SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 15. November 2018(1)
Verbundene Rechtssachen C‑487/17 bis C‑489/17
Alfonso Verlezza,
Riccardo Traversa,
Irene Cocco,
Francesco Rando,
Carmelina Scaglione,
Francesco Rizzi,
Antonio Giuliano,
Enrico Giuliano,
Refecta Srl,
E. Giovi Srl,
Vetreco Srl,
SE.IN Srl (C‑487/17),
Carmelina Scaglione (C‑488/17),
MAD Srl (C‑489/17),
Beteiligte:
Procuratore della Repubblica presso il Tribunale di Roma,
Procuratore generale della Repubblica presso la Corte suprema di cassazione
(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Oberster Kassationsgerichtshof, Italien])
„Vorabentscheidungsersuchen – Umwelt – Richtlinie 2008/98/EG – Abfälle – Entscheidung 2000/532/EG – Europäisches Abfallverzeichnis – Einstufung von Abfällen – Spiegelcodes – Abfälle, denen gefahrenrelevante und nicht gefahrenrelevante Abfallcodes zugeordnet werden können – Abfälle aus der mechanischen Behandlung von Siedlungsabfällen“
1. Gefährliche Abfälle, die hauptsächlich aus der chemischen Industrie stammen, machen an der Gesamtmenge aller in der Europäischen Union erzeugten Abfälle keinen großen Anteil aus, aber sie können schwerwiegende Auswirkungen auf die Umwelt haben, wenn sie nicht angemessen bewirtschaftet und kontrolliert werden. Insbesondere in Abfällen aus der mechanischen Behandlung von Siedlungsabfällen können gefährliche Stoffe vorkommen, was in den Verfahren der Fall ist, die den Ausgangspunkt für die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen bilden.
2. Im vorliegenden Fall muss sich der Gerichtshof, sofern ich mich nicht irre, erstmals zur Einstufung von Abfällen äußern, denen sogenannte Spiegelcodes(2) des in der Entscheidung 2000/532/EG(3) enthaltenen Europäischen Abfallverzeichnisses (im Folgenden: EAV) zugeordnet werden können. Er muss die Kriterien präzisieren, die dabei zugrunde zu legen sind, so dass das vorlegende Gericht klären kann, ob die Angeklagten in mehreren Strafverfahren in Italien den Straftatbestand des illegalen Abfallhandels verwirklicht haben, indem sie gefährliche Abfälle als nicht gefährlich behandelt haben.
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
1. Richtlinie 2008/98/EG(4)
3. Art. 3 bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Abfall‘ jeden Stoff oder Gegenstand, dessen sich sein Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss;
2. ‚gefährlicher Abfall‘ Abfall, der eine oder mehrere der in Anhang III aufgeführten gefährlichen Eigenschaften aufweist;
…
6. ‚Abfallbesitzer‘ den Erzeuger der Abfälle oder die natürliche oder juristische Person, in deren Besitz sich die Abfälle befinden;
7. ‚Händler‘ jedes Unternehmen, das in eigener Verantwortung handelt, wenn es Abfälle kauft und anschließend verkauft, einschließlich solcher Händler, die die Abfälle nicht physisch in Besitz nehmen;
8. ‚Makler‘ jedes Unternehmen, das für die Verwertung oder die Beseitigung von Abfällen für andere sorgt, einschließlich solcher Makler, die die Abfälle nicht physisch in Besitz nehmen;
9. ‚Abfallbewirtschaftung‘ die Sammlung, den Transport, die Verwertung und die Beseitigung von Abfällen, einschließlich der Überwachung dieser Verfahren sowie der Nachsorge von Beseitigungsanlagen und einschließlich der Handlungen, die von Händlern oder Maklern vorgenommen werden;
10. ‚Sammlung‘ das Einsammeln von Abfällen, einschließlich deren vorläufiger Sortierung und vorläufiger Lagerung zum Zwecke des Transports zu einer Abfallbehandlungsanlage;
…“
4. Art. 7 („Abfallverzeichnis“) sieht vor:
„(1) Die Maßnahmen zur Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen dieser Richtlinie, die die Aktualisierung des durch die Entscheidung 2000/532/EG erstellten Abfallverzeichnisses betreffen, werden nach dem in Artikel 39 Absatz 2 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle erlassen. Das Abfallverzeichnis schließt gefährliche Abfälle ein und berücksichtigt den Ursprung und die Zusammensetzung der Abfälle und erforderlichenfalls die Grenzwerte der Konzentration gefährlicher Stoffe. Das Abfallverzeichnis ist hinsichtlich der Festlegung der Abfälle, die als gefährliche Abfälle einzustufen sind, verbindlich. Die Aufnahme eines Stoffs oder eines Gegenstands in die Liste bedeutet nicht, dass dieser Stoff oder Gegenstand unter allen Umständen als Abfall anzusehen ist. Ein Stoff oder Gegenstand ist nur als Abfall anzusehen, wenn er der Begriffsbestimmung in Art. 3 Nr. 1 entspricht.
(2) Ein Mitgliedstaat kann einen Abfall auch dann als gefährlichen Abfall einstufen, wenn er nicht als solcher im Abfallverzeichnis ausgewiesen ist, sofern er eine oder mehrere der in Anhang III aufgelisteten Eigenschaften aufweist. Der Mitgliedstaat teilt der Kommission alle einschlägigen Fälle unverzüglich mit. Er führt sie in dem in Artikel 37 Absatz 1 vorgesehenen Bericht auf und stellt der Kommission alle relevanten Informationen zur Verfügung. Das Verzeichnis wird unter Berücksichtigung der eingegangenen Mitteilungen überprüft, um über eine etwaige Anpassung zu beschließen.
(3) Kann ein Mitgliedstaat nachweisen, dass ein im Verzeichnis als gefährlich eingestufter Abfall keine der in Anhang III aufgelisteten Eigenschaften aufweist, so kann er diesen Abfall als nicht gefährlichen Abfall einstufen. Der Mitgliedstaat teilt der Kommission alle einschlägigen Fälle unverzüglich mit und übermittelt der Kommission alle erforderlichen Nachweise. Das Verzeichnis wird unter Berücksichtigung der eingegangenen Mitteilungen überprüft, um über eine etwaige Anpassung zu beschließen.
(4) Die Neueinstufung von gefährlichem Abfall als nicht gefährlicher Abfall darf nicht durch Verdünnung oder Mischung des Abfalls zu dem Zweck, die ursprünglichen Konzentrationen an gefährlichen Stoffen unter die Schwellenwerte zu senken, die einen Abfall zu gefährlichem Abfall machen, erreicht werden.
…
(6) Die Mitgliedstaaten können den betreffenden Abfall in Übereinstimmung mit dem in Absatz 1 genannten Abfallverzeichnis als nicht gefährlichen Abfall einstufen.
…“
5. Anhang III der Richtlinie 2008/98, geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 1357/2014(5), enthält eine Liste der verschiedenen Eigenschaften, die Abfälle gefährlich machen. Im Hinblick auf die Prüfmethoden bestimmt er:
„Die anzuwendenden Prüfmethoden sind in der Verordnung (EG) Nr. 440/2008 der Kommission und in anderen CEN[Europäisches Komitee für Normung]-Normen oder international anerkannten Prüfmethoden und Leitlinien beschrieben.“
2. Entscheidung 2000/532
6. Im Anhang dieser Entscheidung heißt es im Abschnitt „Bewertung und Einstufung“ unter Nr. 2 („Einstufung von Abfällen als gefährliche Abfälle“):
„Sämtliche Abfälle, die in dem Abfallverzeichnis mit einem Sternchen (*) versehen sind, gelten als gefährliche Abfälle gemäß der Richtlinie 2008/98/EG, es sei denn, Artikel 20 der Richtlinie findet Anwendung.
