Language of document : ECLI:EU:C:2011:559

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

VERICA Trstenjak

vom 8. September 2011(1)

Rechtssache C‑282/10

Maribel Dominguez

gegen

Centre informatique du Centre Ouest Atlantique

gegen

Préfet de la région Centre

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Frankreich])

„Art. 31 Abs. 2 der Charta – Soziale Grundrechte – Allgemeine Rechtsgrundsätze – Horizontale Wirkung von Richtlinien – Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG – Arbeitsbedingungen – Arbeitszeitgestaltung – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Entstehung des Urlaubsanspruchs unabhängig von der Art und Dauer der Abwesenheit des Arbeitnehmers – Nationale Regelung, nach der die Gewährung dieses Urlaubs von einer tatsächlichen Mindestarbeitszeit während des Bezugsjahrs abhängt – Pflicht des nationalen Gerichts, dem Unionsrecht entgegenstehende nationale Bestimmungen unangewandt zu lassen“





Inhaltsverzeichnis


I – Einleitung

II – Normativer Rahmen

A – Unionsrecht

1. Charta der Grundrechte der Europäischen Union

2. Richtlinie 2003/88

B – Nationales Recht

III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

V – Wesentliche Argumente der Parteien

A – Zur ersten Vorlagefrage

B – Zur zweiten Vorlagefrage

C – Zur dritten Vorlagefrage

VI – Rechtliche Würdigung

A – Zur ersten Vorlagefrage

B – Zur zweiten Vorlagefrage

1. Allgemeines

a) Wesentliche rechtliche Aspekte

b) Vorliegen eines Rechtsstreits zwischen Privaten

2. Die Rolle des nationalen Richters in einem Rechtsstreit zwischen Privaten

a) Die unionsrechtlichen Grenzen der Anwendbarkeit von Richtlinien


b) Mögliche alternative Ansätze

i) Unmittelbare Anwendbarkeit des Grundrechts aus Art. 31 Abs. 2 der Charta

– Anwendbarkeit der Charta

– Grundrechtseigenschaft

– Fehlende Drittwirkung

– Ergebnis

ii) Unmittelbare Anwendbarkeit eines etwaigen allgemeinen Rechtsgrundsatzes

– Rang des Rechts auf Jahresurlaub innerhalb der Unionsrechtsordnung

– Schlussfolgerungen

– Anwendbarkeit des allgemeinen Rechtsgrundsatzes zwischen Privaten

– Übertragbarkeit auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub

– Ergebnis

iii) Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, wie er durch die Richtlinie 2003/88 konkretisiert ist

– Der Ansatz des Gerichtshofs im Urteil Kücükdeveci

– Übertragbarkeit dieses Ansatzes auf den Anspruch auf Jahresurlaub

– Ergebnis

c) Abschließende Schlussfolgerung

3. Hilfsweise Haftung des Mitgliedstaats wegen Verletzung des Unionsrechts

4. Ergebnis

C – Zur dritten Vorlagefrage

VII – Ergebnis






I –    Einleitung

1.        Im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV stellt die französische Cour de cassation (im Folgenden: vorlegendes Gericht) dem Gerichtshof drei Fragen betreffend die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung(2).

2.        Dieses Vorabentscheidungsersuchen findet seinen Ursprung in einem Rechtsstreit zwischen Frau Dominguez (im Folgenden: Klägerin des Ausgangsverfahrens) und ihrem Arbeitgeber, dem Centre informatique du Centre Ouest Atlantique (im Folgenden: Beklagter des Ausgangsverfahrens), bei dem es um die Frage geht, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Letzterer zur Zahlung einer finanziellen Vergütung wegen Jahresurlaubs verpflichtet ist, den sie unfallsbedingt nicht nehmen konnte. Ein wichtiger klärungsbedürftiger Aspekt aus Sicht des vorlegenden Gerichts ist dabei die Art und Weise, wie die Länge dieses Urlaubs zu berechnen ist, wobei hier die Besonderheit besteht, dass nach dem einschlägigen nationalen Recht zum einen die Entstehung des Anspruchs auf Jahresurlaub davon abhängig ist, dass der Arbeitnehmer für eine Mindestanzahl von Tagen gearbeitet haben muss, und zum anderen nicht jede Art von unfallsbedingter Abwesenheit vom Arbeitsplatz als Arbeitszeit angerechnet wird.

3.        Eine Feststellung des Vorliegens eines Urlaubsanspruchs und gegebenenfalls seines genauen Umfangs kann jedoch nicht erfolgen, solange keine Klarheit darüber besteht, ob die oben genannten nationalen Regelungen überhaupt als mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vereinbar angesehen werden können und ob die Klägerin sich im Verhältnis zum Beklagten unmittelbar auf diese Richtlinie berufen kann. Die vorliegende Rechtssache wirft einerseits Rechtsfragen auf, auf die der Gerichtshof bereits eine eindeutige Antwort gegeben hat, so dass er es im Grunde bei einem Verweis auf die einschlägigen Urteile belassen kann. Andererseits wird der Gerichtshof um eine Stellungnahme dazu gebeten, wie der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub innerhalb der Normenhierarchie der Unionsrechtsordnung einzuordnen ist und ob der Arbeitnehmer sich möglicherweise auch im Verhältnis zu seinem Arbeitgeber unmittelbar auf ihn berufen kann.

4.        Zu diesem Zweck sollen vier verschiedene Ansätze untersucht werden, die dem Arbeitnehmer dazu verhelfen sollen, seine Rechte gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen. Zunächst einmal soll die Möglichkeit einer Horizontalwirkung von Richtlinien untersucht werden. Anschließend ist vor dem Hintergrund, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union inzwischen Rechtsverbindlichkeit erlangt hat, eine unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 der Charta zu prüfen. Als weitere Alternative ist die unmittelbare Anwendbarkeit eines etwaigen allgemeinen Rechtsgrundsatzes, der ein Recht des Arbeitnehmers auf Jahresurlaub gewährt, zu untersuchen. Schließlich werde ich prüfen, inwiefern der vom Gerichtshof im Urteil Kücükdeveci(3) entwickelte Ansatz Anwendung finden kann. Dabei werde ich Vor- und Nachteile dieses Ansatzes detailliert erörtern. Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof Gelegenheit, sich dogmatisch mit diesem Ansatz auseinanderzusetzen, um ihn erforderlichenfalls zu verfeinern.

II – Normativer Rahmen

A –    Unionsrecht(4)

1.      Charta der Grundrechte der Europäischen Union

5.        Titel IV („Solidarität“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) führt in Art. 31 das Recht jedes Arbeitnehmers auf „gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“ an. Art. 31 Abs. 2 bestimmt Folgendes:

„Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“

6.        Titel VII („Allgemeine Bestimmungen“) legt in Art. 51 den Anwendungsbereich der Charta fest. Art. 51 Abs. 1 lautet wie folgt:

„Diese Charta gilt für die Organe und Einrichtungen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung gemäß ihren jeweiligen Zuständigkeiten.“

2.      Richtlinie 2003/88

7.        Art. 1 der Richtlinie 2003/88 lautet wie folgt:

„Gegenstand und Anwendungsbereich

(1)      Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2)      Gegenstand dieser Richtlinie sind

a)      … der Mindestjahresurlaub …

…“

8.        Art. 7 dieser Richtlinie lautet:

„Jahresurlaub

(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)      Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

9.        Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Im Hinblick auf ihren Art. 7 ist keine Abweichung erlaubt.

B –    Nationales Recht

10.      Der im Ausgangsverfahren anwendbare Art. L. 223‑2 Abs. 1 des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) bestimmt:

„Ein Arbeitnehmer, der nachweist, im Laufe des Bezugsjahres während eines Zeitraums entsprechend mindestens einem Monat effektiver Arbeitszeit beim selben Arbeitgeber beschäftigt gewesen zu sein, hat Anspruch auf Urlaub von 2,5 Arbeitstagen je Arbeitsmonat, ohne dass die Gesamtdauer des zustehenden Urlaubs 30 Arbeitstage überschreiten darf.“

11.      Art. L. 3141‑3 des neuen Code du travail in der Fassung des Gesetzes vom 20. August 2008 bestimmt:

„Ein Arbeitnehmer, der nachweist, während eines Zeitraums entsprechend mindestens zehn Tagen effektiver Arbeitszeit beim selben Arbeitgeber gearbeitet zu haben, hat Anspruch auf Urlaub von 2,5 Arbeitstagen je Arbeitsmonat. Die Gesamtdauer des zustehenden Urlaubs darf 30 Arbeitstage nicht überschreiten.“

12.      Der seinerzeit anwendbare Art. L. 223‑4 des Code du travail bestimmt:

„Für die Ermittlung der Urlaubsdauer sind einem Monat effektiver Arbeitszeit vier Arbeitswochen oder 28 Arbeitstage gleichgestellt. Die Zeit des bezahlten Urlaubs, die in Art. L. 212‑5‑1 des Code du travail und in Art. L. 713‑9 des Code rural (Landwirtschaftsgesetzbuch) vorgesehenen Ausgleichsruhetage, die in Art. L. 122‑25 bis L. 122‑30 vorgesehene Ruhezeit der Wöchnerinnen, die aufgrund der Reduzierung der Arbeitszeit erworbenen Ruhetage und die auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkte Zeit, während der die Erfüllung des Arbeitsvertrags aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit unterbrochen ist, wird als effektive Arbeitszeit angesehen. (Für die Bestimmung der Urlaubsdauer wird als effektive Arbeitszeit auch die Zeit angesehen, während der ein Arbeitnehmer oder ein Lehrling aus irgendeinem Grund länger im Service national [nationaler Pflichtdienst im militärischen und zivilen Bereich] verbleibt oder wieder in diesen einberufen wird.)“

13.      Der geltende Art. L. 3141‑5 des Code du travail seinerseits bestimmt:

„Für die Bestimmung der Urlaubsdauer wird als effektive Arbeitszeit angesehen:

1.         die Zeit des bezahlten Urlaubs;

2.         die Zeit des Mutterschafts-, Vaterschafts- und Adoptionsurlaubs, der Adoption und der Erziehung von Kindern;

3.         die vorgeschriebenen Ausgleichsruhetage gemäß Art. L. 3121‑26 des Code du travail und Art. L. 713‑9 des Code rural;

4.         die aufgrund der Reduzierung der Arbeitszeit erworbenen Ruhetage;

5.         die – auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkte – Zeit, während der die Erfüllung des Arbeitsvertrags aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit unterbrochen ist, sowie

6.         die Zeit, während der ein Arbeitnehmer aus irgendeinem Grund länger im Service national verbleibt oder wieder in diesen einberufen wird.“

14.      Nach Art. XIV Abs. 4 der Musterregelung im Anhang zum nationalen Tarifvertrag für das Personal der Sozialversicherungsträger besteht in einem Jahr, das durch Abwesenheiten wegen Erkrankung oder lang anhaltender Krankheit, die zu einer Arbeitsunterbrechung von zwölf oder mehr aufeinanderfolgenden Monaten geführt haben, durch Abwesenheiten wegen des Pflichtwehrdienstes sowie durch in den Art. 410, 44 und 46 des Tarifvertrags vorgesehenen Urlaub unter Entfall der Bezüge gekennzeichnet ist, kein Anspruch auf Jahresurlaub. Der Anspruch wird neu eröffnet zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Arbeit, wobei die Urlaubsdauer proportional zur effektiven Arbeitszeit, für die noch kein Jahresurlaub gewährt wurde, festgelegt wird.

III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist seit dem 10. Januar 1987 Angestellte des Beklagten des Ausgangsverfahrens, der unter den Tarifvertrag für das Personal der Sozialversicherungsträger fällt.

16.      Am 3. November 2005 erlitt sie einen Wegeunfall zwischen ihrem Wohnsitz und ihrem Arbeitsort. Infolge dieses Unfalls war sie vom 3. November 2005 bis zum 7. Januar 2007 krankgeschrieben.

17.      Am 8. Januar 2007 nahm sie ihre Arbeit als Halbtags- und ab dem 8. Februar 2007 als Vollzeitbeschäftigte wieder auf. Nach ihrer Rückkehr teilte ihr der Beklagte des Ausgangsverfahrens die Anzahl der Urlaubstage mit, die ihr nach seinen Berechnungen für den Zeitraum ihrer Abwesenheit zustanden. Dagegen legte die Klägerin des Ausgangsverfahrens Widerspruch ein und machte gegen ihren Arbeitgeber für diesen Zeitraum 22,5 bezahlte Urlaubstage, hilfsweise eine Ausgleichszahlung in Höhe von 1 971,39 Euro geltend.

