Language of document : ECLI:EU:T:2012:704

BESCHLUSS DES GERICHTS (Achte Kammer)

18. Dezember 2012(*)

„Nichtigkeitsklage – Staatliche Beihilfen – Rechtsbehelfsfrist – Verspätung – Unzulässigkeit“

In der Rechtssache T‑205/11

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch R. Lyal, T. Maxian Rusche und M. Adam als Bevollmächtigte,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung des Beschlusses 2011/527/EU der Kommission vom 26. Januar 2011 über die staatliche Beihilfe Deutschlands C 7/10 (ex CP 250/09 und NN 5/10) „KStG, Sanierungsklausel“ (ABl. L 235, S. 26)

erlässt

DAS GERICHT (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten L. Truchot, der Richterin M. E. Martins Ribeiro und des Richters A. Popescu (Berichterstatter),

Kanzler: E. Coulon,

folgenden

Beschluss

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

1        Mit Schreiben vom 5. August 2009 und vom 30. September 2009 ersuchte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Bundesrepublik Deutschland um Auskünfte über § 8c des Körperschaftsteuergesetzes, der eine steuerliche Maßnahme namens „Sanierungsklausel“ vorsieht. Die deutschen Behörden antworteten darauf mit Schreiben vom 20. August 2009 und vom 5. November 2009.

2        Mit Beschluss vom 24. Februar 2010 (ABl. C 90, S. 8) eröffnete die Kommission hinsichtlich der in Rede stehenden steuerlichen Maßnahme das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV und wurden die Beteiligten zur Stellungnahme aufgefordert. Mit Schreiben vom 9. April 2010 übermittelten die deutschen Behörden der Kommission ihre Stellungnahme. Nach zwei Treffen zwischen den Dienststellen der Kommission und den deutschen Behörden am 9. April 2010 und am 3. Juni 2010 übermittelte die Bundesrepublik Deutschland am 2. Juli 2010 weitere Auskünfte.

3        Am 26. Januar 2011 erließ die Kommission den Beschluss 2011/527/EU über die staatliche Beihilfe Deutschlands C 7/10 (ex CP 250/09 und NN 5/10) „KStG, Sanierungsklausel“ (ABl. L 235, S. 26, im Folgenden: angefochtener Beschluss).

 Verfahren und Anträge der Parteien

4        Mit Klageschrift, die am 7. April 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Bundesrepublik Deutschland die vorliegende Klage erhoben.

5        Mit besonderem Schriftsatz, der am 28. Juni 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Kommission die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Art. 114 der Verfahrensordnung des Gerichts erhoben. Die Bundesrepublik Deutschland hat am 22. August 2011 ihre Stellungnahme zu dieser Einrede eingereicht.

6        Die Bundesrepublik Deutschland beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        hilfsweise, den angefochtenen Beschluss teilweise für nichtig zu erklären, soweit die Kommission in Art. 2 des Beschlusses entschieden hat, dass gewährte Einzelbeihilfen mit dem Binnenmarkt in Gänze unvereinbar und in voller Höhe zurückzufordern sind, wenn der Beihilfebetrag 500 000 Euro überschreitet;

–        die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen und das Verfahren fortzusetzen;

–        hilfsweise, die Entscheidung über die Einrede dem Endurteil vorzubehalten;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

7        Die Kommission beantragt,

–        die Klage als unzulässig abzuweisen;

–        über die Unzulässigkeit der Klage gemäß Art. 114 der Verfahrensordnung zu entscheiden;

–        der Bundesrepublik Deutschland die Kosten aufzuerlegen.

8        Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Achten Kammer zugeteilt worden, der deshalb die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist.

9        Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 64 der Verfahrensordnung hat das Gericht (Achte Kammer) die Parteien aufgefordert, bestimmte Fragen schriftlich zu beantworten. Die Parteien sind dem fristgerecht nachgekommen.

 Rechtliche Würdigung

10      Nach Art. 114 der Verfahrensordnung wird, wenn eine Partei vorab eine Entscheidung des Gerichts über die Unzulässigkeit herbeiführen will, über die Einrede der Unzulässigkeit mündlich verhandelt, sofern das Gericht nichts anderes bestimmt.

