Language of document : ECLI:EU:C:2020:699

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 10. September 2020(1)

Verbundene Rechtssachen C473/19 und C474/19

Föreningen Skydda Skogen u. a.

gegen

Länsstyrelsen i Västra Götalands län

(Vorabentscheidungsersuchen des Vänersborgs tingsrätt, mark- och miljödomstolen [Kammer für Land- und Umweltangelegenheiten des Gerichts erster Instanz von Vänersborg, Schweden])

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 2009/147/EG – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Verbote zur Erhaltung der geschützten Arten – Abholzung – Erhaltungszustand der Arten – Absicht“






Inhaltsverzeichnis


I. Einleitung

II. Rechtlicher Rahmen

A. Übereinkommen von Bern

B. Unionsrecht

1. Habitatrichtlinie

2. Vogelschutzrichtlinie

3. Umwelthaftungsrichtlinie

C. Schwedisches Recht

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

IV. Rechtliche Würdigung

A. Durch Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie geschützte Arten (Frage 1)

B. Fortpflanzungsstätten (Fragen 4 und 5)

C. Die Verbote absichtlicher Beeinträchtigungen (Frage 2)

1. Zu den Verboten des Tötens und Zerstörens

a) Zur Habitatrichtlinie

b) Zur Vogelschutzrichtlinie

– aa) Erhaltungszustand der Art

– bb) „Absicht“ im Sinne der Vogelschutzrichtlinie

c) Zwischenergebnis

2. Zu den Störungsverboten

a) Zur Vogelschutzrichtlinie

b) Zur Habitatrichtlinie

D. Die Ebene der Beurteilung des Erhaltungszustands (Frage 3)

V. Ergebnis


I.      Einleitung

1.        Die Habitatrichtlinie(2) und die Vogelschutzrichtlinie(3) enthalten Bestimmungen über Schutzgebiete, verlangen aber zudem den Schutz bestimmter Tier- und Pflanzenarten und das auch außerhalb von Schutzgebieten.(4) Die Schutzregelungen erlauben jeweils unter streng auszulegenden Bedingungen Ausnahmen.

2.        Dieser Fall konfrontiert den Gerichtshof mit Fragestellungen zum Artenschutz, die ihm in ähnlicher Form auch schon im Zusammenhang mit dem Gebietsschutz begegnet sind. Beim Gebietsschutz war – weitgehend erfolglos – versucht worden, Maßnahmen zum Ausgleich von Gebietsbeeinträchtigungen heranzuziehen, um die Anwendung der Schutzbestimmung auszuschließen. Solche Ausgleichsmaßnahmen gehören jedoch zu den Voraussetzungen einer Ausnahme, welche außerdem eine Abwägung und eine Alternativenprüfung voraussetzt.(5)

3.        Im vorliegenden Fall geht es nunmehr darum, ob die Anwendung der artenschutzrechtlichen Verbote davon abhängen kann, dass die fragliche Maßnahme den Erhaltungszustand der betreffenden Art beeinträchtigt. Zumindest in der Habitatrichtlinie ist ein guter Erhaltungszustand aber ausdrücklich Voraussetzung einer Ausnahme. Außerdem setzen Ausnahmen dort bestimmte Gründe und eine Alternativenprüfung voraus. Beim Vogelschutz ist die Lage ähnlich.

4.        Gleichzeitig ist allerdings anzuerkennen, dass der Artenschutz in seiner Auslegung durch den Gerichtshof sehr weitreichende Einschränkungen menschlicher Aktivitäten erfordern kann. Es besteht somit ein berechtigtes Interesse, unverhältnismäßige Einschränkungen zu vermeiden.

5.        Der vorliegende Fall bietet daher eine willkommene Gelegenheit, dieses Spannungsverhältnis näher zu untersuchen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Übereinkommen von Bern

6.        Art. 6 des Übereinkommens von Bern(6) enthält grundlegende artenschutzrechtliche Verbote:

„Jede Vertragspartei ergreift die geeigneten und erforderlichen gesetzgeberischen und Verwaltungsmaßnahmen, um den besonderen Schutz der in Anhang II aufgeführten wildlebenden Tierarten sicherzustellen. In Bezug auf diese Arten ist insbesondere zu verbieten:

a)      jede Form des absichtlichen Fangens, des Haltens und des absichtlichen Tötens;

b)      das mutwillige Beschädigen oder Zerstören von Brut- oder Raststätten;

c)      das mutwillige Beunruhigen wildlebender Tiere, vor allem während der Zeit des Brütens, der Aufzucht der Jungen und des Überwinterns, soweit dieses Beunruhigen in Bezug auf die Ziele dieses Übereinkommens von Bedeutung ist;

d)      das mutwillige Zerstören oder absichtliche Entnehmen von Eiern aus der Natur oder der Besitz dieser Eier, auch wenn sie leer sind;

e)      der Besitz von oder der innerstaatliche Handel mit lebenden oder toten Tieren einschließlich ausgestopfter Tiere und ohne weiteres erkennbarer Teile dieser Tiere oder ohne weiteres erkennbarer Erzeugnisse aus diesen Tieren, soweit dies zur Wirksamkeit dieses Artikels beiträgt.“

7.        Ausnahmen sind in Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens geregelt:

„Unter der Voraussetzung, dass es keine andere befriedigende Lösung gibt und die Ausnahme dem Bestand der betreffenden Population nicht schadet, kann jede Vertragspartei Ausnahmen von den Art. 4, 5, 6, 7 und vom Verbot der Verwendung der in Art. 8 bezeichneten Mittel zulassen:

–        zum Schutz der Pflanzen- und Tierwelt;

–        zur Verhütung ernster Schäden an Kulturen, Viehbeständen, Wäldern, Fischgründen, Gewässern und anderem Eigentum;

–        im Interesse der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit, der Sicherheit der Luftfahrt oder anderer vorrangiger öffentlicher Belange;

–        für Zwecke der Forschung und Erziehung, der Bestandsauffrischung, der Wiederansiedlung und der Aufzucht;

–        um unter streng überwachten Bedingungen selektiv und in begrenztem Umfang das Fangen, das Halten oder eine andere vernünftige Nutzung bestimmter wildlebender Tiere und Pflanzen in geringen Mengen zu gestatten.“

B.      Unionsrecht

1.      Habitatrichtlinie

8.        Nach Art. 1 Buchst. i der Habitatrichtlinie beschreibt der Erhaltungszustand einer Art „die Gesamtheit der Einflüsse, die sich langfristig auf die Verbreitung und die Größe der Populationen der betreffenden Arten in dem in Art. 2 bezeichneten Gebiet auswirken können.

Der Erhaltungszustand wird als ‚günstig‘ betrachtet, wenn

–        aufgrund der Daten über die Populationsdynamik der Art anzunehmen ist, dass diese Art ein lebensfähiges Element des natürlichen Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird, und

–        das natürliche Verbreitungsgebiet dieser Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird und

–        ein genügend großer Lebensraum vorhanden ist und wahrscheinlich weiterhin vorhanden sein wird, um langfristig ein Überleben der Populationen dieser Art zu sichern.“

9.        Art. 1 Buchst. m der Habitatrichtlinie definiert den Begriff „Exemplar“ als „jedes Tier oder jede Pflanze – lebend oder tot – der in Anhang IV und Anhang V aufgeführten Arten, jedes Teil oder jedes aus dem Tier oder der Pflanze gewonnene Produkt sowie jede andere Ware, die aufgrund eines Begleitdokuments, der Verpackung, eines Zeichens, eines Etiketts oder eines anderen Sachverhalts als Teil oder Derivat von Tieren oder Pflanzen der erwähnten Arten identifiziert werden kann“.

10.      Art. 2 der Habitatrichtlinie enthält ihre Ziele:

„(1)      Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

11.      Art. 12 der Habitatrichtlinie enthält die grundlegenden Verpflichtungen des Artenschutzes:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:

a)      alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;

b)      jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs‑, Aufzucht‑, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

c)      jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur;

d)      jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.

(2)      Für diese Arten verbieten die Mitgliedstaaten Besitz, Transport, Handel oder Austausch und Angebot zum Verkauf oder Austausch von aus der Natur entnommenen Exemplaren; vor Beginn der Anwendbarkeit dieser Richtlinie rechtmäßig entnommene Exemplare sind hiervon ausgenommen.

…“

12.      Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie enthält Ausnahmen zu Art. 12:

„Sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und unter der Bedingung, dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen, können die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Art. 12, 13 und 14 sowie des Art. 15 Buchst. a) und b) im folgenden Sinne abweichen:

a)      zum Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume;

b)      zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum;

c)      im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art oder positiver Folgen für die Umwelt;

d)      zu Zwecken der Forschung und des Unterrichts, der Bestandsauffüllung und Wiederansiedlung und der für diese Zwecke erforderlichen Aufzucht, einschließlich der künstlichen Vermehrung von Pflanzen;

e)      um unter strenger Kontrolle, selektiv und in beschränktem Ausmaß die Entnahme oder Haltung einer begrenzten und von den zuständigen einzelstaatlichen Behörden spezifizierten Anzahl von Exemplaren bestimmter Tier- und Pflanzenarten des Anhangs IV zu erlauben.“

13.      Anhang IV Buchst. a der Habitatrichtlinie nennt u. a. den Moorfrosch (Rana arvalis) als streng zu schützende Tierart von gemeinschaftlichem Interesse.

