Language of document : ECLI:EU:C:2018:363

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 31. Mai 2018(1)

Rechtssache C68/17

IR

gegen

JQ

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen – Berufliche Anforderungen – Pflicht zur Aufrichtigkeit und Loyalität im Sinne des Ethos der Kirche – Ungleichbehandlung wegen der Konfession – Kündigung gegenüber einem katholischen Arbeitnehmer in leitender Stellung wegen einer Wiederheirat nach seiner Scheidung“






I.      Einleitung

1.        Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens befragt das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) den Gerichtshof nach der Rechtmäßigkeit der Kündigung gegenüber dem Chefarzt der Abteilung „Innere Medizin“ eines der Aufsicht des katholischen Erzbischofs von Köln unterliegenden katholischen Krankenhauses, die nur damit begründet wurde, dass er nach seiner Scheidung erneut eine Zivilehe einging, und nicht stattgefunden hätte, wenn er nicht katholisch gewesen wäre.

2.        Es würde sich um eine Kündigung handeln, die eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion darstellen würde und deshalb offenkundig rechtswidrig wäre, wenn Kirchen und andere Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, nicht aufgrund des deutschen Verfassungsrechts und des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf(2) eine rechtliche Sonderstellung innehätten.

3.        In der vorliegenden Rechtssache stellt sich die Frage, ob die Beachtung des Eheverständnisses nach der Lehre und dem kanonischen Recht der katholischen Kirche eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung im Sinne des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstellt, die bei Kündigungen zu einer Ungleichbehandlung katholischer Arbeitnehmer gegenüber Arbeitnehmern einer anderen Konfession oder ohne Konfession führen kann.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Art. 17 Abs. 1 AEUV bestimmt:

„Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“

5.        Die Erwägungsgründe 4, 23, 24 und 29 der Richtlinie 2000/78 sehen vor:

„(4)      Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht …

(23)      Unter sehr begrenzten Bedingungen kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das mit der Religion … zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. …

(24)      Die Europäische Union hat in ihrer der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam beigefügten Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften ausdrücklich anerkannt, dass sie den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträchtigt und dass dies in gleicher Weise für den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften gilt. Die Mitgliedstaaten können in dieser Hinsicht spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen beibehalten oder vorsehen, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein können.

(29)      Opfer von Diskriminierungen wegen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sollten über einen angemessenen Rechtsschutz verfügen. Um einen effektiveren Schutz zu gewährleisten, sollte auch die Möglichkeit bestehen, dass sich Verbände oder andere juristische Personen unbeschadet der nationalen Verfahrensordnung bezüglich der Vertretung und Verteidigung vor Gericht bei einem entsprechenden Beschluss der Mitgliedstaaten im Namen eines Opfers oder zu seiner Unterstützung an einem Verfahren beteiligen.“

6.        Art. 1 („Zweck“) der Richtlinie 2000/78 bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“

7.        Art. 2 („Der Begriff ,Diskriminierung‘“) der Richtlinie 2000/78 sieht in Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ,Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.

(2)      Im Sinne des Absatzes 1

a)      liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;

…“

8.        Art. 4 („Berufliche Anforderungen“) der Richtlinie 2000/78 bestimmt:

„(1)      Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.

(2)      Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des [Unionsrechts] beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund.

Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.“

B.      Deutsches Recht

1.      Verfassungsrecht

9.        Art. 140 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 I S. 1, im Folgenden: Grundgesetz) sieht vor: „Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“

10.      In Art. 137 der am 11. August 1919 in Weimar angenommenen und am 14. August 1919 in Kraft getretenen Verfassung des Deutschen Reichs (Reichsgesetzblatt 1919, S. 1383, im Folgenden: Weimarer Verfassung) heißt es:

„(1)      Es besteht keine Staatskirche.

(2)      Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluss von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen.

(3)      Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. …

(6)      Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.

(7)      Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.

…“

2.      Kündigungsschutzgesetz

11.      § 1 des Kündigungsschutzgesetzes vom 25. August 1969 (BGBl. 1969 I S. 1317, im Folgenden: KSchG) sieht vor, dass die Kündigung gegenüber einem Arbeitnehmer unwirksam ist, wenn sie „sozial ungerechtfertigt“ ist, d. h. „wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist“.

3.      Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

12.      Die Richtlinie 2000/78 wurde durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. 2006 I S. 1897, im Folgenden: AGG) in deutsches Recht umgesetzt.

13.      § 1 („Ziel des Gesetzes“) AGG bestimmt:

„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“

14.      § 7 („Benachteiligungsverbot“) Abs. 1 AGG bestimmt:

„Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt.“

15.      § 9 („Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung“) AGG bestimmt:

„(1)      [Eine] unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, [ist] auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.

(2)      Das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung berührt nicht das Recht der in Absatz 1 genannten Religionsgemeinschaften, der ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder der Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen zu können.“

C.      Recht der katholischen Kirche

16.      Nach Canon 11 des Codex Iuris Canonici (Gesetzbuch des Kirchenrechts, im Folgenden: CIC), der durch die apostolische Konstitution Sacrae disciplinae leges von Papst Johannes Paul II. am 25. Januar 1983 erlassen wurde (DC 1983, Nr. 1847, S. 244), „[werden durch] rein kirchliche Gesetze … diejenigen verpflichtet, die in der katholischen Kirche getauft oder in diese aufgenommen worden sind, hinreichenden Vernunftgebrauch besitzen und, falls nicht ausdrücklich etwas anderes im Recht vorgesehen ist, das siebente Lebensjahr vollendet haben“.

17.      Canon 1085 CIC bestimmt:

„§ 1      Ungültig schließt eine Ehe, wer durch das Band einer früheren Ehe gebunden ist, auch wenn diese nicht vollzogen worden ist.

