen begründe; dies ergebe sich aus Art. 354 Abs. 1 AEUV. Da Letzterer ausdrücklich vorsehe, dass Stimmenthaltungen im Rat oder im Europäischen Rat dem Erlass von Beschlüssen nicht entgegenstünden, sei daraus, dass ein solcher Hinweis in Art. 354 Abs. 4 AEUV fehle, zu schließen, dass Stimmenthaltungen zu berücksichtigen seien.

121. Mit seinem dritten Klagegrund macht der Kläger geltend, dass die MdEP wegen der Nichtberücksichtigung von Stimmenthaltungen ihre Funktion als Volksvertreter nicht hätten wahrnehmen können, wodurch die Grundprinzipien der Demokratie und der Gleichbehandlung der MdEP verletzt worden seien. Die MdEP sollten ihren politischen Meinungen auf mehrere verschiedene Weisen Ausdruck geben können. Des Weiteren seien die MdEP nicht in geeigneter Form über die Abstimmungsmodalitäten unterrichtet worden, da diese Informationen erst anderthalb Tage vor der Abstimmung über E‑Mail mitgeteilt worden seien.

122. Nach Auffassung des Beklagten ist der dritte Klagegrund für offensichtlich unbegründet zu befinden. Der Umstand, dass die Stimmenthaltungen nicht berücksichtigt worden seien, stelle keine Ungleichbehandlung der MdEP dar. Alle MdEP hätten das gleiche Stimmrecht, und es stehe ihnen frei, ihren politischen Meinungen entsprechend abzustimmen, wobei sie sich der Auswirkungen, die die (Art ihrer) Stimmabgabe auf das endgültige Ergebnis haben werde, vollends bewusst seien. Davon abgesehen sei es den MdEP in der vorliegenden Sache möglich gewesen, ihre Entscheidung auf guter Informationsgrundlage zu treffen, da sie vorab genau gewusst hätten, wie ihre Stimmen gezählt werden würden.

b)      Würdigung

123. Während der Kläger mit dem ersten Klagegrund geltend macht, dass die angefochtene Entschließung gegen die Bestimmungen des Art. 354 AEUV bzw. des Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments verstoße, geht es beim dritten Klagegrund um die Verletzung der Grundprinzipien der Demokratie und der Gleichbehandlung, also um Art. 2 EUV und um Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: „Charta“). Dennoch laufen beide Klagegründe letztlich auf das Gleiche hinaus: die Frage nämlich, ob die Nichtberücksichtigung der Stimmenthaltungen bei der Auszählung der Stimmen mit verschiedenen Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar ist. Deshalb sollten sie am besten zusammen geprüft werden.

124. Art. 231 AEUV lautet: „Soweit die Verträge nicht etwas anderes bestimmen, beschließt das Europäische Parlament mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen.“ Art. 7 EUV sieht jedoch eine Ausnahme von dieser Regel vor. Laut Art. 7 Abs. 5 EUV sind „[d]ie Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke dieses Artikels für das Europäische Parlament … gelten, … in Artikel 354 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegt“.

125. Art. 354 Abs. 4 AEUV sieht vor: „Für die Zwecke des Artikels 7 des Vertrags über die Europäische Union beschließt das Europäische Parlament mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“ Daraus folgt, dass für die Zwecke der Beschlussfassung über begründete Vorschläge, mit denen der Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV um Tätigwerden ersucht wird, nach Art. 354 AEUV zwei Arten von Mehrheiten erforderlich sind: die Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und die Mehrheit seiner Mitglieder(41).

126. Hier geht es nur um die erste dieser beiden Arten von Mehrheiten. Zwischen den Verfahrensbeteiligten besteht Uneinigkeit darüber, wie der Begriff der „abgegebenen Stimmen“ zu verstehen ist. Während Kläger und Streithelfer der Ansicht sind, dass der Begriff der „abgegebenen Stimmen“ Stimmenthaltungen beinhalte, ist der Beklagte der Meinung, dass dieser Begriff lediglich die für oder gegen den Vorschlag abgegebenen Stimmen umfasse.