18.      Ihre Ansprüche machte sie zunächst beim Conseil de prud’hommes de Limoges geltend, der ihre Anträge in einer Entscheidung vom 15. Januar 2008 abschlägig beschied. Gegen diese Entscheidung legte sie anschließend bei der Cour d’appel de Limoges Berufung ein. Ihre Berufungsklage wurde mit Urteil vom 16. September 2008 jedoch abgewiesen, wobei die Cour d’appel u. a. feststellte, dass der Beklagte des Ausgangsverfahrens als Arbeitgeber die einschlägigen arbeitsrechtlichen Bestimmungen richtig angewandt und die Entstehung eines Urlaubsanspruchs zu Recht verneint hatte, da die Klägerin des Ausgangsverfahrens infolge ihres Wegeunfalls mehr als zwölf Monate abwesend gewesen war und während dieser Zeit keine tatsächliche Arbeit verrichtet hatte. Die Cour d’appel stellte ferner fest, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens sich nicht auf die bei einem Arbeitsunfall anwendbaren arbeitsrechtlichen Regelungen berufen konnte.

19.       Mit ihrem Rechtsmittel bei der Cour de cassation wendet sie sich gegen dieses Urteil, wobei sie zum einen geltend macht, dass ein Wegeunfall einem Arbeitsunfall gleichgesetzt werden und sie daher von derselben Regelung profitieren müsse. Zum anderen trägt sie vor, dass für die Berechnung des bezahlten Urlaubs die Zeit der dem Wegeunfall folgenden Unterbrechung ihres Arbeitsvertrags tatsächlicher Arbeitszeit gleichgesetzt werden müsse.

20.      Das vorlegende Gericht äußert angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die umfassend zitiert wird, Zweifel hinsichtlich sowohl der Vereinbarkeit der einschlägigen nationalen arbeitsrechtlichen Vorschriften als auch der Pflicht des nationalen Gerichts, dem Unionsrecht entgegenstehende nationale Bestimmungen unangewandt zu lassen.

21.      Vor diesem Hintergrund hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.         Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen oder Praktiken entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Mindestarbeitszeit von zehn Tagen (oder einem Monat) während des Bezugszeitraums abhängt?

2.         Falls ja, erlegt Art. 7 der Richtlinie 2003/88, der dadurch eine besondere Pflicht des Arbeitgebers begründet, dass er den Anspruch auf bezahlten Urlaub zugunsten des aus gesundheitlichen Gründen für einen Zeitraum von einem Jahr oder länger abwesenden Arbeitnehmers eröffnet, dem mit einem Streitfall zwischen Privatpersonen befassten Richter des Mitgliedstaats auf, eine anderslautende nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, wonach in diesem Fall der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Mindestarbeitszeit von wenigstens zehn Tagen während des Bezugszeitraums abhängt?

3.         Haben Arbeitnehmer aufgrund von Art. 7 der Richtlinie 2003/88, der zwischen den Arbeitnehmern nicht danach unterscheidet, ob ihre Abwesenheit vom Arbeitsplatz während des Bezugszeitraums durch einen Arbeitsunfall, eine Berufskrankheit, einen Wegeunfall oder eine außerberufliche Krankheit verursacht wurde, unabhängig von der Ursache ihrer gesundheitsbegründeten Abwesenheit einen Anspruch auf bezahlten Urlaub von derselben Dauer, oder ist diese Vorschrift dahin auszulegen, dass sie einer entsprechend der Ursache für die Abwesenheit des Arbeitnehmers unterschiedlichen Dauer des bezahlten Urlaubs nicht entgegensteht, wenn das nationale Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen für den bezahlten Jahresurlaub eine längere als die von der Richtlinie vorgesehene Mindestdauer von vier Wochen vorsieht?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

22.      Die Vorlageentscheidung mit Datum vom 2. Juni 2010 ist am 7. Juni 2010 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

23.      Schriftliche Erklärungen haben die Parteien des Ausgangsverfahrens, die französische, die dänische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission innerhalb der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs genannten Frist eingereicht.

24.      In der mündlichen Verhandlung am 17. Mai 2011 sind die Prozessbevollmächtigten der Parteien des Ausgangsverfahrens, der französischen, der dänischen und der niederländischen Regierung sowie der Kommission erschienen, um Ausführungen zu machen.

V –    Wesentliche Argumente der Parteien

A –    Zur ersten Vorlagefrage

25.      Alle Verfahrensbeteiligten stimmen darin überein, dass die Antwort auf die erste Vorlagefrage sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, vor allem aus den Urteilen BECTU(5) und Schultz-Hoff u. a.(6) herleiten lässt. Sie schlagen entsprechend vor, diese Vorlagefrage dahin gehend zu beantworten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Bestimmungen oder Praktiken entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Mindestarbeitszeit von zehn Tagen (oder einem Monat) während des Bezugszeitraums abhängt.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

26.      Sowohl die Argumentationslinien als auch die von den Verfahrensbeteiligten vorgeschlagenen Antworten auf diese Vorlagefrage weichen stark voneinander ab.

27.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens verweist auf die Urteile Simmenthal(7) und Melki(8) und erklärt dazu, dass die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 nicht von den Aussagen des Gerichtshofs im Urteil BECTU beeinträchtigt wird. Ihrer Ansicht nach stellt sich die Situation für den nationalen Richter insofern einfach dar, als er dazu verpflichtet sei, jene nationalen Bestimmungen nicht anzuwenden, wonach die Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub von der Erfüllung einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Bedingung abhänge.

28.      Der Beklagte des Ausgangsverfahrens beruft sich auf die vom vorlegenden Gericht zitierte Rechtsprechung und zieht die gegenteilige Schlussfolgerung daraus. Seiner Ansicht nach implizieren die in dieser Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, dass der nationale Richter eine nationale Bestimmung mit der Begründung, diese sei mit einer Richtlinie unvereinbar, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht unangewendet lassen kann. Ein solches Vorgehen würde nämlich einer Auslegung contra legem entsprechen. Angesichts der Definition der Richtlinie selbst, die Vorgaben an die Mitgliedstaaten stelle und keine unmittelbaren Verpflichtungen der Bürger begründe, bestehe kein Grund, diese ständige Rechtsprechung zu revidieren, denn anderenfalls käme dies einer Aufhebung des Unterschieds zwischen Richtlinien und Verordnungen gleich.

29.      Die französische und die niederländische Regierung gehen in ihrer Analyse der Rechtsprechung noch etwas weiter.

30.      Die französische Regierung erinnert beispielsweise nicht nur an die von der Cour de cassation zitierte Rechtsprechung, sondern ebenfalls an die Urteile Mangold(9) und Kücükdeveci(10). In jenen Urteilen habe der Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Stellung des nationalen Richters bei Bestehen von unionsrechtswidrigen nationalen Bestimmungen weiterentwickelt. Aus ihnen ergebe sich, dass bei Vorliegen eines Konflikts zwischen einer nationalen Bestimmung und einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts der nationale Richter erforderlichenfalls die nationale Bestimmung unangewendet lassen müsse. Die französische Regierung weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach ständiger Rechtsprechung zwar als ein „besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union“ anzusehen sei, jedoch vom Gerichtshof noch nicht als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt worden sei, wie etwa das Verbot der Altersdiskriminierung. Demzufolge könne die oben genannte Rechtsprechung nicht auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ausgeweitet werden.

31.      Die französische Regierung schlägt daher vor, die zweite Vorlagefrage dahin gehend zu beantworten, dass, sofern Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einer nationalen Bestimmung entgegenstehe, wonach der Anspruch auf Jahresurlaub von einer Mindestarbeitszeit von zehn Tagen (oder einem Monat) während des Bezugszeitraums abhänge, diese Richtlinienbestimmung dem in einem Streitfall zwischen Privatpersonen befassten Richter nicht gestatte, die nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.

32.      Die niederländische Regierung beschränkt ihre Ausführungen auf diese Vorlagefrage. Sie vertritt die Auffassung, dass gemäß der von der Cour de cassation zitierten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der in einem Streitfall zwischen Privatpersonen befasste Richter nicht verpflichtet sei, eine nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, die im Widerspruch zu einer Richtlinienbestimmung stehe. Vielmehr müsse der nationale Richter das nationale Recht im Einklang mit der Richtlinie auslegen und anwenden.

33.      Nach Ansicht der niederländischen Regierung lassen das Urteil Kücükdeveci und die Tatsache, dass der Anspruch auf Jahresurlaub als ein „besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union“ angesehen worden sei, keine andere Schlussfolgerung zu, zumal es sich bei diesem Grundsatz nicht um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handele.

34.      Während die französische und die niederländische Regierung zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Erwägungen des Gerichtshofs im Urteil Kücükdeveci keine Anwendung finden, sieht die Kommission keinen Grund, eine analoge Anwendung im Ausgangsfall auszuschließen.

35.      Nach Auffassung der Kommission muss die zweite Vorlagefrage dahin gehend beantwortet werden, dass es dem nationalen Richter obliegt, den Rechtsschutz des Einzelnen und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts im Rahmen seiner Befugnisse sicherzustellen, wobei er, falls erforderlich, jede nationale Bestimmung unangewendet lassen kann, die nicht im Einklang mit dem Recht auf bezahlten Jahresurlaub steht.

C –    Zur dritten Vorlagefrage

36.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens schlägt vor, diese Vorlagefrage dahin gehend zu beantworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen sei, dass er einer unterschiedlichen Länge des bezahlten Urlaubs entgegenstehe, je nachdem, was die Ursache für die Abwesenheit des Arbeitnehmers sei. Vielmehr schreibe diese Richtlinienbestimmung vor, dass die Arbeitnehmer das Recht auf einen bezahlten Urlaub gleicher Länge haben, unabhängig davon, worauf die Abwesenheit des Arbeitnehmers zurückzuführen sei.

37.      Der Beklagte des Ausgangsverfahrens äußert die gegenteilige Auffassung. Danach stehe Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dem nicht entgegen, dass die Regelungen, die die Dauer des bezahlten Jahresurlaubs bestimmen, für jene Arbeitnehmer, die wegen Krankheit oder eines Betriebsunfalls abwesend seien, im Hinblick auf die Gleichstellung des Abwesenheitszeitraums mit der tatsächlichen Dienstzeit günstiger seien als für jene Arbeitnehmer, die nicht wegen eines Betriebsunfalls abwesend seien.

38.      Die französische Regierung leitet aus der oben angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs her, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin ausgelegt werden müsse, dass die Länge des bezahlten Jahresurlaubs unterschiedlich ausfallen könne, je nachdem, was der Grund für die Abwesenheit des Arbeitnehmers sei, da die in dieser Richtlinienbestimmung vorgesehene Mindesturlaubszeit von vier Wochen gewährleistet sei.

39.      Die Kommission weist zwar darauf hin, dass aus dem Vorlagebeschluss nicht eindeutig hervorgehe, auf welche Begebenheit des nationalen Rechts diese Vorlagefrage zurückgehe, dennoch schlägt sie vor, sie im gleichen Sinne wie von der französischen Regierung vorgeschlagen zu beantworten.

VI – Rechtliche Würdigung

A –    Zur ersten Vorlagefrage

40.      Mit seiner ersten Vorlagefrage begehrt das vorlegende Gericht Aufschluss darüber, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einem Mitgliedstaat gestattet, die Ausübung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub von einer im nationalen Recht näher bestimmten Mindestarbeitszeit abhängig zu machen, wobei diese Mindestarbeitszeit nach französischem Recht ursprünglich einen Monat betrug und infolge einer gesetzlichen Änderung sich nunmehr auf zehn Tage beläuft.

41.      Die Antwort auf diese Vorlagefrage ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, vor allem aber aus den Urteilen BECTU und Schultz-Hoff u. a. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, die jeweiligen relevanten Feststellungen des Gerichtshofs in Erinnerung zu rufen und sie anschließend auf ihre Übertragbarkeit auf den Ausgangsfall zu untersuchen.

42.      Wie der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung erklärt hat, ist der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen(11). Mit der gesetzlichen Verankerung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub auf der Ebene des Sekundärrechts wollte der Unionsgesetzgeber gewährleisten, dass ein Arbeitnehmer in allen Mitgliedstaaten über eine tatsächliche Ruhezeit verfügt, „damit ein wirksamer Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit sichergestellt wird“(12). Wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung erklärt hat, besteht der Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub darin, dem Arbeitnehmer dazu zu verhelfen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen(13).