§ 2      Mag auch eine frühere Ehe aus irgendeinem Grund nichtig oder aufgelöst worden sein, so ist deshalb eine neue Eheschließung noch nicht erlaubt, bevor die Nichtigkeit bzw. die Auflösung der früheren Ehe rechtmäßig und sicher feststeht.“

18.      Nach Canon 1108 § 1 CIC „[sind nur] jene Ehen … gültig, die geschlossen werden unter Assistenz des Ortsordinarius oder des Ortspfarrers oder eines von einem der beiden delegierten Priesters oder Diakons sowie vor zwei Zeugen, … nach den Regeln der folgenden Canones und unbeschadet der in den cann. 144, 1112 § 1, 1116 und 1127 §§ 1-2 genannten Ausnahmen“.

19.      Art. 1 der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22. September 1993(3) (im Folgenden: GrO 1993) bestimmt:

„Grundprinzipien des kirchlichen Dienstes

Alle in einer Einrichtung der katholischen Kirche Tätigen tragen durch ihre Arbeit ohne Rücksicht auf die arbeitsrechtliche Stellung gemeinsam dazu bei, dass die Einrichtung ihren Teil am Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann (Dienstgemeinschaft). …“

20.      Art. 3 („Begründung des Arbeitsverhältnisses“) Abs. 2 GrO 1993 bestimmt:

„Der kirchliche Dienstgeber kann pastorale, katechetische sowie in der Regel erzieherische und leitende Aufgaben nur einer Person übertragen, die der katholischen Kirche angehört.“

21.      Art. 4 („Loyalitätsobliegenheiten“) GrO 1993 sieht vor:

„(1)      Von den katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, dass sie die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten. Insbesondere im pastoralen, katechetischen und erzieherischen Dienst sowie bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die aufgrund einer Missio canonica tätig sind, ist das persönliche Lebenszeugnis im Sinne der Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre erforderlich. Dies gilt auch für leitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

(2)      Von nichtkatholischen christlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird erwartet, dass sie die Wahrheiten und Werte des Evangeliums achten und dazu beitragen, sie in der Einrichtung zur Geltung zu bringen.

(4)      Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben kirchenfeindliches Verhalten zu unterlassen. Sie dürfen in ihrer persönlichen Lebensführung und in ihrem dienstlichen Verhalten die Glaubwürdigkeit der Kirche und der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind, nicht gefährden.“

22.      Art. 5 („Verstöße gegen Loyalitätsobliegenheiten“) GrO 1993 bestimmt:

„(1)      Erfüllt eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter die Beschäftigungsanforderungen nicht mehr, so muss der Dienstgeber durch Beratung versuchen, dass die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter diesen Mangel auf Dauer beseitigt. … Als letzte Maßnahme kommt eine Kündigung in Betracht.

(2)      Für eine Kündigung aus kirchenspezifischen Gründen sieht die Kirche insbesondere folgende Loyalitätsverstöße als schwerwiegend an:

–        Verletzungen der gemäß Art. 3 und 4 von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter zu erfüllenden Obliegenheiten, insbesondere Kirchenaustritt, öffentliches Eintreten gegen tragende Grundsätze der katholischen Kirche (z. B. hinsichtlich der Abtreibung) und schwerwiegende persönliche sittliche Verfehlungen,

–        Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe[(4)],

–        Handlungen, die kirchenrechtlich als eindeutige Distanzierung von der katholischen Kirche anzusehen sind, vor allem Abfall vom Glauben (Apostasie oder Häresie gemäß c. 1364 § 1 i.V. mit c. 751 CIC), Verunehrung der heiligen Eucharistie (c. 1367 CIC), öffentliche Gotteslästerung und Hervorrufen von Hass und Verachtung gegen Religion und Kirche (c. 1369 CIC), Straftaten gegen die kirchlichen Autoritäten und die Freiheit der Kirche (insbesondere gemäß den cc. 1373, 1374 CIC).

(3)      Ein nach Abs. 2 generell als Kündigungsgrund in Betracht kommendes Verhalten schließt die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung aus, wenn es begangen wird von … leitend tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern … Von einer Kündigung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn schwerwiegende Gründe des Einzelfalles diese als unangemessen erscheinen lassen.“

23.      Die Grundordnung für katholische Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen (Deutschland) vom 5. November 1996(5) bestimmt:

„A.      Zuordnung zur Kirche

6.      Für den Träger ist die auf der Grundlage der Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst erlassene [GrO 1993] nebst Änderungen und Ergänzungen verbindlich. Als leitend tätige Mitarbeiter im Sinne der genannten Grundordnung gelten die Mitglieder der Krankenhausbetriebsleitung und die Abteilungsärzte.“

III. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

24.      IR ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach deutschem Recht. Ihr Gesellschaftszweck ist die Verwirklichung von Aufgaben der Caritas (der internationalen Wohlfahrtsorganisation der katholischen Kirche) als Lebens- und Wesensäußerung der katholischen Kirche durch u. a. den Betrieb von Krankenhäusern. IR verfolgt nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke und unterliegt der Aufsicht des katholischen Erzbischofs von Köln.

25.      JQ ist katholischer Konfession. Er ist ausgebildeter Arzt und arbeitet seit 2000 als Chefarzt der Abteilung „Innere Medizin“ eines Krankenhauses der IR in Düsseldorf (Deutschland). Sein Arbeitsvertrag mit IR wurde auf der Grundlage der GrO 1993 geschlossen, die von der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedet wurde und auf den kirchlichen Dienst im Rahmen von Arbeitsverhältnissen anwendbar ist.

26.      JQ war nach katholischem Ritus verheiratet. Im August 2005 trennte sich seine Ehefrau von ihm, und seit 2006 lebte er zusammen mit seiner neuen Lebensgefährtin. Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau gemäß dem deutschen Zivilrecht im Jahr 2008(6) heiratete JQ standesamtlich zum zweiten Mal, diesmal seine neue Lebensgefährtin. Zum Zeitpunkt der zweiten Heirat war die erste Ehe noch nicht annulliert worden.