2.      Vogelschutzrichtlinie

14.      Der zehnte Erwägungsgrund der Vogelschutzrichtlinie verlangt u. a., bestimmte Vogelarten auf einem „ausreichenden Niveau“ zu erhalten:

„Einige Arten können aufgrund ihrer großen Bestände, ihrer geografischen Verbreitung und ihrer Vermehrungsfähigkeit in der gesamten Gemeinschaft Gegenstand einer jagdlichen Nutzung sein; dies stellt eine zulässige Nutzung dar, sofern bestimmte Grenzen gesetzt und eingehalten werden und diese Nutzung mit der Erhaltung der Bestände dieser Arten auf ausreichendem Niveau vereinbar ist.“

15.      Art. 1 der Vogelschutzrichtlinie regelt ihren Anwendungsbereich:

„Diese Richtlinie betrifft die Erhaltung sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Sie hat den Schutz, die Bewirtschaftung und die Regulierung dieser Arten zum Ziel und regelt die Nutzung dieser Arten.“

16.      Art. 2 der Vogelschutzrichtlinie enthält die grundlegende Verpflichtung der Mitgliedstaaten in Bezug auf den Erhalt der Vogelarten:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Bestände aller unter Art. 1 fallenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.“

17.      Für bestimmte, in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten Arten sowie für Zugvögel sieht Art. 4 die Einrichtung besonderer Schutzgebiete vor. Von den Arten des Anhangs I ist nach Angaben des vorlegenden Gerichts das Auerhuhn (Tetrao urogallus) betroffen. Die schwedischen Populationen des Kleinspechts (Dryobates minor) und des Wintergoldhähnchens (Regulus regulus) sind möglicherweise als Zugvögel anzusehen.

18.      Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie enthält gebietsunabhängige Verbote:

„Unbeschadet der Art. 7 und 9 erlassen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zur Schaffung einer allgemeinen Regelung zum Schutz aller unter Art. 1 fallenden Vogelarten, insbesondere das Verbot

a)      des absichtlichen Tötens oder Fangens, ungeachtet der angewandten Methode;

b)      der absichtlichen Zerstörung oder Beschädigung von Nestern und Eiern und der Entfernung von Nestern;

c)      des Sammelns der Eier in der Natur und des Besitzes dieser Eier, auch in leerem Zustand;

d)      ihres absichtlichen Störens, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, sofern sich diese Störung auf die Zielsetzung dieser Richtlinie erheblich auswirkt;

e)      …“

19.      Art. 9 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie erlaubt Abweichungen von den Verboten des Art. 5:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können, sofern es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt, aus den nachstehenden Gründen von den Art. 5 bis 8 abweichen:

a)      –       im Interesse der Gesundheit und der öffentlichen Sicherheit,

–      im Interesse der Sicherheit der Luftfahrt,

–       zur Abwendung erheblicher Schäden an Kulturen, Viehbeständen, Wäldern, Fischereigebieten und Gewässern,

–       zum Schutz der Pflanzen- und Tierwelt;

b)      zu Forschungs- und Unterrichtszwecken, zur Aufstockung der Bestände, zur Wiederansiedlung und zur Aufzucht im Zusammenhang mit diesen Maßnahmen;

c)      um unter streng überwachten Bedingungen selektiv den Fang, die Haltung oder jede andere vernünftige Nutzung bestimmter Vogelarten in geringen Mengen zu ermöglichen.“

3.      Umwelthaftungsrichtlinie

20.      Art. 2 Nr. 1 Buchst. a der Umwelthaftungsrichtlinie(7) definiert den Begriff des Umweltschadens in Bezug auf geschützte Arten:

„eine Schädigung geschützter Arten und natürlicher Lebensräume, d. h. jeden Schaden, der erhebliche nachteilige Auswirkungen in Bezug auf die Erreichung oder Beibehaltung des günstigen Erhaltungszustands dieser Lebensräume oder Arten hat. Die Erheblichkeit dieser Auswirkungen ist mit Bezug auf den Ausgangszustand unter Berücksichtigung der Kriterien gemäß Anhang I zu ermitteln;

…“

21.      Nach Art. 5 Abs. 1 der Umwelthaftungsrichtlinie sind Umweltschäden zu vermeiden:

„Ist ein Umweltschaden noch nicht eingetreten, besteht aber eine unmittelbare Gefahr eines solchen Schadens, so ergreift der Betreiber unverzüglich die erforderlichen Vermeidungsmaßnahmen.“

C.      Schwedisches Recht

22.      § 4 der Artskyddsförordning (2007:845) (Artenschutzverordnung) setzt die Verbote des Art. 12 der Habitatrichtlinie und des Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie um:

„In Bezug auf wildlebende Vögel und solche wildlebenden Tierarten, die in Anhang 1 dieser Verordnung mit N oder n bezeichnet wurden, ist es verboten,

1. Tiere absichtlich zu fangen oder zu töten,

2. Tiere absichtlich zu stören, insbesondere während ihrer Paarungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten,

3. absichtlich Eier in der Natur zu zerstören oder zu sammeln und

4. Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der Tiere zu beschädigen oder zu vernichten.

Das Verbot gilt für alle Lebensstadien der Tiere.

Abs. 1 gilt nicht für die Jagd auf Vögel und Säugetiere. Für diese Jagd finden sich Bestimmungen mit entsprechendem Inhalt im Jagdgesetz (1987:259) und in der Jagdverordnung (1987:905). Ferner gilt Abs. 1 nicht für den Fischfang. Für den Fischfang finden sich Bestimmungen mit entsprechendem Inhalt in der Verordnung (1994:1716) über den Fischfang, die Aquakultur und die Fischereiwirtschaft.“


23.      Anhang 1 der Artenschutzverordnung enthält die Liste aller Arten, die in den Anhängen I bis III der Vogelschutzrichtlinie und in den Anhängen II, IV und V der Habitatrichtlinie aufgeführt sind. Von den im vorliegenden Fall erwähnten Arten sind dort daher das Auerhuhn (Tetrao urogallus) und der Moorfrosch (Rana arvalis) genannt.

24.      In diesem Anhang der Artenschutzverordnung sind die Arten des Anhangs IV der Habitatrichtlinie, etwa der im vorliegenden Fall erwähnte Moorfrosch, Rana arvalis, mit dem Zeichen „N“ gekennzeichnet. Eine mit dem Zeichen „n“ gekennzeichnete Art erfordert einen strengen Schutz aufgrund einer nationalen Bewertung durch Schweden oder aufgrund eines internationalen Engagements. Eine solche Art ist in Anhang IV der Habitatrichtlinie nicht aufgeführt.

25.      Gemäß § 14 der Artenschutzverordnung kann die Provinzverwaltung im Einzelfall eine Ausnahme von den Verboten des § 4 genehmigen.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

26.      In beiden Rechtssachen geht es um die Anmeldung von Abholzungen bei der Forstverwaltung für ein Waldgebiet in der schwedischen Gemeinde Härryda. Die Maßnahmen laufen darauf hinaus, dass auf den jeweiligen Flächen sämtliche Bäume gefällt werden, mit Ausnahme einer begrenzten Zahl von Bäumen, die nach den Leitlinien der Forstverwaltung stehen zu lassen sind.

27.      In dem Waldgebiet haben folgende Vogelarten ihre Lebensräume: Kleinspecht (Dryobates minor oder Dendrocopos minor), Auerhuhn (Tetrao urogallus), Weidenmeise (Poecile montanus oder Parus montanus), Wintergoldhähnchen (Regulus regulus) und Tannenmeise (Periparus ater oder Parus ater). Auch der Moorfrosch (Rana arvalis) kann in der Umgebung gefunden werden.

28.      Nach den Berichten Schwedens im Rahmen der Vogelschutzrichtlinie(8) und der Habitatrichtlinie(9) ist in diesem Mitgliedstaat der Erhaltungszustand des Moorfroschs günstig und die Populationen des Kleinspechts, des Auerhuhns und der Tannenmeise sind stabil. Dagegen nehmen die Populationen des Wintergoldhähnchens und der Weidenmeise mäßig ab.

29.      Die genannten Arten nutzen das Gebiet mit hoher Wahrscheinlichkeit für ihre Fortpflanzung. Die Abholzungen werden, abhängig davon, zu welchem Zeitpunkt im Lebenszyklus der jeweiligen Art sie erfolgen, dazu führen, dass Exemplare dieser Arten gestört oder getötet werden. Die Eier, die sich zur Zeit der Abholzung in dem Gebiet befinden, werden zerstört werden.

30.      Die Forstverwaltung erließ in ihrer Eigenschaft als Aufsichtsbehörde besondere Leitlinien zu den zu treffenden Vorsorgemaßnahmen und ist der Auffassung gewesen, dass die Abholzung nicht gegen die Verbote der schwedischen Artenschutzverordnung verstoße, wenn die Leitlinien befolgt würden. Die Leitlinien der Forstverwaltung zu den Vorsorgemaßnahmen sind rechtlich nicht bindend, sondern stellen lediglich Empfehlungen dar.

31.      Am 22. Dezember 2016 ersuchten Föreningen Skydda Skogen (der Waldschutzverein) und Göteborgs Ornitologiska Förening (der Ornithologische Verein Göteborg) die Länsstyrelsen i Västra Götalands län (Provinzverwaltung Västra Götaland), die die Aufsichtsbehörde der Provinz gemäß der Artenschutzverordnung ist, im Hinblick auf die Abholzungsanmeldung und die besonderen Leitlinien der Forstverwaltung tätig zu werden (Rechtssache C‑473/19). Naturskyddsföreningen i Härryda (der Naturschutzverein in Härryda) und der Ornithologische Verein Göteborgs richteten am 17. Januar 2018 ein weiteres solches Ersuchen an die Provinzverwaltung (Rechtssache C‑474/19).

32.      Die Vereine sind der Ansicht, dass die Abholzung ungeachtet der Leitlinien der Forstverwaltung gegen in der Artenschutzverordnung niedergelegte Verbote verstoße.