Für Abfälle, denen gefahrenrelevante und nicht gefahrenrelevante Abfallcodes zugeordnet werden könnten, gilt Folgendes:
– Ein Abfall wird nur dann in das harmonisierte Verzeichnis der als gefährlich eingestuften Abfälle mit einem spezifischen oder allgemeinen Verweis auf ‚gefährliche Stoffe‘ aufgenommen, wenn dieser Abfall relevante gefährliche Stoffe enthält, aufgrund deren er eine oder mehrere der in Anhang III der Richtlinie 2008/98/EG aufgeführten gefahrenrelevanten Eigenschaften HP 1 bis HP 8 und/oder HP 10 bis HP 15 aufweist. Die Bewertung der gefahrenrelevanten Eigenschaft HP 9 ‚infektiös‘ erfolgt im Einklang mit den einschlägigen Rechtsvorschriften oder Referenzdokumenten in den Mitgliedstaaten.
– Eine gefahrenrelevante Eigenschaft kann anhand der Konzentrationen von Stoffen im Abfall gemäß Anhang III der Richtlinie 2008/98/EG oder – sofern in der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 nicht anders bestimmt – anhand einer Prüfung im Einklang mit der Verordnung (EG) Nr. 440/2008 oder anderer international anerkannter Prüfmethoden und Leitlinien bewertet werden, wobei Artikel 7 der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 in Bezug auf Tierversuche und Versuche am Menschen zu berücksichtigen ist.
…“
B. Italienisches Recht
7. Art. 184 des Gesetzesdekrets 152/2006(6) regelte die Einstufung von Abfällen, wobei nach ihrem Ursprung zwischen Siedlungsabfällen und Sonderabfällen unterschieden wurde. Letztere wurden nach ihrer Gefährlichkeit in gefährliche und nicht gefährliche Abfälle eingestuft. Als gefährliche Abfälle wurden Abfälle bezeichnet, die keine Haushaltsabfälle waren und die in dem Verzeichnis in Anhang D durch ein Sternchen ausdrücklich als solche gekennzeichnet waren.
8. Anhang D, der sich in Teil Vier des Gesetzesdekrets befand, sah die Schaffung eines Abfallverzeichnisses im Einklang mit den europäischen Rechtsvorschriften vor.
9. In seiner ursprünglichen Fassung sah Art. 184 Abs. 4 die Schaffung eines Abfallverzeichnisses durch ein interministerielles Dekret in Einklang mit der Richtlinie 75/442/EWG(7), der Richtlinie 91/689/EWG(8) und der Entscheidung 2000/532 vor. Darüber hinaus stellte der Artikel klar, dass bis zur Annahme des künftigen Dekrets weiterhin die Bestimmungen der Richtlinie des Ministers für Umwelt und Landschaftsschutz vom 9. April 2002, die in dem bereits erwähnten Anhang D aufgeführt waren, anzuwenden seien.
10. Anhang D wurde in der Folge mehrmals geändert:
– erstens durch das Decreto legislativo Nr. 205 vom 3. Dezember 2010(9), durch das folgende Überschrift für Anhang D festgelegt wurde: „Abfallverzeichnis gemäß der Entscheidung 2000/532/EG der Kommission vom 3. Mai 2000“;
– zweitens durch das Gesetz Nr. 28 vom 24. März 2012 über außerordentliche Notmaßnahmen im Umweltbereich(10);
– drittens durch das Gesetz Nr. 116 vom 11. August 2014(11) mit u. a. Notbestimmungen zum Umweltschutz.
11. Mit dem zuletzt genannten Gesetz wurde die Präambel von Anhang D geändert und es wurden die Bestimmungen eingeführt, die ich später(12) untersuchen werde.
12. Mit Art. 9 des Decreto-legge [gesetzesvertretende Verordnung] Nr. 91/2017 vom 20. Juni 2017 (Notbestimmungen für das wirtschaftliche Wachstum in den südlichen Landesteilen)(13), der seit dem 21. Juni 2017 in Kraft, aber zum Zeitpunkt des Vorlagebeschlusses noch nicht in ein Gesetz umgewandelt worden war, wurden die Nrn. 1 bis 7 aus Anhang D in Teil Vier des Gesetzesdekrets Nr. 152/2006 gestrichen und durch folgenden Text ersetzt:
„Die Einstufung von Abfällen erfolgt durch den Erzeuger, der ihnen anhand der Bestimmungen des Beschlusses 2014/955/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1357/2014 der Kommission vom 18. Dezember 2014 die geeignete EAK [Europäischer Abfallkatalog]-Schlüsselnummer zuordnet.“
II. Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen
13. Die Vorlagefragen stellen sich im Rahmen von drei Strafverfahren gegen rund 30 Personen, denen organisierter illegaler Abfallhandel gemäß Art. 260 des Gesetzesdekrets Nr. 152/2006 vorgeworfen wird.
14. Zu den Angeklagten gehören Deponiebetreiber, Abfallentsorgungsgesellschaften, Analyseunternehmer und ‑labore. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, zu rechtswidrigen Zwecken mittels unvollständiger Teil- und Gefälligkeitsanalysen Spiegelabfälle als ungefährlich eingestuft zu haben. Diese Abfälle wurden in Deponien für nicht gefährliche Abfälle behandelt.
15. Am 22. November 2016 und am 16. Januar 2017 ordnete ein Untersuchungsrichter in Rom auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu Beweiszwecken die Beschlagnahme (jedoch mit Verwendungsbefugnis) mehrerer Deponien an, in denen diese Abfälle behandelt worden waren. Außerdem ordnete er die Sicherstellung der Vermögen der jeweiligen Eigentümer an und bestellte für einen Zeitraum von sechs Monaten einen Verwalter für den Betrieb der Deponien und der Abfallerzeugungs- und Sammelstellen.
16. Am 28. Februar 2017 entschied das Tribunale di Roma – Sezione per il riesame dei provvedimenti di sequestro (Gericht von Rom – Kammer zur Überprüfung von Beschlagnahmemaßnahmen, Italien) über die von einigen Beschuldigten gestellten Überprüfungsanträge. Es erklärte die durch den Richter angeordneten Maßnahmen in drei Beschlüssen für nichtig, weil es der auf der Vermutung der Gefährlichkeit der Abfälle beruhenden Auslegung der Staatsanwaltschaft nicht zustimmte.
17. Der Procuratore della Repubblica presso il Tribunale di Roma – Direzione distrettuale antimafia (Staatsanwalt beim Gericht Rom – Anti-Mafia-Regionaldirektion) focht die genannten Beschlüsse vor der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) mit der Begründung an, das Gericht habe unter Zugrundelegung des Verteidigungsvorbringens die nationalen und unionsrechtlichen Bestimmungen im Bereich der Klassifizierung von Spiegelabfällen unrichtig ausgelegt.
18. Das vorlegende Gericht führt aus, damit eine Straftat vorliege und somit um feststellen zu können, ob die in Rede stehenden Spiegelabfälle ordnungsgemäß bestimmt und klassifiziert worden seien, müsse der Anwendungsbereich des Beschlusses 2014/955 und der Verordnung Nr. 1357/2014 klargestellt werden. Nur so könne geklärt werden, welche (chemischen, mikrobiologischen usw.) Analysen erforderlich seien, um das Vorhandensein gefährlicher Stoffe in solchen Abfällen festzustellen, damit sie bestimmt und anschließend durch Zuordnung eines Codes für gefährliche oder nicht gefährliche Abfälle klassifiziert werden könnten.
19. Die Frage der Klassifizierung von Spiegelabfällen sei in Italien höchst strittig:
– Ein Teil der Lehre folge der sogenannten „Sicherheitshypothese“ oder „Gefährlichkeitsvermutung“, die im Geiste des Vorsorgeprinzips bis zum Beweis des Gegenteils die Gefährlichkeit des Abfalls vermute(14).