43.      Nicht zuletzt wegen der überragenden Bedeutung, die die Unionsrechtsordnung diesem Grundsatz beimisst, hat der Gerichtshof in Randnr. 52 des bereits erwähnten Urteils BECTU festgestellt, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/104/EG – dessen Wortlaut mit dem der Nachfolgebestimmung in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 identisch ist – „den Mitgliedstaaten verwehrt, den allen Arbeitnehmern eingeräumten Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub dadurch einseitig einzuschränken, dass sie eine Voraussetzung für diesen Anspruch aufstellen, die bewirkt, dass bestimmte Arbeitnehmer von diesem Anspruch ausgeschlossen sind“.

44.      In Randnr. 53 desselben Urteils hat der Gerichtshof sodann ausgeführt, dass es diesen freisteht, „in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen und dabei die konkreten Umstände zu bezeichnen, unter denen die Arbeitnehmer von diesem Recht, das ihnen für die Gesamtheit der zurückgelegten Beschäftigungszeiten zusteht, Gebrauch machen können, ohne dass die Mitgliedstaaten jedoch bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der Richtlinie 93/104 ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen können“.

45.      In Randnr. 55 jenes Urteils hat der Gerichtshof weiter erklärt, dass die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Vorschriften erlassen zwar gewisse Unterschiede in Bezug auf die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub aufweisen können, da die Richtlinie sich letztlich darauf beschränkt, Mindestvorschriften zur gemeinschaftsweiten Harmonisierung der Arbeitszeitgestaltung festzulegen und es ansonsten den Mitgliedstaaten überlässt, die erforderlichen Durchführungs- und Anwendungsbestimmungen zu erlassen. Dabei hat er betont, dass „die Richtlinie [es] den Mitgliedstaaten aber nicht [erlaubt], bereits die Entstehung eines ausdrücklich allen Arbeitnehmern zuerkannten Anspruchs auszuschließen“.

46.      Die oben wiedergegebene Rechtsprechung ist dahin gehend zu verstehen, dass der Gerichtshof die Kompetenz der Mitgliedstaaten zum Erlass sogenannter Durchführungsmodalitäten, mit denen sie bestimmte Aspekte der Ausübung des Rechts auf Jahresurlaub im Einzelnen regeln dürfen, wie etwa die Art und Weise, wie die Arbeitnehmer den Urlaub nehmen können, der ihnen für die ersten Wochen ihrer Beschäftigung zusteht, grundsätzlich anerkennt. Eine Grenze findet diese mitgliedstaatliche Regelungskompetenz allerdings dort, wo die gewählte Regelung insofern die Effektivität des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub berührt, als die Erreichung des Zwecks des Urlaubsanspruchs nicht mehr gewährleistet ist. Dies ist etwa bei einer nationalen Regelung, die nicht über das „wie“, sondern über das „ob“ der Ausübung jenes Anspruchs entscheidet, der Fall.

47.      Eine solche Regelung liegt im Ausgangsfall eindeutig vor, wie auch die französische Regierung selbst eingeräumt hat, zumal die Entstehung des Anspruchs selbst an die Bedingung geknüpft ist, dass der Arbeitnehmer eine Mindestarbeitszeit von einem Monat (im Fall des mittlerweile abgeänderten Art. L. 223‑2 Abs. 1 des Code du travail) bzw. zehn Tagen (im Fall des heutigen Art. L. 3141‑3 des Code du travail) absolviert. Wie die französische Regierung in ihren schriftlichen Ausführungen detailliert begründet hat, erklärt sich die Festlegung der zehntätigen Mindestarbeitszeit mit den Modalitäten zur Berechnung der Länge des Jahresurlaubs. Letztere entspreche einer bestimmten Anzahl von Werktagen, wobei ein Urlaubstag nach dieser Berechnungsmethode zehn Werktagen entspreche.

48.      Der Verweis auf die Notwendigkeit der genauen Berechnung des Jahresurlaubs im Einzelfall ändert, wie die französische Regierung ebenfalls eingeräumt hat, jedoch nichts daran, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs keinerlei Ausnahmen von der Regel vorsieht, dass die Verwirklichung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub bei seiner Umsetzung auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht durch einzelstaatliche Maßnahmen vereitelt werden darf. In diesem Zusammenhang erscheint es angezeigt, darauf hinzuweisen, dass dem Urteil BECTU ein ähnlicher Sachverhalt wie der vorliegenden Rechtssache zugrunde lag, so dass die darin entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze auf den Ausgangsfall unmittelbar übertragbar sind. In jener Rechtssache war der Gerichtshof nämlich aufgerufen, über die Frage zu entscheiden, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/104 einem Mitgliedstaat erlaubte, eine nationale Regelung zu erlassen, nach der ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erst dann erwarb, wenn er eine ununterbrochene Mindestbeschäftigungszeit von 13 Wochen bei demselben Arbeitgeber zurückgelegt hatte. Da der Gerichtshof diese Frage ausdrücklich verneint hat, erscheint es mir naheliegend, dass die streitgegenständliche französische Regelung nicht als im Einklang mit der Richtlinie 2003/88 angesehen werden kann.

49.      Eine weitere Rechtsfrage, die im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits aufgeworfen wurde und – worauf der Beklagte des Ausgangsverfahrens in seinem schriftlichen Vortrag(14) zutreffend hingewiesen hat – ebenfalls als für die Zwecke des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens klärungsbedürftig anzusehen ist, ist nämlich, ob der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auch während eines Zeitraums entstehen kann, in dem der Arbeitnehmer krankheitsbedingt abwesend war. Die Klärungsbedürftigkeit dieser Rechtsfrage ist damit zu erklären, dass davon letztlich abhängt, ob der Klägerin des Ausgangsverfahrens für diese Zeit Urlaubsansprüche überhaupt zustehen oder ob ihr die Abwesenheit vom Arbeitsplatz entgegengehalten werden kann.

50.      Auch für die Beantwortung dieser Frage liefert die Rechtsprechung nützliche Hinweise. Als besonders ergiebig erweist sich das Urteil Schultz-Hoff u. a., in dem der Gerichtshof in Randnr. 39 zunächst festgestellt hat, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie in Bezug auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auf „jeden Arbeitnehmer“ Anwendung findet. Als relevant sind dabei seine weiteren Ausführungen in Randnr. 40 jenes Urteils anzusehen, in dem er festgestellt hat, dass „in der Richtlinie 2003/88 in Bezug auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht zwischen Arbeitnehmern, die wegen einer kurz- oder langfristigen Krankschreibung während des Bezugszeitraums der Arbeit ferngeblieben sind, und solchen, die während dieses Zeitraums tatsächlich gearbeitet haben, unterschieden wird“.

51.      Daraus hat der Gerichtshof in Randnr. 41 des Urteils eine meines Erachtens auch für die Zwecke des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens wichtige Schlussfolgerung gezogen, und zwar, dass „ein Mitgliedstaat den mit der Richtlinie 2003/88 allen Arbeitnehmern unmittelbar verliehenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei ordnungsgemäß krankgeschriebenen Arbeitnehmern nicht von der Voraussetzung abhängig machen kann, dass sie während des von diesem Staat festgelegten Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet haben“.

52.      Die oben wiedergegebene Rechtsprechung ist demnach dahin gehend zu verstehen, dass eine krankheitsbedingte Abwesenheit eines Arbeitnehmers im jeweiligen Bezugsjahr der Entstehung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht entgegensteht, sofern dieser ordnungsgemäß krankgeschrieben war. Dies bedeutet in rechtlicher Hinsicht, dass Arbeitsversäumnisse aus Gründen, die unabhängig vom Willen des beteiligten Arbeitnehmers bestehen, wie z. B. Krankheit, als Dienstzeit anzurechnen sind. Dies ist auch die Aussage der Regelung in Art. 5 Abs. 4 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung), den der Gerichtshof seinen Erwägungen zum Verhältnis zwischen dem Jahresurlaub und dem Urlaub wegen Krankheit zugrunde gelegt hat.

53.      Zusammenfassend ist festzustellen, dass die streitgegenständliche Regelung nicht im Einklang mit der Richtlinie 2003/88 steht. Zu diesem Ergebnis kommt auch die französische Regierung, die in ihrem schriftlichen Vorbringen angekündigt hat, darauf hinzuwirken, dass Art. L. 3141‑3 des Code du travail geändert wird(15). Folglich muss die erste Vorlagefrage dahin gehend beantwortet werden, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Bestimmungen oder Praktiken entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Mindestarbeitszeit von zehn Tagen (oder einem Monat) während des Bezugszeitraums abhängig gemacht wird.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

1.      Allgemeines

a)      Wesentliche rechtliche Aspekte

54.      Die zweite Vorlagefrage ist ausdrücklich allein für den Fall gestellt, dass die Unvereinbarkeit der streitgegenständlichen nationalen Bestimmung mit dem Unionsrecht – wie oben geschehen – festgestellt werden sollte. Wie den Ausführungen im Vorlagebeschluss, die diese Vorlagefrage speziell betreffen, zu entnehmen ist(16), möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ihm gegebenenfalls die unionsrechtliche Verpflichtung auferlegt, in einem Streitfall zwischen Privatpersonen die streitgegenständliche nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.

55.      Die Beantwortung dieser Frage bedarf einiger Ausführungen zu zwei wesentlichen rechtlichen Aspekten, die miteinander verbunden sind. Zum einen geht es um die Rolle der nationalen Gerichte bei der Anwendung des Unionsrechts, wie sie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht. Zum anderen geht es um die Bedeutung, welche die Unionsrechtsordnung dem Anspruch auf Jahresurlaub beimisst, sowie um dessen Durchsetzbarkeit.

b)      Vorliegen eines Rechtsstreits zwischen Privaten

56.      Bevor ich mich diesen zentralen Aspekten der Vorlagefrage zuwende, möchte ich der Vollständigkeit halber anmerken, dass der Umstand, dass sich im Ausgangsrechtsstreit zwei Private gegenüberstehen, aus meiner Sicht außer Frage steht.

57.      Zunächst ist in Erinnerung zu rufen, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs allein Sache des vorlegenden Gerichts ist, den Gegenstand der Fragen festzulegen, die es dem Gerichtshof vorlegen will. Denn nur die mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichte, in deren Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, haben im jeweiligen Einzelfall sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen(17).

58.      Insoweit, als das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung klar von einem Rechtsstreit zwischen Privaten ausgeht und der Frage einer eventuellen Zugehörigkeit des Beklagten des Ausgangsverfahrens zum französischen Staat, und zwar als Teil der öffentlichen Verwaltung, jedenfalls nicht explizit nachgeht, ist der Gerichtshof auch an diese Beurteilung gebunden.

59.      Ausnahmsweise darf der Gerichtshof aber eine Würdigung derjenigen Gründe vornehmen, die das nationale Gericht zur Vorlage einer bestimmten Frage veranlasst haben. Dies ist nach der Rechtsprechung der Fall, wenn der Gerichtshof offensichtlich in Wirklichkeit dazu veranlasst werden soll, über einen konstruierten Rechtsstreit zu entscheiden oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben, die begehrte Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits steht oder der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(18).

60.      Die Voraussetzungen dafür sind hier indes nicht gegeben. Nach den klarstellenden Ausführungen der Verfahrensbeteiligten im Rahmen der mündlichen Verhandlung geht es im Ausgangsverfahren um einen Rechtsstreit aus einem arbeitsrechtlichen Vertrag, wobei der Beklagte des Ausgangsverfahrens als Privater und keineswegs als eine mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattete Behörde gegenüber der Klägerin des Ausgangsverfahrens aufgetreten ist. Diese Ausführungen bestätigen letztlich die Beurteilung des vorlegenden Gerichts.

2.      Die Rolle des nationalen Richters in einem Rechtsstreit zwischen Privaten

a)      Die unionsrechtlichen Grenzen der Anwendbarkeit von Richtlinien

61.      Zur Rolle des nationalen Gerichts, das über einen Rechtsstreit zwischen Privaten zu entscheiden hat, in dem sich zeigt, dass die fragliche nationale Regelung – wie im Ausgangsfall – gegen das Unionsrecht verstößt, hat der Gerichtshof entschieden, dass es den nationalen Gerichten obliegt, den Rechtsschutz sicherzustellen, der sich für den Einzelnen aus den unionsrechtlichen Bestimmungen ergibt, und deren volle Wirkung zu gewährleisten(19). Eine wichtige Einschränkung besteht bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten allerdings insofern, als nach der Rechtsprechung eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist(20).