127. Meiner Auffassung nach hat in diesem Punkt der Beklagte Recht.

128. Erstens geht das [englische] Wort „abstention“ [Enthaltung] auf das lateinische Wort abstinere zurück, das „abhalten“, „fern halten“, „sich enthalten“ bzw. „fernhalten“ oder „sich enthalten“/„auf etwas verzichten“ bedeutet. Ähnlich ist der Begriff „abstentions“ [Enthaltungen] im English Oxford Dictionary definiert: „die förmliche Ablehnung der Stimmabgabe für oder gegen einen Vorschlag oder Antrag“. Jemand, der sich der Stimme enthält, möchte also bei der Auszählung nicht als jemand berücksichtigt werden, der für oder gegen den Antrag ist. Die betreffende Person hat einfach den Wunsch, so behandelt zu werden, als wäre sie gar nicht zugegen (oder sie verhält sich so, als ob dies ihr Wunsch wäre). Sie weigert sich, ihre Stimme abzugeben, und möchte so behandelt werden, als ob sie überhaupt nicht an der Abstimmung teilnähme.

129. „Abgegebene Stimme“ bedeutet seinerseits im gewöhnlichen Verständnis, dass jemand seiner Meinung aktiv Ausdruck gegeben hat, indem er bei der Abstimmung unter den verschiedenen Alternativen ausgewählt hat. Diese Auswahl kann in der Form geschehen, dass für oder gegen jemanden oder etwas – sei es eine Entschließung, ein Gesetz oder einen Bericht – abgestimmt wird.

130. Aus der Gesamtbetrachtung der Bedeutung von „Stimmenthaltungen“ und „abgegebene Stimmen“ ergibt sich, dass diese sich normalerweise gegenseitig ausschließen. Diese grundlegende logische Schlussfolgerung wird auch nicht durch besondere Regeln in Frage gestellt, die für andere Gelegenheiten geschaffen wurden, in denen MdEP unter Umständen die Möglichkeit haben, aktiv ihre Stimmenthaltung zum Ausdruck zu bringen(42). Derartige Regeln betreffen offensichtlich einen ganz anderen Sachverhalt. Analogieschlüsse zur Interpretation allgemeiner Vorschriften über die Abstimmung sind auf der Grundlage der genannten besonderen Regeln schlicht nicht möglich.

131. Zweitens heißt es in der bei Annahme der angefochtenen Entschließung gültigen Fassung des Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung, welcher die allgemeine Abstimmungsregel enthält, dass „[f]ür die Annahme oder Ablehnung eines Textes … nur die abgegebenen Ja- und Nein‑Stimmen bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses berücksichtigt [werden], ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist“. In dieser Bestimmung sind Stimmenthaltungen eindeutig grundsätzlich ausgeschlossen. Damit hat das Parlament seine Befugnis, über seine eigene Organisation und Arbeitsweise zu entscheiden, ausgeübt, so wie es ihm gemäß Art. 232 AEUV gestattet ist.

132. Der Umstand, dass bei der Überarbeitung der Geschäftsordnung 2016 der Art. 178 Abs. 3 um den Hinweis „ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist“ ergänzt wurde, ändert daran nichts. Der beibehaltene Wortlaut der Bestimmung ist offen: Er enthält einfach eine Gesetzgebungsbefugnis und eine Rückverweisung auf andere Bestimmungen.

133. Allerdings führt keine der vom Kläger angeführten Bestimmungen des Primärrechts zu dem Schluss, dass Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung dahin auszulegen wäre, dass dieser im Licht der betreffenden Bestimmungen des Primärrechts das Parlament verpflichtete, für die Zwecke der Berechnung der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, die für die Annahme eines begründeten Vorschlags wie die angefochtene Entschließung, gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV erforderlich ist, Stimmenthaltungen als abgegebene Stimmen zu berücksichtigen.

134. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger auf eine spezifische Frage zu diesem Punkt lediglich auf Art. 354 AEUV hingewiesen. Diese Bestimmung sieht in der Tat eine bestimmte Mehrheit vor (mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit der MdEP), jedoch keine spezifischen, abweichenden Regeln zur Art und Weise der Zählung der „abgegebenen Stimmen“. An diesem Punkt werden die Ausführungen des Klägers etwas zirkulär und verfangen sich in Querverweisen zwischen denselben Bestimmungen, von denen jedoch keine etwas anderes besagt. Zusammenfassend ist zu sagen, dass Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung die Möglichkeit für etwas eröffnet hat, was bislang nicht eingetreten ist.