11      Im vorliegenden Fall ist das Gericht in der Lage, aufgrund des Akteninhalts ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

12      Zur Stützung ihrer Einrede der Unzulässigkeit macht die Kommission geltend, die vorliegende Klage sei wegen verspäteter Erhebung unzulässig, da der angefochtene Beschluss der Bundesrepublik Deutschland am 27. Januar 2011 zugestellt worden sei.

13      Gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV ist die Nichtigkeitsklage binnen zwei Monaten zu erheben; diese Frist läuft je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der angefochtenen Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat. Im vorliegenden Fall ist die Klagefrist ab dem Zeitpunkt der Zustellung des angefochtenen Beschlusses zu berechnen, was von der Bundesrepublik Deutschland nicht bestritten wird. Nach Art. 102 § 2 der Verfahrensordnung ist diese Frist um eine pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen zu verlängern.

14      Zudem geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die Partei, die sich auf die verspätete Einreichung der Klageschrift beruft, nachweisen muss, an welchem Tag die Klagefrist zu laufen begann (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 17. Juli 2008, Athinaïki Techniki/Kommission, C‑521/06 P, Slg. 2008, I‑5829, Randnr. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

15      Mit der Bundesrepublik Deutschland ist festzustellen, dass die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Zustellung eines Beschlusses, der – wie der angefochtene Beschluss – in Anwendung von Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von [Art. 108 AEUV] (ABl. L 83, S. 1) erlassen wurde, in der genannten Verordnung nicht festgelegt sind.

16      Im vorliegenden Fall legt die Kommission zum Nachweis dessen, dass der angefochtene Beschluss der Bundesrepublik Deutschland am 27. Januar 2011 zugestellt wurde, eine Kopie des Übersendungsschreibens zu dem genannten Beschluss vor, auf dem zwei Stempel angebracht wurden. Der erste Stempel enthält die Angaben „Accusé de réception“ [Empfangsbestätigung], „Nom (en caractères d’imprimerie)“ [Name (in Druckbuchstaben)], „Reçu le … à … heures“ [Empfangen am … um … Uhr], „Reçu par téléfax le … à … heures“ [Empfangen per Telefax am … um … Uhr] und „Signature“ [Unterschrift] – wobei diese Angaben nicht vervollständigt wurden –, wohingegen es sich bei dem zweiten Stempel um einen Eingangsstempel der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union (im Folgenden: Ständige Vertretung Deutschlands) handelt, der das Datum 27. Januar 2011 trägt.

17      In diesem Zusammenhang greift die Bundesrepublik Deutschland nicht die im vorliegenden Fall verwendete Art der Zustellung an, nämlich durch Einreichung der in Rede stehenden Sendung bei der Ständigen Vertretung Deutschlands per Boten.

18      Im Übrigen stellt die Bundesrepublik Deutschland nicht die Tatsache infrage, dass die Kommission am 27. Januar 2011 die Sendung mit dem angefochtenen Beschluss per Boten bei der Ständigen Vertretung Deutschlands eingereicht hat. Ebenso wenig bestreitet sie, dass die Kommission im Besitz einer Empfangsbestätigung ist, und zwar in Form eines Eingangsstempels der Ständigen Vertretung Deutschlands, der mit 27. Januar 2011 datiert und auf dem Übersendungsschreiben des angefochtenen Beschlusses angebracht ist.

19      Folglich ist entsprechend dem Vorbringen der Kommission der Schluss zu ziehen, dass sie bewiesen hat, dass der angefochtene Beschluss der Bundesrepublik Deutschland am 27. Januar 2011 wirksam zugestellt wurde. Das von der Kommission vorgelegte, mit dem Eingangsstempel der Ständigen Vertretung Deutschlands vom 27. Januar 2011 versehene Dokument erlaubt es nämlich, davon auszugehen, dass im vorliegenden Fall die in Rede stehende Sendung ihrem Adressaten an diesem Tag übergeben wurde. Daraus folgt, dass die Bundesrepublik Deutschland an diesem Tag in der Lage war, vom Inhalt der genannten Sendung und somit vom Inhalt des angefochtenen Beschlusses Kenntnis zu erlangen.