33.      Die Provinzverwaltung ist der Auffassung, dass es nicht erforderlich sei, eine Ausnahmeprüfung gemäß der Artenschutzverordnung durchzuführen. Dies impliziert, dass die Maßnahmen nach Auffassung der Provinzverwaltung nicht gegen in der Artenschutzverordnung niedergelegte Verbote verstießen, sofern die in den besonderen Leitlinien angeführten Vorsorgemaßnahmen ergriffen würden.

34.      Die Vereine haben die Entscheidung der Provinzverwaltung, keine Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen, beim vorlegenden Gericht angefochten. Sie beantragen in erster Linie, die Entscheidung der Provinzverwaltung aufzuheben und zu entscheiden, dass geplante Waldbewirtschaftungsmaßnahmen nicht zulässig sind, weil sie gegen in der Artenschutzverordnung niedergelegte Verbote verstoßen.

35.      Das Gericht legt dem Gerichtshof in den Rechtssachen C‑473/19 und C‑474/19 jeweils die folgenden Fragen vor:

1)      Ist Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie dahin auszulegen, dass er eine innerstaatliche Rechtspraxis ausschließt, wonach das Verbot lediglich Arten erfasst, die in Anhang I der Richtlinie aufgeführt sind oder auf irgendeiner Ebene bedroht sind oder deren Population auf lange Sicht rückläufig ist?

2)      Sind die Begriffe „absichtliches Töten/Stören/Zerstören“ in Art. 5 Buchst. a bis d der Vogelschutzrichtlinie und in Art. 12 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie dahin auszulegen, dass sie eine innerstaatliche Praxis ausschließen, wonach in dem Fall, dass mit einer Maßnahme offenkundig ein anderer Zweck verfolgt wird, als Arten zu töten oder zu stören (z. B. forstwirtschaftliche Maßnahmen oder Erschließung), ein Risiko bestehen muss, dass sich die Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand der Arten auswirkt, damit die Verbote Anwendung finden?

Die Fragen 1 und 2 werden u. a. vor dem Hintergrund gestellt,

–        dass Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie den Schutz sämtlicher Vogelarten im Sinne von Art. 1 Abs. 1 bezweckt,

–        wie Art. 1 Buchst. m der Habitatrichtlinie „Exemplar“ definiert,

–        dass sich die Frage nach dem Erhaltungszustand der Art erst im Zusammenhang mit Ausnahmen nach Art. 16 der Habitatrichtlinie (Ausnahmen setzen voraus, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen) bzw. nach Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie (Ausnahmen dürfen nicht mit dieser Richtlinie unvereinbar sein, die die Mitgliedstaaten in Art. 2 verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Bestände aller unter Art. 1 fallenden Vogelarten auf einem Stand zu halten, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht) stellen dürfte.

3)      Soweit die Frage 2 dahin beantwortet wird, dass ein Schaden auf einer anderen Ebene als der Ebene des Individuums zu beurteilen ist, damit das Verbot Anwendung findet, ist die Beurteilung dann in einem der folgenden Bereiche oder auf einer dieser Ebenen vorzunehmen:

a.      einem bestimmten geografisch abgegrenzten Teil der Population wie unter Buchst. a definiert, z. B. durch die Grenzen der Provinz, des Mitgliedstaats oder der Europäischen Union,

b.      der lokalen Population, die betroffen (und von anderen Populationen der Art biologisch isoliert) ist,

c.      der Metapopulation, die betroffen ist,

d.      der gesamten Population der Art innerhalb des betreffenden Teils der biogeografischen Region des Verbreitungsgebiets der Art?

4)      Ist der Begriff „Vernichtung/Beschädigung“ in Bezug auf Fortpflanzungsstätten von Tieren in Art. 12 Buchst. d der Habitatrichtlinie dahin auszulegen, dass er eine innerstaatliche Praxis ausschließt, wonach in dem Fall, dass die kontinuierliche ökologische Funktionalität in dem Lebensraum der betroffenen Art in einem einzelnen Gebiet trotz Vorsorgemaßnahmen entweder durch Beschädigung, Zerstörung oder Verschlechterung, unmittelbar oder mittelbar, einzeln oder kumulativ verloren geht, das Verbot erst Anwendung findet, wenn sich der Erhaltungszustand der betroffenen Art auf einer der in Frage 3 genannten Ebenen zu verschlechtern droht?

5)      Soweit die Frage 4 verneint wird, d. h., ein Schaden auf einer anderen Ebene als des Lebensraums innerhalb des einzelnen Gebiets zu beurteilen ist, damit das Verbot Anwendung findet, ist die Beurteilung dann in einem der folgenden Bereiche oder auf einer dieser Ebenen vorzunehmen:

a.      einem bestimmten geografisch abgegrenzten Teil der Population wie unter Buchst. a definiert, z. B. durch die Grenzen der Provinz, des Mitgliedstaats oder der Europäischen Union,

b.      der lokalen Population, die betroffen (und von anderen Populationen der Art biologisch isoliert) ist,

c.      der Metapopulation, die betroffen ist,

d.      der gesamten Population der Art innerhalb des betreffenden Teils der biogeografischen Region des Verbreitungsgebiets der Art?

Die Fragen 2 und 4 des vorlegenden Gerichts umfassen die Frage, ob der strenge Schutz der Richtlinien für Arten nicht mehr gilt, für die das Ziel der Richtlinie (günstiger Erhaltungszustand) erreicht wurde.

36.      Der Gerichtshof hat beide Rechtssachen verbunden. Die klagenden Umweltvereinigungen, die Tschechische Republik und die Europäische Kommission haben sich schriftlich geäußert.

IV.    Rechtliche Würdigung

37.      Art. 5 Buchst. a bis d der Vogelschutzrichtlinie und Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie verpflichten die Mitgliedstaaten, Regelungen zum Schutz der erfassten Arten zu erlassen, die bestimmte absichtliche Beeinträchtigungen verbieten. Zu verbieten sind insbesondere das Töten und der Fang (jeweils Buchst. a), die Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur (Art. 5 Buchst. b der Vogelschutzrichtlinie und Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Habitatrichtlinie), die Zerstörung, Beschädigung oder Entfernung von Vogelnestern (Art. 5 Buchst. b der Vogelschutzrichtlinie), das Sammeln von Vogeleiern in der Natur und der Besitz dieser Eier, auch in leerem Zustand (Art. 5 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie), sowie die Störung (Art. 5 Buchst. d der Vogelschutzrichtlinie und Art. 12 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie). Lediglich das Verbot der Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie setzt keine Absicht voraus.(10)

38.      Das Vorabentscheidungsersuchen fragt letztlich danach, ob es zulässig ist, diese Verbote davon abhängig zu machen, dass der Erhaltungszustand der betroffenen Art ungünstig ist oder durch die jeweilige Handlung verschlechtert würde. Derartige Bedingungen ergeben sich zwar aus schwedischen Bestimmungen sowie der schwedischen Rechtsprechung, finden aber im Text der Vogelschutzrichtlinie und der Habitatrichtlinie überwiegend keine Grundlage. Daher sind sie zumindest teilweise zweifelhaft.

39.      Diese Bedingungen stellen jedoch einen zumindest im Ansatz berechtigten Versuch dar, zu verhindern, dass der europäische Artenschutz menschliche Tätigkeiten übermäßig einschränkt. Das Risiko solcher Einschränkungen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, der den Begriff der Absicht zumindest bei den Verboten der Habitatrichtlinie dahin gehend ausgelegt hat, dass er auch die Inkaufnahme der verbotenen Beeinträchtigung einschließt. Wenn diese Auslegung uneingeschränkt auf die Vogelschutzrichtlinie übertragen wird, drohen tatsächlich erhebliche Einschränkungen menschlicher Tätigkeiten.

40.      Das zeigt insbesondere die Beantwortung der Frage 1, mit der klarzustellen ist, dass der Artenschutz nach der Vogelschutzrichtlinie alle europäischen Vogelarten erfasst (dazu unter A). Etwas weniger konfliktträchtig erscheint dagegen der in der Habitatrichtlinie vorgesehene Schutz von Fortpflanzungsstätten, der mit den Fragen 4 und 5 angesprochen wird. Diese Schutzregelung zielt als einzige schon nach ihrem Wortlaut nicht auf absichtliche Beeinträchtigungen ab, doch betrifft sie nur die selteneren Arten der Habitatrichtlinie (dazu unter B). Entscheidend ist jedoch die Auslegung der Verbote absichtlicher Beeinträchtigungen, die Gegenstand der Frage 2 ist (dazu unter C). Abschließend ist im Zusammenhang mit Frage 3 an die Feststellungen zur Beurteilung des Erhaltungszustands einer Art zu erinnern, die der Gerichtshof jüngst im zweiten Urteil zur Jagd auf den Wolf (Lupus lupus) in Finnland(11) getroffen hat (dazu unter D).

A.      Durch Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie geschützte Arten (Frage 1)

41.      Mit der Frage 1 möchte das vorlegende Gericht erfahren, ob Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie lediglich Arten erfasst, die in Anhang I der Richtlinie aufgeführt sind oder auf irgendeiner Ebene bedroht sind oder deren Population auf lange Sicht rückläufig ist. Das vorlegende Gericht und die zuständigen schwedischen Stellen gehen nach dem Vorabentscheidungsersuchen davon aus, dass Schweden Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie nur im Hinblick auf diese Vogelarten umgesetzt hat.