135. Drittens ist entgegen der vom Kläger vertretenen Ansicht schwer nachvollziehbar, warum die Parlamentsmitglieder, wenn sie ihre eigene freie und souveräne Entscheidung für die Stimmenthaltung treffen, an der Ausübung ihrer Funktion als Volksvertreter gehindert sein sollten. Die Entscheidung, sich der Stimme zu enthalten, war schließlich ihre (politische) Entscheidung. Außerdem ist auch die Stimmenthaltung selbst für den MdEP eine Möglichkeit, seiner politischen Meinung Ausdruck zu verleihen. Selbst wenn sie nicht als abgegebene Stimmen gezählt werden, sind sie in der Regel von unmittelbarer Relevanz für die Berechnung der Anzahl der Stimmen, die zum Erreichen der jeweiligen Mehrheit erforderlich ist(43). Auch was die politische Legitimität angeht, sind sie von Bedeutung. In der Regel ist die Legitimität einer politischen Entscheidung umso geringer, je höher der Anteil der Stimmenthaltungen ist, selbst wenn die Entscheidung letztlich angenommen wird.

136. Viertens und abschließend ist zum dritten Klagegrund des Klägers festzustellen, dass man tatsächlich sagen könnte, dass der Grundsatz der Demokratie rechtlich die Vorhersehbarkeit der für die Abstimmung geltenden Regeln erfordert. MdEP müssen ihre Stimme in Kenntnis der für das Abstimmungsverfahren geltenden Regeln abgeben können. So sollten ihnen z. B. die Abstimmungsmodalitäten sicherlich bereits vor der Abstimmung bekannt sein.

137. Im vorliegenden Fall vermag ich jedoch nicht zu erkennen, inwiefern diese Anforderungen nicht erfüllt sein sollten. Es ist unstreitig, dass die MdEP anderthalb Tage vor der Abstimmung darüber unterrichtet wurden, dass Stimmenthaltungen nicht als abgegebene Stimmen gezählt werden würden. Ohne hier in eine Debatte darüber eintreten zu wollen, was in der Politik eine ausreichend lange Ankündigungsfrist darstellt, dürfte diese Information darüber, wie die eigentliche Abstimmung durchgeführt werden würde, sicherlich rechtzeitig gewesen sein. Ebenso wenig vermag ich nachzuvollziehen, warum die Entscheidung für die Mitteilung dieser Information mit an die Mitglieder gerichteter E‑Mail angesichts deren Art und Funktion im 21. Jahrhundert in irgendeiner Hinsicht nicht vollkommen ordnungsgemäß gewesen sein sollte.

138. Meiner Ansicht nach sind der erste und der dritte Klagegrund daher unbegründet.

2.      Zum zweiten Klagegrund

139. Der Kläger macht geltend, dass der Präsident des Europäischen Parlaments es versäumt habe, den Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments (im Folgenden: AFCO-Ausschuss) um eine Stellungnahme zur Auslegung der Geschäftsordnung zu ersuchen, womit er den Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt habe, da es vor und nach der Abstimmung Zweifel gegeben habe, wie die betreffenden Regeln auszulegen seien. Indem er es versäumt habe, den AFCO-Ausschuss um eine Stellungnahme zur Abstimmungsmethode zu ersuchen, sei der Präsident des Europäischen Parlaments der Verpflichtung, Unklarheiten zu beseitigen, nicht nachgekommen. Dadurch sei die Möglichkeit der MdEP, in der Abstimmung ihre Rechte als Volksvertreter auszuüben, ernstlich beeinträchtigt worden.

140. Nach Auffassung des Beklagten ist der zweite Klagegrund als offensichtlich unbegründet zu befinden. Der Kläger mache keine Verletzung der Rechtssicherheit geltend. Es sei unklar, ob es beim zweiten Klagegrund um die Ungültigkeit des Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung im Hinblick auf die Rechtssicherheit gehe oder um die Entscheidung des Präsidenten, den Juristischen Dienst, nicht jedoch den AFCO-Ausschuss zu konsultieren, oder um die Verletzung wesentlicher Formvorschriften bei der Annahme der Entschließung. Jedenfalls sei der Präsident nicht gehalten, den AFCO-Ausschuss zur Auslegung von Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung zu konsultieren.