– Ein anderer Teil vertrete mit der sogenannten „Wahrscheinlichkeitshypothese“ die entgegengesetzte Meinung, nach der aufgrund des Gebots der nachhaltigen Entwicklung die Gefährlichkeit mittels geeigneter Analysen vorab einzuschätzen sei(15).
20. Die Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof) verweist auf ihre eigene Rechtsprechung zu den Änderungen durch das Gesetz Nr. 116/2014. Darin sei der Grundsatz aufgestellt worden, dass bei Abfällen mit Spiegelcodes der Erzeuger oder Besitzer verpflichtet sei, die notwendigen Analysen zur Feststellung des etwaigen Vorhandenseins gefährlicher Substanzen sowie eines Überschreitens der Konzentrationsgrenzwerte durchzuführen, um den Abfall zu bestimmen und ihm einen Code für gefährliche oder nicht gefährliche Abfälle zuzuordnen. Der Abfall könne nur dann als nicht gefährlich eingestuft werden, wenn im konkreten Fall festgestellt werde, dass gefährliche Stoffe nicht vorhanden seien oder die entsprechenden Grenzwerte nicht überschritten würden(16).
21. Zur Behebung seiner Zweifel hinsichtlich der unionsrechtlichen Bestimmungen in diesem Bereich hat das vorlegende Gericht beschlossen, dem Gerichtshof drei Vorabentscheidungsersuchen mit den folgenden, in allen drei Rechtssachen übereinstimmenden Fragen vorzulegen:
1. Sind der Anhang des Beschlusses 2014/955 und die Verordnung Nr. 1357/2014 hinsichtlich der Klassifizierung von Abfällen mit Spiegelcodes dahin auszulegen, dass der Abfallerzeuger vorab eine Bestimmung des Abfalls vornehmen muss, wenn dessen Zusammensetzung nicht bekannt ist, und gegebenenfalls in welchen Grenzen?
2. Ist die Untersuchung auf gefährliche Substanzen anhand vorbestimmter einheitlicher Methoden durchzuführen?
3. Muss die Untersuchung auf gefährliche Substanzen auf einer genauen und repräsentativen Überprüfung unter Berücksichtigung der Zusammensetzung des Abfalls beruhen, wenn diese bereits bekannt ist oder im Zuge der Bestimmung festgestellt wird, oder kann die Untersuchung auf gefährliche Substanzen vielmehr nach Wahrscheinlichkeitskriterien dahin gehend erfolgen, dass jene Substanzen gesucht werden, deren Vorhandensein realistischerweise in dem Abfall erwartet werden kann?
4. Ist ein Abfall bei Zweifeln über das Vorhandensein gefährlicher Substanzen oder bei Unmöglichkeit einer zuverlässigen Feststellung des Vorhandenseins solcher Substanzen aufgrund des Vorsorgeprinzips nichtsdestoweniger als gefährlicher Abfall zu klassifizieren und zu behandeln?
22. Schriftliche Erklärungen sind dem Gerichtshof vom Procuratore generale della Repubblica presso la Corte suprema di cassazione (Generalstaatsanwalt beim Obersten Gerichtshof), von Vetreco Srl, Herrn Francesco Rando, MAD Srl, Herrn Alfonso Verlezza, den Herren Antonio und Enrico Giuliano, der italienischen Regierung und der Europäischen Kommission eingereicht worden.
23. In der Verhandlung am 6. September 2018 haben die Vertreter von Herrn Francesco Rando, der E. Giovi Srl, von Vetreco, MAD, der italienischen Regierung und der Kommission sowie der Procuratore della Repubblica presso il Tribunale di Roma (Staatsanwalt beim Gericht Rom) mündlich vorgetragen.
III. Antwort auf die Vorlagefragen
A. Zur Zulässigkeit
24. Der Staatsanwalt beim Obersten Gerichtshof, Herr Rando und Vetreco haben verschiedene Argumente zur Unzulässigkeit der Vorlagefragen vorgetragen.
25. Herr Rando macht geltend, die Fragen seien unzulässig, weil sie sich aus der Anwendung des Gesetzes Nr. 116/2014 ergäben, das eine technische Vorschrift im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 98/34/EG(17) darstelle, die auf Privatpersonen nicht anwendbar sei, weil sie der Kommission nicht mitgeteilt worden sei.
26. Diesem Einwand stimme ich nicht zu. Die italienische Regelung über die Klassifizierung von Spiegelabfällen im Gesetz Nr. 116/2014 wurde zur Ausarbeitung und Umsetzung von Vorschriften des Unionsrechts über die Klassifizierung von Abfällen erlassen. Unabhängig davon, ob dieses Gesetz eine technische Vorschrift im Sinne der Richtlinie 98/34 ist, sehen Art. 8 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 eine Ausnahme von der Pflicht zur Unterrichtung der Kommission über solche nationalen technischen Vorschriften vor, die zur Ausarbeitung von Harmonisierungsvorschriften der Union erlassen werden. Jedenfalls würde die Klärung der Frage, ob das italienische Gesetz eine technische Vorschrift ist, eine Entscheidung in der Sache erfordern, die nicht in den Bereich der Zulässigkeit der Vorlagefragen verschoben werden sollte.
27. Die übrigen Einwände betreffen die (angeblich unzureichende) Darstellung des tatsächlichen und rechtlichen Kontextes der Verfahren:
– Herr Rando trägt vor, im Vorlagebeschluss (Rechtssache C-489/17) sei nicht konkret angegeben, dass er für die Verbringung an bestimmte Deponien verantwortlich gewesen sei, und es gebe keine Frage zur Anwendung der Richtlinie 1999/31/EG und der Entscheidung 2003/33/EG(18). Das vorlegende Gericht habe auch nicht die von ihm als Tatsachenbeweis vorgelegten chemischen Analysen erwähnt, in denen ein Labor die Abfälle mit dem Code CED 19 12 12 (Spiegelcode für nicht gefährliche Abfälle) klassifiziert habe.
– Vetreco macht geltend, die Vorlage der Fragen sei nicht erforderlich, weil das vorlegende Gericht über eine Rechtsprechung zu den im Rahmen der Klassifizierung von Abfällen mit Spiegelcodes anzuwendenden Kriterien verfüge. Es müsse sich daher darauf beschränken, die Tatsachen zu würdigen und seine Rechtsprechung auf den Sachverhalt anzuwenden, wozu es nicht den Gerichtshof anzurufen brauche.
– Nach Ansicht des Staatsanwalts beim Obersten Gerichtshof sind den vorgelegten Fragen nicht mit hinreichender Genauigkeit die Vorschriften des Unionsrechts zu entnehmen, um deren Auslegung ersucht werde, da nur die erste Frage eine allgemeine Bezugnahme auf den Beschluss 2014/955 und die Verordnung Nr. 1357/2014 enthalte. Sie erfüllten auch nicht das Erfordernis der Eigenständigkeit, da sie nicht aus sich selbst heraus und ohne Rückgriff auf ihre Begründung verständlich seien. Im Vorlagebeschluss seien die Ereignisse in den Jahren 2013, 2014 und 2015 nicht dargelegt, und das vorlegende Gericht äußere lediglich seine Zweifel in Bezug auf die Auslegung eines Begriffs in Anhang II, Nr. 2 des Beschlusses 2014/955.
28. Keiner dieser Einwände erscheint mir ausreichend, um die drei Vorabentscheidungsersuchen nicht zuzulassen. Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass er die Entscheidung über eine Vorlagefrage nur ablehnen kann, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer Unionsvorschrift offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(19).