42.      Wie allerdings auch das vorlegende Gericht annimmt, reicht Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie deutlich weiter. Nach dieser Bestimmung ist nämlich eine Regelung zum Schutz aller unter Art. 1 fallenden Vogelarten notwendig. Dies sind sämtliche wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind.(12)

43.      Ob die Arten in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführt sind, spielt nach dem Wortlaut von Art. 5 keine Rolle. Die Arten des Anhangs I bedürfen vielmehr nach Art. 4 Abs. 1 besonderer, also zusätzlicher Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihres Lebensraums. Daneben enthält die Vogelschutzrichtlinie allgemeine Schutzbestimmungen, wie eben Art. 5, aber auch die Art. 2 und 3, die alle europäischen Vogelarten erfassen.

44.      Genauso wenig spielt es für Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie eine Rolle, ob Vogelarten auf irgendeiner Ebene bedroht sind oder ob ihre Population auf lange Sicht rückläufig ist. Im Gegenteil erinnert die Tschechische Republik zu Recht daran, dass die Schutzpflichten schon bestehen, bevor eine Abnahme der Vogelzahl festgestellt worden ist oder bevor sich die Gefahr des Aussterbens einer geschützten Vogelart konkretisiert hat.(13)

45.      Der Gerichtshof hat daher schon sehr früh entschieden, dass es mit Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie unvereinbar ist, bestimmte Vogelarten vom Schutz auszuschließen(14) oder den Schutz auf Arten des nationalen biologischen Erbes zu beschränken.(15) Und er hat diese Bestimmung schon auf verschiedene Arten angewandt, die keine der schwedischen Bedingungen erfüllen, etwa auf Krähen (Corvus corone corone und Corvus corone cornix), Stare (Sturnus vulgaris) und Amseln (Turdus merula),(16) Graureiher (Ardea cinerea) und Kormorane (Phalacrocorax carbo)(17) oder auf verschiedene Finkenarten.(18)

46.      Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass die Mitgliedstaaten nach den Art. 1 und 5 der Vogelschutzrichtlinie verpflichtet sind, Regelungen zum Schutz sämtlicher wildlebenden Vogelarten zu erlassen, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Schutzregelungen, die lediglich Arten des Anhangs I der Richtlinie erfassen oder Arten, die auf irgendeiner Ebene bedroht sind oder deren Population auf lange Sicht rückläufig ist, genügen diesen Anforderungen nicht.

B.      Fortpflanzungsstätten (Fragen 4 und 5)

47.      Mit Frage 4 möchte das vorlegende Gericht erfahren, ob das Verbot jeder Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungsstätten von Tieren in Art. 12 Buchst. d der Habitatrichtlinie auf Fälle beschränkt ist, in denen die kontinuierliche ökologische Funktionalität in dem Lebensraum der betroffenen Art in einem einzelnen Gebiet trotz Vorsorgemaßnahmen verloren geht und sich zugleich der Erhaltungszustand der betroffenen Art zu verschlechtern droht. Außerdem wird gefragt, ob die Geltung des Verbots ausgeschlossen ist, falls die Art sich in einem günstigen Erhaltungszustand befindet. Frage 5 soll klären, auf welcher Ebene der Erhaltungszustand zu beurteilen ist.

48.      Im vorliegenden Verfahren bedarf es keiner Klärung, ob das Verbot nur eingreift, wenn die Zerstörung oder Beschädigung von Fortpflanzungsstätten damit einhergeht, dass ihre kontinuierliche ökologische Funktionalität verloren geht. Die Kommission hat diese Auslegung des Verbots des Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie in ihrem Leitfaden entwickelt,(19) doch dazu hat sich der Gerichtshof noch nicht geäußert. Es hat zwar den Anschein, dass das vorlegende Gericht sich dieses Verständnis zu eigen macht, doch ist es nicht entscheidungserheblich, weil das Vorabentscheidungsersuchen auf der Annahme beruht, dass diese Bedingung im Ausgangsfall gegeben ist.

49.      Vielmehr geht es allein um die Bedeutung des Erhaltungszustands der Art für das Verbot der Zerstörung oder Beschädigung von Fortpflanzungsstätten. Die im Vorabentscheidungsersuchen dargestellte schwedische Rechtsprechung wendet dieses Verbot nämlich nur an, wenn eine Gefahr von Auswirkungen auf den Erhaltungszustand dieser Arten in dem Gebiet besteht.

50.      Gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie haben die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen, das jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten verbietet.

51.      Bei diesem Verbot hat der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er, anders als in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie, nicht ausschließlich absichtliche Handlungen verbietet, deutlich gemacht, dass er die Fortpflanzungs- und Ruhestätten verstärkt vor Handlungen schützen will, die zu ihrer Beschädigung oder Vernichtung führen.(20)

52.      Um dieser Verpflichtung nachzukommen, müssen die Mitgliedstaaten nicht nur einen vollständigen gesetzlichen Rahmen schaffen, sondern auch konkrete besondere Schutzmaßnahmen durchführen. Desgleichen setzt das strenge Schutzsystem den Erlass kohärenter und koordinierter vorbeugender Maßnahmen voraus. Ein solches strenges Schutzsystem muss es also ermöglichen, tatsächlich die Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der in Anhang IV Buchst. a der Habitatrichtlinie genannten Tierarten zu verhindern.(21)

53.      Dieses Verbot ist nach dem Wortlaut der Regelung nicht davon abhängig, ob die Beeinträchtigung den Erhaltungszustand einer Population berührt. Vielmehr hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die Stabilität einer Population(22) sowie ihre Größe(23) für die Wirkung des Verbots nicht maßgeblich sind.

54.      Darüber hinaus betont das innerstaatliche Gericht zutreffend, dass der Erhaltungszustand vorrangig für die Gewährung einer Ausnahme nach Art. 16 der Habitatrichtlinie maßgeblich ist. Eine Ausnahme nach Art. 16 der Habitatrichtlinie setzt nämlich voraus, dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen. Wie die Kommission vorträgt, wäre es daher widersprüchlich, bereits die Anwendung der Verbote des Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie davon abhängig zu machen, dass sich der Erhaltungszustand der betroffenen Art zu verschlechtern droht. Denn dann dürfte niemals eine Ausnahme erteilt werden, so dass Art. 16 jede praktische Wirkung verlieren würde.

55.      Somit setzt das in Art. 12 Buchst. d der Habitatrichtlinie niedergelegte Verbot der Vernichtung oder Beschädigung von Fortpflanzungsstätten von Tieren des Anhangs IV Buchst. a nicht voraus, dass sich der Erhaltungszustand von Populationen der betroffenen Art aufgrund der fraglichen Handlung zu verschlechtern droht. Ein günstiger Erhaltungszustand der betroffenen Art lässt das Verbot auch unberührt.

56.      Die Frage 5 nach der Ebene, auf der der Erhaltungszustand für die Anwendung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie zu beurteilen ist, bedarf daher keiner Beantwortung.

C.      Die Verbote absichtlicher Beeinträchtigungen (Frage 2)

57.      Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht erfahren, wie die Begriffe „absichtliches Töten/Stören/Zerstören“ in Art. 5 Buchst. a bis d der Vogelschutzrichtlinie und in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c der Habitatrichtlinie zu verstehen sind. Der Gerichtshof soll insbesondere klären, ob damit eine innerstaatliche Praxis vereinbar ist, wonach in dem Fall, dass mit einer Maßnahme offenkundig ein anderer Zweck verfolgt wird, als Arten zu töten oder zu stören (z. B. forstwirtschaftliche Maßnahmen oder Erschließung), ein Risiko bestehen muss, dass sich die Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand der Arten auswirkt, damit die Verbote Anwendung finden. Außerdem wird gefragt, ob die Geltung des Verbots ausgeschlossen ist, falls die Art sich in einem günstigen Erhaltungszustand befindet. Frage 3 soll klären, auf welcher Ebene der Erhaltungszustand zu beurteilen ist.

58.      Bei der Beantwortung dieser Fragen ist zwischen dem Töten und Zerstören einerseits und der Störung andererseits sowie jeweils zwischen beiden Richtlinien zu unterscheiden.

1.      Zu den Verboten des Tötens und Zerstörens

59.      Zu klären ist, ob die Verbote des Tötens in Art. 5 Buchst. a der Vogelschutzrichtlinie und Art. 12 Buchst. a der Habitatrichtlinie sowie des Zerstörens von Eiern (und Vogelnestern) in Art. 5 Buchst. b der Vogelschutzrichtlinie und in Art. 12 Buchst. c der Habitatrichtlinie von dem Erhaltungszustand der betroffenen Arten abhängen. Das Verbot des Sammelns und Besitzens von Eiern nach Art. 5 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie hat dagegen für den vorliegenden Fall keine Bedeutung und bedarf daher keiner weiteren Erörterung.

a)      Zur Habitatrichtlinie

60.      Nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und c der Habitatrichtlinie verbieten die Mitgliedstaaten alle absichtlichen Formen der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren der geschützten Arten sowie jede absichtliche Zerstörung von deren Eiern.

61.      Wenn bei diesen Verboten der Begriff der Absicht so verstanden würde, dass er nur die gewollte Beeinträchtigung der geschützten Arten erfasst, so bedürfte es keiner weiteren Ausführungen zu dieser Vorlagefrage. Der vorliegende Fall betrifft nämlich nur Maßnahmen, mit denen offensichtlich ein anderer Zweck verfolgt wird, als Arten zu töten (oder ihre Eier zu zerstören).

62.      Wie ich vorgeschlagen habe,(24) hat der Gerichtshof allerdings in Bezug auf die Tötung entschieden, das Tatbestandsmerkmal der Absicht sei verwirklicht, wenn nachgewiesen ist, dass der Handelnde die Tötung eines Exemplars einer geschützten Tierart gewollt oder zumindest in Kauf genommen hat.(25) Handlungen, bei denen eine Beeinträchtigung in Kauf genommen wird, haben regelmäßig andere Zwecke als diese Beeinträchtigung.