20      Diese Schlussfolgerung wird nicht durch die Argumente infrage gestellt, mit denen die Bundesrepublik Deutschland die Ordnungsgemäßheit der Zustellung des angefochtenen Beschlusses am 27. Januar 2011 und den Nachweis dieser Zustellung durch die Kommission in Abrede stellt und behauptet, die Klagefrist habe am 28. Januar 2011 zu laufen begonnen. Zur Stützung ihres Vorbringens legt die Bundesrepublik Deutschland in der Anlage zur Klage und zu ihrer Stellungnahme zur Einrede der Unzulässigkeit zwei Kopien des Übersendungsschreibens des angefochtenen Beschlusses vor, auf dem ein mit 28. Januar 2011 datierter Eingangsstempel der Ständigen Vertretung Deutschlands angebracht wurde, der zudem eine Spalte mit einem Zeichen und Ziffern enthält.

21      Vorab ist festzustellen, dass zwar die Ziffern „2“ und „8“ auf der in der Anlage zur Klageschrift vorgelegten Kopie teilweise handgeschrieben sind, während sie auf der in der Anlage zur Stellungnahme zur Einrede der Unzulässigkeit vorgelegten Kopie in Druckbuchstaben erscheinen, die Daten auf den beiden Kopien jedoch identisch sind. Daraus folgt, dass das Datum auf der Kopie in der Anlage zur Klageschrift entgegen der Behauptung der Kommission nicht verändert wurde.

22      Als Erstes behauptet die Bundesrepublik Deutschland, dass die Rechtsprechung bestimmte Voraussetzungen festgelegt habe, die erfüllt sein müssten, damit die Zustellung eines Beschlusses als ordnungsgemäß angesehen werden könne. Die Bundesrepublik Deutschland beruft sich hierbei auf das Urteil des Gerichts vom 15. September 1998, European Night Services u. a./Kommission (T‑374/94, T‑375/94, T‑384/94 und T‑388/94, Slg. 1998, II‑3141), in dem das Erfordernis der Entgegennahme der betreffenden Sendung durch eine hierfür befugte Person aufgestellt worden sei.

23      Dieses Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland ist zurückzuweisen, da es auf eine Auslegung der vom Unionsrichter im Urteil European Night Services u. a./Kommission festgelegten Erfordernisse für Zustellungen von Beschlüssen der Kommission gestützt ist, die sich nicht auf den vorliegenden Fall übertragen lässt.

24      Wie die Kommission zu Recht feststellt, war die Zustellung des betreffenden Beschlusses der Kommission in der Rechtssache, in der das Urteil European Night Services u. a./Kommission erging, im Gegensatz zur Situation im vorliegenden Fall an einen anderen Adressaten als einen Mitgliedstaat erfolgt, und zwar per eingeschriebenen Brief mit Rückschein, wobei sich die Anforderung an die Wirksamkeit der Zustellung – die Übergabe der in Rede stehenden Postsendung an eine zum Postempfang befugte Person – aus der in jener Rechtssache anwendbaren nationalen Regelung ergab.

25      Folglich ist die sich aus dem Urteil European Night Services u. a./Kommission ergebende Regel, nach der sich die Kommission im Hinblick auf die Ordnungsgemäßheit der Zustellung des angefochtenen Beschlusses zu vergewissern hat, dass die Person, an die die in Rede stehende Sendung in der Ständigen Vertretung Deutschlands übergeben wurde und die deren Eingangsstempel anbrachte, nach den Regeln der internen Organisation dieser Ständigen Vertretung zum Postempfang befugt war, im vorliegenden Fall nicht anwendbar.

26      Daraus folgt, dass – falls die Bundesrepublik Deutschland überhaupt der Ansicht sein sollte, es sei Aufgabe der Kommission, zu beweisen, dass die Person, an die die in Rede stehende Sendung in der Ständigen Vertretung Deutschlands übergeben wurde, zum Empfang befugt war – die Kommission einen solchen Beweis nicht zu erbringen hat.

27      Als Zweites macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, die Kommission bediene sich ihr gegenüber für die Zustellung von Beschlüssen, die – wie der angefochtene Beschluss – auf Art. 7 der Verordnung Nr. 659/1999 gestützt seien, einer ständigen Praxis, von der sie schon aus Gründen der Rechtssicherheit nicht abweichen dürfe. Im Rahmen dieser Praxis verwende die Kommission ein gesondertes Empfangsbekenntnis, auf dem das Datum, der Name des Empfängers der betreffenden Sendung in Druckbuchstaben, „das Dienstsiegel/Stempel und die Unterschrift“ anzubringen seien. Im vorliegenden Fall sei diese Praxis nicht eingehalten worden, da die Empfangsbestätigung in Form eines Stempels, der auf der von der Kommission vorgelegten Kopie des Übersendungsschreibens des angefochtenen Beschlusses angebracht sei, von der von der Kommission üblicherweise verwendeten abweiche und weder ausgefüllt noch unterschrieben sei. Nach Ansicht der Bundesrepublik Deutschland kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Zustellung des angefochtenen Beschlusses wirksam am 27. Januar 2011 erfolgte.

