Language of document : ECLI:EU:C:2010:505

Rechtssache C-46/08

Carmen Media Group Ltd

gegen

Land Schleswig-Holstein

und

Innenminister des Landes Schleswig-Holstein

(Vorabentscheidungsersuchen des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts)

„Art. 49 EG – Freier Dienstleistungsverkehr – Inhaber einer in Gibraltar erteilten Lizenz, die die Annahme von Sportwetten ausschließlich im Ausland gestattet – Auf der Ebene eines Bundeslands bestehendes staatliches Monopol auf die Veranstaltung von Sportwetten – Ziel der Vermeidung von Anreizen zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen und der Bekämpfung der Spielsucht – Verhältnismäßigkeit – Restriktive Maßnahme, die tatsächlich darauf abzielen muss, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern und die Glücksspieltätigkeiten in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen – Andere Glücksspiele, die von privaten Veranstaltern angeboten werden können – Erlaubnisverfahren – Ermessen der zuständigen Behörde – Verbot des Anbietens von Glücksspielen über das Internet – Übergangsmaßnahmen, die bestimmten Veranstaltern vorübergehend ein solches Angebot gestatten“

Leitsätze des Urteils

1.        Freier Dienstleistungsverkehr – Bestimmungen des Vertrags – Geltungsbereich – Glücksspiele

(Art. 49 EG)

2.        Freier Dienstleistungsverkehr – Beschränkungen – Glücksspiele

(Art. 49 EG)

3.        Freier Dienstleistungsverkehr – Beschränkungen – Glücksspiele

(Art. 49 EG)

4.        Freier Dienstleistungsverkehr – Beschränkungen – Glücksspiele

(Art. 49 EG)

1.        Art. 49 EG ist dahin gehend auszulegen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der über das Internet Sportwetten in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem er ansässig ist, anbieten möchte, nicht allein deshalb aus dem Anwendungsbereich dieser Bestimmung herausfällt, weil er nicht über eine Erlaubnis verfügt, solche Wetten Personen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seiner Niederlassung anzubieten, sondern nur über eine Erlaubnis, diese Dienstleistungen Personen im Ausland anzubieten.

Das einem Wirtschaftsteilnehmer, der in einem Mitgliedstaat ansässig ist, durch Art. 49 EG gewährleistete Recht, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen, ist nämlich nicht davon abhängig, dass er entsprechende Dienstleistungen auch in dem Mitgliedstaat erbringt, in dem er ansässig ist. Diese Bestimmung verlangt insoweit nur, dass der Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist als der Leistungsempfänger.

(vgl. Randnrn. 43, 52, Tenor 1)

2.        Art. 49 EG ist dahin gehend auszulegen, dass, wenn ein regionales staatliches Monopol auf Sportwetten und Lotterien errichtet wurde, mit dem das Ziel verfolgt wird, Anreize zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen, und ein nationales Gericht sowohl feststellt,

–        dass andere Arten von Glücksspielen von privaten Veranstaltern, die über eine Erlaubnis verfügen, betrieben werden dürfen, als auch,

–        dass in Bezug auf andere Arten von Glücksspielen, die nicht unter das Monopol fallen und zudem ein höheres Suchtpotenzial als die dem Monopol unterliegenden Spiele aufweisen, die zuständigen Behörden eine zur Entwicklung und Stimulation der Spieltätigkeiten geeignete Politik der Angebotserweiterung betreiben, um insbesondere die aus diesen Tätigkeiten fließenden Einnahmen zu maximieren,

das nationale Gericht berechtigten Anlass zu der Schlussfolgerung haben kann, dass ein solches Monopol nicht geeignet ist, die Erreichung des mit seiner Errichtung verfolgten Ziels dadurch zu gewährleisten, dass es dazu beiträgt, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen.

Dass die Glücksspiele, die Gegenstand des genannten Monopols sind, in die Zuständigkeit der regionalen Behörden fallen, während für die anderen Arten von Glücksspielen die Bundesbehörden zuständig sind, ist dabei unerheblich. Diese verschiedenen Behörden haben nämlich gemeinsam die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats zu erfüllen, nicht gegen Art. 49 EG zu verstoßen.