27.      Nachdem IR durch Schreiben vom 30. März 2009 von der zweiten Heirat Kenntnis erlangt hatte, kündigte sie das Arbeitsverhältnis mit JQ ordentlich zum 30. September 2009.

28.      JQ erhob Klage gegen diese Kündigung mit der Begründung, dass seine erneute Eheschließung sie nicht zu rechtfertigen vermöge. Die Kündigung verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da nach der GrO 1993 eine Wiederheirat eines evangelischen oder keiner Kirche angehörenden Chefarztes keine Folgen auf sein Arbeitsverhältnis mit IR gehabt hätte.

29.      Dagegen hat IR geltend gemacht, die fragliche Kündigung sei sozial gerechtfertigt gewesen. Da JQ ein leitend tätiger Mitarbeiter im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GrO 1993 gewesen sei, habe er durch Eingehung einer nach kanonischem Recht ungültigen Ehe in erheblicher Weise gegen seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis mit IR verstoßen.

30.      Das Arbeitsgericht (Deutschland) gab der Klage von JQ mit der Begründung statt, dass der Verstoß gegen das Verbot in Canon 1085 CIC, eine Zivilehe einzugehen, während die zuvor bestehende katholische Ehe von der katholischen Kirche noch nicht annulliert worden sei, keine schwerwiegende Verletzung der Loyalitätsobliegenheit darstelle.

31.      IR legte gegen das Urteil Berufung beim Landesarbeitsgericht (Deutschland) ein, das sie jedoch mit der Begründung zurückwies, dass ein Verstoß gegen Canon 1085 CIC zwar eine schwerwiegende Verletzung der Loyalitätsobliegenheit darstelle, die von IR gegenüber JQ ausgesprochene Kündigung in diesem Zusammenhang aber dem Gleichbehandlungsgrundsatz widerspreche. IR hätte nicht katholischen Arbeitnehmern, die auf der gleichen Dienststelle wie JQ tätig seien, bei deren Wiederheirat nicht gekündigt. Außerdem habe IR gewusst, dass JQ bereits seit 2006 mit seiner Lebensgefährtin zusammengelebt habe, ohne etwas dagegen zu unternehmen, obgleich dieses Verhältnis ebenso gegen die Lehre der katholischen Kirche verstoßen hätte.

32.      Das Bundesarbeitsgericht wies die Revision von IR gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts im Wesentlichen mit der Begründung zurück, dass die Kündigung nicht zu rechtfertigen sei, da IR nicht katholischen Arbeitnehmern, die auf der gleichen Dienststelle wie JQ tätig seien, bei deren Wiederheirat nicht gekündigt hätte.

33.      Daraufhin erhob IR Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (Deutschland), das das Urteil des Bundesarbeitsgerichts wegen Begründungsmangels aufhob(7).

34.      Nach dem Bundesverfassungsgericht sind bei Streitigkeiten in Arbeitsverhältnissen im kirchlichen Dienst die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer wie hier das KSchG im Licht des in Art. 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 137 der Weimarer Verfassung niedergelegten Grundsatzes der kirchlichen Selbstbestimmung auszulegen. Das bedeute, dass Religionsgesellschaften Gestaltungsspielräume, die das dispositive Recht eröffne, voll ausschöpfen dürften, dass aber bei der Anwendung zwingender Vorschriften Auslegungsspielräume, soweit erforderlich, zugunsten der Religionsgesellschaften zu nutzen seien. Dabei sei dem, was das Bundesverfassungsgericht als „Selbstverständnis der Kirche“ bezeichne, ein besonderes Gewicht zuzumessen.

35.      Das Bundesverfassungsgericht hat ein zweistufiges System der gerichtlichen Nachprüfung der mit einem Verstoß gegen die Loyalitätsobliegenheit begründeten Kündigungen geschaffen. Die staatlichen Gerichte haben erstens (Plausibilitätskriterium) auf der Grundlage des „Selbstverständnisses der jeweiligen Kirche“ zu überprüfen, ob eine religiöse Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt. Nach dem Bundesverfassungsgericht dürfen die staatlichen Arbeitsgerichte die vom kirchlichen Arbeitgeber festgelegten Loyalitätsobliegenheiten – wie hier die nach Art. 5 Abs. 2 GrO 1993 – nur anhand dieses Plausibilitätskriteriums überprüfen.

36.      Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit entschieden, dass Religionsgesellschaften eine Abstufung der Loyalitätsobliegenheiten der Arbeitnehmer je nach ihrer Stellung und Konfession vorsehen dürfen. Diese Obliegenheiten dürfen je nach der Konfession des Arbeitnehmers mehr oder weniger schwerwiegend sein und daher für Arbeitnehmer, die identische oder ähnliche Funktionen wahrnehmen, verschieden sein.

37.      Zweitens (Abwägungskriterium) ist eine Gesamtabwägung vorzunehmen, in die neben kirchlichen Belangen auch die Grundrechte des betroffenen Arbeitnehmers einfließen, wobei dem Selbstverständnis der Kirche ein besonderes Gewicht beizumessen ist.

38.      Nach der Zurückverweisung der Rechtssache an das Bundesarbeitsgericht ist dieses zu der Ansicht gekommen, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung von § 9 Abs. 2 AGG abhänge. Wenn das deutsche Verständnis des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, das es der katholischen Kirche erlaube, unterschiedliche Loyalitätsanforderungen an ihre Arbeitnehmer aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit zu stellen, auch wenn sie ähnliche Aufgaben wahrnähmen, mit Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 vereinbar sei, dann sei die Revision von IR begründet. Anderenfalls habe es über die Sozialwidrigkeit der Kündigung vom 30. März 2009 unter Beachtung der allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätze erneut zu befinden.