141. Der zweite Klagegrund ist offensichtlich unbegründet.

142. Die Geschäftsordnung des Parlaments enthält keinerlei Verpflichtung, in Fällen wie dem hier vorliegenden den AFCO-Ausschuss bezüglich der Auslegung der Abstimmungsregeln zu konsultieren. So bestimmt Art. 226 Abs. 1 der Geschäftsordnung für den Fall, dass „Zweifel bezüglich der Anwendung oder Auslegung dieser Geschäftsordnung [auftreten], … [dass] der Präsident die Angelegenheit zur Prüfung an den zuständigen Ausschuss überweisen [kann]“(44). Folglich konnte die Abstimmung über die angefochtene Entschließung stattfinden, ohne dass der AFCO-Ausschuss in die Auslegung einbezogen wurde.

143. Somit gibt es schlichtweg keinerlei Verpflichtung seitens des Präsidenten des Europäischen Parlaments, in der vom Kläger genannten Weise zu verfahren. Sich in diesem Zusammenhang auf den Grundsatz der Rechtssicherheit zu beziehen, vermag an dieser Schlussfolgerung nichts zu ändern. Hinzu kommt, was die Gewährleistung der Rechtssicherheit anbelangt, dass der Präsident nicht nur den Rat des Juristischen Dienstes des Parlaments eingeholt hat(45), obwohl er dazu nicht verpflichtet war, sondern dass alle MdEP vor der Abstimmung darüber unterrichtet wurden, wie die Stimmen gezählt werden würden(46).

3.      Vierter Rechtsmittelgrund

144. Nach Ansicht des Klägers verletzt die angefochtene Entschließung die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit, des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit und der berechtigten Erwartungen. Bei der Ausarbeitung seines Entschließungsantrags hätte sich der Beklagte nicht auf gegen den Kläger gerichtete Vertragsverletzungsverfahren stützen dürfen, die noch anhängig oder bereits von der Kommission abgeschlossen worden seien. Nachdem die Kommission als Hüterin der Verträge es nicht für gerechtfertigt gehalten habe, ein Verfahren nach Art. 7 EUV einzuleiten, dürfe sich ein anderes Unionsorgan zur Einleitung des Verfahrens nach Art. 7 EUV nicht auf bereits abgeschlossene Vertragsverletzungsverfahren stützen.

145. Der Beklagte dagegen ist der Ansicht, dass der Klagegrund für offenkundig unbegründet zu befinden sei. Es gebe keine Rechtsgrundlage, die den Schluss zulasse, dass anhängige oder abgeschlossene Verletzungsverfahren der Einleitung des Verfahrens nach Art. 7 EUV entgegenstünden. Nach Art. 7 Abs. 1 EUV stehe es im Ermessen des Parlaments, zu entscheiden, auf welche Tatsachen sein Standpunkt gestützt sein solle.

146. Der vierte Klagegrund ist offensichtlich unbegründet.

147. Art. 7 Abs. 1 EUV enthält keine Einschränkung der Gründe, derentwegen ein begründeter Vorschlag angenommen werden kann. Es kann auch nicht ernstlich vorgebracht werden, dass es irgendeine andere Bestimmung des Unionsrechts (einschließlich der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit) gebe, die in irgendeiner Weise hinsichtlich der Quellen, auf die ein begründeter Vorschlag nach Art. 7 Abs. 1 EUV gestützt werden darf, Grenzen setzen würde. Da der Vorschlag begründet sein muss, muss sich das Parlament auf objektive Anhaltspunkte stützen, die für das Bestehen einer solchen Gefahr sprechen. Frühere Feststellungen einer oder mehrerer Verletzungen können zweifellos solche Anhaltspunkte darstellen und damit insoweit, als es sich bei den Verletzungen um Verstöße gegen Unionswerte handelt, dazu beitragen, die Vorwürfe, die gemäß Art. 7 EUV gegen den betroffenen Mitgliedstaat erhoben werden, zu untermauern. Folglich hat die angefochtene Entschließung, auch wenn sie auf abgeschlossene oder anhängige Verletzungsverfahren gestützt war, keinen der vom Kläger mit seinem vierten Klagegrund geltend gemachten Grundsätze verletzt.

V.      Kosten

148. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Beklagten die Kosten aufzuerlegen. Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt der Streithelfer seine eigenen Kosten.

VI.    Ergebnis

149. Ich schlage dem Gerichtshof vor,

–        die Klage abzuweisen,

–        Ungarn die Kosten aufzuerlegen und

–        Polen seine eigenen Kosten aufzuerlegen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Entschließung P8_TA-PROV (2018) 0340 (2017/2131[INL]).