62.      Daraus folgt nach Auffassung des Gerichtshofs, dass sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Einzelne gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden kann. Der Gerichtshof begründet seine Auffassung damit, dass dies anderenfalls dazu führen würde, der Union die Befugnis zuzuerkennen, mit unmittelbarer Wirkung zulasten der Bürger Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies nur dort darf, wo ihr die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen ist(21). Diese Auffassung trägt der besonderen Natur der Richtlinie Rechnung, die unmittelbar Verpflichtungen nur zulasten der Mitgliedstaaten begründet, an die sie gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV gerichtet ist, und dem Einzelnen Verpflichtungen nur über die jeweiligen nationalen Umsetzungsmaßnahmen auferlegen kann.

63.      Diese Rechtsprechung verdient Zustimmung. Dementsprechend ist auch die im Hinblick auf Horizontalverhältnisse verschiedentlich vorgeschlagene(22) Differenzierung zwischen einer positiven und einer negativen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien abzulehnen. Nach dieser Ansicht sollen nicht umgesetzte Richtlinien zwar nicht unmittelbar Pflichten des Einzelnen gegenüber anderen Privatrechtssubjekten begründen können; jedoch soll richtlinienwidriges nationales Recht – unter Heranziehung des Grundsatzes vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts – auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten unangewendet bleiben. Hiergegen wird zu Recht eingewandt, dass dieser Ansatz der Rechtssicherheit abträglich wäre(23). Denn je nachdem, in welchem normativen Kontext eine richtlinienwidrige Vorschrift im nationalen Recht steht, kann ihre Nichtanwendung eben doch zu einer Ausweitung der Pflichten von Privatrechtssubjekten führen; ob dies der Fall ist, hängt von den – aus Sicht des Unionsrechts – eher zufälligen Faktoren ab, etwa davon, ob es im nationalen Recht eine andere (pflichtenbegründende) Vorschrift gibt, auf die bei Suspension des richtlinienwidrigen Rechts zurückgegriffen werden kann.

64.      Folglich könnte sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens nach dieser Rechtsprechung nicht auf Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 berufen, um vom vorlegenden Gericht die Unanwendbarkeit der unionsrechtswidrigen nationalen Regelung zu fordern.

65.      Als Ausgleich für das Fehlen einer horizontalen unmittelbaren Wirkung der Richtlinien hat der Gerichtshof gleichwohl auf alternative Lösungen verwiesen, die dem Einzelnen, der sich durch eine unterbliebene oder fehlerhafte Umsetzung einer Richtlinie beschwert fühlt, Befriedigung verschaffen können. Dabei geht es zum einen um die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts, zum anderen um die Anwendung der Grundsätze der unionsrechtlichen Haftung des Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht.

66.      Der Gerichtshof hat die Methode der richtlinienkonformen Auslegung mit der Verpflichtung aller Träger öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch der Gerichte begründet, das in einer Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen sowie alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen(24). Sie impliziert, dass bei der Anwendung des nationalen Rechts dieses Recht unter Anwendung aller verfügbaren Auslegungsmethoden so ausgelegt wird, dass die Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck dieser Richtlinie ausgerichtet wird, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen(25). Im Urteil Pfeiffer u. a.(26) hat der Gerichtshof erläutert, wie das nationale Gericht in einem Rechtsstreit zwischen Einzelnen vorzugehen hat. Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, dann ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.

67.      Wie der Gerichtshof mehrfach erklärt hat, findet die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts allerdings ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit, und zwar in dem Sinne, dass sie nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf(27).

68.      Dem Vorlagebeschluss kann nicht explizit entnommen werden, ob eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts überhaupt möglich ist. Allerdings kann aus einer Gesamtwürdigung des Vorabentscheidungsersuchens gefolgert werden, dass dem vorlegenden Gericht offenbar als einziger Ausweg, um zu einem richtlinienkonformen Auslegungsergebnis zu gelangen, die Option bliebe, die streitgegenständliche Regelung unangewendet zu lassen. In Anbetracht der Tatsache, dass das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluss die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grenzen dieser Auslegungsmethode wiedergegeben hat, kann davon ausgegangen werden, dass eine richtlinienkonforme Auslegung im Ausgangsfall nicht möglich ist, ohne das nationale Recht contra legem auszulegen.

b)      Mögliche alternative Ansätze

69.      Es bleibt also der Frage nachzugehen, ob dem nationalen Gericht dennoch unter bestimmten Voraussetzungen ein Vorgehen gestattet wäre, bei dem es die streitgegenständliche Regelung in einem Verhältnis zwischen Privaten unangewendet lassen könnte. Meines Erachtens kommen drei verschiedene Ansätze in Betracht, die ich im Einzelnen erläutern und auf ihre Durchführbarkeit untersuchen werde.

70.      Zunächst einmal ist zu untersuchen, ob eine unmittelbare Anwendbarkeit des Grundrechts aus Art. 31 Abs. 2 der Charta in Betracht kommt(28). Anschließend ist eine Analyse der Frage notwendig, ob der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts eingeordnet und in einem Verhältnis zwischen Privaten unmittelbar angewandt werden kann(29). Schließlich ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ansatz des Gerichtshofs im Urteil Kücükdeveci erforderlich im Hinblick auf eine Beurteilung der Übertragbarkeit dieses Ansatzes auf die vorliegende Rechtssache(30).

i)      Unmittelbare Anwendbarkeit des Grundrechts aus Art. 31 Abs. 2 der Charta

71.      Ein erster Ansatz könnte, wie bereits angedeutet, in der unmittelbaren Anwendung des in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf bezahlten Jahresurlaub bestehen.

–       Anwendbarkeit der Charta

72.      Hatte die Charta ursprünglich insofern vornehmlich deklaratorischen Charakter, als sie als Ausdruck der Selbstverpflichtung der Union zur Achtung der Grundrechte zu verstehen war, so hat dieser Text mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags am 1. Dezember 2009 gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV endgültig primärrechtlichen Rang innerhalb der Unionsrechtsordnung erlangt(31). Dies hat zur Folge, dass Rechtsakte, die die Organe der Union auf dem Gebiet der Arbeitszeitgestaltung erlassen, aufgrund der in Art. 51 Abs. 1 der Charta angeordneten Grundrechtsbindung nunmehr am Maßstab dieser Bestimmung zu messen sind. Ebenfalls von nun an daran gebunden sind die Mitgliedstaaten, soweit sie Unionsrecht durchführen(32).

73.      Angesichts des Umstands, dass die Fakten, die Anlass zum Ausgangsrechtsstreit gegeben haben, sich in den Jahren 2005 bis 2007 und damit zu einem Zeitpunkt abgespielt haben, als die Charta noch nicht in Kraft getreten war, müsste ihre Anwendbarkeit ratione temporis auf den Sachverhalt, der der vorliegenden Rechtssache zugrunde liegt, streng genommen verneint werden. Dabei würde aber außer Acht gelassen werden, dass die Unionsgerichte ihr bereits lange vor ihrer förmlichen Inkorporation in die Unionsrechtsordnung maßgebliche Bedeutung bei der Auslegung des Unionsrechts beigemessen haben(33). Eine Heranziehung der Charta als Auslegungshilfe ist nicht zu beanstanden, zumal sie jene Rechte bekräftigt, die in einer Vielzahl von Rechtsinstrumenten niedergelegt sind und sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergeben, womit sie letztlich als Ausdruck der europäischen Werteordnung angesehen werden kann.

74.       Nach ihrer inzwischen erfolgten Inkraftsetzung dürfte ihr verbindlicher Charakter bei der Auslegung nunmehr unbestritten sein, was insbesondere durch den Umstand bestätigt wird, dass der Gerichtshof sie in Randnr. 22 des Urteils Kücükdeveci trotz ihrer erkennbaren zeitlichen Unanwendbarkeit in seine rechtlichen Überlegungen einbezogen hat(34). Es erscheint deshalb konsequent, auch in der vorliegenden Rechtssache die jeweils relevanten Bestimmungen der Charta als Ausgangspunkt für die Auslegung aller anderen Normen des Unionsrechts, darunter der allgemeinen Rechtsgrundsätze und des Sekundärrechts, zu verwenden. Es gilt insbesondere, jede Auslegung jener Normen zu vermeiden, die möglicherweise im Widerspruch zu den Wertungen der Charta stehen könnte.

–       Grundrechtseigenschaft

75.      Die Einordnung des in Art. 31 Abs. 2 der Charta verbrieften Rechts der Arbeitnehmer auf bezahlten Jahresurlaub als ein soziales Grundrecht bereitet meines Erachtens keine besonderen Schwierigkeiten. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Schultz-Hoff u. a. dargelegt habe(35), stellt die Tatsache, dass dieser Anspruch Aufnahme in die Charta gefunden hat, eine Bestätigung dafür dar, dass er Grundrechtscharakter besitzt. Angeschlossen habe ich mich dabei der Auffassung von Generalanwalt Tizzano, der dies bereits in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache BECTU zum Ausdruck gebracht hatte(36). Sofern ich es überblicken kann, vertritt ein nicht unerheblicher Teil des rechtswissenschaftlichen Schrifttums ebenfalls diese Auffassung(37), wobei ähnliche Argumente dafür vorgebracht werden. Sie stützen sich im Wesentlichen auf den Wortlaut sowie auf die rechtliche Konstruktion dieser Grundrechtsnorm.

76.      In der Tat legt bereits der Wortlaut dieser Bestimmung den Schluss nahe, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als „Grundrecht“ konzipiert worden ist, womit eine Zugehörigkeit zu den in Art. 51 Abs. 1 der Charta genannten „Grundsätzen“, die keine unmittelbaren subjektiven Rechte begründen, sondern vielmehr einer Konkretisierung durch die Adressaten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten bedürfen, sogleich ausgeschlossen werden kann. Art. 31 Abs. 2 der Charta bestimmt nämlich, dass „jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub [hat]“. Hierin kommt die menschenrechtliche Qualität der Verbürgung klar zum Ausdruck, zumal in diesem Artikel die Würde des Menschen im Arbeitsleben im Vordergrund steht(38). Damit unterscheidet er sich deutlich von anderen Bestimmungen des Titels IV („Solidarität“) der Charta, die eher im Sinne einer objektivrechtlichen Garantie so formuliert sind, dass die darin gewährten Rechte „anerkannt“ oder „geachtet“ werden. Diese unterschiedlichen Formulierungen lassen eine abgestufte Intensität des Schutzes je nach Rechtsgut erkennbar werden(39).

77.      Entsprechend diesem abgestuften Schutzsystem legen jene Bestimmungen, die lediglich „Grundsätze“ enthalten und insoweit gemäß Art. 52 Abs. 5 Satz 1 der Charta in erster Linie den Gesetzgeber bei der Umsetzung binden, oft auch fest, dass Schutz nur „nach Maßgabe des Unionsrechts bzw. der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ gewährt wird(40). Ein wesentliches Merkmal der Grundsätze ist nämlich, dass ihre Anwendung oft die Verabschiedung von Durchführungsmaßnahmen voraussetzt, die im Übrigen nur nach Maßgabe der durch das Vertragswerk vorgegebenen Zuständigkeitsverteilung und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips erfolgen darf(41). Die Tatsache, dass Grundsätze zur Entfaltung eines Tätigwerdens gesetzlicher und organisatorischer sowie praktischer Maßnahmen der Union und ihrer Mitgliedstaaten bedürfen, kommt in dem auch für sie geltenden Passus „fördern sie deren Anwendung“ in Art. 51 Abs. 1 Satz 2 der Charta zum Ausdruck.

78.      Dies ist bei Art. 31 Abs. 2 der Charta jedoch nicht der Fall, der insoweit auf eine individuelle Einforderung angelegt ist. Der Umstand, dass Art. 31 Abs. 1 der Charta, in dem auf das „Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen“ verwiesen wird, relativ abstrakt gefasst ist und erst einer Konkretisierung durch Abs. 2 bedarf, lässt sich nicht als Argument für eine Einordnung dieser Vorschrift als Ganzes als „Grundsatz“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta ins Feld führen, zumal Grundrechtsnormen grundsätzlich recht abstrakt in ihrer Formulierung gefasst sein können, insbesondere um politischen und gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung tragen zu können(42). Dies gilt erst recht für soziale Rechte, die oft auf Konkretisierung angelegt sind, nicht zuletzt wegen der damit einhergehenden Kosten, die eine Verwirklichung dieser Rechte letztlich von den tatsächlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten des Staates abhängig machen können(43).

79.      Eine systematische Auslegung führt zu keinem anderen Ergebnis. Art. 28 und Art. 29 der Charta sprechen ebenfalls davon, dass die jeweiligen Grundrechtsträger ein „Recht“ haben, womit beide Bestimmungen subjektive Rechte gewähren(44). Aufgrund der Nähe der Vorschriften zu Art. 31 der Charta, ihrer inhaltlichen Verbindung und ihrer strukturellen Gleichheit ist auch bei Art. 31 der Charta von einem subjektiven Recht auszugehen.