28      Es ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland zwar vorträgt, dass die im vorliegenden Fall verwendete Empfangsbestätigung in Form eines auf dem Doppel des Übersendungsschreibens des angefochtenen Beschlusses angebrachten Stempels von der abweiche, die die Kommission üblicherweise verwende – nämlich ein gesondertes Empfangsbekenntnis –, jedoch keine besondere Argumentation dazu entwickelt und nichts zum Nachweis der Unüblichkeit einer solchen Empfangsbestätigung vorlegt. Sie führt weiter aus, dass die im vorliegenden Fall verwendete Empfangsbestätigung einen Beweis für die ständige Praxis der Kommission darstelle, wonach die Felder für das Datum, den Namen und die Unterschrift bei der Übergabe der betreffenden Sendung ausgefüllt werden müssten, „sei es entweder auf einem gesonderten Empfangsbekenntnis oder jedenfalls dem entsprechend vorbereiteten Doppel des Übersendungsschreibens“. Daher ist davon auszugehen, dass die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen zum Bestehen einer angeblichen Praxis der Kommission im Bereich der Zustellung von Beschlüssen wie des angefochtenen Beschlusses weniger die Verwendung einer Empfangsbestätigung rügt, die ihrem Vorbringen nach von der üblicherweise von der Kommission verwendeten abweicht, als vielmehr die Tatsache, dass die Felder für das Datum, den Namen und die Unterschrift nicht ausgefüllt wurden.

29      Dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland, es bestehe eine ständige Praxis der Kommission, wonach auf dem Empfangsbekenntnis – in welcher Form es auch bestehe – die für das Datum, den Namen und die Unterschrift vorgesehenen Felder ausgefüllt werden müssten, kann jedoch für die Zwecke der Prüfung der Ordnungsgemäßheit der Zustellung des angefochtenen Beschlusses nicht gefolgt werden.

30      Erstens bestreitet die Kommission das Bestehen einer solchen Praxis.

31      In ihrer Antwort auf die im Rahmen der prozessleitenden Maßnahmen gestellte Frage des Gerichts (vgl. oben, Randnr. 9) hat die Kommission ihre Praxis betreffend die Zustellung von in Anwendung von Art. 7 der Verordnung Nr. 659/1999 erlassenen Beschlüssen an die Mitgliedstaaten, an die sich die genannten Beschlüsse richten, beschrieben. So hat sie dargelegt, dass ein Übersendungsschreiben erstellt werde und dass auf einer Kopie davon ein Stempel mit der Angabe „Accusé de réception“ [Empfangsbestätigung] sowie den Feldern „Nom (en caractères d’imprimerie)“ [Name (in Druckbuchstaben)], „Reçu le … à … heures“ [Empfangen am … um … Uhr], „Reçu par téléfax le … à … heures“ [Empfangen per Telefax am … um … Uhr] und „Signature“ [Unterschrift] angebracht werde. Das Original des Übersendungsschreibens, der Text des betreffenden Beschlusses und die Kopie des Übersendungsschreibens würden von einem Boten der Kommission an einen Bediensteten der Ständigen Vertretung des betreffenden Mitgliedstaats bei der Europäischen Union übergeben, der den Empfang der genannten Dokumente bestätige, indem er den Eingangsstempel der Ständigen Vertretung auf der Kopie des Übersendungsschreibens anbringe. Diese Kopie werde danach von der Kommission archiviert. Nur in dem Fall, dass die Person, an die die Sendung übergeben werde, nicht über den Eingangsstempel der Ständigen Vertretung verfüge, werde sie durch den Boten der Kommission ersucht, die Felder des Stempels mit der Angabe „Accusé de réception“ [Empfangsbestätigung] auszufüllen.

32      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Mechanismus der Zustellung der Beschlüsse dieses Organs an die Ständigen Vertretungen der Mitgliedstaaten bei der Europäischen Union voraussetzt, dass der Eingangsstempel, den die Ständigen Vertretungen verwenden, von Personen benutzt wird, die nach den internen Regeln des betreffenden Mitgliedstaats zum Postempfang befugt sind.