29. Es ist Sache des nationalen Gerichts und nicht der Verfahrensbeteiligten, dem Gerichtshof die Fragen vorzulegen, bei denen Auslegungszweifel bestehen. Es kann daher davon absehen, im Verfahren gegen Herrn Rando Fragen zur Richtlinie 1999/31 und zur Entscheidung 2003/33 zu stellen, wenn es sie nicht für erforderlich hält. Es kann auch noch andere Fragen stellen, wenn es meint, dass seine bisherige Rechtsprechung durch die Antwort auf die Vorlagefrage präzisiert werden kann oder ihr widerspricht. In jedem Fall steht es dem Gerichtshof frei, auf andere als die im Vorlagebeschluss erwähnten Unionsvorschriften Bezug zu nehmen, wenn er sie für die Beantwortung der Vorlagefragen als relevant erachtet.
30. Die Fragen im vorliegenden Fall zeigen einen unbestreitbaren Zusammenhang mit dem Verfahrensgegenstand, und die Notwendigkeit einer Auslegung von Unionsvorschriften lässt sich den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts entnehmen. Darüber hinaus enthalten die Beschlüsse im Wesentlichen den tatsächlichen und rechtlichen Kontext des laufenden Strafverfahrens einschließlich einer recht vollständigen Darstellung der anzuwendenden italienischen Rechtsvorschriften. Es trifft zu, dass die Darstellung des Sachverhalts weitere Informationen über die Art der Abfälle und die durchgeführten Analysen hätte enthalten können. Allerdings stand es den Parteien frei, Erklärungen abzugeben, und meiner Ansicht nach verfügt der Gerichtshof über ausreichende Angaben, um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben.
31. Letzten Endes sind daher die Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs erfüllt.
B. In der Sache
32. Die Klassifizierung von Abfällen ist in allen Phasen – von der Erzeugung bis hin zur abschließenden Behandlung – von entscheidender Bedeutung. Sie ist sowohl für die Entscheidungen über die Bewirtschaftung als auch für die Durchführbarkeit und wirtschaftliche Rentabilität der Sammlung des Abfalls, die Wahl zwischen Recycling und Beseitigung und gegebenenfalls die Recyclingmethode maßgeblich.
33. Einen Abfall als gefährlich zu bezeichnen, zieht wichtige rechtliche Konsequenzen(20) nach sich, da die Richtlinie 2008/98 für die Bewirtschaftung solcher Abfälle strenge Vorgaben macht. Unter anderem müssen im Einklang mit dem System des Mitgliedstaats Nachweise für die Rückverfolgbarkeit vorgelegt werden (Art. 17); die Vermischung solcher Abfälle ist verboten (Art. 18); es gelten besondere Verpflichtungen im Bereich Kennzeichnung und Verpackung (Art. 19); und gefährliche Abfälle dürfen nur in speziell dafür angelegten Einrichtungen behandelt werden, denen dazu (gemäß den Art. 23 bis 25) eine besondere Genehmigung erteilt worden ist(21).
34. In seinen ersten drei Fragen, die sich zusammen beantworten lassen, fragt das vorlegende Gericht nach der Art und Weise, in der die Richtlinie 2008/98 (in der durch die Verordnung Nr. 1357/2014 geänderten Fassung) und die Entscheidung 2000/532 (in der durch den Beschluss 2014/955 geänderten Fassung) das Verfahren zur Klassifizierung von Abfällen regeln, denen Spiegelcodes zugeordnet werden können. Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Vorsorgeprinzip verlangt, dass dem Abfall bei Zweifeln über das Vorhandensein gefährlicher Substanzen oder bei Unmöglichkeit einer zuverlässigen Feststellung des Vorhandenseins solcher Substanzen ein Spiegelcode für gefährliche Abfälle zugeordnet werden muss.
35. Die Fragen ergeben Sinn, wenn man das Vorbringen im Rahmen der Verfahren vor dem Instanzgericht betrachtet:
– Für den Staatsanwalt gilt, dass der Abfallerzeuger oder ‑besitzer dafür verantwortlich ist, den Abfall unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips nach erschöpfender Analyse zu klassifizieren. Er verweist auf die europäischen Leitlinien und nationalen technischen Handbücher, um zu belegen, dass die in den italienischen Rechtsvorschriften bestimmte Methodik eine technische Ergänzung zum Beschluss 2014/955 und zur Verordnung Nr. 1357/2014 darstelle.
– Den Beklagten zufolge stützen sich die Ermittlungen und die ihnen zur Last gelegten Taten auf eine Vermutung der Gefährlichkeit der Spiegelabfälle, die dem Sinn des Gesetzes zuwiderlaufe und im konkreten Fall unmöglich widerlegt werden könne. Ihrer Ansicht nach gibt es keine geeignete Methodik zur Bestimmung aller oder nahezu aller Bestandteile eines Abfalls, weshalb die mittels Stichprobenanalysen vorgenommene Klassifizierung korrekt sei. Darüber hinaus seien ab dem 1. Juni 2015 der Beschluss 2014/955 und die Verordnung Nr. 1357/2014 anwendbar gewesen, die dahin auszulegen seien, dass sich die Gefährlichkeitsanalysen ausschließlich auf Substanzen beziehen müssten, die „auf der Grundlage des Erzeugungsprozesses relevant“(22) seien.
1. Zur ersten, zur zweiten und zur dritten Frage
36. Nach den Angaben in den Beschlüssen und den schriftlichen Erklärungen der Parteien sowie ihrem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung geht es in den Verfahren nur um Abfälle aus der mechanisch-biologischen Behandlung von Siedlungsabfällen(23), bei denen Zweifel im Hinblick auf die Gefährlichkeit bestehen und denen deshalb Spiegelcodes zugeordnet werden können. Enthalten diese Abfälle gefährliche Stoffe oder Stoffe mit gefahrenrelevanten Eigenschaften, so ist ihnen der Spiegelcode für gefährlichen Abfall 19 12 11* zuzuordnen, wenn solche gefahrenrelevanten Eigenschaften fehlen, der Spiegelcode für nicht gefährlichen Abfall 19 12 12(24).
37. Wichtig ist, dass das vorlegende Gericht seine Fragen nicht zur Klassifizierung von gemischten Siedlungsabfällen gestellt hat, bei denen gemäß Art. 20 der Richtlinie 2008/98(25) vermutet wird, dass sie nicht gefährlich sind, so dass die wesentlichen Einschränkungen für gefährliche Abfälle auf sie keine Anwendung finden.
38. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts beschränken sich mithin auf die Klassifizierung von Abfällen aus der mechanischen Behandlung von Siedlungsabfällen, die nicht mit den gemischten Siedlungsabfällen zu verwechseln sind, die bei den Deponien angeliefert werden. Dieser Unterschied hat meines Erachtens zwei Konsequenzen:
– Die Bestimmungen über die Deponierung und Annahme von Abfällen auf Deponien sind nicht auf Abfälle anwendbar, die aus der mechanischen Behandlung von Siedlungsabfällen stammen(26).
– Die Vermutung, dass gemischte Siedlungsabfälle nicht gefährlich sind, ist nicht auf Abfälle aus der mechanischen Behandlung solcher Abfälle übertragbar. Der Abfall aus dieser mechanischen Behandlung kann Stoffe mit gefahrenrelevanten Eigenschaften enthalten, und zwar allein aufgrund der Tatsache, dass irrtümlich Erzeugnisse wie Batterien, Tonerkassetten oder sonstige Abfälle, die gefährliche Stoffe enthalten, in die gemischten Siedlungsabfälle gelangt sein können.
39. Daher werde ich meine Würdigung auf Abfälle beschränken, bei denen Zweifel hinsichtlich der Gefährlichkeit bestehen und denen deshalb Spiegelcodes zugeordnet werden können; insbesondere auf die im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Abfälle aus der mechanisch-biologischen Behandlung von Siedlungsabfällen.