–       Fehlende Drittwirkung

Das System des Grundrechtsschutzes nach der Charta

80.      Die Formulierung des Art. 31 der Charta könnte auf den ersten Blick dazu verleiten, der Norm Drittwirkung(45) zu unterstellen und sie unmittelbar auf das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber anzuwenden. Damit würden theoretisch auch Privatpersonen verpflichtet, gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 gilt die Charta jedoch nur „für die Organe und Einrichtungen der Union und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Ferner bestimmt Art. 52 Abs. 2, dass „die Ausübung der durch diese Charta anerkannten Rechte, die in den Gemeinschaftsverträgen oder im Vertrag über die Europäische Union begründet sind, im Rahmen der darin festgelegten Bedingungen und Grenzen [erfolgt]“. Meines Erachtens deuten diese Bestimmungen auf eine beabsichtigte Beschränkung des Kreises der Grundrechtsadressaten hin, die wiederum Aufschluss über die vom Unionsgesetzgeber angestrebte Art des Grundrechtsschutzes gibt.

81.      Danach dürften Eingriffe in den Gewährleistungsbereich des Art. 31 der Charta nur dann vorliegen, wenn die Union oder die Mitgliedstaaten ihren Bediensteten keine gerechten und angemessenen Arbeitsbedingungen gewähren oder wenn sie keine Regelungen zur Sicherung der in Art. 31 der Charta genannten Rechte erlassen, obwohl sie über entsprechende Kompetenzen verfügen(46). Diese Bestimmung gewährt dem Einzelnen somit ein subjektives Recht, das in erster Linie in einer Schutzpflicht der Union und ihrer Mitgliedstaaten ihm gegenüber besteht.

82.      Eine Beeinträchtigung des Grundrechts durch mitgliedstaatliches Handeln käme angesichts des eindeutigen Wortlauts von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta nur im Rahmen der Durchführung von Unionsrecht in Betracht, beispielsweise bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht(47). Bestätigt wird in dieser Bestimmung letztlich die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannte Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht(48). Dabei ist allerdings zu bedenken, dass den Grundrechtsverpflichteten bei der Umsetzung ein erheblicher Spielraum zukommt, da Art. 31 der Charta als Schutzgrundrecht gerade den Erlass ausgestaltender Regelungen voraussetzt(49).

83.      Angesichts der Tatsache, dass erstens Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta den Kreis der Grundrechtsverpflichteten eindeutig festlegt, und zweitens die Funktion des Grundrechts aus Art. 31 der Charta seinem Regelungszweck nach zu urteilen sich in der Begründung einer Schutzpflicht der Union und der Mitgliedstaaten erschöpft, ist davon auszugehen, dass Privatpersonen durch dieses Grundrecht nicht unmittelbar verpflichtet sind(50). Als zusätzliches Argument gegen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Allgemeinen lässt sich ferner anführen, dass Privatpersonen dem in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Gesetzesvorbehalt („Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein“) auch nicht genügen können. Diese rechtsstaatliche Anforderung für Eingriffe in Grundrechte kann sich naturgemäß nur an die Union und ihre Mitgliedstaaten als Träger von Hoheitsgewalt richten. Privatpersonen können deshalb allenfalls mittelbar durch Regelungen zur Umsetzung der Schutzpflicht gebunden werden(51). Darüber hinaus kommt die grundrechtskonforme Auslegung auch bei privatrechtlichen Vorschriften zum Tragen. Dies ist für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens jedoch nicht weiter relevant. Relevant ist vielmehr die Feststellung, dass das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub keine unmittelbare Anwendung zwischen Privaten findet.

Das System des Grundrechtsschutzes nach der EMRK

84.      Dass es einer unmittelbaren Grundrechtsbindung von Privatpersonen nicht zwingend bedarf, um in sogenannten Horizontalverhältnissen einen angemessenen Grundrechtsschutz zu gewährleisten, sondern es vielmehr ausreicht, wenn der Einzelne sich auf eine Schutzpflicht des Gesetzgebers berufen kann, um Grundrechtsbeeinträchtigungen durch Private zu unterbinden, beweist das in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vorgesehene Grundrechtsschutzsystem.

85.      Zwar sieht die EMRK kein dem Art. 31 Abs. 2 der Charta vergleichbares Recht auf Jahresurlaub vor, dennoch ist zu bedenken, dass gemäß Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 der Charta das in der EMRK enthaltene Niveau des Grundrechtsschutzes für die Unionsrechtsordnung maßgeblich ist. Diese Bestimmungen sind ihrem Sinn und Zweck entsprechend nämlich dahin gehend zu verstehen, dass das in der Charta gewährleistete Grundrechtsschutzniveau nicht hinter den Mindeststandards der EMRK zurückbleiben darf(52). Aus diesem Grund, aber auch im Hinblick auf einen künftigen Beitritt der Union zur EMRK, wie in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 EUV vorgesehen, erscheint eine Berücksichtigung der Lösungsansätze, die dieses gesamteuropäische System des Grundrechtsschutzes bietet, unverzichtbar.

86.      Dazu ist festzustellen, dass in keiner Grundrechtsgewährleistung der EMRK Ansatzpunkte für eine Drittwirkung zu finden sind, mag es auch Bestimmungen geben, die dies nahezulegen scheinen(53). Eine Drittwirkung würde auch aus prozessualen Gründen vor kaum überwindbaren Schwierigkeiten stehen, da Beschwerden wegen Verletzungen der Gewährleistungen der EMRK durch Private nach Art. 35 EMRK von vornherein ratione personae unzulässig sind(54). Stattdessen erfolgt der Grundrechtsschutz im Verhältnis zwischen Privaten dadurch, dass dem Staat eine Schutzpflicht auferlegt wird, die er durch die Ergreifung positiver Maßnahmen (sogenannte „obligations positives“) erfüllen muss. Nach diesem Konzept obliegt es dem Staat, Angriffe von Privaten (Störern) auf die Rechtspositionen des betroffenen Grundrechtsberechtigten (Opfer) abzuwehren(55), wobei er über einen gewissen Spielraum bei der Wahl der Mittel verfügt. Nur in besonderen Konstellationen verlangt die EMRK mit Strafe bewehrte gesetzliche Verbote zum Schutz eines Grundrechts, etwa im Bereich des Schutzes des Lebens gemäß Art. 2 EMRK gegenüber Angriffen durch Private. Seiner Schutzpflicht kommt der Staat durch Gesetze und durch die Vollziehung derselben nach, indem er beispielsweise im Privatrecht für einen der EMRK entsprechenden Interessenausgleich sorgt, Grundrechtsträger strafrechtlich vor Übergriffen durch Private hinreichend schützt oder nachbarrechtliche Belange im Verwaltungsrecht angemessen regelt(56). Die Verletzung dieser Schutzpflicht wird durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Wege einer Verurteilung des jeweiligen Staates verbindlich festgestellt(57). Mangels einer Passivlegitimation von Privatpersonen ist mit einer solchen Verurteilung aber keine Mitverantwortung des Störers verbunden, auf den die Grundrechtsbeeinträchtigung letztlich zurückzuführen ist.

87.      Dieser kurze Überblick zeigt bereits, dass die Schutzpflichtendogmatik, auf der das Grundrechtsschutzsystem nach der EMRK beruht, eine Grundrechtsbindung Privater überflüssig erscheinen lässt, da sie angemessene Lösungen für die Rechtsfragen bietet, die gemeinhin im Rahmen der Drittwirkung diskutiert werden(58). Es lässt sich somit nicht behaupten, dass das Grundrechtsschutzniveau in der Union hinter dem Niveau der EMRK zurückbliebe, wenn eine unmittelbare Wirkung der Grundrechte der Charta in Horizontalverhältnissen verneint würde.

–       Ergebnis

88.      Demnach kann sich das vorlegende Gericht nicht auf Art. 31 Abs. 2 der Charta stützen, um unionsrechtswidriges nationales Recht, das einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich ist, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet zu lassen.

ii)    Unmittelbare Anwendbarkeit eines etwaigen allgemeinen Rechtsgrundsatzes

89.      Ein weiterer denkbarer Ansatz bestünde darin, einen etwaigen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, der gegebenenfalls einen Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub vorsähe, in einem Verhältnis zwischen Privaten anzuwenden.

90.      Dieser Ansatz würde allerdings die Klärung zweier grundlegender Fragen voraussetzen. Zum einen müsste der Frage nachgegangen werden, ob das Recht auf bezahlten Jahresurlaub überhaupt den Rang eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes innerhalb der Unionsrechtsordnung besitzt. Zum anderen müsste geklärt werden, ob dieser allgemeine Rechtsgrundsatz gegebenenfalls auch im Verhältnis zwischen Privaten anwendbar wäre.

–       Rang des Rechts auf Jahresurlaub innerhalb der Unionsrechtsordnung

Begriff des allgemeinen Rechtsgrundsatzes

91.      Als Einleitung zur Untersuchung der ersten Frage sollen in einem kurzen Überblick sowohl Begriff als auch Funktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Unionsrecht dargestellt werden.

92.      Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts nehmen innerhalb der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen besonderen Platz ein. Dennoch ist der Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze bis heute umstritten(59). Die Terminologie ist sowohl im rechtswissenschaftlichen Schrifttum als auch in der Rechtsprechung uneinheitlich. Teilweise bestehen Unterschiede nur hinsichtlich der Wortwahl, so, wenn der Gerichtshof und die Generalanwälte sich auf einen „allgemein anerkannten Rechtssatz“(60), einen „allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz“(61), „elementare Rechtsgrundsätze“(62), einen „fundamentalen Grundsatz“(63), einen schlichten „Grundsatz“(64), einen „Rechtssatz“(65) oder den „allgemeinen Gleichheitssatz, der zu den Grundprinzipien des Unionsrechts gehört“(66), beziehen.

93.      Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass den allgemeinen Rechtsgrundsätzen in der Rechtsprechung zur Lückenfüllung und als Auslegungshilfe große Bedeutung zukommt(67). Dies resultiert nicht zuletzt daraus, dass es sich bei der Unionsrechtsordnung um eine in der Entwicklung befindliche Rechtsordnung handelt, die wegen ihrer Offenheit für die Integrationsentwicklung notwendigerweise lückenhaft und auslegungsbedürftig sein muss. Aufgrund dieser Erkenntnis hat wohl auch der Gerichtshof auf eine genaue Klassifizierung der allgemeinen Rechtsgrundsätze verzichtet, um sich die Flexibilität zu erhalten, die er benötigt, um die unabhängig von den terminologischen Unterschieden auftretenden Sachfragen entscheiden zu können(68). Darüber hinaus kommt den allgemeinen Rechtsgrundsätzen Bedeutung in ihrer Funktion als Maßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit und Gültigkeit von Rechtsakten(69) der Union sowie als Grundlage für die richterliche Rechtsfortbildung zu(70).

94.      Nach einer im Schrifttum vertretenen Definition zählen zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen jene grundlegenden Bestimmungen des ungeschriebenen primären Unionsrechts, die der Rechtsordnung der Europäischen Union selbst inhärent oder den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind(71). Grundsätzlich lässt sich zwischen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts im engeren Sinne, nämlich jenen, die ausschließlich aus dem Geist und dem System der Verträge entwickelt werden und sich auf spezifische Probleme des Unionsrechts beziehen, und jenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen unterscheiden, die den Rechts- und Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind(72). Während die erste Gruppe von allgemeinen Rechtsgrundsätzen sich direkt aus dem primären Unionsrecht ableiten lässt, bedient sich der Gerichtshof bei der zweiten Gruppe im Wesentlichen zum Zweck ihrer Ermittlung einer kritisch-wertenden Rechtsvergleichung(73), bei der jedoch keinesfalls die Methode des kleinsten gemeinsamen Nenners gilt. Ebenso wenig wird dabei als erforderlich erachtet, dass die so entwickelten Rechtsgrundsätze in ihrer konkreten Ausformulierung auf Unionsebene immer in allen verglichenen Rechtsordnungen gleichzeitig vorkommen(74).