63.      Die Verfahren, in denen diese Auslegung entwickelt wurde, zeigen dies recht deutlich. Dabei ging es darum, ob die Schlingenjagd auf den Fuchs (Vulpes vulpes) gegen die Verbote zum Schutz des Fischotters (Lutra lutra) verstoßen konnte,(26) und darum, ob bestimmte Baumaßnahmen sowie Freizeit- und Fischereiaktivitäten als absichtliche Störungen der Meeresschildkröte Caretta caretta anzusehen waren.(27) Diese Rechtsprechung wurzelt schließlich in einem anderen Urteil, in dem der Gerichtshof beanstandete, bestimmte Freizeitaktivitäten würden die erwähnte Meeresschildkröte stören,(28) ohne sich ausdrücklich mit dem Begriff der Absicht zu beschäftigen.

64.      Zwar betrifft diese Rechtsprechung nur die Verbote der Tötung und der Störung nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und b der Habitatrichtlinie. Es besteht aber kein Anlass, für die Zerstörung von Eiern den Begriff der Absicht anders zu verstehen.

65.      Folglich können die streitgegenständlichen Maßnahmen der Forstwirtschaft durchaus die Verbote des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und c der Habitatrichtlinie verletzen. Daher ist zu prüfen, ob ein solcher Verstoß vom Erhaltungszustand der betroffenen Arten abhängig gemacht werden darf.

66.      Wie bereits im Zusammenhang mit dem in Art. 12 Abs. 1 Buchst. d der Habitatrichtlinie niedergelegten Verbot der Beeinträchtigung von Fortpflanzungsstätten festgestellt, berührt der Erhaltungszustand der Arten nach dem Text der Bestimmung nicht das Verbot, sondern spielt nur im Zusammenhang mit Ausnahmen gemäß Art. 16 eine Rolle. Dies gilt – im Prinzip(29) – in gleicher Weise für die anderen Verbote des Art. 12 Abs. 1, wie es der Gerichtshof auch bereits für das Verbot der Tötung nach Buchst. a indirekt anerkannt hat.(30)

67.      Insbesondere für das Verbot des Tötens von Exemplaren der Arten nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie wird dies dadurch bestätigt, dass mit dem Begriff „Exemplar“ gemäß der Definition des Art. 1 Buchst. m tatsächlich jedes einzelne Tier gemeint ist.

68.      Das Verbot der Zerstörung von Eiern nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Habitatrichtlinie bezieht sich dagegen nicht ausdrücklich auf einzelne Exemplare. Doch kann man ein solches Verbot seiner Natur nach kaum anders verstehen, wenn kein Schwellenwert angegeben wurde, um das Verbot auszulösen. Gegen die Annahme einer De-minimis-Schwelle bei diesem Verbot spricht im Übrigen die Ausnahme des Art. 16 Abs. 1 Buchst. e der Habitatrichtlinie, die die „Entnahme oder Haltung einer begrenzten … Anzahl von Exemplaren bestimmter Tier- und Pflanzenarten des Anhangs IV“ ermöglicht, dafür aber weitere Voraussetzungen aufstellt. Diese Ausnahme wäre überflüssig, wenn das Verbot der Entnahme von Eiern bei kleinen Mengen nicht anwendbar wäre.

69.      Somit setzen die Verbote des Tötens und des Zerstörens nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und c der Habitatrichtlinie nicht das Risiko voraus, dass sich die fragliche Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand der jeweiligen Tierarten auswirkt. Auch ein günstiger Erhaltungszustand der betroffenen Art schließt die Anwendung dieser Verbote nicht aus.

b)      Zur Vogelschutzrichtlinie

–       aa)      Erhaltungszustand der Art

70.      Bei Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie ist die Lage auf den ersten Blick ähnlich. So fehlt auch bei den Verboten des Tötens (Buchst. a) und der Zerstörung oder Beschädigung von Nestern und Eiern (Buchst. b) wie in Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie jeder Hinweis darauf, dass diese mit dem Erhaltungszustand zusammenhängen. Vielmehr müssen sich diese Verbote ihrer Natur nach auf jedes einzelne Exemplar beziehen, da kein Schwellenwert angegeben wird.

71.      Gegen die Annahme einer De-minimis-Schwelle spricht ebenfalls eine Ausnahme, die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie niedergelegt ist. Sie lässt speziell die Nutzung bestimmter Vogelarten in geringen Mengen zu und enthält gleichfalls weitere Voraussetzungen.

72.      Darüber hinaus führt das innerstaatliche Gericht zu Recht auch in Bezug auf Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie die schon im Zusammenhang mit der Habitatrichtlinie maßgebliche Überlegung an, dass alle Ausnahmen zu den Verboten durch den Erhaltungszustand der betroffenen Art bedingt sind. Zwar findet diese Position im Text von Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie keine Grundlage. Aus ihrem zehnten Erwägungsgrund folgt aber, dass Abweichungen gemäß Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie nur gewährt werden dürfen, wenn gewährleistet ist, dass die Bestände der betroffenen Arten auf „ausreichendem Niveau“ gehalten werden.(31) Jüngst hat der Gerichtshof darin ausdrücklich eine Parallele zu Art. 16 der Habitatrichtlinie gesehen.(32)

73.      Dieses Ergebnis entspricht Art. 9 des Übereinkommens von Bern, der durch Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie umgesetzt wird(33) und der daher bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen ist.(34) Nach dem Übereinkommen darf eine Ausnahme von den vergleichbaren Verboten des Übereinkommens nämlich nicht dem Bestand der betreffenden Population schaden.

74.      Im Prinizip(35) wäre es somit ähnlich wie bei der Habitatrichtlinie 35auch im Rahmen der Vogelschutzrichtlinie widersprüchlich, das Risiko einer Beeinträchtigung des Erhaltungszustands der betreffenden Art bereits als Anwendungsvoraussetzung der Verbote des Art. 5 der Richtlinie zu berücksichtigen und damit eine Anwendung der Ausnahmeregelung praktisch unmöglich zu machen.

–       bb)      „Absicht“ im Sinne der Vogelschutzrichtlinie

75.      Allerdings stellt sich auch hier die Frage, ob die Verbote überhaupt Maßnahmen erfassen, mit denen offenkundig ein anderer Zweck verfolgt wird, als Arten zu töten oder ihre Nester und Eier zu zerstören.

76.      Die Antwort auf diese Frage ist weniger offenkundig als in Bezug auf Art. 12 der Habitatrichtlinie, denn für den Begriff der Absicht in Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie fehlt es bislang an vergleichbaren ausdrücklichen Feststellungen des Gerichtshofs.

77.      Ähnlich wie beim ersten Fall zu der genannten Meeresschildkröte wandte sich der Gerichtshof allerdings bereits im Urteil zum Wald von Białowieża gegen den Einschlag geschädigter, toter oder absterbender Bäume, weil derartige Handlungen in einem Bewirtschaftungsplan des betreffenden Schutzgebiets als potenzielle Gefahr für bestimmte, dort besonders geschützte Vogelarten identifiziert wurden.(36) Diese Maßnahme qualifizierte er daher als absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von Nestern und Eiern sowie als Entfernung von Nestern (Art. 5 Buchst. b der Vogelschutzrichtlinie) und als absichtliches Stören, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit (Art. 5 Buchst. d).(37) Es erscheint unwahrscheinlich, dass die betreffenden Maßnahmen diese Beeinträchtigungen von Vögeln bezweckten.

78.      Da der Gerichtshof somit auch bei Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie nicht von einer engen Auslegung des Begriffs der Absicht ausgeht, drängt es sich auf, die Auslegung dieses Begriffs im Zusammenhang mit den fast identischen Verboten des Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie auf Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie zu übertragen. Dies ist im Übrigen auch die Auffassung der Kommission im vorliegenden Verfahren.

79.      Eine solche Vorgehensweise würde jedoch deutlich weiter reichende Auswirkungen haben als die entsprechende Auslegung von Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie.

80.      Der Artenschutz der Habitatrichtlinie ist auf wenige, in der Regel(38) sehr seltene Arten beschränkt. Weil diese Arten selten sind, ist es notwendig, jedes einzelne Exemplar streng zu schützen, was Art. 12 der Habitatrichtlinie mit dem Begriff des strengen Schutzsystems(39) deutlich zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig bedingt die Seltenheit dieser Arten aber auch, dass Konflikte mit ihnen nicht sehr häufig sind.

81.      Dagegen gelten die Verbote des Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie, wie bereits dargelegt,(40) für alle europäischen Vögel, also auch für Allerweltsarten, denen man fast überall ständig begegnet. Und es lässt sich kaum behaupten, dass Beeinträchtigungen dieser Arten von modernen Gesellschaften nicht in Kauf genommen werden. Vielmehr ist bekannt, dass diese Arten durch verschiedenste menschliche Aktivitäten, etwa die Errichtung von Gebäuden(41) oder den Straßenverkehr,(42) erheblich beeinträchtigt werden.

82.      Schon beim Erlass der Vogelschutzrichtlinie hat der Gesetzgeber dementsprechend klargestellt, dass sie nicht darauf abzielt, jeden einzelnen Vogel bedingungslos zu schützen. Vielmehr sind nach Art. 2 der Richtlinie die Bestände der Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.

83.      Die Erhaltung von Allerweltsarten erfordert aber in der Regel keine Verbote, die schon eingreifen, wenn eine Beeinträchtigung lediglich in Kauf genommen wird. Es gibt zwar Arten, die auf solche Verbote angewiesen sind, doch die Allerweltsarten sind deshalb so häufig, weil menschliche Aktivitäten ihren Bestand nicht gefährden.