40. In Art. 3 der Richtlinie 2008/98 wird der Begriff „Abfall“ bestimmt als „jede[r] Stoff oder Gegenstand, dessen sich sein Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss“; als „gefährlicher Abfall“ gilt Abfall, der eine oder mehrere der in Anhang III der Richtlinie 2008/98 aufgeführten Eigenschaften aufweist; diese Eigenschaften sind entsprechend dem wissenschaftlichen Fortschritt durch die ab dem 1. Juni 2015 anzuwendende Verordnung Nr. 1357/2014 angepasst worden(27).
41. Die Schwierigkeit, Abfälle zu klassifizieren und zu erkennen, wann sie gefährlich sind, hat den Unionsgesetzgeber dazu bewogen, ein Abfallverzeichnis zu erstellen, um die Entscheidungen der Erzeuger und Besitzer dieser Art von Ware zu erleichtern.
42. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/98 sieht vor, dass dieses Verzeichnis gefährliche Abfälle einschließt und den Ursprung und die Zusammensetzung der Abfälle und erforderlichenfalls die Grenzwerte der Konzentration gefährlicher Stoffe berücksichtigt. Darüber hinaus bestimmt er, dass das Verzeichnis grundsätzlich(28) hinsichtlich der Festlegung der Abfälle, die als gefährliche Abfälle einzustufen sind, verbindlich ist. Das Verzeichnis ist also für die Mitgliedstaaten verbindlich, aber weder endgültig noch absolut, da die mit der Richtlinie 2008/98 vorgenommene Harmonisierung nicht umfassend ist(29).
43. Das EAV wurde durch die Entscheidung 2000/532(30) aufgestellt und gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/98 durch den Beschluss 2014/955(31) geändert, um es dem wissenschaftlichen Fortschritt und den Entwicklungen in der Gesetzgebung im Bereich chemischer Erzeugnisse(32) anzupassen.
44. Die Klassifizierung nach dem EAV erfordert, dass jedem Abfall eine sechsstellige Schlüsselnummer zugeordnet wird, die als „Abfallschlüssel“ oder „EAV-Code“(33) bezeichnet wird und aus der sich ergibt, ob es sich um einen gefährlichen Abfall handelt. Das EAV kennt drei Arten von Codes oder Einträgen:
– „Absolut gefahrenrelevante (Absolute hazardous, AH‑) Einträge“: Die diesen Einträgen (die ein Sternchen [*] aufweisen) zugeordneten Abfälle sind ohne weitere Bewertung als gefährlich zu betrachten.
– „Absolut nicht gefahrenrelevante (Absolute non-hazardous, ANH‑) Einträge“: Die diesen Einträgen zugeordneten Abfälle sind ohne weitere Bewertung als nicht gefährlich zu betrachten.
– „Spiegeleinträge“: Ist ein Abfall nicht einem absoluten Eintrag zuzuordnen, kann er grundsätzlich je nach konkreter Sachlage und Zusammensetzung einem AH-Eintrag oder einem ANH-Eintrag zugeordnet werden. Mit anderen Worten: Spiegeleinträge kann man definieren als mindestens zwei miteinander verbundene Einträge, von denen einer als gefahrenrelevant und der andere als nicht gefahrenrelevant einzustufen ist, so dass es gefahrenrelevante Spiegeleinträge (Mirror hazardous, MH) (die ein Sternchen [*] aufweisen) und nicht gefahrenrelevante Spiegeleinträge (Mirror non-hazardous, MNH) gibt.
45. Wenn die Zusammensetzung der Abfälle bekannt ist, ordnet ihnen der Erzeuger gemäß dem EAV einen AH-Code oder einen ANH-Code zu. Die Klassifizierung ist jedoch schwieriger, wenn es sich um Abfälle handelt, denen Spiegelcodes zuzuordnen sind, weil ihr Erzeuger oder Besitzer zusätzliche Bewertungsmaßnahmen vornehmen muss, um ihnen letztlich einen MH- oder einen MNH-Eintrag zuzuordnen. Mit einem solchen Fall ist das vorlegende Gericht befasst.
46. Die Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof) muss nach eigenen Angaben Teil Vier Anhang D Nrn. 4, 5 und 6 des Gesetzesdekrets 152/2006 in der durch das Gesetz Nr. 116/2014 geänderten Fassung anwenden, durch die das Verfahren zur Bestimmung der Gefährlichkeit von Spiegelabfällen in Italien eingeführt wurde. Die Gefährlichkeit ist in den drei folgenden Schritten (in chronologischer Reihenfolge) zu ermitteln:
– Ermittlung der im Abfall vorhandenen Bestandteile anhand des Herstellerdatenblatts, der Kenntnis des chemischen Prozesses, der Probenahme und der Analyse des Abfalls;
– Überprüfung der Gefährlichkeit dieser Bestandteile anhand der Unionsvorschriften über die Kennzeichnung gefährlicher Stoffe und Zubereitungen, europäischer und internationaler Informationsquellen und des Produktsicherheitsblatts für die Erzeugnisse, von denen der Abfall stammt; und
– Feststellung, ob die Konzentrationen der im Abfall vorhandenen Bestandteile auf eine Gefährlichkeit hindeuten, indem die im Rahmen der chemischen Analysen festgestellten Konzentrationen mit der Obergrenze für die konkreten gefahrenrelevanten Eigenschaften der Bestandteile verglichen werden oder indem Stichproben durchgeführt werden, um zu prüfen, ob der Abfall gefahrenrelevante Eigenschaften aufweist.
47. Diese Regelung sah ferner vor, dass, falls die chemischen Analysen nicht ermöglichten, sämtliche Bestandteile des Abfalls im Einzelnen zu ermitteln, zur Berechnung der Gefährlichkeit im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip die schädlichsten Bestandteile herangezogen werden mussten. Wenn das Verfahren nicht eingehalten worden war oder die Ermittlung der Bestandteile des Abfalls oder ihrer Gefährlichkeit nicht erlaubt hatte, mussten die Abfälle als gefährlich eingestuft werden, d. h. ihnen musste ein MH-Eintrag (mit einem Sternchen [*]) zugeordnet werden.
48. Zusammenfassend möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine solche nationale Regelung mit der Richtlinie 2008/98 und der Entscheidung 2000/532 in den durch die Verordnung Nr. 1357/2014 bzw. den Beschluss 2014/955 geänderten Fassungen vereinbar ist.
49. Grundsätzlich scheint mir die italienische Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar zu sein, was ich sogleich begründen werde.
50. Nach Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/98 ist für die Bewertung der Gefährlichkeit zunächst erforderlich, die Zusammensetzung des Abfalls zu kennen, um die darin enthaltenen gefährlichen Stoffe zu ermitteln, aufgrund derer der Abfall eine oder mehrere der 15 gefahrenrelevanten Eigenschaften (HP 1 bis HP 15) gemäß Anhang III aufweisen kann. Es obliegt dem Erzeuger oder Besitzer des Abfalls, die erforderlichen Ermittlungen durchführen, wenn die Zusammensetzung der Abfälle nicht bekannt ist.
51. Bei der Ermittlung der Zusammensetzung des Abfalls ist zu berücksichtigen, dass das EAV eine Klassifizierung anhand der Herkunft des Abfalls (des konkreten Prozesses oder der Tätigkeit, bei der er erzeugt wird) und der „Abfallart“ (oder bei gemischten Abfällen der Abfallarten) vornimmt. Die Nachforschungen zur Ermittlung der Zusammensetzung müssen die Identifizierung der Herkunft und/oder Art des Abfalls und so die Zuordnung zu einem der EAV-Einträge ermöglichen.