95.      Die allgemeinen Rechtsgrundsätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie grundlegende Prinzipien der Union und ihrer Mitgliedstaaten verkörpern, was ihren primärrechtlichen Rang innerhalb der Normenhierarchie der Unionsrechtsordnung erklärt(75). Von herausragender Bedeutung sind insbesondere der durch die Unionsgerichtsbarkeit unter dieser übergreifenden Bezeichnung entwickelte und gewährleistete Grundrechtsschutz im engeren Sinne sowie die Herausarbeitung jener grundrechtsgleichen Verfahrensrechte, die als allgemeine Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in den Rang des Verfassungsrechts der Union erhoben worden sind(76). Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören daher auch jene Grundsätze, die mit den Strukturprinzipien der Europäischen Union wie Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Art. 2 EUV eng verbunden sind und sich aus ihnen ableiten lassen. Ihre Verletzung durch einen Mitgliedstaat kann den besonderen Sanktionsmechanismus des Art. 7 EUV auslösen.

96.      Als allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts wurden beispielsweise wichtige rechtsstaatliche Prinzipien anerkannt wie der Gedanke der Verhältnismäßigkeit(77), die Rechtsklarheit(78) oder das Recht des Einzelnen auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz(79). In diesen Zusammenhang gehören auch verschiedene allgemeine Grundsätze der ordentlichen Verwaltung wie das Prinzip des Vertrauensschutzes(80), das Prinzip ne bis in idem(81), des rechtlichen Gehörs(82), auch in Gestalt der Gelegenheit zur Stellungnahme bei beeinträchtigenden Maßnahmen(83), der Begründungszwang bei Rechtsakten(84) oder der Amtsermittlungsgrundsatz(85). Auch die Berufung auf „höhere Gewalt“(86) zählt dazu. Man kann aber auch Grundsätze finden, die dem Vertragsrecht nicht fremd sind, wie z. B. der allgemeine Rechtsgrundsatz pacta sunt servanda(87) oder auch der Grundsatz clausula rebus sic stantibus(88).

97.      In sozialstaatliche Richtung weisen etwa die Anerkennung des Prinzips der Solidarität(89) oder die Fürsorgepflicht der Behörde gegenüber ihren Bediensteten(90). Zur Anerkennung föderaler Bindungen innerhalb der Europäischen Union zählen die oftmalige Betonung des Grundsatzes der Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten und ihrer Mitwirkungspflichten im Verhältnis zur Union. Unter Heranziehung von Art. 10 EG hat der Gerichtshof somit das Prinzip der gegenseitigen Gemeinschaftstreue(91) entwickelt. Ferner hat sich der Gerichtshof zum Demokratieprinzip bekannt, etwa indem er auf die Notwendigkeit der wirksamen Beteiligung des Parlaments am Gesetzgebungsverfahren der Union gemäß den im Vertrag vorgesehenen Verfahren hingewiesen hat(92).

98.      Zu den Unionsgrundrechten, die der Gerichtshof mittels der bereits erwähnten wertenden Rechtsvergleichung sowie unter Berücksichtigung internationaler und europäischer Menschenrechtsabkommen anerkannt hat, zählen solche Grund- und Menschenrechte, die liberale und demokratische Gesellschaften auszeichnen wie etwa die Meinungsfreiheit(93) und die Vereinigungsfreiheit(94). Ebenso dazu zählen solche Grundprinzipien, die unmittelbar aus den Verträgen hervorgehen wie das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit(95) sowie das Verbot auf dem Geschlecht beruhender Diskriminierungen(96).

Zum Recht auf bezahlten Jahresurlaub in der Europäischen Union

99.      Fraglich ist, ob das Recht auf bezahlten Jahresurlaub den Anforderungen der Rechtsprechung an einen allgemeinen Rechtsgrundsatz genügt. Dazu müsste ein solches Recht auf dem Gebiet des Arbeitsrechts der Union ähnlich den oben genannten Beispielen von so grundlegender Bedeutung sein, dass es Ausdruck in zahlreichen Normen des Primärrechts bzw. des abgeleiteten Unionsrechts gefunden hat.

100. Als weitere Erkenntnisquelle sind die zahlreichen völkerrechtlichen Verträge zum Schutz der Menschenrechte sowie der Rechte der Arbeitnehmer, denen die Mitgliedstaaten der Union beigetreten sind, zu berücksichtigen.

101. Schließlich muss das Recht der Mitgliedstaaten selbst einer Untersuchung unterzogen werden. Ein Rückgriff auf den vom Gerichtshof häufig angewandten rechtsvergleichenden Ansatz könnte nämlich Aufschluss darüber geben, ob diesem Recht nach den Verfassungsüberlieferungen(97) oder jedenfalls den Kernbestimmungen des nationalen Arbeitsrechts eine herausragende Stellung innerhalb der nationalen Rechtsordnungen zukommt.

Unionsrechtliche Bestimmungen

102. Was die relevanten unionsrechtlichen Bestimmungen anbelangt, so kann im Folgenden an die vorangegangenen Ausführungen zur Einordnung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub als Grundrecht angeknüpft werden. Wie bereits erwähnt, stellt seine Kodifizierung in Art. 31 Abs. 1 der Charta eine Bestätigung für seine herausragende Stellung innerhalb der Unionsrechtsordnung dar. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Charta, wie im fünften Erwägungsgrund ihrer Präambel zu lesen ist, „die Rechte bekräftigt, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Gemeinschaft und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben“. Mit anderen Worten, die Charta gibt nichts Geringeres als den heutigen grundrechtlichen Besitzstand in der Europäischen Union wieder.

103. Wenngleich erkennbar ist, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/104 – die Vorgängerbestimmung zu Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 – als Vorbild für die Formulierung von Art. 31 Abs. 1 der Charta gedient hat, so darf dies nicht zu dem Glauben verleiten, der Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub sei erst mit der Richtlinie über Arbeitszeiten festgelegt worden. Vielmehr wird dieser Anspruch unabhängig von der Dauer der gewährleisteten Urlaubszeit seit Langem zu den völkerrechtlich anerkannten sozialen Grundrechten gezählt.

Völkerrechtliche Bestimmungen

104. Auf internationaler Ebene findet dieses Grundrecht etwa in Art. 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte(98) Erwähnung, der jedem „das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub“ zuerkennt. Es wird ebenfalls in Art. 2 Abs. 3 der Sozialcharta des Europarates(99) sowie in Art. 7 Buchst. d des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte(100) als Ausdruck des Rechts eines jeden auf gerechte und billige Arbeitsbedingungen anerkannt. Auch Art. 8 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer stipuliert den Anspruch jedes Arbeitnehmers auf einen bezahlten Jahresurlaub(101). Letzteres ist deshalb relevant, da diese Charta in der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs als Erkenntnisquelle eine erhebliche Bedeutung besitzt. Sie spiegelt nämlich die gemeinsamen Ansichten und Traditionen der Mitgliedstaaten wider und wird als eine Erklärung von Grundprinzipien angesehen, an die sich die Union und ihre Mitgliedstaaten halten wollen(102). Im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) als Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist das Recht auf bezahlten Mindestjahresurlaub bisher Gegenstand zweier multilateraler Abkommen gewesen, wobei das am 30. Juni 1973 in Kraft getretene Abkommen Nr. 132(103) das bis dahin geltende Abkommen Nr. 52(104) geändert hat. Sie enthalten zwingende Vorgaben an die Abkommensstaaten im Hinblick auf die Verwirklichung dieses sozialen Grundrechts innerhalb ihrer nationalen Rechtsordnungen.

105. Diese vielfältigen internationalen Akte unterscheiden sich allerdings sowohl in ihrem Regelungsgehalt als auch in ihrer normativen Tragweite, da es sich in einigen Fällen um völkerrechtliche Verträge, in anderen hingegen lediglich um feierliche Erklärungen ohne rechtliche Bindungswirkung handelt(105). Auch ist der persönliche Geltungsbereich unterschiedlich ausgestaltet, so dass der Kreis der Berechtigten keinesfalls identisch ist. Dazu ist den Unterzeichnerstaaten als Adressaten dieser Akte in der Regel ein weiter Umsetzungsspielraum eingeräumt, so dass die begünstigten Individuen sich nicht unmittelbar auf dieses Recht berufen können(106). Dennoch ist es bezeichnend, dass der Anspruch auf bezahlten Urlaub von all diesen internationalen Akten in eindeutigen Worten zu den Grundrechten der Arbeitnehmer gezählt wird.

Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten

106. Soziale Rechte sind auf der Ebene des Verfassungsrechts sehr unterschiedlich ausgeprägt. So enthalten mehrere, allerdings nicht alle Verfassungstexte Verbürgungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, die das Recht der Arbeitnehmer auf Erholung umfassen.

107. Beispielsweise legen Art. 11 Abs. 5 der Verfassung von Luxemburg und Art. 40 Abs. 2 der Verfassung von Spanien dem Staat die Pflicht auf, gesunde Arbeitsbedingungen zu schaffen und die Erholung der Arbeiter zu gewährleisten bzw. dafür Sorge zu tragen(107). Eine sehr viel ausführlichere, der Formulierung in Art. 31 der Charta viel eher entsprechende Regelung findet sich in Art. 36 der Verfassung Italiens, die u. a. ein Recht auf einen wöchentlichen Ruhetag und bezahlten Jahresurlaub vorsieht. Die Verfassung von Portugal scheint eines der Vorbilder der Regelungen der Charta gewesen zu sein, da ihr Art. 59 Abs. 1 Buchst. d das Recht auf Erholung und Freizeit, auf eine Höchstgrenze der täglichen Arbeitszeit, eine wöchentliche Erholungspause sowie regelmäßigen, bezahlten Urlaub festschreibt(108). Allerdings ist festzustellen, dass die in diesen Verfassungen detailliert und subjektiv formulierten sozialen Grundrechte allgemein lediglich als Staatsaufgaben und nicht als unmittelbar einklagbare Rechte verstanden werden(109).

108. In den meisten alten Mitgliedstaaten der Europäischen Union gründet sich das Recht auf bezahlten Mindestjahresurlaub hingegen auf einfachgesetzliche Regelungen, welche die relevanten sekundärrechtlichen Vorgaben der Richtlinien widerspiegeln, soweit unionsrechtliche Anwendungsfelder betroffen sind. Dies gilt beispielsweise für das deutsche Recht, das zwar das „Sozialstaatsprinzip“, aus dem sich mehrere soziale Mindestansprüche ableiten lassen, als Staatsziel in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes anerkennt, im Übrigen aber dem Gesetzgeber die Regelung des Jahresurlaubs belässt(110). Ungeachtet dessen enthalten die Verfassungen der deutschen Bundesländer aber eine Vielzahl sozialer Garantien und Grundsätze, die u. a. auch die Pflicht des Landesgesetzgebers zur Festlegung eines ausreichenden, bezahlten Urlaubs vorschreiben(111).

109. Dagegen weisen die neuen Mitgliedstaaten bis auf Zypern eine recht ausführliche Kodifizierung dieses Rechts auf. Dies gilt etwa für Art. 36 Buchst. f der slowakischen, Art. 66 Abs. 2 der polnischen, Art. 70/B Abs. 4 der ungarischen, Art. 107 der lettischen, Art. 41 Abs. 2 der rumänischen, Art. 48 Abs. 5 der bulgarischen, Art. 13 Abs. 2 der maltesischen sowie Art. 49 Abs. 1 der litauischen Verfassung, die den bezahlten Mindestjahresurlaub ausdrücklich gewährleisten. Arbeitsbedingungen allgemein sind in den Verfassungen Sloweniens (Art. 66), der Tschechischen Republik (Art. 28) sowie Estlands (Art. 29 Abs. 4) angesprochen(112).

–       Schlussfolgerungen

110. Die Bedeutung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit Langem anerkannt. Nach ständiger Rechtsprechung ist er als „ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union“ anzusehen, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen. Dennoch hat der Gerichtshof bislang nicht zweifelsfrei erkennen lassen, ob es sich dabei um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts handelt. Der Umstand, dass in der Rechtsprechung keine einheitliche Terminologie bei der Bezeichnung solcher allgemeiner Rechtsgrundsätze verwendet wird(113), erschwert eine eindeutige Einordnung zusätzlich.

111. Die vorstehende rechtsvergleichende Untersuchung zeigt allerdings, dass der Gedanke, wonach dem Arbeitnehmer ein Anspruch auf regelmäßige Erholung zustehen sollte, die Rechtsordnungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten durchzieht. Die Tatsache, dass dieser Gedanke sowohl auf Unionsebene(114) als auch in mehreren Mitgliedstaaten Verfassungsrang hat(115), spricht bereits für eine herausragende Stellung dieses Rechts, die eine Einordnung als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts nahelegt.