39.      Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass die katholische Kirche für eine Organisation wie IR verbindlich bestimmen kann, bei einem an Arbeitnehmer in leitender Stellung gerichteten Verlangen nach loyalem und aufrichtigem Verhalten zwischen Arbeitnehmern zu unterscheiden, die der Kirche angehören, und solchen, die einer anderen oder keiner Kirche angehören?

2.      Sofern die erste Frage verneint wird:

a)      Muss die Bestimmung des nationalen Rechts, wie hier § 9 Abs. 2 AGG, wonach eine solche Ungleichbehandlung aufgrund der Konfessionszugehörigkeit der Arbeitnehmer entsprechend dem jeweiligen Selbstverständnis der Kirche gerechtfertigt ist, im vorliegenden Rechtsstreit unangewendet bleiben?

b)      Welche Anforderungen gelten gemäß Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 für ein an die Arbeitnehmer einer Kirche oder einer der dort genannten anderen Organisationen gerichtetes Verlangen nach einem loyalen und aufrichtigen Verhalten im Sinne des Ethos der Organisation?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

40.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 9. Februar 2017 beim Gerichtshof eingegangen. IR, die deutsche und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Am 27. Februar 2018 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, während der IR, die deutsche und die polnische Regierung sowie die Kommission mündliche Erklärungen abgegeben haben.

V.      Würdigung

A.      Zur ersten Vorlagefrage und zum zweiten Teil der zweiten Vorlagefrage

41.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass er einer religiösen Organisation gestattet, von ihren Arbeitnehmern in leitender Stellung, die derselben Konfession wie sie angehören, ein loyaleres und aufrichtigeres Verhalten als von den Arbeitnehmern zu fordern, die einer anderen oder keiner Konfession angehören.

42.      Diese Frage ist untrennbar mit dem zweiten Teil der zweiten Vorlagefrage verbunden, mit dem sich das vorlegende Gericht nach den Voraussetzungen erkundigt, die ein Erfordernis eines loyalen und aufrichtigen Verhaltens nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 erfüllen muss. In diesem Zusammenhang wird eine Auslegung des einleitenden Satzteils dieser Vorschrift erforderlich sein, wonach die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden müssen.

43.      Ich schlage daher vor, sie zusammen zu prüfen.

1.      Der Begriff „private Organisation“, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht

44.      Der erste Zweifel des vorlegenden Gerichts an der Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 betrifft dessen persönlichen Anwendungsbereich. Genauer gesagt möchte es wissen, ob IR als Kapitalgesellschaft des Privatrechts, die in marktüblicher Weise im Gesundheitswesen tätig ist, das Recht geltend machen darf, von ihren Arbeitnehmern zu fordern, dass sie sich loyal und aufrichtig verhalten, was ein Recht ist, dass diese Bestimmung „Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen [verleiht], deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht“.

45.      Die Frage, ob IR eine private Organisation ist, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, ist eine Tatsachenfrage, die das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

46.      Im Rahmen dieser Prüfung reicht der Umstand, dass IR der Aufsicht des katholischen Erzbischofs von Köln unterliegt und ihr Gesellschaftszweck die Verwirklichung von Aufgaben der Caritas ist, für sich allein nicht zum Nachweis dafür aus, dass ihr Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht.

47.      Das vorlegende Gericht hat vielmehr das Ethos von IR anhand ihrer Tätigkeiten zu beurteilen, zu denen u. a. die Erbringung von Gesundheitsdiensten durch den Betrieb von Krankenhäusern gehört. Daher wird zu prüfen sein, ob die Praxis der von IR betriebenen Krankenhäuser in Bezug auf die Erbringung dieser Leistungen der Lehre der katholischen Kirche in einer Art folgt, die sie in qualifizierter Weise von denen öffentlicher Krankenhäuser unterscheidet. Hierbei hat das vorlegende Gericht die ethischen Fragen im Gesundheitsbereich zu berücksichtigen, denen in der Lehre der katholischen Kirche besondere Bedeutung zukommt, insbesondere Abtreibung(8), Euthanasie(9) und Empfängnisverhütung oder andere zeugungsregulierende Maßnahmen(10).

48.      Sollten die von IR betriebenen Krankenhäuser gemäß dem Katechismus der katholischen Kirche im Gegensatz zu öffentlichen Krankenhäusern beispielsweise keine Abtreibungen vornehmen oder keine „Pille danach“ verabreichen, dann könnte IR als eine private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 eingestuft werden. Sollte diese Prüfung dagegen zu dem Schluss führen, dass die von IR betriebenen Krankenhäuser diese Fragen wie öffentliche Krankenhäuser behandeln, dann könnte IR nicht als eine private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, betrachtet werden.

2.      Kann eine private Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, für dieselben leitenden Stellen je nach der Konfession ihrer Arbeitnehmer eine Abstufung des von ihnen geforderten loyalen und aufrichtigen Verhaltens vorsehen?

49.      Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 sieht vor: „Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.“

50.      IR und die deutsche Regierung sind der Ansicht, dass die Richtlinie 2000/78 durch die Verwendung des Satzteils „im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften“ einen Verweis auf das nationale Recht als einziges Kriterium der Rechtmäßigkeit der Anforderung eines loyalen und aufrichtigen Verhaltens vornehme und daher das Unionsrecht ausschließe. Sie stützen diese Ansicht auf den 24. Erwägungsgrund der Richtlinie, auf Art. 17 AEUV und auf die Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften, die der Schlussakte des Vertrags von Amsterdam beigefügt ist(11).

51.      Wie die Kommission vorträgt, steht dieser Auslegung der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 entgegen, da er das Recht der Kirchen und anderer religiöser Organisationen, von ihren Arbeitnehmern zu fordern, dass sie sich loyal und aufrichtig verhalten, ausdrücklich von der Einhaltung aller Bestimmungen der Richtlinie abhängig macht („[sofern] die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden“).