52. Es gibt mehrere Methoden, mit denen der Abfallerzeuger oder ‑besitzer Informationen über die Zusammensetzung des Abfalls, die enthaltenen gefährlichen Stoffe und die möglichen gefahrenrelevanten Eigenschaften sammeln kann. Dazu gehören(34):
– Informationen über den „abfallproduzierenden“ Herstellungsprozess bzw. chemischen Prozess, die Eingangsstoffe und Zwischenprodukte, auch in Form von Experteneinschätzungen. Nützliche Informationsquellen sind u. a. Berichte über beste verfügbare Techniken(35), Handbücher über industrielle Verfahren, Prozessbeschreibungen und vom Hersteller zur Verfügung gestellte Listen der Eingangsstoffe;
– Angaben des ursprünglichen Herstellers des Stoffes oder Gegenstandes, bevor dieser zu Abfall wurde. Diese können z. B. in Sicherheitsdatenblättern, Produktetiketten oder ‑datenblättern vorliegen;
– in den Mitgliedstaaten vorhandene Datenbanken über Abfallanalysen; und
– Probenahme und chemische Analyse des Abfalls.
53. Sobald der Erzeuger die Informationen über die Zusammensetzung des Abfalls gesammelt hat, muss er klären, ob der Abfall einen bekanntermaßen gefährlichen Stoff (was für gewöhnlich nicht der Fall ist) oder Stoffe mit gefahrenrelevanten Eigenschaften (was für gewöhnlich und auch in den vorliegenden Fällen zutrifft) enthält. Die Klassifizierung der Stoffe erfolgt gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008(36), während das Vorliegen gefährlicher Stoffe in den Abfällen nach Maßgabe von Anhang III der Richtlinie 2008/98(37) bewertet wird.
54. Die Verordnung Nr. 1272/2008, mit der das internationale System der Vereinten Nationen zur Einstufung von Chemikalien (Global Harmonisiertes System [GHS]) für die Europäische Union angepasst wurde, enthält detaillierte Kriterien für die Bewertung von Stoffen und die Einstufung ihrer Gefährlichkeit.
55. Gemäß Art. 1 Abs. 3 dieser Verordnung gelten Abfälle weder als Stoffe noch als Gemische oder Erzeugnisse; folglich finden die in ihr vorgesehenen Verpflichtungen auf Abfallerzeuger oder ‑besitzer keine Anwendung. Dessen ungeachtet umfasst ihr Anhang VI eine Reihe von harmonisierten Klassifizierungen gefährlicher Stoffe, die bei der Klassifizierung von Abfällen zu verwenden sind, weil viele der Spiegelcodes sich konkret auf „gefährliche Stoffe“ beziehen(38).
56. Das Vorliegen gefährlicher Stoffe ist vom Erzeuger oder Besitzer des Abfalls nach Maßgabe von Anhang III der Richtlinie 2008/98 zu bewerten, in dem, wie schon erwähnt, 15 gefahrenrelevante Eigenschaften(39) von Abfällen aufgeführt werden. Diese Bewertung kann erfolgen: a) durch Berechnung, d. h. indem berechnet wird, ob die Grenzwerte nach Maßgabe der Gefahrenhinweis-Codes (unterschiedliche Grenzwerte in Abhängigkeit von den Eigenschaften HP 4 bis HP 14) von den Stoffen, die in dem Abfall enthalten sind, erreicht oder überschritten werden; und b) durch Prüfung, ob der Abfall gefahrenrelevante Eigenschaften aufweist oder nicht (besonders geeignet bei den Eigenschaften HP 1 bis HP 4)(40).
57. Im Anhang der Entscheidung 2000/532 heißt es im Abschnitt über die Bewertung der gefahrenrelevanten Eigenschaften von Abfällen (Abs. 1 a. E.): „Wurde eine gefahrenrelevante Eigenschaft eines Abfalls sowohl durch eine Prüfung als auch anhand der Konzentrationen gefährlicher Stoffe gemäß Anhang II der Richtlinie 2008/98/EG bewertet, so sind die Ergebnisse der Prüfung ausschlaggebend.“
58. Weist der Abfall eine oder mehrere der 15 gefahrenrelevanten Eigenschaften auf, so muss der Erzeuger oder Besitzer ihm einen Spiegelcode für gefährliche Abfälle (MH) zuordnen. Weist er keine dieser Eigenschaften auf, kann er trotzdem so eingestuft werden, sofern er einen der im Anhang des EAV (Nr. 2, Spiegelstrich 3) aufgeführten persistenten organischen Schadstoffe(41) enthält, dessen Konzentration über dem Grenzwert gemäß Anhang IV der Verordnung (EG) Nr. 850/2004(42) liegt.
59. Die vorstehenden Erwägungen lassen mich den vom vorlegenden Gericht als „Wahrscheinlichkeitshypothese“ bezeichneten Ansatz verwerfen, nach dem der Erzeuger des Abfalls ein Ermessen bei der Einstufung von Spiegelabfällen als gefährlich oder nicht gefährlich habe, weil es unmöglich sei, Untersuchungen zur Feststellung sämtlicher in einem Abfall vorhandener Stoffe durchzuführen, und diesen Abfällen dann immer MH-Codes zugeordnet werden müssten.
60. Wie ich bereits dargelegt habe, verlangt das Unionsrecht, dass der Erzeuger oder Besitzer eine angemessene Ermittlung der Zusammensetzung der Abfälle durchführt und anschließend die potenzielle Gefährlichkeit der ermittelten Stoffe überprüft, um anhand ihrer Konzentration zu bestimmen, ob sie unter Anhang III der Richtlinie 2008/98 oder unter Anhang IV der Verordnung Nr. 850/2004 fallen. Das bedeutet, dass auch der vom vorlegenden Gericht erwähnte Ansatz der „Sicherheitshypothese“ oder „Gefährlichkeitsvermutung“ abzulehnen ist, der eine erschöpfende Untersuchung der Zusammensetzung des Abfalls sowie sämtlicher potenziell gefährlichen Stoffe und ihrer Konzentrationen als einzige Möglichkeit ansieht, den Abfall nicht als gefährlich einzustufen.
61. Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Auslegung von zwei Begriffen in Nr. 2 des Abschnitts „Bewertung und Einstufung“ im Anhang der Entscheidung 2000/532 in der durch den Beschluss 2014/955 geänderten Fassung. Die italienische Sprachfassung dieser Vorschrift lautet: „… l’iscrizione di una voce nell’elenco armonizzato di rifiuti contrassegnata come pericolosa, con un riferimento specifico o generico a ‚sostanze pericolose‘, è opportuna solo quando questo rifiuto contiene sostanze pericolose pertinenti che determinano nel rifiuto una o più delle caratteristiche di pericolo …“ [„Die Aufnahme … in das harmonisierte Verzeichnis … ist zweckmäßig …“, in der deutschen Sprachfassung stattdessen „wird aufgenommen“]. Das vorlegende Gericht merkt an, im Hinblick auf die Auslegung werde teilweise die Auffassung vertreten, das Vorhandensein der Begriffe „opportuna“ („zweckmäßig“) und „pertinenti“ („relevante“) im Zusammenhang mit Spiegeleinträgen spreche für die Möglichkeit, dass bei der Bewertung ein Ermessen bestehe und dass die Untersuchung der Gefährlichkeit sich auf im Hinblick auf die Gefährlichkeit relevante Bestandteile des Abfalls beschränken könne.
62. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs(43) ist es erforderlich, andere Sprachfassungen dieser Bestimmung zu untersuchen, um festzustellen, ob Unterschiede bestehen, und sie gegebenenfalls nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung auszulegen, zu der sie gehört.