112. Unschädlich ist dabei, dass nicht alle Mitgliedstaaten ihm Verfassungsrang innerhalb ihrer Rechtsordnungen einräumen(116), denn jedenfalls wird er als ein Kernbestandteil des nationalen Rechts angesehen, und zwar unabhängig davon, ob es um privat- oder öffentlich-rechtliche Arbeitsverhältnisse geht, was im Übrigen auch von der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt wird(117). Indem er nicht auf einen bestimmten Rechtsbereich beschränkt ist, sondern vielmehr sektorübergreifend, d. h. für eine Vielzahl von Berufsfeldern sowohl im Bereich des Arbeits- als auch des Dienstrechts, in allen Mitgliedstaaten gilt, beansprucht der Anspruch auf Jahresurlaub jene allgemeine Geltung, die allgemeine Rechtsgrundsätze typischerweise besitzen und sie von spezifischen Rechtsregeln unterscheiden(118). Im Bereich der Unionsgesetzgebung ist es nicht anders, denn, wie ich zuletzt in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache C‑155/10 (Williams u. a.) gezeigt habe(119), sehen auch jene Richtlinien zur Arbeitszeitgestaltung, die wegen der Besonderheiten einzelner Berufsfelder sektorspezifische Regelungen enthalten(120), die insoweit als lex specialis zu den Regelungen in der Richtlinie 2003/88 angesehen werden können, eigene Bestimmungen zum Urlaubsrecht vor.

113. Darüber hinaus weist der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub inhaltlich ein Mindestmaß an normativer Bestimmtheit auf, was gemeinhin als Voraussetzung für eine Anerkennung als allgemeiner Rechtsgrundsatz angesehen wird(121). Dies bestätigt zum einen eine Gegenüberstellung mit einigen, in der Rechtsprechung anerkannten Rechtsgrundsätzen, wie etwa dem bereits genannten „Demokratieprinzip“ oder der „Solidarität“, die sich durch ihre Abstraktheit auszeichnen. Dies zeigt sich zum anderen an der Klarheit des Anspruchsziels. Ungeachtet der notwendigen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber zielt der Anspruch auf Jahresurlaub im Wesentlichen auf eine vorübergehende Freistellung des Arbeitnehmers von der vertraglichen Arbeitspflicht ab. Indem dieses Recht jedenfalls den minimalen Anforderungen an inhaltliche Bestimmtheit genügt, erfüllt es auch die Voraussetzungen, um noch als allgemeiner Rechtsgrundsatz angesehen zu werden.

114. Nach alledem ist festzustellen, dass mehrere Argumente dafür sprechen, dem Anspruch auf Jahresurlaub den Rang eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes innerhalb der Unionsrechtsordnung einzuräumen.

–       Anwendbarkeit des allgemeinen Rechtsgrundsatzes zwischen Privaten

115. Des Weiteren muss geklärt werden, ob dieser allgemeine Rechtsgrundsatz auch im Verhältnis zwischen Privaten gegebenenfalls anwendbar wäre.

Grundsätzliche Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendung

116. Es ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt, dass Einzelne sich im Verhältnis zum Staat auf allgemeine Rechtsgrundsätze berufen können(122). Hingegen hat der Gerichtshof zur grundsätzlichen Fragestellung, ob die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze überhaupt im Verhältnis zwischen Privaten unmittelbar anwendbar sind, bislang nicht ausdrücklich Stellung genommen.

117. Diese Frage verdient gerade angesichts der Bedeutung des individuellen Grundrechtsschutzes besondere Beachtung. Denn einerseits ließe sich unter Verweis auf Ursprung und Zweck der allgemeinen Rechtsgrundsätze argumentieren, dass diese in erster Linie dazu dienen, den Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen, was zur Folge hätte, dass eine unmittelbare Anwendung unter Privaten verneint werden müsste. Andererseits ließe sich die Auffassung vertreten, dass die traditionelle Gegenüberstellung „öffentlich/privat“ in einem modernen Staat nicht länger zeitgemäß ist. Tatsächlich lassen sich Fallkonstellationen ersinnen, die einen Schutz von Grundrechten gegenüber privaten Einrichtungen ebenso notwendig erscheinen lassen wie gegenüber Behörden, mit der Folge, dass die Nichtgewährung von Grundrechtsschutz einer Grundrechtsverletzung gleichkäme(123).

118. Dies wäre beispielsweise bei Arbeitsverhältnissen wie in der hier zu entscheidenden Rechtssache der Fall, zumal ein Arbeitsverhältnis – und zwar unabhängig davon, ob es im Einzelfall privat- oder öffentlich-rechtlich gestaltet ist – in der Regel durch ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gekennzeichnet ist(124). Da es aber oft vom Zufall abhängt, ob der Arbeitgeber ein Privatrechtsubjekt oder die öffentliche Hand ist(125), wäre es schwer begründbar, warum je nach Fallkonstellation ein Unterschied im Grundrechtsschutz vorgenommen werden sollte.

119. Für eine Bindung von Privatpersonen an die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze würden nicht zuletzt der Grundsatz der praktischen Wirksamkeit (effet utile) im Unionsrecht und die Einheit der Unionsrechtsordnung sprechen. Dem Unionsrecht könnte über eine Drittwirkung der Grundrechte in manchen Bereichen zu größerer Wirksamkeit verholfen werden. Während die Mitgliedstaaten wegen ihrer Grundrechtsbindung Unionsrecht etwa nur grundrechtskonform anwenden dürfen, könnten Private die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts im Rahmen ihrer Rechtsbeziehungen gefährden, wenn sie die Grundrechte in unionsrechtlich determinierten Bereichen verletzen dürften. Darin würde eine Gefährdung der Einheit des Unionsrechts liegen(126).

120. Eine Untersuchung der bisherigen Rechtsprechung offenbart entsprechende Ansätze in diese Richtung in der Argumentation des Gerichtshofs.

121. Anhaltspunkte für eine unmittelbare Anwendbarkeit von allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Verhältnis zwischen Privaten lassen sich z. B. dem Urteil Defrenne(127) entnehmen, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass der in Art. 119 EWG-Vertrag (jetzt Art. 157 AEUV) aufgestellte Grundsatz ein Recht auf Gleichheit des Arbeitsentgelts zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern begründet, auf den sich die Betroffenen vor den innerstaatlichen Gerichten berufen können, und zwar gleichermaßen im Verhältnis zwischen öffentlichen oder privaten Arbeitgebern.

122. Anhaltspunkte lassen sich darüber hinaus aus der Rechtsprechung zur Anwendung der Grundfreiheiten gegenüber Privaten, etwa aus dem Urteil Walrave(128) ableiten, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit in den Art. 7, 48 und 59 EWG-Vertrag (jetzt Art. 18, 45 und 56 AEUV) nicht nur für Akte der staatlichen Behörden gilt, sondern sich auch auf sonstige Maßnahmen erstreckt – im konkreten Fall eines Sportverbandes –, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten. Der Gerichtshof hat seine Entscheidung damit begründet, dass die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr gefährdet wäre, wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten. Da im Übrigen die Arbeitsbedingungen je nach Mitgliedstaat einer Regelung durch Gesetze und Verordnungen oder durch Verträge und sonstige Rechtsgeschäfte, die von Privatpersonen geschlossen oder vorgenommen werden, unterliegen, bestünde bei einer Beschränkung auf staatliche Maßnahmen die Gefahr, dass das fragliche Verbot nicht einheitlich angewandt würde(129). Später im Urteil Bosman(130) hat der Gerichtshof festgestellt, dass die primärrechtlichen Bestimmungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit auch auf die Transferregeln der internationalen Fußballverbände FIFA („Fédération Internationale de Football Association“) und UEFA („Fédération Européenne des Associations de Football“) Anwendung finden.

123. Andererseits ist es fraglich, ob sich aus den Urteilen Walrave und Bosman ohne Weiteres Schlussfolgerungen für eine generelle unmittelbare Anwendung von Grundrechten in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Verhältnis zwischen Privaten ziehen lassen, zumal es in beiden Rechtssachen jeweils um die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten auf Privatorganisationen ging, die in gewisser Hinsicht eine Regelungskompetenz besaßen und deshalb quasi öffentlich-rechtlichen Charakter hatten. Es wäre somit vertretbar, anzunehmen, dass die Entscheidung des Gerichtshofs durch die besonderen Umstände in jenen Rechtssachen gerechtfertigt war. Folgt man dieser Auffassung, so würde sich in Anbetracht der Tatsache, dass der Beklagte des Ausgangsverfahrens wohl keine derartige mit Regelungskompetenzen ausgestattete Privatorganisation darstellt, jede Parallele verbieten.

124. Als weiterer Anhaltspunkt für eine unmittelbare Anwendbarkeit von allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Verhältnis zwischen Privaten ließe sich das Urteil Angonese anführen, das den Zugang zur Beschäftigung in einer Privatbank betraf und in dem der Gerichtshof die Auffassung vertreten hat, dass „[d]as in [Art. 45 AEUV] ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit … für Privatpersonen [gilt]“(131).

125. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang schließlich das Urteil Kücükdeveci(132), in dem der Gerichtshof das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, dessen Stellung als allgemeiner Rechtsgrundsatz innerhalb der Unionsrechtsordnung im Urteil Mangold(133) zum ersten Mal anerkannt worden ist, auf ein Arbeitsverhältnis zwischen Privaten angewandt hat. Diesbezüglich ist anzumerken, dass der Gerichtshof sich zur Begründung der unmittelbaren Anwendbarkeit des allgemeinen Rechtsgrundsatzes eines eigenen Ansatzes bedient hat, der nicht zuletzt wegen seines innovativen Charakters einer näheren Untersuchung in dogmatischer Hinsicht bedarf. Verwiesen sei daher bereits an dieser Stelle auf meine weiteren Ausführungen(134) zu diesem Ansatz, auf den ich gesondert und im Detail eingehen werde.

126. Zusammenfassend ist festzustellen, dass nach dieser Rechtsprechung eine unmittelbare Anwendbarkeit von Grundrechten in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Verhältnis zwischen Privaten nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann(135).

Risiko eines Wertungswiderspruchs zu den Bestimmungen der Charta

127. Mit dem Inkrafttreten der Charta hat der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nunmehr seine Grundlage in Art. 31 Abs. 2 derselben. Ein vom Gerichtshof gegebenenfalls auf der Basis der vorstehenden Erwägungen zu entwickelnder allgemeiner Rechtsgrundsatz, der im Wesentlichen denselben Anspruch vorsieht, dürfte dennoch selbständig weiter bestehen, da Art. 6 EUV die Charta und die Grundrechte aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen in Abs. 1 und 3 ausdrücklich und nebeneinander aufführt(136). Für das Verhältnis der Rechte aus der Charta zu den Rechten aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ist aus diesen Bestimmungen zu entnehmen, dass sie gleichberechtigt nebeneinander stehen(137). Dementsprechend können sie auch kumulativ angewendet werden, so dass dem Einzelnen nicht verwehrt ist, sich auf die weiter gehende Gewährleistung zu berufen. Inhaltlich dürften sie sich aber weitestgehend decken, denn einerseits sollte die Charta, wie aus ihrer Präambel hervorgeht, die Rechte bekräftigen, die sich aus den vom Gerichtshof gebrauchten Rechtserkenntnisquellen ergeben, andererseits bildet die Charta ein Indiz für den Inhalt gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten und sich weiterentwickelnden Grundrechte einen weiteren Schutzbereich aufweisen als die der Charta(138).

128. Sofern im Folgenden von einer parallelen Geltung der Grundrechte aus der Charta und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen innerhalb der Unionsrechtsordnung auszugehen ist, ist darauf aufmerksam zu machen, dass eine unmittelbare Anwendung eines Rechtsgrundsatzes, der einen Anspruch auf Jahresurlaub vorsieht, zumindest in einem Rechtsstreit zwischen Privaten das Risiko eines Wertungswiderspruchs in sich birgt. Wie bereits dargelegt, ist Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta dahin gehend auszulegen, dass das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub keine unmittelbare Anwendung zwischen Privaten findet. Privaten gleichzeitig zu gestatten, sich auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz zu berufen, hätte allerdings zur Folge, dass die vom Unionsgesetzgeber in der Charta vorgenommene Beschränkung des Kreises der Grundrechtsverpflichteten umgangen würde.

129. Indes gebietet das Erfordernis eines kohärenten Grundrechtsschutzes, dass beide Grundrechte möglichst abgestimmt ausgelegt werden(139). Da die Grundrechte aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und vor allem die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs laut dem fünften Erwägungsgrund der Präambel der Charta in die Auslegung der Grundrechte aus der Charta zu integrieren sind, darf es keinen inhaltlichen Widerspruch zwischen den beiden Kategorien von Grundrechten geben. Erforderlich ist vielmehr eine harmonisierende Auslegung, wo immer das Grundrecht aus der Charta dies zulässt(140).