52.      In diesem Sinne ist eine Ungleichbehandlung bei der Anwendung der Loyalitätsobliegenheit nur zulässig, wenn sie neben anderen Bestimmungen auch Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 einhält, wonach „eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des [Unionsrechts] beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund.“

53.      Dem Vorbringen von IR und der deutschen Regierung steht auch die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung dieser Bestimmung entgegen, wonach „für den Fall, dass eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, … geltend macht, die Religion sei … eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos dieser Kirche oder Organisation, … ein solches Vorbringen gegebenenfalls Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein können muss, damit sichergestellt wird, dass die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien im konkreten Fall erfüllt sind“(12) und nicht die ausschließlich vom nationalen Recht vorgeschriebenen Kriterien.

54.      Damit hat der Gerichtshof ausdrücklich die Auffassung zurückgewiesen, dass „der Umstand, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 auf die zum Zeitpunkt ihrer Annahme geltenden nationalen Rechtsvorschriften sowie auf die zu diesem Zeitpunkt bestehenden einzelstaatlichen Gepflogenheiten Bezug nimmt, … dahin gehend verstanden werden [könnte], dass er den Mitgliedstaaten gestattet, die Einhaltung der in dieser Bestimmung genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle zu entziehen“(13).

55.      Zudem beschränkt sich Art. 17 AEUV, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, darauf, „die Neutralität der Union demgegenüber, wie die Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften gestalten, zum Ausdruck [zu bringen]. Hingegen kann dieser Artikel nicht bewirken, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle entzogen wird.“(14)

3.      Stellt eine Abstufung der Loyalitätsobliegenheit je nach der Konfession des Arbeitnehmers eine nach Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 verbotene Diskriminierung wegen der Religion dar?

56.      In Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 heißt es: „[Eine] Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person [stellt] keine Diskriminierung [dar], wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“

57.      IR, die deutsche und die polnische Regierung tragen im Wesentlichen vor, dass IR durch die Anordnung einer Abstufung der Loyalitätsobliegenheit je nach der Konfession des Arbeitnehmers lediglich Personen ungleich behandele, die sich in verschiedenen Situationen befänden, da sich die Lehre und das kanonische Recht der katholischen Kirche nur an Katholiken richteten(15) und folglich nur Katholiken durch ihr Verhalten das Bild der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit schützen oder beeinträchtigen könnten(16). Mit anderen Worten meinen sie, dass sich das katholische Personal von IR und das nicht katholische oder konfessionslose Personal nicht in einer vergleichbaren Lage befänden. Aufgrund dessen verneinen sie das Vorliegen einer nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 verbotenen Diskriminierung.

58.      Dass eine auf die Religion gestützte unterschiedliche Behandlung von JQ als Chefarzt der Abteilung „Innere Medizin“ einerseits und einem anderen Arbeitnehmer in leitender Stellung andererseits vorliegt, wird von keiner Partei und keinem Streithelfer bestritten(17). Mehrere der in Art. 5 Abs. 2 GrO 1993 vorgesehenen Kündigungsgründe, darunter insbesondere der Abschluss einer nach der Lehre und dem kanonischen Recht der katholischen Kirche ungültigen Ehe, Kirchenaustritt, Apostasie und Häresie usw., richten sich nämlich nur an katholische Arbeitnehmer. Daher führt jeder von ihnen automatisch zu einer Ungleichbehandlung.

59.      Folglich ist zu prüfen, ob die Situationen, in denen sich katholische Arbeitnehmer einerseits und Arbeitnehmer einer anderen Konfession oder ohne Konfession andererseits befinden, in Anbetracht dieser Kündigungsgründe vergleichbar sind.

60.      In dieser Hinsicht betrachten IR, die deutsche und die polnische Regierung die Vergleichbarkeit der Situationen unter dem subjektiven Blickwinkel der Konfession des Arbeitnehmers, während das vorlegende Gericht, JQ und die Kommission sie unter dem objektiven Blickwinkel der beruflichen Tätigkeit – hier die Erbringung von Gesundheitsdiensten – des kirchlichen Arbeitgebers betrachten.

61.      Meiner Ansicht nach gibt der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 eindeutig der zweiten Betrachtungsweise den Vorzug, da er vorschreibt, dass zu prüfen ist, ob „die Religion … nach der Art [der beruflichen] Tätigkeiten [der Kirche oder anderen religiösen Organisation] oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der [Kirche oder anderen religiösen Organisation] darstellt“(18).

62.      Die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt dieses Verständnis von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass „[die] Rechtmäßigkeit einer Ungleichbehandlung wegen der Religion … nach Maßgabe dieser Vorschrift … vom objektiv überprüfbaren Vorliegen eines direkten Zusammenhangs zwischen der vom Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der fraglichen Tätigkeit [abhängt]. Ein solcher Zusammenhang kann sich entweder aus der Art dieser Tätigkeit ergeben – z. B., wenn sie mit der Mitwirkung an der Bestimmung des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation oder einem Beitrag zu deren Verkündigungsauftrag verbunden ist – oder aus den Umständen ihrer Ausübung, z. B. der Notwendigkeit, für eine glaubwürdige Vertretung der Kirche oder Organisation nach außen zu sorgen.“(19)

63.      Zur Auslegung der Wendung „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ hat der Gerichtshof entschieden, dass die Zugehörigkeit zu der Religion bzw. das Bekenntnis zu der Weltanschauung, auf der das Ethos der betreffenden Kirche beruht, eine „wesentliche“ berufliche Anforderung ist, wenn sie „aufgrund der Bedeutung der betreffenden beruflichen Tätigkeit für die Bekundung dieses Ethos oder die Ausübung des Rechts dieser Kirche … auf Autonomie notwendig“(20) erscheint.

64.      Der Begriff der „rechtmäßigen“ beruflichen Anforderung verlangt, dass „die die Zugehörigkeit zu der Religion bzw. das Bekenntnis zu der Weltanschauung, auf der das Ethos der in Rede stehenden Kirche … beruht, betreffende Anforderung nicht zur Verfolgung eines sachfremden Ziels ohne Bezug zu diesem Ethos oder zur Ausübung des Rechts dieser Kirche … auf Autonomie dient“(21).