63. Die spanische(44), die portugiesische(45), die französische(46) und die englische(47) Sprachfassung dieser Bestimmung stimmen darin überein, dass die Aufnahme von Spiegelabfällen in das harmonisierte Verzeichnis der als gefährlich eingestuften Abfälle nur „gerechtfertigt“ oder „angemessen“ ist, „wenn dieser Abfall gefährliche Stoffe enthält, aufgrund deren er eine oder mehrere der … gefahrenrelevanten Eigenschaften … aufweist.“ Einem Spiegelabfall ist daher nur dann ein MH-Code zuzuordnen, wenn er Stoffe enthält, aufgrund deren er eine oder mehrere der in Anhang III der Richtlinie 2008/98 aufgeführten 15 gefahrenrelevanten Eigenschaften aufweist. Es gibt insoweit also keinen Ermessensspielraum. Ich bin der Überzeugung, dass diese Sprachfassungen dem Zweck und der allgemeinen Systematik der Vorschrift genau entsprechen.
64. Im Hinblick auf die vom Abfallerzeuger oder ‑besitzer zur Bewertung der Toxizität oder Gefährlichkeit der Abfälle und zur Zuordnung eines Spiegelcodes verwendbaren Analyse- und Prüfmethoden (zweite Vorlagefrage) ist anzumerken, dass weder die Richtlinie 2008/98 noch die Entscheidung 2000/532 unmittelbare und konkrete Hinweise zu dieser Frage enthalten, da die Methoden nicht durch das Unionsrecht harmonisiert wurden. Allerdings ist am Ende von Anhang III der Richtlinie 2008/98 in der durch die Verordnung Nr. 1357/2014 geänderten Fassung im Hinblick auf die Prüfmethoden bestimmt, dass die anzuwendenden Prüfmethoden „… in der Verordnung (EG) Nr. 440/2008 der Kommission und in anderen CEN-Normen oder international anerkannten Prüfmethoden und Leitlinien beschrieben [sind]“.
65. Im Anhang der Entscheidung 2000/532 finden sich im Abschnitt „Bewertung und Einstufung“ unter Nr. 2 auch einige zusätzliche Hinweise in Bezug auf Analysen und Prüfmethoden:
– Im zweiten Spiegelstrich heißt es, dass eine gefahrenrelevante Eigenschaft anhand der im Abfall vorhandenen Stoffe oder anhand einer Prüfung im Einklang mit der Verordnung (EG) Nr. 440/2008(48) oder anderer international anerkannter Prüfmethoden und Leitlinien bewertet werden kann, sofern die Verordnung Nr. 1272/2008 nichts anderes bestimmt.
– Im fünften Spiegelstrich ist bestimmt: „Bei der Feststellung der gefahrenrelevanten Eigenschaften von Abfällen können gegebenenfalls die folgenden Anmerkungen in Anhang VI der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 berücksichtigt werden: – 1.1.3.1. Anmerkungen zur Identifizierung, Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen: Anmerkungen B, D, F, J, L, M, P, Q, R und U. – 1.1.3.2. Anmerkungen zur Einstufung und Kennzeichnung von Gemischen: Anmerkungen 1, 2, 3 und 5.“
66. Beide Verweise bieten hinsichtlich der Arten von Prüfungen und chemischen Analysen(49) eine Orientierungsmöglichkeit, auf die die Abfallerzeuger und ‑besitzer bei der Prüfung der Gefährlichkeit von im Abfall enthaltenen Stoffen zurückgreifen können. Natürlich sind die in der Verordnung Nr. 440/2008 vorgesehenen, auf chemische Stoffe und Zubereitungen im Sinne der REACH-Verordnung anzuwendenden Prüfmethoden zulässig. Gleichermaßen sind auch die in Anhang 3 der Bekanntmachung der Kommission von 2018(50) aufgeführten Prüfmethoden und Berechnungsmethoden für gefahrenrelevante Eigenschaften von Abfällen zulässig.
67. Anhang 4 dieser Bekanntmachung enthält eine Liste von Methoden und CEN-Normen für die Charakterisierung von Abfällen durch verschiedene Arten chemischer Analysen(51).
68. Ich bin jedoch der Auffassung, dass auch jede andere nach internationalem Recht, Unionsrecht oder nationalem Recht(52) anerkannte Art der Prüfung ebenso zulässig ist, um zu klären, ob die in einem Abfall vorhandenen Stoffe gefährlich sind. Sowohl am Ende von Anhang III der Richtlinie 2008/98 in der durch die Verordnung Nr. 1357/2014 geänderten Fassung als auch im Anhang zur Entscheidung 2000/532, Abschnitt „Bewertung und Einstufung“, Nr. 2, zweiter Spiegelstrich, ist bestimmt, dass auf „international anerkannte … Prüfmethoden und Leitlinien“ zurückgegriffen werden kann. Ich möchte nochmals in Erinnerung rufen, dass gemäß dem Anhang der Entscheidung 2000/523, Abschnitt „Bewertung und Einstufung“, Abs. 1 am Ende, die Ergebnisse einer Prüfung Vorrang vor der Berechnungsmethode für solche gefährlichen Stoffe haben.
69. Was den Umfang der Prüfungen und chemischen Analysen anbelangt, bin ich im Einklang mit den vorstehenden Ausführungen der Auffassung, dass diese Analysen anhand von Stichproben durchgeführt werden können, deren Wirksamkeit und Repräsentativität allerdings sichergestellt sein muss. Dies kann beispielsweise dadurch gewährleistet werden, dass die vom CEN erarbeiteten Normen und technischen Spezifikationen über die „Charakterisierung von Abfällen – Probenahme von Abfällen“(53) angewendet werden.
70. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen sind Art. 7 und Anhang III der Richtlinie 2008/98 sowie der Anhang der Entscheidung 2000/532, Abschnitt „Bewertung und Einstufung“, Nr. 2 („Einstufung eines Abfalls als gefährlich“), dahin auszulegen, dass der Erzeuger oder Besitzer eines Spiegelabfalls verpflichtet ist, die Zusammensetzung des Abfalls zu ermitteln und anschließend durch Berechnung oder Prüfung zu klären, ob der Abfall einen gefährlichen Stoff oder einen Stoff enthält, der eine der in Anhang III der Richtlinie 2008/98 oder Anhang IV der Verordnung Nr. 850/2004 aufgeführten gefahrenrelevanten Eigenschaften aufweist. Zu diesem Zweck können die in der Verordnung Nr. 440/2008 vorgesehenen oder sonstige international oder nach dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats anerkannte Probenahmen, chemische Analysen und Prüfungen angewendet werden.
2. Zur vierten Frage
71. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob das Vorsorgeprinzip gebietet, dass bei Zweifeln über das Vorhandensein gefährlicher Substanzen oder bei Unmöglichkeit einer zuverlässigen Bestimmung des Vorhandenseins solcher Substanzen in einem Abfall diesem ein Spiegelcode für gefährliche Abfälle (MH) zugeordnet werden muss.
72. Das in Art. 191 Abs. 2 AEUV verankerte Vorsorgeprinzip ist neben den Grundsätzen der Vorbeugung, der Beseitigung von Verunreinigungen an der Quelle und dem Verursacherprinzip eines der Grundprinzipien der Umweltpolitik der Union. Das Vorsorgeprinzip ist ein Instrument des Risikomanagements, das im Fall wissenschaftlicher Unsicherheit über den Verdacht auf eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt eingesetzt werden kann und den Erlass von vorbeugenden Maßnahmen ermöglicht, bis die fragliche Unsicherheit geklärt ist(54).
73. Das Vorsorgeprinzip wird neben anderen Prinzipien in Art. 4 Abs. 2 letzter Unterabsatz der Richtlinie 2008/98(55) erwähnt, während in den Art. 1 und 13 dieser Richtlinie auf die Pflicht der Mitgliedstaaten Bezug genommen wird, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Abfallbewirtschaftung ohne Gefährdung der menschlichen Gesundheit oder Schädigung der Umwelt erfolgt.