84.      Soweit die Bestände bestimmter, früher häufigerer Arten dennoch abnehmen, wird es oft wichtiger sein, ihre Lebensräume zu erhalten und angemessen zu bewirtschaften. Denn solche Rückgänge folgen in der Regel Änderungen der menschlichen Nutzung dieser Lebensräume. Die Verbote des Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie schon bei der Inkaufnahme der in dieser Bestimmung aufgeführten Beeinträchtigungen eingreifen zu lassen, wäre demgegenüber häufig weniger gut geeignet, diese Bestände zu erhalten, und daher auch nicht das mildeste Mittel.

85.      In der Vogelschutzrichtlinie sind diese Überlegungen durchaus verankert. So verlangt Art. 5 kein strenges Schutzsystem, sondern eine allgemeine Regelung zum Schutz aller europäischen Vögel. Eine zusätzliche Verpflichtung zum Schutz des Lebensraums der Allerweltsarten ist in Art. 3 niedergelegt.(43) Der Lebensraum seltener und besonders gefährdeter Arten sowie von Zugvögeln soll nach Art. 4 der Vogelschutzrichtlinie in Verbindung mit den Art. 6 und 7 der Habitatrichtlinie einen gesteigerten Schutz erfahren, insbesondere durch die Einrichtung besonderer Schutzgebiete. Sollten bestimmte Aktivitäten tatsächlich den Erhaltungszustand von Vogelarten gefährden, so greifen ergänzend Art. 5 und Art. 2 Nr. 1 Buchst. a der Umwelthaftungsrichtlinie ein.

86.      Zudem enthält die Vogelschutzrichtlinie anders als die Habitatrichtlinie keine passende Ausnahmeregelung, um die widerstreitenden Interessen zum Ausgleich zu bringen. Während Letztere Abweichungen aufgrund aller denkbaren Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses erlaubt (Art. 16 Abs. 1 Buchst. c), kommt bei Ersterer abgesehen von sehr spezifischen Gründen nur eine vernünftige Nutzung bestimmter Vogelarten in geringen Mengen in Betracht, die auch noch streng überwacht und selektiv sein muss (Art. 9 Abs. 1 Buchst. c).

87.      Daher halte ich es nicht für sinnvoll, die bei Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vorgenommene Auslegung des Begriffs der Absicht uneingeschränkt auf den Begriff der Absicht in Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie zu übertragen.

88.      Angesichts der Feststellungen im Urteil zum Wald von Białowieża(44) ist es allerdings auch ausgeschlossen, dieses Ergebnis zu vermeiden, indem man die Verbote des Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie ausschließlich auf gewollte Beeinträchtigungen von Vögeln erstreckt, nur in Kauf genommene Beeinträchtigungen dagegen vollständig ausschließt. Dieses Ergebnis wäre auch unangemessen, wenn seltene, stark gefährdete Arten betroffen sind, denn bei diesen seltenen Arten bleiben die Verbote praktisch im Umfang begrenzt, während der positive Beitrag zum Erhaltungszustand dieser Arten von erheblichem Gewicht sein kann.

89.      Ein angemessener Ausgleich zwischen den betroffenen Aktivitäten und den Zielen der Richtlinie liegt vielmehr darin, in Kauf genommene Beeinträchtigungen nur unter diese Verbote zu fassen, soweit dies im Licht des Ziels nach Art. 2 der Vogelschutzrichtlinie notwendig ist. Dass diese Auslegung in der Anwendung komplizierter ist, da sie doch eine Berücksichtigung des Erhaltungszustands der Vogelarten erfordert, ist daher hinzunehmen. Jedenfalls entspricht sie im Ergebnis der weiten Anwendung der Verbote im genannten Urteil zum Wald von Białowieża, denn dort waren sehr seltene Vogelarten in einem für ihren besonderen Schutz ausgewiesenen Gebiet betroffen.(45)

90.      Somit setzen die Verbote des Tötens und des Zerstörens nach Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie im Prinzip nicht das Risiko voraus, dass sich die fragliche Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand der jeweiligen Tierarten auswirkt. Auch ein günstiger Erhaltungszustand der betroffenen Art schließt die Anwendung dieser Verbote nicht aus. Wenn die Beeinträchtigung von Vögeln nicht bezweckt, sondern nur in Kauf genommen wird, gelten die Verbote nach Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie allerdings nur, soweit dies notwendig ist, um diese Arten im Sinne von Art. 2 auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, und dabei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung trägt.

91.      Ergänzend ist daran zu erinnern, dass Verbote klar formuliert sein müssen, insbesondere wenn sie strafrechtlicher Natur sind.(46) Daher obliegt es den Mitgliedstaaten, die Verbote des Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie bei der Umsetzung ins innerstaatliche Recht entsprechend zu konkretisieren. Dafür müssen entsprechende Regelungen getroffen werden. Zusätzlich bedarf es häufig konkreter Hinweise, welche Verhaltensweisen verboten sind und an welchen Orten besondere Sorgfalt geboten ist.

c)      Zwischenergebnis

92.      Somit setzen die Verbote des Tötens und des Zerstörens nach Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie und Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und c der Habitatrichtlinie nicht das Risiko voraus, dass sich die fragliche Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand der jeweiligen Tierarten auswirkt. Auch ein günstiger Erhaltungszustand der betroffenen Art schließt die Anwendung dieser Verbote nicht aus.

93.      Wenn die Beeinträchtigung von Vögeln nicht bezweckt, sondern nur in Kauf genommen wird, gelten die Verbote nach Art. 5 Buchst. a und b der Vogelschutzrichtlinie allerdings nur, soweit dies notwendig ist, um diese Arten im Sinne von Art. 2 auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, und dabei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung trägt.

2.      Zu den Störungsverboten

94.      Beim Verbot der Störung scheinen sich die Vogelschutzrichtlinie und die Habitatrichtlinie zu unterscheiden. Letztlich sind jedoch beide Verbote in ähnlicher Weise dahin gehend auszulegen, dass der Erhaltungszustand der betroffenen Arten eine Rolle spielt.

a)      Zur Vogelschutzrichtlinie

95.      Nach Art. 5 Buchst. d der Vogelschutzrichtlinie gilt das Verbot des Störens von Vogelarten, insbesondere während der Brut- und Aufzuchtzeit, nur, sofern sich diese Störung auf die Zielsetzung der Richtlinie erheblich auswirkt. Eine solche Einschränkung ist gerade in Bezug auf die Störung von Vögeln notwendig, da man diese erfahrungsgemäß bereits in Kauf nimmt, wenn man sich in ihren Lebensräumen bewegt, etwa bei Spaziergängen, auf dem Weg zur Arbeit oder auch schon auf dem eigenen Balkon.

96.      Die Vogelschutzrichtlinie hat nach ihrem Art. 1 den Schutz aller europäischen Vogelarten zum Ziel. Zu diesem Zweck müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 die Bestände dieser Arten auf einem Stand halten oder auf einen Stand bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.

97.      Obwohl die Mitgliedstaaten insofern vorbehaltlich spezifischer Regelungen über einen Abwägungsspielraum verfügen,(47) zeigen die Erwägungsgründe 3, 5, 7 und 8 und vor allem der zehnte Erwägungsgrund der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten die Populationen aller wildlebenden Vogelarten in der Union auf einem „ausreichenden Niveau“ erhalten sollen.(48)

98.      Der Erhaltungszustand ist jedoch nur ein Merkmal, das bei der Beurteilung einer Störung maßgeblich ist. Schon die Formulierung von Art. 5 Buchst. d der Vogelschutzrichtlinie zeigt, dass in jedem Fall Störungen während Brut- und Aufzuchtzeit vermieden werden sollen. Diese Präzisierung ist sinnvoll, denn die Brut und die Aufzucht sind von zentraler Bedeutung für den Erhaltungszustand. Gleichwohl sind auch Störungen während dieser Zeiträume nur verboten, wenn sie erheblich sind. Das ist zumindest dann anzunehmen, wenn die Störung seltene Vögel unmittelbar bei der Brut oder der Aufzucht beeinträchtigt. Dementsprechend hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Abholzungen, die einen wichtigen Lebensraum für seltene Vogelarten beeinträchtigen, eine verbotene Störung darstellen können.(49)

99.      Da somit bereits das Verbot als solches die Auswirkungen auf den Erhaltungszustand der jeweiligen Art einbezieht, bedarf es insoweit keiner Nuancierung des Begriffs der Absicht gegenüber der Habitatrichtlinie.

100. Somit müssen nach Art. 5 Buchst. d der Vogelschutzrichtlinie Störungen untersagt werden, falls sie sich erheblich auf das Ziel auswirken, die Populationen der Vogelarten auf einem ausreichenden Niveau zu erhalten oder sie auf dieses Niveau zu bringen, und insbesondere, wenn sie seltene Vögel bei der Brut oder der Aufzucht beeinträchtigen.

b)      Zur Habitatrichtlinie

101. In der Habitatrichtlinie wird die Zielsetzung ähnlich formuliert wie in der Vogelschutzrichtlinie. Nach Art. 2 Abs. 2 der Habitatrichtlinie zielt diese nämlich darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen. Gleichzeitig sollen die aufgrund der Richtlinie getroffenen Maßnahmen nach Art. 2 Abs. 3 den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen.

102. Im Unterschied zu Art. 5 Buchst. d der Vogelschutzrichtlinie wird das Verbot des Störens gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie aber nicht ausdrücklich mit den Zielen der Richtlinie und insbesondere dem Erhaltungszustand der betreffenden Arten verknüpft. Eine Parallele liegt aber darin, dass das Verbot insbesondere während der Fortpflanzungs‑, Aufzucht‑, Überwinterungs- und Wanderungszeiten gelten soll. Diese Zeiten gelten als besonders störungsempfindlich,(50) so dass sie in der Regel für den Erhaltungszustand der Arten von besonderer Bedeutung sind. Außerdem fällt auf, dass die Störung der Arten untersagt werden muss, während sich das Verbot des Tötens nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und der Definition des Art. 1 Buchst. m der Habitatrichtlinie auf jedes einzelne Exemplar der geschützten Arten bezieht.