3      In ihrer für die Legislaturperiode 2014 bis 2019 geltenden, durch den Beschluss des Europäischen Parlaments vom 13. Dezember 2016 über die allgemeine Überarbeitung der Geschäftsordnung des Parlaments geänderten Fassung.


4      P8_TA(2017)0216.


5      Bericht A8-0250/2018 über einen Vorschlag, mit dem der Rat aufgefordert wird, im Einklang mit Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der Europäischen Union durch Ungarn besteht (2017/2131[INL]).


6      Beschluss vom 14. Mai 2019, Ungarn/Parlament (C‑650/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:438).


7      Vgl. z. B. Urteile vom 26. Juni 2012, Polen/Kommission (C‑336/09 P, EU:C:2012:386, Rn. 36 und die angeführte Rechtsprechung), vom 6. Oktober 2015, Schrems (C‑362/14, EU:C:2015:650, Rn. 60), und vom 29. Mai 2018, Liga van Moskeeën en Islamitische Organisaties Provincie Antwerpen u. a. (C‑426/16, EU:C:2018:335, Rn. 38).


8      Vgl. z. B. Urteile vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat (C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 91 und 92), vom 13. März 2018, Industrias Químicas del Vallés/Kommission (C‑244/16 P, EU:C:2018:177, Rn. 102), und vom 5. November 2019, EZB u. a./Trasta Komercbanka u. a. (C‑663/17 P, C‑665/17 P und C‑669/17 P, EU:C:2019:923, Rn. 54).


9      Vgl. in diesem Sinne z. B. Urteile vom 5. Dezember 2017, Deutschland/Rat (C‑600/14, EU:C:2017:935, Rn. 108), und vom 9. Juli 2020, Tschechische Republik/Kommission (C‑575/18 P, EU:C:2020:530, Rn. 52).


10      Vgl. z. B. Beschluss vom 27. November 2001, Portugal/Kommission (C‑208/99, EU:C:2001:638, Rn. 23).


11      Vgl. z. B. zu Art. 275 Abs. 1 AEUV: Urteile vom 24. Juni 2014, Parlament/Rat (C‑658/11, EU:C:2014:2025, Rn. 70), vom 19. Juli 2016, H/Rat u. a. (C‑455/14 P, EU:C:2016:569, Rn. 40), und vom 25. Juni 2020, SatCen/KF (C‑14/19 P, EU:C:2020:492, Rn. 66). Ein detaillierter Überblick über den Umfang der Zuständigkeit des Gerichtshofs auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist meinen Schlussanträgen in der Sache SatCen/KF (C‑14/19 P, EU:C:2020:220, Nrn. 51 bis 89) zu entnehmen.


12      So hat sich der Arbeitskreis „Gerichtshof“ nur mit dem Ausschluss der gerichtlichen Kontrolle über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik befasst (CONV 689/1/03 REV 1).


13      Nrn. 45 bis 48 dieser Schlussanträge.


14      Damals Art. L EUV.


15      Nicht nur in Bezug auf das Verfahren nach Art. 7 EUV, sondern vor allem in Bezug auf die nicht zu den Gemeinschaften zählende zweite und dritte Säule (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres).


16      Siehe oben in Nr. 37 dieser Schlussanträge.


17      Art. 269 AEUV ist in den meisten Sprachfassungen, etwa im Englischen, Deutschen, Italienischen, Spanischen oder Tschechischen, als Ermächtigungsklausel formuliert. Auch wenn die französische Fassung negativ formuliert ist („la Cour de justice n’est compétente … que …“), bedeutet das keinesfalls, dass der Gerichtshof keine Zuständigkeit für andere Handlungen als die vom Europäischen Rat oder vom Rat erlassenen Rechtsakte hätte. Ihr Wortlaut stellt lediglich klar, dass die gerichtliche Überprüfung der letztgenannten Rechtsakte in der spezifischen und eingeschränkten Weise vorzunehmen ist, die in Art. 269 AEUV vorgegeben ist.