74. Wird einem Abfall ein MH-Eintrag zugeordnet, so hat dies, wie ich bereits angemerkt habe, erhebliche Auswirkungen auf seine spätere Bewirtschaftung (Wiederverwendung, Recycling, mögliche Verwertung und Beseitigung). Wie die Kommission bestätigt, verlangt das Vorsorgeprinzip nicht automatisch eine solche Klassifizierung, wenn lediglich Zweifel im Hinblick auf das Vorhandensein von Stoffen mit gefährlichen Eigenschaften gemäß Anhang III der Richtlinie 2008/98 oder Anhang IV der Verordnung Nr. 850/2004 bestehen.
75. Um zu klären, ob den Abfällen ein MH- oder ein MNH-Eintrag zuzuordnen ist, muss der Eigentümer oder Besitzer des Abfalls das Verfahren zur Einstufung von Spiegelabfällen anwenden, wobei er zuvor die Zusammensetzung ermitteln und im Falle der Entdeckung von Stoffen mit gefahrenrelevanten Eigenschaften eine Berechnung ihrer Werte oder entsprechende Prüfungen durchführen muss.
76. Der Abfallerzeuger oder ‑besitzer kann das Vorsorgeprinzip jedoch nicht als einen Vorwand für die Nichtanwendung des in der Richtlinie 2008/98 und der Entscheidung 2000/532 festgelegten Verfahrens zur Einstufung von Spiegelabfällen heranziehen. Die Mitgliedstaaten sind gemäß Art. 7 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/98 zur Neueinstufung eines Abfalls als gefährlich oder nicht gefährlich befugt, müssen dies der Kommission allerdings mitteilen, damit diese gegebenenfalls das EAV ändern kann. Wenn für die Mitgliedstaaten diese Beschränkung gilt, kann das Vorsorgeprinzip Privatpersonen nicht dazu berechtigen, Abfälle außerhalb des in den genannten unionsrechtlichen Vorschriften festgelegten Verfahrens zu klassifizieren.
77. Meiner Ansicht nach bestätigt die Rechtsprechung des Gerichtshofs dies(56). Tatsächlich „erfordert eine korrekte Anwendung des Vorsorgeprinzips erstens die Bestimmung der möglicherweise negativen Auswirkungen der betreffenden Stoffe oder Lebensmittel auf die Gesundheit und zweitens eine umfassende Bewertung des Gesundheitsrisikos auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung“(57). Daher können „Schutzmaßnahmen … nicht wirksam mit einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos begründet werden, die auf bloße, wissenschaftlich noch nicht verifizierte Vermutungen gestützt wird. Vielmehr können sie ungeachtet ihrer vorläufigen Natur und auch wenn sie Präventivcharakter haben, nur getroffen werden, wenn sie auf eine möglichst umfassende Risikobewertung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des konkreten Falles gestützt sind, woraus erkennbar ist, dass diese Maßnahmen geboten sind“(58).
78. Man kann sich auch nicht auf einen bloßen Zweifel hinsichtlich der Gefährlichkeit des Abfalls stützen, um ihm unter Berufung auf das Vorsorgeprinzip einen MH-Eintrag zuzuordnen. Wenn dem so wäre, würden sämtliche Spiegeleinträge zu einer Einstufung des Abfalls als gefährlich führen. Diese Einstufung erfordert aber, wie ich nochmals betonen möchte, die Analyse der Zusammensetzung des Abfalls in jedem Einzelfall und die anschließende Überprüfung einer möglichen Gefährlichkeit der vorhandenen Stoffe. In dem Verfahren nach der Richtlinie 2008/98 und der Entscheidung 2000/532 sind Anforderungen vorgesehen, die mit den vom Gerichtshof für die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips festgelegten Vorgaben vergleichbar sind.
79. Ich stimme der italienischen Regierung darin zu, dass der Abfallerzeuger oder ‑besitzer nicht dazu verpflichtet ist, den Abfall erschöpfend zu analysieren, um sämtliche gemäß der Verordnung Nr. 1272/2008 gefährlichen Stoffe, die darin vorhanden sein können, und sämtliche gefahrenrelevante Eigenschaften gemäß Anhang III der Richtlinie 2008/98, die er aufweisen kann, zu ermitteln. Das vorlegende Gericht teilt diese Auffassung; seiner Ansicht nach ist eine unterschiedslose Untersuchung sämtlicher Substanzen, die die Abfälle theoretisch enthalten können, nicht zwingend erforderlich, sondern eine geeignete Bestimmung der Abfälle auf der Grundlage zunächst der Feststellung ihrer genauen Zusammensetzung und anschließend der Überprüfung der Gefährlichkeit der so bestimmten Substanzen.
80. Zudem ist der Grundsatz der technischen Durchführbarkeit und der wirtschaftlichen Vertretbarkeit gemäß Art. 4 Abs. 2 letzter Unterabsatz der Richtlinie 2008/98 nicht damit vereinbar, den Abfallerzeuger zu einer vollkommen erschöpfenden Analyse der Zusammensetzung eines Abfalls und sämtlicher gefahrenrelevanter Eigenschaften der darin vorhandenen Stoffe zu verpflichten. Eine solche Verpflichtung wäre auch unverhältnismäßig.
81. Meines Erachtens kann das Vorsorgeprinzip es rechtfertigen, einem Abfall einen MH-Eintrag zuzuordnen, wenn die Analyse der Zusammensetzung und/oder der gefahrenrelevanten Eigenschaften seiner Bestandteile sich aus nicht vom Erzeuger oder Besitzer des Abfalls zu vertretenden Gründen als unmöglich erweist. In diesem Fall bestünde eine tatsächliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit oder die Umwelt, weshalb es als eine beschränkende Maßnahme zur „Neutralisierung“ der Gefahr vertretbar wäre, dem Abfall einen MH-Eintrag zuzuordnen(59).
IV. Ergebnis
82. In Anbetracht des Vorstehenden schlage ich vor, auf die Vorlagefragen der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) wie folgt zu antworten:
Art. 7 und Anhang III der Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien, geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 1357/2014, und der Anhang der Entscheidung 2000/532/EG der Kommission vom 3. Mai 2000 zur Ersetzung der Entscheidung 94/3/EG über ein Abfallverzeichnis gemäß Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates über Abfälle und der Entscheidung 94/904/EG des Rates über ein Verzeichnis gefährlicher Abfälle im Sinne von Artikel 1 Absatz 4 der Richtlinie 91/689/EWG des Rates über gefährliche Abfälle, in seiner durch den Beschluss 2014/955/EU geänderten Fassung, Abschnitt „Bewertung und Einstufung“, Nr. 2 („Einstufung eines Abfalls als gefährlich“), sind wie folgt auszulegen:
1. Der Erzeuger oder Besitzer eines Abfalls, dem ein Spiegelcode zugeordnet werden kann, ist verpflichtet, die Zusammensetzung des Abfalls zu ermitteln und anschließend durch Berechnung oder Prüfung zu klären, ob der Abfall einen gefährlichen Stoff oder einen Stoff enthält, der eine der in Anhang III der Richtlinie 2008/98 oder Anhang IV der Verordnung (EG) Nr. 850/2004 aufgeführten gefahrenrelevanten Eigenschaften aufweist. Zu diesem Zweck können die in der Verordnung (EG) Nr. 440/2008 vorgesehenen oder sonstige international oder nach dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats anerkannte Probenahmen, chemische Analysen und Prüfungen angewendet werden.
2. Der Erzeuger oder Besitzer eines Abfalls kann das Vorsorgeprinzip nicht als einen Vorwand für die Nichtanwendung des in der Richtlinie 2008/98 und der Entscheidung 2000/532 festgelegten Verfahrens zur Einstufung von Spiegelabfällen heranziehen, es sei denn, die Analyse der Zusammensetzung des Abfalls und/oder der gefahrenrelevanten Eigenschaften seiner Bestandteile erweist sich als unmöglich.