33      Infolgedessen genügte nach der von der Kommission beschriebenen Praxis die Anbringung des Eingangsstempels der Ständigen Vertretung Deutschlands auf der Kopie des Übersendungsschreibens des angefochtenen Beschlusses, um darzulegen, dass die Sendung wirksam an dem auf dem genannten Stempel vermerkten Tag von seinem Adressaten empfangen wurde, ohne dass die Kommission verpflichtet wäre, zu verlangen, dass der Name und die Unterschrift der Person, an die die Sendung übergeben wurde, auf dem Eingangsstempel oder auf dem sich auf derselben Seite befindenden Stempel mit der Angabe „Accusé de réception“ [Empfangsbestätigung] vermerkt wird.

34      Zweitens trägt die Bundesrepublik Deutschland, die das Bestehen einer ständigen Praxis geltend macht, die von jener, die von der Kommission beschrieben werde, abweiche und nach der die Felder der Empfangsbestätigung für das Datum, den Namen und die Unterschrift auf jeden Fall ausgefüllt würden, auch wenn der Stempel der Ständigen Vertretung Deutschlands auf dem der Kommission übergebenen Dokument angebracht worden sei, entgegen ihrem Vorbringen die Beweislast für das Bestehen einer solchen Praxis. Im vorliegenden Fall hat die Bundesrepublik Deutschland jedoch einen solchen Beweis nicht erbracht.

35      In diesem Zusammenhang stellt das Vorhandensein des Stempels „Accusé de réception“ [Empfangsbestätigung] auf der von der Kommission vorgelegten Kopie des Übersendungsschreibens des angefochtenen Beschlusses entgegen der Behauptung der Bundesrepublik Deutschland keinen Beweis für die von ihr vorgebrachte Praxis dar. Nach der von der Kommission beschriebenen Praxis (vgl. oben, Randnr. 31) wird dieser Stempel nämlich systematisch auf der Kopie des Übersendungsschreibens angebracht, aber nur dann ausgefüllt, wenn der Eingangsstempel der Ständigen Vertretung des betreffenden Mitgliedstaats bei der Europäischen Union nicht auf derselben Seite angebracht werden kann.

36      Im Übrigen hat die Verweisung auf das Erfordernis der Unterschrift des Anwalts auf den beim Unionsrichter eingereichten Verfahrensschriftstücken insofern keine Relevanz für die Zwecke des Nachweises des Bestehens der Praxis der Kommission, die ihr die Bundesrepublik Deutschland zuschreibt, als es sich im vorliegenden Fall um den Empfang eines von der Kommission an einen Mitgliedstaat zugestellten Dokuments handelt und nicht um die Einreichung eines Verfahrensschriftstücks. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Einreichung eines Verfahrensschriftstücks beim Unionsrichter dem Erfordernis einer Unterschrift gemäß insbesondere Art. 43 der Verfahrensordnung unterliegt. Die Bundesrepublik Deutschland bringt jedoch keine Gesetzesbestimmung vor, die das Erfordernis einer Unterschrift im Fall einer Zustellung an die Ständigen Vertretungen der Mitgliedstaaten bei der Europäischen Union aufstellt.

37      Zudem ist das Argument der Bundesrepublik Deutschland zurückzuweisen, das Bestehen der der Kommission zugeschriebenen Praxis werde dadurch bestätigt, dass sie den Nachweis ermögliche, dass die in Rede stehende Sendung an eine dazu befugte Person übergeben worden sei. Dieses Argument ist nämlich auf die falsche Prämisse gestützt, dass aus dem Urteil European Night Services u. a./Kommission hervorgehe, dass die in Rede stehende Sendung im vorliegenden Fall von einer nach den Regeln der internen Organisation der Ständigen Vertretung Deutschlands zum Postempfang befugten Person habe entgegengenommen werden müssen (vgl. oben, Randnrn. 23 bis 25).