103. Dementsprechend schlägt die Kommission zwar nicht im vorliegenden Verfahren, aber in ihrem Leitfaden vor, nur Störungen zu erfassen, wenn durch die betreffende Handlung die Überlebenschancen, der Fortpflanzungserfolg oder die Reproduktionsfähigkeit einer geschützten Art vermindert werden oder diese Handlung zu einer Verringerung des Verbreitungsgebiets führt.(51)

104. Wie beim Vogelschutz ist eine solche Einschränkung nötig, um zu verhindern, dass das Störungsverbot menschliche Tätigkeiten unverhältnismäßig einschränkt, ohne den in Art. 2 Abs. 3 der Habitatrichtlinie genannten Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Rechnung zu tragen. Zwar begegnet man den geschützten Tierarten des Anhangs IV Buchst. a weniger häufig als weit verbreiteten Vogelarten, aber es erscheint weder notwendig noch angemessen, wenn der Mensch, um jede Störung auszuschließen, diesen Arten immer ausweichen müsste, sobald er bemerkt, dass er sich in ihrer Nähe befindet. Gerade bei Fledermäusen oder bestimmten Amphibien und Schmetterlingen können solche Begegnungen durchaus vorkommen.

105. Auch die bisherige Rechtsprechung zur Verletzung des Störungsverbots kann in diesem Sinne verstanden werden. Zwar hat der Gerichtshof auch in Bezug auf das Störungsverbot betont, dass die Stabilität einer Population sowie die Größe der jeweiligen Populationen seine Anwendung nicht ausschließen. Allerdings betrafen die jeweiligen Fälle zur Meeresschildkröte Caretta caretta Aktivitäten im Bereich von Schutzgebieten, die aufgrund ihrer großen Bedeutung für die jeweiligen Arten festgelegt worden sind,(52) während das Urteil zur Milosviper ein für diese Art essenzielles Gebiet zum Gegenstand hatte.(53) Und beim Urteil zur zyprischen Ringelnatter ging es um ein Gebiet, das unstreitig hätte unter Schutz gestellt werden müssen.(54) An solchen Orten sind gesteigerte Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Störungen durchaus angemessen.

106. Eine Ausrichtung des Störungsverbots auf das Ziel der Habitatrichtlinie schränkt aber nicht nur seine Anwendung im Hinblick auf isolierte und letztlich unbedeutende Störungen einzelner Exemplare ein. Sie legt im Gegenzug auch nahe, dass das Störungsverbot wichtige Lebensräume der Arten unabhängig davon schützt, ob gerade einzelne Exemplare dort sind, ob es dort Fortpflanzungs- und Ruhestätten gibt oder ob dort Schutzgebiete festgelegt sind. Denn eine Beeinträchtigung oder Beseitigung des Lebensraums kann gerade im Licht der Ziele der Richtlinie unabhängig von diesen Faktoren eine erhebliche Störung der betroffenen Art bewirken.

107. Somit ist das Störungsverbot nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. b der Habitatrichtlinie auf Handlungen zu beschränken, die in besonderer Weise geeignet sind, den Erhaltungszustand der geschützten Arten zu beeinträchtigen, insbesondere an Orten, die für diese Arten von besonderer Bedeutung sind oder wo sie bei der Fortpflanzung, Aufzucht, Überwinterung und Wanderung beeinträchtigt würden.

D.      Die Ebene der Beurteilung des Erhaltungszustands (Frage 3)

108. Da zumindest bei den Verboten der Störung und teilweise auch bei den übrigen Verboten der Vogelschutzrichtlinie der Erhaltungszustand der betroffenen Art eine Rolle spielt, bedarf die Frage 3 zur Beurteilungsebene einer Beantwortung.

109. Für diese Problematik sind die jüngsten Feststellungen im zweiten Urteil zum Schutz des Wolfs in Finnland hilfreich. Dabei ging es um die Beurteilung des Erhaltungszustands der betreffenden Art bei der Gewährung einer Ausnahme nach Art. 16 der Habitatrichtlinie. Überträgt man die dort getroffenen Feststellungen auf die Prüfung einer Beeinträchtigung, so ist diese auf Kriterien zu stützen, die die Erhaltung der Populationsdynamik und ‑stabilität der betreffenden Art langfristig sicherstellen.(55)

110. Dabei sind sowohl das Gebiet des Mitgliedstaats als auch die jeweilige biogeografische Region in den Blick zu nehmen, um in einem ersten Schritt den Erhaltungszustand der Populationen der betreffenden Arten und in einem zweiten Schritt die geografischen und demografischen Auswirkungen zu ermitteln, die die Störungen auf diesen haben können.(56)

111. In diesem Zusammenhang ist die Bewertung der Auswirkung einer Beeinträchtigung, bezogen auf das Gebiet einer lokalen Population, im Allgemeinen erforderlich, um ihre Auswirkung auf den Erhaltungszustand der in Rede stehenden Population in einem größeren Rahmen zu bestimmen. Außerdem hängt der Erhaltungszustand einer Population auf nationaler oder biogeografischer Ebene von der kumulierten Auswirkung der verschiedenen, die lokalen Gebiete betreffenden Störungen ab.(57)

112. Soweit es bei der Anwendung der Verbote nach Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie und Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie auf den Erhaltungszustand der Populationen der betreffenden Art ankommt, ist dieser somit bezogen auf das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder, wenn sich die Grenzen dieses Mitgliedstaats mit mehreren biogeografischen Regionen überschneiden oder das natürliche Verbreitungsgebiet der Art dies erfordert, bezogen auf die betreffende biogeografische Region und soweit möglich grenzüberschreitend zu bewerten.(58)

V.      Ergebnis

113. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, wie folgt zu entscheiden:

1)      Die Mitgliedstaaten sind nach den Art. 1 und 5 der Richtlinie 2009/147/EG über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verpflichtet, Regelungen zum Schutz sämtlicher wildlebenden Vogelarten zu erlassen, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Schutzregelungen, die lediglich Arten des Anhangs I der Richtlinie erfassen oder Arten, die auf irgendeiner Ebene bedroht sind oder deren Population auf lange Sicht rückläufig ist, genügen diesen Anforderungen nicht.

2)      Das in Art. 12 Buchst. d der Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen niedergelegte Verbot der Vernichtung oder Beschädigung von Fortpflanzungsstätten von Tieren des Anhangs IV Buchst. a setzt nicht voraus, dass sich der Erhaltungszustand von Populationen der betroffenen Art aufgrund der fraglichen Handlung zu verschlechtern droht. Ein günstiger Erhaltungszustand der betroffenen Art lässt das Verbot auch unberührt.

3)      Die Verbote des Tötens und des Zerstörens nach Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/147 und Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und c der Richtlinie 92/43 setzen nicht das Risiko voraus, dass sich die fragliche Maßnahme negativ auf den Erhaltungszustand der jeweiligen Tierarten auswirkt. Auch ein günstiger Erhaltungszustand der betroffenen Art lässt das Verbot unberührt.

Wenn die Beeinträchtigung von Vögeln nicht bezweckt, sondern nur in Kauf genommen wird, gelten die Verbote nach Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/147 allerdings nur, soweit dies notwendig ist, um diese Arten im Sinne von Art. 2 auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, und dabei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung trägt.

4)      Nach Art. 5 Buchst. d der Richtlinie 2009/147 müssen Störungen untersagt werden, falls sie sich erheblich auf das Ziel auswirken, die Populationen der Vogelarten auf einem ausreichenden Niveau zu erhalten oder sie auf dieses Niveau zu bringen, und insbesondere, wenn sie seltene Vögel bei der Brut oder der Aufzucht beeinträchtigen.

Das Störungsverbot nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 92/43 ist auf Handlungen beschränkt, die in besonderer Weise geeignet sind, den Erhaltungszustand der geschützten Arten zu beeinträchtigen, insbesondere an Orten, die für diese Arten von besonderer Bedeutung sind oder wo sie bei der Fortpflanzung, Aufzucht, Überwinterung und Wanderung beeinträchtigt würden.

5)      Soweit es bei der Anwendung der Verbote nach Art. 5 der Richtlinie 2009/147 und Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 92/43 auf den Erhaltungszustand der Populationen der betreffenden Art ankommt, ist dieser bezogen auf das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder, wenn sich die Grenzen dieses Mitgliedstaats mit mehreren biogeografischen Regionen überschneiden oder das natürliche Verbreitungsgebiet der Art dies erfordert, bezogen auf die betreffende biogeografische Region und soweit möglich grenzüberschreitend zu bewerten.


1      Originalsprache: Deutsch.


2      Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung.


3      Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 2010, L 20, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013 zur Anpassung bestimmter Richtlinien im Bereich Umwelt aufgrund des Beitritts der Republik Kroatien (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung.


4      Zuletzt Urteil vom 11. Juni 2020, Alianța pentru combaterea abuzurilor (C‑88/19, EU:C:2020:458).


5      Vgl. Urteile vom 15. Mai 2014, Briels u. a. (C‑521/12, EU:C:2014:330), vom 21. Juli 2016, Orleans u. a. (C‑387/15 und C‑388/15, EU:C:2016:583), vom 26. April 2017, Kommission/Deutschland (C‑142/16, EU:C:2017:301), und vom 7. November 2018, Coöperatie Mobilisation for the Environment u. a. (C‑293/17 und C‑294/17, EU:C:2018:882).