18      Dies wird für genau diesen Kontext nachstehend in den Nrn. 82 bis 102 dieser Schlussanträge erörtert.


19      Zu der bereichsabhängigen Intensität der vom Gerichtshof ausgeübten gerichtlichen Kontrolle vgl. Urteil vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission (C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 87 bis 97). Vgl. z. B. auch zu einer anderen Art von politischer Handlung des Europäischen Parlaments das Urteil vom 9. Dezember 2014, Schönberger/Parlament (C‑261/13 P, EU:C:2014:2423, Rn. 24), in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass das Parlament hinsichtlich der Behandlung der betreffenden Petition über ein weites politisches Ermessen verfügt. Entsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass eine diesbezügliche Entscheidung keiner gerichtlichen Nachprüfung unterliegt.


20      Vgl. z. B. Urteile vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament (294/83, EU:C:1986:166, Rn. 23), und vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 281). Hervorhebung nur hier.


21      Vgl. z. B. Urteile vom 19. Juli 2016, H/Rat und Kommission (C‑455/14 P, EU:C:2016:569, Rn. 41), sowie vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 72 bis 73), in welchem die Zuständigkeit des Gerichtshofs trotz Art. 275 Abs. 1 AEUV bestätigt wurde.


22      Siehe Urteil vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament (294/83, EU:C:1986:166).


23      Vgl. z. B. Urteile vom 6. September 2017, Slowakei und Ungarn/Rat (C‑643/15 und C‑647/15, EU:C:2017:631, Rn. 123 bis 124 und die angeführte Rechtsprechung), sowie vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission (C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 95).


24      Vgl. z. B. Urteile vom 22. Juni 2000, Niederlande/Kommission (C‑147/96, EU:C:2000:335, Rn. 26), und vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission (C‑521/06 P, EU:C:2008:422, Rn. 42).


25      Vgl. z. B. in diesem Sinne, was das Haushaltsverfahren betrifft, Urteil vom 27. September 1988, Parlament/Rat (302/87, EU:C:1988:461, Rn. 23 und 24).


26      Vgl. hinsichtlich des dem Rat von der Kommission vorgelegten Vorschlags für eine Verordnung den Beschluss vom 15. Mai 1997, Berthu/Kommission (T‑175/96, EU:T:1997:72, Rn. 21).


27      Zum Beispiel enthielt der begründete Vorschlag der Kommission zur Rechtsstaatlichkeit in Polen eine sehr lange Begründung, auf die ein sehr kurzer Vorschlagsentwurf für einen Beschluss folgte (COM[2017] 835 final).


28      Erst recht unterscheidet es sich von Verwaltungsverfahren. Deshalb ist z. B. die Rechtsprechung zu staatlichen Beihilfen (z. B. Urteil vom 9. Oktober 2001, Italien/Kommission, C‑400/99, EU:C:2001:528, Rn. 62 und 63) meiner Meinung nach diesbezüglich von eingeschränkter Relevanz.


29      Vgl. z. B. Urteil vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission (C‑463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 53 und 54).


30      Vgl. den Namen, mit dem das Verfahren in Art. 354 Abs. 1 AEUV bezeichnet wird: „[Artikel] 7 des Vertrags über die Europäische Union über die Aussetzung bestimmter mit der Zugehörigkeit zur Union verbundener Rechte“. Dieser Wortlaut spricht eindeutig dafür, dass Art. 7 EUV in letzter Konsequenz auf Sanktionsmaßnahmen hinausläuft.


31      Vgl. z. B. Urteile vom 13. November 2014, Nencini/Parlament (C‑447/13 P, EU:C:2014:2372, Rn. 48), und vom 14. Juni 2016, Marchiani/Parlament (C‑566/14 P, EU:C:2016:437, Rn. 96).


32      Vgl. entsprechend z. B. Urteile vom 12. Februar 2015, Parlament/Rat (C‑48/14, EU:C:2015:91, Rn. 57 und 58), und vom 21. Juni 2018, Polen/Parlament und Rat (C‑5/16, EU:C:2018:483, Rn. 90). Vgl. auch die Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Kommission/Niederlande (C‑523/04, EU:C:2006:717, Nrn. 52 bis 126) zu dem von den Niederlanden erhobenen Vorwurf, dass sich die Kommission erst mit Verzögerung zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen den Mitgliedstaat entschlossen und dadurch die Erfordernisse der loyalen Zusammenarbeit verletzt habe.


33      Vgl. z. B. Urteile vom 19. Juli 2016, H/Rat und Kommission (C‑455/14 P, EU:C:2016:569, Rn. 41), und vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 72 bis 73).