38      Auf jeden Fall ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht behauptet, dass die Kommission im Rahmen der ihr zugeschriebenen ständigen Praxis im vorliegenden Fall in der Lage gewesen wäre, die Eigenschaft der Person zu überprüfen, die die in Rede stehende Sendung entgegengenommen hat. Die Bundesrepublik Deutschland macht nämlich geltend, dass erst der mit 28. Januar 2011 datierte Eingangsstempel der Ständigen Vertretung Deutschlands, den ein konkret identifizierbarer und zum Empfang berechtigter Bediensteter der Ständigen Vertretung handschriftlich ausgefüllt habe, den Empfang der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Sendung beweise. Die Bundesrepublik Deutschland erklärt jedoch nicht, wie die Kommission hätte überprüfen können, dass die Person, die die in Rede stehende Sendung in der Ständigen Vertretung entgegengenommen hat, nach den Regeln der internen Organisation der Ständigen Vertretung Deutschlands zur Übernahme der Post berechtigt war, und wie sie gegebenenfalls die Unterschrift dieser Person hätte überprüfen können. Die Kommission trägt vor, dass sie nicht in der Lage sei, eine solche Überprüfung vorzunehmen.

39      Folgte man der im vorliegenden Fall vorgetragenen Argumentation der Bundesrepublik Deutschland, so führte dies somit – wie die Kommission zu Recht geltend macht – dazu, es der Bundesrepublik Deutschland zu erlauben, den Zeitpunkt der Zustellung der in Rede stehenden Sendung durch Regeln der internen Organisation ihrer Ständigen Vertretung zu bestimmen, ohne den Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem sie in der Lage gewesen sein wird, Kenntnis von dem Inhalt der genannten Sendung und damit von dem Inhalt des angefochtenen Beschlusses zu nehmen.

40      Die Wirksamkeit der Zustellung des angefochtenen Beschlusses an die Bundesrepublik Deutschland und in der Folge die Bestimmung des Beginns der Klagefrist dürfen aber angesichts des Ziels der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Klagefristen, nämlich das Erfordernis der Rechtssicherheit und die Notwendigkeit, jede Diskriminierung oder willkürliche Behandlung bei der Rechtspflege zu verhindern, miteinander in Einklang zu bringen, nicht von Regeln der internen Organisation der Ständigen Vertretung Deutschlands abhängen (Beschluss des Gerichtshofs vom 16. Oktober 2010, Internationale Fruchtimport Gesellschaft Weichert/Kommission, C‑73/10 P, Slg. 2010, I‑11535, Randnr. 52).

41      Als Drittes macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, dass das Fehlen einer Unterschrift oder einer Paraphe ungeachtet der Frage der Beweislast einen wesentlichen und schwerwiegenden Formfehler darstelle, aufgrund dessen davon auszugehen sei, dass die Zustellung des angefochtenen Beschlusses nicht ordnungsgemäß erfolgt sei.

42      Erstens gibt die Bundesrepublik Deutschland, wie die Kommission richtigerweise feststellt, nicht die Rechtsgrundlage eines solchen Formerfordernisses an.

43      Außerdem hat die Bundesrepublik Deutschland nicht das Bestehen der von ihr der Kommission zugeschriebenen ständigen Praxis nachgewiesen, nach der zum Zeitpunkt der Zustellung von Beschlüssen wie des angefochtenen Beschlusses eine Unterschrift verlangt werde (vgl. oben, Randnrn. 34 bis 41).

44      Zweitens ist das Argument der Bundesrepublik Deutschland, in Ermangelung einer Unterschrift sei es unmöglich, die Person auszumachen, die die in Rede stehende Sendung entgegengenommen habe, und somit zu überprüfen, ob die in der Rechtsprechung bestimmten Formerfordernisse für die Zustellung eines Beschlusses der Kommission eingehalten worden seien, auf die falsche Prämisse gestützt, dass solche Formerfordernisse im Urteil European Night Services u. a./Kommission aufgestellt worden und im vorliegenden Fall anwendbar seien (vgl. oben, Randnrn. 23 bis 25).

45      Jedenfalls behauptet die Bundesrepublik Deutschland nicht, dass die Kommission im vorliegenden Fall in der Lage gewesen sei, die Unterschrift der Person zu überprüfen, an die die in Rede stehende Sendung in der Ständigen Vertretung Deutschlands übergeben wurde.