65.      Der Begriff „gerechtfertigt“ schließlich „impliziert … nicht nur, dass die Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien durch ein innerstaatliches Gericht überprüfbar sein muss, sondern auch, dass es der Kirche …, die diese Anforderung aufgestellt hat, obliegt, im Licht der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls darzutun, dass die geltend gemachte Gefahr einer Beeinträchtigung ihres Ethos oder ihres Rechts auf Autonomie wahrscheinlich und erheblich ist, so dass sich eine solche Anforderung tatsächlich als notwendig erweist“(22).

66.      Im vorliegenden Fall ist die berufliche Anforderung nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, wie es in der Rechtssache der Fall war, die zu dem Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257), geführt hat, sondern die Zustimmung zu einer bestimmten Überzeugung der katholischen Kirche, nämlich dem Eheverständnis entsprechend der Definition durch die Lehre und das kanonische Recht der katholischen Kirche, was die Beachtung der religiösen Form der Ehe und des heiligen und unauflöslichen Charakters des Ehebandes einschließt(23). Es ist offenkundig, dass diese Überzeugung im vorliegenden Fall keine berufliche Anforderung und erst recht keine wesentliche und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt(24).

67.      Zunächst steht diese Anforderung in keinem Zusammenhang zur beruflichen Tätigkeit von IR und JQ, nämlich der Erbringung von Gesundheits- und Pflegediensten für Kranke. Dies wird dadurch belegt, dass die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche keine Voraussetzung für die Besetzung der Stelle des Chefarztes der Abteilung „Innere Medizin“ ist und IR Nichtkatholiken für Stellen mit medizinischer Verantwortung anstellt und ihnen Leitungsaufgaben überträgt. Zudem fehlt der fraglichen Anforderung durch ihre Ausrichtung auf das Privat- und Familienleben von JQ jede mögliche Verbindung zu den Verwaltungsaufgaben, die ihm als Chefarzt der betreffenden Abteilung obliegen. Somit handelt es sich nicht um eine echte berufliche Anforderung.

68.      Des Weiteren ist die Beachtung des Eheverständnisses nach der Lehre und dem kanonischen Recht der katholischen Kirche keine wesentliche berufliche Anforderung, da sie nicht aufgrund der Bedeutung der beruflichen Tätigkeit von IR, nämlich der Erbringung von Gesundheitsdiensten, notwendig erscheint, damit IR ihr Ethos bekunden oder ihr Recht auf Autonomie ausüben kann. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es bei Patienten oder Kollegen keine vorgefasste Meinung dahin gibt, dass der Chefarzt der Abteilung „Innere Medizin“ katholisch ist, und erst recht nicht dahin, dass er keine Ehe eingegangen ist, die nach der Lehre und dem kanonischen Recht der katholischen Kirche ungültig ist. Für sie zählen vielmehr Qualifikationen und seine medizinischen Fähigkeiten sowie seine Managementqualitäten.

69.      Aus denselben Gründen ist die fragliche Anforderung auch alles andere als gerechtfertigt. Die Scheidung(25) von JQ und seine standesamtliche Wiederheirat stellen keine wahrscheinliche oder erhebliche Gefahr einer Beeinträchtigung des Ethos von IR oder ihres Rechts auf Autonomie dar(26). Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass IR noch nicht einmal in Betracht zog, JQ von seinen Aufgaben als Chefarzt der Abteilung „Innere Medizin“ zu entbinden, sondern ihm unmittelbar kündigte, obwohl er als Arzt ohne leitende Stellung die fragliche Anforderung nicht hätte einhalten müssen.

70.      IR und die polnische Regierung halten dem entgegen, dass diese Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 Organisationen von der Art von IR zwinge, nur Katholiken einzustellen.

71.      Meines Erachtens wäre eine solche Einstellungspolitik offensichtlich unvereinbar mit Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78, da für Arbeitsplätze, die mit der Erbringung von Gesundheitsdiensten zusammenhängen, die Religion aus den eben genannten Gründen nicht als wesentliche und gerechtfertigte berufliche Anforderung eingestuft werden könnte.

72.      IR und die polnische Regierung machen auch geltend, dass IR, wenn ihr verboten würde, die Loyalitätsobliegenheit je nach der Konfession ihrer Arbeitnehmer abzustufen, gezwungen wäre, von ihrem gesamten Personal zu fordern, dass es das von ihren katholischen Arbeitnehmern geforderte höchste Loyalitätsniveau einhalte.

73.      Ich bin nicht davon überzeugt, dass dies zwangsläufig problematisch wäre, da bestimmte der in Art. 5 Abs. 2 GrO 1993 vorgesehenen Kündigungsgründe für alle Arbeitnehmer von IR unabhängig von ihrem Glauben gelten. Beispielsweise verbietet diese Bestimmung allen Arbeitnehmern das öffentliche Eintreten gegen Grundsätze der katholischen Kirche hinsichtlich der Abtreibung. Gleiches gilt für persönliche sittliche Verfehlungen wie z. B. Straftaten gegen das menschliche Leben oder die körperliche Unversehrtheit.

74.      In Anbetracht des Vorstehenden ist Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 meiner Ansicht nach dahin auszulegen, dass er einer religiösen Organisation wie IR nur dann gestattet, von ihren Arbeitnehmern, die derselben Konfession wie sie angehören, ein loyaleres und aufrichtigeres Verhalten als von den Arbeitnehmern zu fordern, die einer anderen oder keiner Konfession angehören, wenn diese Anforderung die in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien erfüllt.

B.      Zum ersten Teil der zweiten Vorlagefrage

75.      Mit dem ersten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im Fall einer Verneinung der ersten Vorlagefrage eine nationale Bestimmung, wie hier § 9 Abs. 2 AGG, wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion entsprechend dem jeweiligen Selbstverständnis der Kirche gerechtfertigt ist, unangewendet bleiben muss.