6      Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume, aufgelegt am 19. September 1979 in Bern (ABl. 1982, L 38, S. 3); im Namen der Gemeinschaft mit dem Beschluss 82/72/EWG des Rates vom 3. Dezember 1981 (ABl. 1982, L 38, S. 1) ratifiziert.


7      Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden (ABl. 2004, L 143, S. 56) in der durch die Richtlinie 2013/30/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 (ABl. 2013, L 178, S. 66) geänderten Fassung.


8      Https://nature-art12.eionet.europa.eu/article12/summary, besucht am 30. Juli 2020.


9      Https://circabc.europa.eu/sd/a/fad548dd-b8e0-4cc0-ae2f-266eb603671a/SE_Annex%20I%20Article%2017%20National%20Summary.docx, S. 12, besucht am 30. Juli 2020.


10      Urteile vom 20. Oktober 2005, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑6/04, EU:C:2005:626, Rn. 73 bis 79), vom 10. Januar 2006, Kommission/Deutschland (C‑98/03, EU:C:2006:3, Rn. 55), und vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien (Feldhamster) (C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 48).


11      Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851).


12      Urteile vom 8. Juli 1987, Kommission/Belgien (247/85, EU:C:1987:339, Rn. 6 und 7), vom 26. Januar 2012, Kommission/Polen (C‑192/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:44, Rn. 33), und vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 251).


13      Urteile vom 2. August 1993, Kommission/Spanien (Santoña) (C‑355/90, EU:C:1993:331, Rn. 15), vom 13. Juni 2002, Kommission/Irland (Moorschneehuhn) (C‑117/00, EU:C:2002:366, Rn. 15), und vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 262 und 263).


14      Urteile vom 8. Juli 1987, Kommission/Belgien (247/85, EU:C:1987:339, Rn. 21 und 22), und vom 27. April 1988, Kommission/Frankreich (252/85, EU:C:1988:202, Rn. 10 und 11).


15      Urteile vom 27. April 1988, Kommission/Frankreich (252/85, EU:C:1988:202, Rn. 15), vom 12. Juli 2007, Kommission/Österreich (C‑507/04, EU:C:2007:427, Rn. 102 und 103), und vom 26. Januar 2012, Kommission/Polen (C‑192/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:44, Rn. 25).


16      Urteil vom 12. Juli 2007, Kommission/Österreich (C‑507/04, EU:C:2007:427, Rn. 332 ff.); siehe auch meine Schlussanträge in dieser Rechtssache (C‑507/04, EU:C:2007:8, Nrn. 119 und 120 sowie 141 und 142).


17      Urteil vom 26. Januar 2012, Kommission/Polen (C‑192/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:44, Rn. 63).


18      Urteil vom 21. Juni 2018, Kommission/Malta (Wildfinken) (C‑557/15, EU:C:2018:477).


19      Europäische Kommission, Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie 92/43/EWG (2007), Kapitel 2, Nrn. 71 bis 79 (S. 53 bis 55 der deutschen Fassung).


20      Urteile vom 10. Januar 2006, Kommission/Deutschland (C‑98/03, EU:C:2006:3, Rn. 55), und vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien (Feldhamster) (C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 27).


21      Urteile vom 9. Juni 2011, Kommission/Frankreich (Feldhamster) (C‑383/09, EU:C:2011:369, Rn. 19 bis 21), vom 15. März 2012, Kommission/Zypern (zyprische Ringelnatter) (C‑340/10, EU:C:2012:143, Rn. 60 bis 62), vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 231), und vom 2. Juli 2020, Magistrat der Stadt Wien (Feldhamster) (C‑477/19, EU:C:2020:517, Rn. 20).


22      Urteile vom 30. Januar 2002, Kommission/Griechenland (Caretta caretta) (C‑103/00, EU:C:2002:60, Rn. 31), vom 16. März 2006, Kommission/Griechenland (Vipera schweizeri) (C‑518/04, nicht veröffentlicht, EU:C:2006:183, Rn. 21), und vom 10. November 2016, Kommission/Griechenland (Kyparissia) (C‑504/14, EU:C:2016:847, Rn. 148).


23      Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 237).


24      Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Spanien (Fischotter) (C‑221/04, EU:C:2005:777, Nrn. 49 und 50) und in der Rechtssache Kommission/Griechenland (Kyparissia) (C‑504/14, EU:C:2016:105, Nr. 126).


25      Urteile vom 18. Mai 2006, Kommission/Spanien (Fischotter) (C‑221/04, EU:C:2006:329, Rn. 71), und vom 10. November 2016, Kommission/Griechenland (Kyparissia) (C‑504/14, EU:C:2016:847, Rn. 159).


26      Urteil vom 18. Mai 2006, Kommission/Spanien (Fischotter) (C‑221/04, EU:C:2006:329, Rn. 72 und 73).


27      Urteil vom 10. November 2016, Kommission/Griechenland (Kyparissia) (C‑504/14, EU:C:2016:847, Rn. 114 sowie 157 und 158).


28      Urteil vom 30. Januar 2002, Kommission/Griechenland (Caretta caretta) (C‑103/00, EU:C:2002:60, Rn. 36 und 39).


29      Siehe aber zum Verbot der Störung nachfolgend, Nrn. 101 ff.


30      Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 231, 237 und 238).


31      Urteile vom 27. April 1988, Kommission/Frankreich (252/85, EU:C:1988:202, Rn. 28), vom 16. Oktober 2003, Ligue pour la protection des oiseaux u. a. (C‑182/02, EU:C:2003:558, Rn. 17), und vom 8. Juni 2006, WWF Italia u. a. (C‑60/05, EU:C:2006:378, Rn. 32).


32      Urteil vom 23. April 2020, Kommission/Finnland (Frühjahrsjagd auf die männliche Eiderente) (C‑217/19, EU:C:2020:291, Rn. 84).


33      Bericht über das Übereinkommen zur Erhaltung der europäischen wild lebenden Pflanzen und Tiere (1997–1998) (Art. 9 Abs. 2) (vorgelegt von der Europäischen Kommission), SEK(2001) 515 endg.


34      Vgl. zu anderen internationalen Übereinkommen Urteile vom 24. November 1992, Poulsen und Diva Navigation (C286/90, EU:C:1992:453, Rn. 9), vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C402/05 P und C415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 291), vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a. (C366/10, EU:C:2011:864, Rn. 123), und vom 11. Juli 2018, Bosphorus Queen Shipping (C15/17, EU:C:2018:557, Rn. 44).


35      Siehe aber zum Verbot der Störung nachfolgend, Nrn. 95 ff.


36      Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 253 und 254).


37      Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 259).


38      Möckel, S., „35 Jahre Europäische Vogelschutzrichtlinie“, Natur und Recht 2014, S. 381 (387), verweist allerdings zutreffend auf die weit verbreiteten Fledermäuse, deren Arten alle dem strengen Schutz der Habitatrichtlinie unterliegen.


39      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Spanien (Fischotter) (C‑221/04, EU:C:2005:777, Nr. 50).


40      Siehe oben, Nrn. 41 ff.


41      Vgl. Machtans, C., Wedeles, C., und Bayne, E., „A first estimate for Canada of the number of birds killed by colliding with building windows“, Avian Conservation and Ecology 8.2 (2013), S. 5.


42      Vgl. etwa Slater, F. M., „An assessment of wildlife road casualties–the potential discrepancy between numbers counted and numbers killed“, Web Ecology 3.1 (2002), S. 33.


43      Urteil vom 13. Juni 2002, Kommission/Irland (Moorschneehuhn) (C‑117/00, EU:C:2002:366, Rn. 15 ff.).


44      Siehe oben, Nr. 77.


45      Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 18).


46      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Tronex (C‑624/17, EU:C:2019:150, Nrn. 51 und 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


47      Vgl. Urteile vom 8. Juli 1987, Kommission/Belgien (247/85, EU:C:1987:339, Rn. 8) und Kommission/Italien (262/85, EU:C:1987:340, Rn. 8), sowie vom 19. Januar 1994, Association pour la protection des animaux sauvages u. a. (C‑435/92, EU:C:1994:10, Rn. 20).


48      Vgl. Urteile vom 27. April 1988, Kommission/Frankreich (252/85, EU:C:1988:202, Rn. 28), vom 16. Oktober 2003, Ligue pour la protection des oiseaux u. a. (C‑182/02, EU:C:2003:558, Rn. 17), und vom 23. April 2020, Kommission/Finnland (Frühjahrsjagd auf die männliche Eiderente) (C‑217/19, EU:C:2020:291, Rn. 68), sowie Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed in der Rechtssache WWF Italia u. a. (C‑60/05, EU:C:2006:116, Nr. 50) und meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Irland (C‑418/04, EU:C:2006:569, Nrn. 111 und 112).


49      Urteil vom 17. April 2018, Kommission/Polen (Wald von Białowieża) (C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 251 ff.).


50      Leitfaden der Kommission (zitiert in Fn. 19, Kapitel 2, Nr. 41 [S. 42 der deutschen Fassung]).


51      Zitiert in Fn. 19, Kapitel 2, Nr. 39 (S. 42 der deutschen Fassung).


52      Urteil vom 30. Januar 2002, Kommission/Griechenland (Caretta caretta) (C‑103/00, EU:C:2002:60, Rn. 17), und meine Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Griechenland (Kyparissia) (C‑504/14, EU:C:2016:105, Nrn. 1 und 13).


53      Urteil vom 16. März 2006, Kommission/Griechenland (Vipera schweizeri) (C‑518/04, nicht veröffentlicht, EU:C:2006:183, Rn. 15).


54      Urteil vom 15. März 2012, Kommission/Zypern (Natrix natrix cypriaca) (C‑340/10, EU:C:2012:143, Rn. 16 und 18 sowie 63 bis 65).


55      Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 57).


56      Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 58).


57      Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 59).


58      Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola (C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 61).