46      Drittens ist festzustellen, dass der Stempel „Accusé de réception“ [Empfangsbestätigung], der sich auf dem Dokument befindet, das von der Kommission in der Anlage zu ihrer Einrede der Unzulässigkeit vorgelegt wurde, zwar keine Unterschrift oder Paraphe enthält, jedoch auf derselben Seite wie der Eingangsstempel der Ständigen Vertretung Deutschlands angebracht ist. In diesem Zusammenhang fällt die Benutzung des Eingangsstempels der Ständigen Vertretung Deutschlands, wie die Kommission zu Recht geltend macht, unter ihre Regeln der internen Organisation und in die Verantwortung des betreffenden Mitgliedstaats und kann ein solcher Stempel nicht als anonymer Stempel – wie ihn die Bundesrepublik Deutschland zu bezeichnen scheint – angesehen werden.

47      Als Viertes ist für den Fall, dass die Bundesrepublik Deutschland rügen sollte, dass auf dem Eingangsstempel der Ständigen Vertretung Deutschlands Angaben fehlen, wie sie auf dem mit 28. Januar 2011 datierten Stempel eingetragen sind, der auf den in der Anlage zu der Klageschrift und der Stellungnahme zur Einrede der Unzulässigkeit vorgelegten Kopien des Übersendungsschreibens des angefochtenen Beschlusses aufgebracht wurde, festzustellen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland auf „de[n] Empfang und die Bearbeitung durch den für den Posteingang zuständigen Registrator am 28. Januar 2011“ stützt. Da diese Angaben somit an die interne Registrierung der betreffenden Sendung gebunden sind, ist ihr Fehlen auf dem Stempel vom 27. Januar 2011 für die Beurteilung der Wirksamkeit der Zustellung durch die Kommission irrelevant.

48      Aus den vorstehenden Erwägungen geht hervor, dass die Wirksamkeit der Zustellung des angefochtenen Beschlusses und der Nachweis dieser Zustellung nicht davon abhängig waren, dass die Kommission eine Empfangsbestätigung vorlegt, die insbesondere, neben dem Datum, den Namen und die Unterschrift der Person enthält, die die Sendung entgegengenommen hat, wobei diese Person zudem nach den Regeln der internen Organisation der Ständigen Vertretung Deutschlands ermächtigt sein muss, die Post entgegenzunehmen.

49      Da die Kommission nachgewiesen hat, dass der angefochtene Beschluss der Bundesrepublik Deutschland am 27. Januar 2011 wirksam zugestellt wurde (vgl. oben, Randnr. 19), begann die Klagefrist folglich an diesem Tag zu laufen.

50      In ihrer Antwort auf die im Rahmen der prozessleitenden Maßnahmen gestellten Fragen des Gerichts macht die Bundesrepublik Deutschland hierzu im Wesentlichen geltend, dass als Zeitpunkt der Zustellung und Beginn der Klagefrist im Allgemeinen der Werktag festzuhalten sei, der auf den Tag folge, an dem das betreffende Dokument in den Räumen des Adressaten eingegangen sei, da dieser dann von dem genannten Dokument tatsächlich Kenntnis erlangen könne. Da diese Argumentation ausschließlich auf mit der internen Organisation des Adressaten verbundenen Erwägungen beruht, ist sie zurückzuweisen.

51      Da die Klagefrist im vorliegenden Fall am 27. Januar 2011 zu laufen begonnen hat, ist sie demnach gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV in Verbindung mit Art. 101 und Art. 102 § 2 der Verfahrensordnung am Mittwoch, dem 6. April 2011, um Mitternacht abgelaufen.

52      Daraus folgt, dass die Bundesrepublik Deutschland die vorliegende Klage, die mit am 7. April 2011 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichter Klageschrift erhoben worden ist, nach dem Ablauf der Klagefrist eingereicht hat.

53      Im Übrigen hat die Bundesrepublik Deutschland weder das Vorliegen eines Zufalls oder eines Falls höherer Gewalt, was es ermöglichte, aufgrund von Art. 45 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der gemäß Art. 53 dieser Satzung auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar ist, von der in Rede stehenden Frist abzuweichen, nachgewiesen oder überhaupt geltend gemacht noch sich auf einen entschuldbaren Irrtum berufen.

54      Nach alledem ist die vorliegende Klage unzulässig und daher abzuweisen.

 Kosten

55      Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Achte Kammer)

beschlossen:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.

Luxemburg, den 20. Dezember 2012

Der Kanzler

 

       Der Präsident

E. Coulon

 

       L. Truchot


* Verfahrenssprache: Deutsch.