76.      Es begründet die Erheblichkeit dieser Frage mit einem Verweis auf Rn. 31 des Urteils vom 19. April 2016, DI (C‑441/14, EU:C:2016:278), der zufolge es das nationale Recht im Einklang mit der Richtlinie 2000/78 so auszulegen habe, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet werde, ohne zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts zu führen. Sollte § 9 Abs. 2 AGG einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich sein, stellte sich die Frage, ob diese Bestimmung unangewendet zu lassen wäre.

77.      Ich bin mit der Prämisse dieser Frage nicht einverstanden, die nicht nur voraussetzt, dass § 9 Abs. 2 AGG eine nicht ordnungsgemäße Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstellt, sondern auch, dass er die Frage der Ungleichbehandlungen auf der Grundlage der Religion behandelt.

78.      Zum einen stimmt der Wortlaut von § 9 Abs. 2 AGG im Wesentlichen mit dem von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 überein(27). Für mich ist daher nicht ersichtlich, wie er in einer nicht mit Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 zu vereinbarenden Weise ausgelegt werden könnte.

79.      Zum anderen wird die Frage der Ungleichbehandlungen auf der Grundlage der Religion – selbst im Zusammenhang der Loyalitätsobliegenheit – durch § 9 Abs. 1 AGG und nicht durch § 9 Abs. 2 AGG behandelt.

80.      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, schlage ich daher vor, sie durch die Prüfung der Frage zu ergänzen, ob § 9 Abs. 1 AGG unangewendet zu lassen wäre, wenn das vorlegende Gericht entscheiden sollte, dass die den katholischen leitenden Arbeitnehmern von IR vorgeschriebene Anforderung, keine nach der Lehre und dem kanonischen Recht der katholischen Kirche ungültige Ehe einzugehen, nicht mit Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 vereinbar ist.

81.      Diese Frage stellt sich nur für den Fall, dass das in Art. 5 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich GrO 1993 enthaltene Verbot des Eingehens einer nach der Lehre und dem kanonischen Recht der katholischen Kirche ungültigen Ehe keine wesentliche und gerechtfertigte berufliche Anforderung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 darstellt, wie ich vorschlage.

82.      In seinem Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257), hat der Gerichtshof entschieden, dass das vorlegende Gericht in dem Fall, dass es in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen feststellen müsste, dass § 9 Abs. 1 AGG keine im Einklang mit der Richtlinie 2000/78 stehende Auslegung zulässt, verpflichtet wäre, den dem Einzelnen aus den Art. 21(28) und 47(29) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt(30).

83.      Dieses Ergebnis ist auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens, der ebenfalls zwischen Privatpersonen besteht, uneingeschränkt übertragbar, obwohl er nicht in den zeitlichen Geltungsbereich der Charta fällt.

84.      In vergleichbaren, vor dem Inkrafttreten der Charta liegenden Sachverhalten hat der Gerichtshof nämlich das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters angewandt und hierzu entschieden, dass es dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen als solches geltend machen kann und die nationalen Gerichte zwingt, mit ihm nicht zu vereinbarende nationale Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen(31).

85.      Dies gilt auch für das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, das angesichts des historischen Kontextes der Gründung der Union einen grundlegenden Wert von Verfassungsrang der Unionsrechtsordnung darstellt und vom Gerichtshof als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anerkannt worden ist(32).

86.      Ich sehe nämlich keinen Grund, weswegen bestimmte Diskriminierungskriterien verschieden zu behandeln wären, obwohl sie alle auf das gleiche Ergebnis hinauslaufen.

87.      Aus all diesen Gründen bin ich der Auffassung, dass der erste Teil der zweiten Vorlagefrage dahin zu beantworten ist, dass ein mit einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes nationales Gericht, wenn es ihm nicht möglich ist, das einschlägige nationale Recht im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 auszulegen, verpflichtet ist, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus dem allgemeinen Verbot der Diskriminierung wegen der Religion erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieses Verbots zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.

VI.    Ergebnis

88.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Bundesarbeitsgerichts (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass er einer religiösen Organisation wie IR nur dann gestattet, von ihren Arbeitnehmern, die derselben Konfession wie sie angehören, ein loyaleres und aufrichtigeres Verhalten als von den Arbeitnehmern zu fordern, die einer anderen oder keiner Konfession angehören, wenn diese Anforderung die in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 genannten Kriterien erfüllt.

2.      Ein mit einem Rechtsstreit zwischen zwei Privatpersonen befasstes nationales Gericht ist, wenn es ihm nicht möglich ist, das einschlägige nationale Recht im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 auszulegen, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den dem Einzelnen aus dem allgemeinen Verbot der Diskriminierung wegen der Religion erwachsenden Rechtsschutz zu gewährleisten und für die volle Wirksamkeit dieses Verbots zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2000, L 303, S. 16.


3      ABl. des Erzbistums Köln 1993, S. 222.


4      Nach der aktuellen Fassung von Art. 5 Abs. 2 GrO 1993 (die am 1. August 2015 in Kraft trat), stellt die Eingehung einer nach dem kanonischen Recht der katholischen Kirche ungültigen Zivilehe nur dann einen Kündigungsgrund dar, wenn sie nach den konkreten Umständen objektiv geeignet ist, ein erhebliches Ärgernis in der Dienstgemeinschaft oder im beruflichen Wirkungskreis zu erregen und die Glaubwürdigkeit der Kirche zu beeinträchtigen. Diese Fassung ist auf die im Ausgangsverfahren streitige Kündigung vom 30. März 2009 nicht anwendbar.


5      ABl. des Erzbistums Köln, S. 321.


6      Unklar ist, ob die Scheidung von JQ oder von seiner Ehefrau beantragt wurde.


7      Vgl. Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Oktober 2014, 2 BvR 661/12 (DE:BVerfG:2014:rs20141022.2bvr066112).