(vgl. Randnrn. 70-71, Tenor 2)

3.        Art. 49 EG ist dahin gehend auszulegen, dass eine in einem Mitgliedstaat eingeführte Regelung, nach der das Angebot bestimmter Arten von Glücksspielen einer vorherigen behördlichen Erlaubnis bedarf, als eine in den durch Art. 49 EG gewährleisteten freien Dienstleistungsverkehr eingreifende Regelung nur dann den Anforderungen dieser Bestimmung genügen kann, wenn sie auf objektiven, nicht diskriminierenden und im Voraus bekannten Kriterien beruht, die der Ermessensausübung durch die nationalen Behörden Grenzen setzen, damit diese nicht willkürlich erfolgen kann. Zudem muss jedem, der von einer auf einem solchen Eingriff beruhenden einschränkenden Maßnahme betroffen ist, ein effektiver gerichtlicher Rechtsbehelf offenstehen.

Es ist nämlich Sache jedes Mitgliedstaats, zu beurteilen, ob es im Zusammenhang mit den von ihm verfolgten legitimen Zielen erforderlich ist, Tätigkeiten im Glücksspielbereich vollständig oder teilweise zu verbieten, oder ob es genügt, sie zu beschränken und zu diesem Zweck mehr oder weniger strenge Kontrollformen vorzusehen. Demzufolge steht es einem Mitgliedstaat, der das Ziel verfolgt, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern, u. a. grundsätzlich frei, eine Erlaubnisregelung zu schaffen und dabei Beschränkungen in Bezug auf die Zahl der zugelassenen Veranstalter vorzusehen. Das Ermessen, über das die Mitgliedstaaten demnach zur Beschränkung des Angebots an Glücksspielen verfügen, entbindet sie aber nicht davon, sich zu vergewissern, dass die von ihnen geschaffenen Beschränkungen den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen. Eine in einem Mitgliedstaat geschaffene Erlaubnisregelung, mit der legitime Ziele verfolgt werden, kann insbesondere keine Ermessensausübung der nationalen Behörden rechtfertigen, die geeignet ist, den Bestimmungen des Unionsrechts und vor allem denen, die eine Grundfreiheit wie die in Art. 49 EG gewährleistete betreffen, ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen.

(vgl. Randnrn. 83-86, 90, Tenor 3)

4.        Art. 49 EG ist dahin gehend auszulegen, dass eine nationale Regelung, die das Veranstalten und das Vermitteln von Glücksspielen im Internet untersagt, um übermäßige Ausgaben für das Spielen zu vermeiden, die Spielsucht zu bekämpfen und die Jugendlichen zu schützen, grundsätzlich als zur Verfolgung solcher legitimer Ziele geeignet angesehen werden kann, auch wenn das Anbieten solcher Spiele über herkömmlichere Kanäle zulässig bleibt. Die Besonderheiten des Angebots von Glücksspielen im Internet können sich nämlich als Quelle von, verglichen mit den herkömmlichen Glücksspielmärkten, anders gearteten und größeren Gefahren für den Schutz der Verbraucher und insbesondere von Jugendlichen und Personen erweisen, die eine besonders ausgeprägte Spielneigung besitzen oder eine solche Neigung entwickeln könnten. Neben dem fehlenden unmittelbaren Kontakt zwischen Verbraucher und Anbieter stellen auch der besonders leichte und ständige Zugang zu den im Internet angebotenen Spielen sowie die potenziell große Menge und Häufigkeit eines solchen Angebots mit internationalem Charakter in einem Umfeld, das überdies durch die Isolation des Spielers, durch Anonymität und durch fehlende soziale Kontrolle gekennzeichnet ist, Faktoren dar, die die Entwicklung von Spielsucht und übermäßige Ausgaben für das Spielen begünstigen und aufgrund dessen die damit verbundenen negativen sozialen und moralischen Folgen vergrößern können.

Dass das Verbot mit einer eng gefassten und auf die Dauer eines Jahres befristeten Übergangsmaßnahme verbunden ist, die lediglich bezweckt, bestimmten Wirtschaftsteilnehmern, die bislang rechtmäßig Lotterien über das Internet angeboten haben, eine Umstellung ihrer Tätigkeit zu ermöglichen, nachdem ein Verbot ihrer ursprünglichen Tätigkeit in Kraft getreten ist, lässt die Eignung des Verbots unberührt. Unter diesen Umständen vermag die entsprechende Maßnahme nämlich die Kohärenz des Verbots des Anbietens von Glücksspielen im Internet und seine Eignung zur Erreichung der mit ihm verfolgten legitimen Ziele offensichtlich nicht zu beeinträchtigen.

(vgl. Randnrn. 103, 108, 110-111, Tenor 4)