34      Vgl. z. B. Gutachten 2/13 (Beitritt der Europäischen Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Nr. 161), und Urteil vom 10. Mai 2017, de Lobkowicz (C‑690/15, EU:C:2017:355, Rn. 40).


35      Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586).


36      Ebd. (Rn. 79). Hervorhebung nur hier.


37      Wobei jedenfalls die vom Gerichtshof angestellten Erwägungen inzwischen nicht mehr rein hypothetisch sind. Vgl. z. B. Beschluss vom 17. Februar 2020 des Oberlandesgerichts Karlsruhe (301 AR 156/19) und das Vorabentscheidungsersuchen vom 3. September 2020 der Rechtbank Amsterdam (Gericht Amsterdam, Niederlande), derzeit beim Gericht anhängig unter der Rechtssachennummer C‑412/20 PPU.


38      „Die Informationen in einem begründeten Vorschlag, der jüngst von der Kommission auf der Grundlage des Art. 7 Abs. 1 EUV an den Rat gerichtet wurde, stellen dabei besonders relevante Angaben dar“ (Rn. 61 des genannten Urteils). Hervorhebung nur hier.


39      Ähnlich wie hier die obigen Ausführungen in Nr. 91 dieser Schlussanträge. Nach der Logik des Art. 7 Abs. 1 EUV ist ein begründeter Vorschlag ein begründeter Vorschlag, egal, von welchem der drei Akteure er angenommen wurde.


40      Ähnlich, zur notwendigen Korrelation zwischen Handlungen der Union und dem Erfordernis des Zugangs zu den Unionsgerichten, um diese anzufechten, meine Schlussanträge in der Sache Région de Bruxelles-Capitale/Kommission (C‑352/19 P, EU:C:2020:588, Nrn. 80 und 126 bis 136).


41      Vgl. auch Art. 83 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, vorstehend angeführt in Nr. 9 dieser Schlussanträge.


42      Beispielsweise Art. 180 Abs. 3, der für den Fall, dass die Verwendung der elektronischen Abstimmungsanlage aus technischen Gründen nicht möglich ist, die namentliche Abstimmung in alphabetischer Reihenfolge regelt, bei der logischerweise drei verschiedene Möglichkeiten bestehen („Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“); oder möglicherweise besondere Regeln, die die Vergütung der MdEP betreffen, die für ihre tatsächliche Anwesenheit im Parlament Rechenschaft ablegen müssen, wobei die Voraussetzungen dieser Regeln auch dann erfüllt sind, wenn ihre Stimmen in den einzelnen Abstimmungen nicht als Ja- oder Nein-Stimmen vermerkt werden.


43      Für gewöhnlich führen Stimmenthaltungen dazu, dass die Anzahl der Ja-Stimmen, die bei Abstimmungen mit einfacher Mehrheit der anwesenden Mitglieder erforderlich ist, geringer ist. Dies ist auch der Grund, warum für bestimmte Arten von Abstimmung besondere Arten von Mehrheiten erforderlich sind, für die nicht nur die Mehrheit einer bestimmten Anzahl anwesender und an der Abstimmung teilnehmender Mitglieder erforderlich ist, sondern auch das Erreichen einer bestimmten Anzahl aller Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung.


44      Hervorhebung nur hier. Allgemeiner gesagt, wird durch Art. 83 Abs. 1 der Geschäftsordnung, in dem das vom Parlament zu befolgende Verfahren für die Annahme eines begründeten Vorschlags nach Art. 7 Abs. 1 EUV geregelt ist, lediglich vorgeschrieben, dass der zuständige Ausschuss (d. h. der LIBE‑Ausschuss, nicht der AFCO-Ausschuss) vor der Abstimmung einen Sonderbericht erstellt haben muss. Die förmliche Mitwirkung des zuständigen Ausschusses ist erst später vorgesehen, in der Phase, in der das Parlament seine Zustimmung zu einer Feststellung des Rates erteilt, sowie im Zusammenhang mit Folgemaßnahmen zur erteilten Zustimmung (vgl. Art. 83 Abs. 2, 4 und 5 der Geschäftsordnung).


45      Siehe oben Nr. 14 dieser Schlussanträge.


46      Siehe dazu oben Nrn. 16 und 137 dieser Schlussanträge.