8      Vgl. Nrn. 2270 bis 2275 des Catechismus Catholicae Ecclesiae (Katechismus der katholischen Kirche), der mit dem apostolischen Schreiben Laetamur Magnopere vom 15. August 1997 von Papst Johannes Paul II. promulgiert wurde und auf der Website des Heiligen Stuhls unter folgender Adresse verfügbar ist: http://www.vatican.va/archive/ccc/index_ge.htm.


9      Vgl. Nrn. 2276 bis 2279 des Catechismus Catholicae Ecclesiae (Katechismus der katholischen Kirche), der mit dem apostolischen Schreiben Laetamur Magnopere vom 15. August 1997 von Papst Johannes Paul II. promulgiert wurde und auf der Website des Heiligen Stuhls unter folgender Adresse verfügbar ist: http://www.vatican.va/archive/ccc/index_ge.htm.


10      Vgl. Nrn. 2366 bis 2372 des Catechismus Catholicae Ecclesiae (Katechismus der katholischen Kirche), der mit dem apostolischen Schreiben Laetamur Magnopere vom 15. August 1997 von Papst Johannes Paul II. promulgiert wurde und auf der Website des Heiligen Stuhls unter folgender Adresse verfügbar ist: http://www.vatican.va/archive/ccc/index_ge.htm.


11      ABl. 1997, C 340, S. 133.


12      Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 55).


13      Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 54).


14      Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 58).


15      Vgl. Canon 11 CIC. Zudem sind die nach dem CIC verhängten Strafen spirituell und können als solche nur gegen Katholiken verhängt werden. Vgl. insbesondere Canon 1367 CIC, auf den Art. 5 Abs. 2 dritter Gedankenstrich GrO 1993 verweist und der gegenüber dem, der die eucharistischen Gestalten wegwirft, die Exkommunikation als Tatstrafe (für einen Laien) und die Entlassung aus dem Klerikerstand (für einen Kleriker) vorschreibt.


16      Dieser Wille zum Schutz des Bildes der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit geht aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 4 GrO 1993 deutlicher hervor, der von allen Mitarbeitern fordert, dass ihre persönliche Lebensführung und ihr dienstliches Verhalten die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche nicht gefährden.


17      Nach JQ ergibt sich die unterschiedliche Behandlung daraus, dass einem Chefarzt einer anderen Konfession (z. B. einem Protestanten) oder ohne Konfession nicht wegen Eingehung einer Zivilehe nach der Scheidung von seiner ersten Ehegattin gekündigt worden wäre.


18      Hervorhebung nur hier.


19      Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 63).


20      Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 65).


21      Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 66).


22      Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 67).


23      Vgl. Canon 1085 und Canon 1108 Abs. 1 CIC.


24      Die dem Gerichtshof vorgelegte Akte enthält keine Anhaltspunkte, die die Annahme erlaubten, dass die fragliche Anforderung aufgrund der Verfolgung eines dem Ethos von IR fremden Ziels nicht rechtmäßig ist.


25      Für meine Analyse macht es keinen Unterschied, ob die Scheidung von JQ oder von seiner Ehefrau beantragt wurde oder wer „Schuld“ an ihr trägt.


26      Ich kann nur auf den Kontrast hinweisen, der zwischen der Strenge des Beschlusses von IR, die Reinheit der katholischen Lehre zu verteidigen, und der offenen und versöhnlichen Einstellung gegenüber geschiedenen und standesamtlich wiederverheirateten Katholiken besteht, die aus dem nachsynodalen apostolischen Schreiben Amoris Laetitia des Heiligen Vaters Franziskus an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die christlichen Eheleute und an alle christgläubigen Laien über die Liebe in der Familie (Vatikanische Typografie, 19. März 2016, insbesondere Rn. 299) hervorgeht.


27      Zwar fehlt im Wortlaut von § 9 Abs. 2 AGG der einleitende Satzteil von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2000/78 („Sofern die Bestimmungen [der Richtlinie 2000/78] im Übrigen eingehalten werden“). Wie ich in den Nrn. 51 und 52 der vorliegenden Schlussanträge erläutert habe, soll mit diesem einleitenden Satzteil präzisiert und klargestellt werden, dass die religiösen Organisationen eingeräumte Befugnis, ihren Arbeitnehmern eine Loyalitätsobliegenheit vorzuschreiben, weder dem in Art. 2 vorgesehenen allgemeinen Diskriminierungsverbot noch den Voraussetzungen, die eine Ungleichbehandlung wegen der Religion einzuhalten hat, damit sie nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 keine Diskriminierung darstellt, entzogen ist. Da dieser Satzteil eine Präzisierung und eine Klarstellung ist, könnte Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie selbst in seiner Abwesenheit nicht zur Folge haben, dass es religiösen Organisationen gestattet wäre, Ungleichbehandlungen wegen der Religion, die Abs. 1 dieser Bestimmung zuwiderliefen (nämlich Ungleichbehandlungen wegen der Religion, obgleich sie keine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt), oder gar Diskriminierungen, die auf die übrigen der in Art. 1 der Richtlinie genannten Gründe gestützt wären (nämlich eine Behinderung, das Alter oder die sexuelle Ausrichtung), einzuführen.


28      Unter der Überschrift „Nichtdiskriminierung“ sieht dieser Artikel in Abs. 1 vor: „Diskriminierungen insbesondere wegen … der Religion oder der Weltanschauung … sind verboten.“


29      Dieser Artikel garantiert dem Einzelnen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht.


30      Rn. 75 bis 79 des Urteils.


31      Vgl. Urteile vom 22. November 2005, Mangold (C‑144/04, EU:C:2005:709, Rn. 76 und 77), vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci (C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 50 und 51), vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale (C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 47), und vom 19. April 2016, DI (C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 36).


32      Urteil vom 17. April 2018, Egenberger (C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 76).