130. Im vorliegenden Fall wäre bei einer unmittelbaren Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber eine harmonisierende Auslegung nicht möglich. Die Entscheidung des Unionsgesetzgebers, Grundrechtsschutz – im Ausgangsfall über Art. 31 Abs. 2 der Charta – nur mittelbar durch die Auferlegung einer Schutzpflicht der Union und ihrer Mitgliedstaaten zu gewährleisten, würde dadurch konterkariert werden, dass über den Weg der ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze letztlich doch die Möglichkeit der Drittwirkung eröffnet würde, einschließlich des Rechts, vom nationalen Richter zu verlangen, unionsrechtswidriges nationales Recht auch im Verhältnis zwischen Privatpersonen unangewendet zu lassen. Um einen Wertungswiderspruch zu vermeiden, müsste eine unmittelbare Anwendbarkeit des allgemeinen Rechtsgrundsatzes abgelehnt werden(141).

131. Es ist gleichwohl zu betonen, dass diese Ausführungen nur insoweit gelten, als es sich bei dem Grundrecht aus Art. 31 Abs. 2 der Charta und dem allgemeinen Rechtsgrundsatz um dasselbe Grundrecht bzw. um Grundrechte mit demselben Schutzumfang handeln sollte. Wie einleitend dargelegt, ist aber nicht auszuschließen, dass die aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten und sich weiterentwickelnden Grundrechte einen umfangreicheren Schutz als die Grundrechte der Charta gewähren. In einem solchen Fall könnte der Wertungswiderspruch zu Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta unter Umständen hinfällig sein.

132. Die folgenden Ausführungen gelten nur für den Fall, dass der Gerichtshof in der grundsätzlichen Anwendung eines auf die Gewährung von Jahresurlaub gerichteten allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Verhältnis zwischen Privaten keinen Wertungswiderspruch zu Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta sehen sollte.

–       Übertragbarkeit auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub      

133. Nachdem eine unmittelbare Anwendbarkeit von Grundrechten in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Verhältnis zwischen Privaten nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, ist sogleich zu prüfen, ob die Voraussetzungen hierfür vorliegen.

Einräumung eines subjektiven Rechts

134. Dazu müsste der hier in Frage stehende Anspruch auf Jahresurlaub zunächst auf die Einräumung von subjektiven Rechten abzielen. Wie bereits ausgeführt, gewährt der allgemeine Rechtsgrundsatz ein subjektives Recht, indem er einen Anspruch des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber begründet, im Wesentlichen darauf, vorübergehend von der vertraglichen Arbeitspflicht freigestellt zu werden, um eine angemessene Zeit für Erholung zu haben. Insoweit genügt er der ersten Anforderung an einer unmittelbaren Anwendbarkeit.

Inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt

135. Des Weiteren müsste der allgemeine Rechtsgrundsatz inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt sein, um ihn gegenüber dem Arbeitgeber als Privatperson geltend machen zu können. Inhaltlich unbedingt ist eine Bestimmung, wenn sie vorbehaltlos und ohne Bedingung anwendbar ist und keiner weiteren Maßnahme der Organe der Mitgliedstaaten oder der Union bedarf(142). Hinreichend genau ist eine Bestimmung, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet(143), also rechtlich in sich abgeschlossen ist und als solche von jedem Gericht angewandt werden kann(144).

136. Es ist zweifelhaft, ob diese Voraussetzungen im Fall des Anspruchs auf Jahresurlaub erfüllt sind, zumal unklar ist, wie weit der Schutzbereich des allgemeinen Rechtsgrundsatzes tatsächlich reicht. Da sein Umfang nicht von vornherein eindeutig und abschließend bestimmbar ist, müsste in jedem Einzelfall untersucht werden, ob der Schutzbereich eventuell durch eine Maßnahme der Union und/oder ihrer Mitgliedstaaten tangiert ist. Eine solche Aufgabe käme dem zur Auslegung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts berufenen Gerichtshof zu(145).

137. Um hinreichend bestimmt zu sein, müsste der allgemeine Rechtsgrundsatz mehrere Aspekte des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub erfassen, die aber sinnvollerweise nur vom Gesetzgeber selbst geregelt werden müssten, um den Anforderungen der Zeit angemessen und flexibel genug Rechnung zu tragen. Diese regelungsbedürftigen Aspekte betreffen, um nur ein paar Beispiele zu nennen, zum einen die Anzahl der zu gewährenden Urlaubstage, wobei sich u. a. die Frage stellt, ob damit eine genau festgelegte Anzahl oder vielmehr eine Mindestanzahl von Tagen gemeint ist. Ferner müsste der allgemeine Rechtsgrundsatz, um unmittelbar gegen den Arbeitgeber anwendbar zu sein, bestimmen, wie die Urlaubstage im Jahr verteilt sein müssen, damit der Jahresurlaub seine Erholungsfunktion erfüllen kann. Des Weiteren müsste der allgemeine Rechtsgrundsatz die Besonderheiten jeder Wirtschaftsbranche berücksichtigen, indem er, sofern erforderlich, sektorspezifische Regelungen für einzelne Tätigkeitsfelder enthält.

138. Dass dies nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Denn zum einen kann es keinen derart umfassenden allgemeinen Rechtsgrundsatz geben, ohne dass damit zugleich die begriffliche Abgrenzung zu den spezifischen Rechtsregeln in Frage gestellt würde(146). Zum anderen ist zu bedenken, dass die Regelung dieser Einzelheiten in die ureigenste Kompetenz des Gesetzgebers fällt. Nicht zuletzt deshalb überlassen auch die Verfassungen jener Mitgliedstaaten, die den Anspruch auf Jahresurlaub explizit als Grundrecht anerkennen, dem nationalen Gesetzgeber die Festlegung der Durchführungsmodalitäten. Ähnlich verhält es sich auf Unionsebene im Verhältnis zwischen Art. 31 der Charta und der Richtlinie 2003/88.

139. Die gesetzgeberische Kompetenz der Union wird gemäß den Verträgen vom Rat und dem Europäischen Parlament gemeinsam wahrgenommen. Die Regelungsprärogative, die sie als Gesetzgeber im Bereich des Urlaubsrechts als Teil des Sozialrechts der Union haben, muss auf jeden Fall gewahrt bleiben. Dies gebieten nicht nur die oben angeführten Praktikabilitätsgründe, sondern auch das institutionelle Gleichgewicht innerhalb der Union. Letzteres basiert nicht auf dem Prinzip der Gewaltenteilung im staatsrechtlichen Sinne, sondern vielmehr auf einem Prinzip der Funktionsteilung, nach dem die Funktionen der Union von denjenigen Organen wahrgenommen werden sollen, die dazu vertraglich am besten ausgestattet worden sind. Anders als das Prinzip der Gewaltenteilung, das u. a. der Sicherung des Schutzes des Individuums durch eine Mäßigung der Staatsgewalt dient, bezweckt das Prinzip der Funktionsteilung im Unionsrecht eine effektive Erreichung der Unionsziele(147).

140. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache C‑101/08 (Audiolux) dargelegt habe, ist der Gerichtshof als Organ der Union im Sinne des Art. 12 Abs. 1 EU ebenfalls Teil dieses institutionellen Gleichgewichts(148). Dieser Umstand impliziert, dass er in seiner Eigenschaft als Rechtsprechungsorgan der Union, das im Rahmen seiner Zuständigkeit zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrags berufen ist, die Kompetenzen des Rates und des Parlaments im Bereich der Rechtsetzung respektiert(149). Dies setzt notwendigerweise voraus, dass er zum einen dem Unionsgesetzgeber die ihm vertraglich übertragene Aufgabe der Rechtsetzung auf dem Gebiet der Arbeitszeitgestaltung überlässt und zum anderen wie bisher die erforderliche Zurückhaltung bei der Entwicklung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts, die unter Umständen den gesetzgeberischen Zielen zuwiderlaufen könnten, wahrt.

141. Die unmittelbare Anwendbarkeit eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes mit dem Inhalt eines Anspruchs des Arbeitnehmers auf Jahresurlaub gegen den Arbeitgeber würde demnach erstmal voraussetzen, dass der Gerichtshof ihm im Wege der Auslegung einen hinreichend bestimmten normativen Inhalt verleiht, womit er aber angesichts der Fülle an notwendigen Regelungen letztlich Kompetenzen wahrnehmen würde, die traditionell dem Unionsgesetzgeber vorbehalten sind. Da dies aus den oben genannten Gründen nicht gestattet ist, ist davon auszugehen, dass dieser allgemeine Rechtsgrundsatz zumindest in seiner reinen Form nicht als inhaltlich unbedingt angesehen werden kann, sondern vielmehr der gesetzlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedarf.

142. Folglich erfüllt der allgemeine Rechtsgrundsatz nicht die Voraussetzungen, um im Verhältnis zwischen Privaten unmittelbar anwendbar zu sein.

–       Ergebnis

143. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass das vorlegende Gericht sich nicht auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz stützen kann, um unionsrechtswidriges nationales Recht, das einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich ist, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet zu lassen.

iii) Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, wie er durch die Richtlinie 2003/88 konkretisiert ist

144. Ein weiterer denkbarer Ansatz bestünde darin, den oben genannten allgemeinen Rechtsgrundsatz, wie er durch die Richtlinie 2003/88 konkretisiert ist, anzuwenden(150).

–       Der Ansatz des Gerichtshofs im Urteil Kücükdeveci

145. Im Urteil Kücükdeveci, auf das einige Verfahrensbeteiligte in ihren Ausführungen verwiesen haben, hat sich der Gerichtshof eines ähnlichen Ansatzes bedient und dabei die Verpflichtung jedes nationalen Gerichts bestätigt, das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf(151) durchzusetzen, indem es erforderlichenfalls jede diesem Verbot entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lassen muss(152).

146. Mit dieser Feststellung hat der Gerichtshof das Prinzip des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht auf sogenannte Horizontalverhältnisse ausgedehnt(153). Dieser Ansatz steht insoweit mit der bisherigen Rechtsprechung zur fehlenden horizontalen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien im Einklang(154), als der Gerichtshof nicht etwa entschieden hat, dass die Richtlinie 2000/78 in einem Verhältnis zwischen Privaten Anwendung finden soll, sondern allein das darin konkretisierte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, welches – wie bereits im Urteil Mangold(155) festgestellt – als spezifische Anwendung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt(156). Der vom Gerichtshof im Urteil Kücükdeveci verfolgte Ansatz beruht im Wesentlichen auf dem Gedanken, dass ein allgemeiner Grundsatz wie der des Verbots der Altersdiskriminierung im Interesse des individuellen Rechtsschutzes sowie der Wirksamkeit des Unionsrechts auch auf nationaler Ebene konsequent durchgesetzt werden muss(157). In dogmatischer Hinsicht stellt dieser Ansatz eine Weiterentwicklung der Mangold-Rechtsprechung dar.

147. Eine unmittelbare Anwendbarkeit des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 in einem Verhältnis zwischen Privaten kommt nach den Ausführungen des Gerichtshofs aber offenbar erst dann in Betracht, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu muss erstens im Ausgangsfall eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund des Alters vorliegen, was anhand der Tatbestandsvoraussetzungen der Richtlinie 2000/78 zu ermitteln ist(158). Zweitens muss die jeweilige nationale Regelung einen von der Richtlinie geregelten Bereich erfassen(159).

–       Übertragbarkeit dieses Ansatzes auf den Anspruch auf Jahresurlaub

Voraussetzungen für eine Anwendung

148. Eine entsprechende Anwendung dieses Ansatzes auf den Ausgangsfall, um dem nationalen Gericht die Befugnis einzuräumen, unionsrechtswidriges nationales Recht erforderlichenfalls unangewendet zu lassen, würde u. a. voraussetzen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub über seine sekundärrechtliche Kodifizierung in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 hinaus innerhalb der Unionsrechtsordnung den Rang eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes besitzt, wofür die bereits angeführten Argumente sprechen(160).

149. Als weitere Bedingung wäre das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zu fordern, was im Ausgangsfall offensichtlich vorliegt. Schließlich müsste ein Anspruch auf Urlaub entsprechend den Voraussetzungen der Richtlinie gegeben sein. Letzteres würde sicherstellen, dass der allgemeine Rechtsgrundsatz nicht unbegrenzt Anwendung findet, sondern nur insoweit, als die betreffende nationale Regelung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/88 fällt. Auch diese Voraussetzung ist im Ausgangsfall erfüllt, da Gegenstand der streitigen Regelung eine vom nationalen Gesetzgeber aufgestellte Bedingung für die Inanspruchnahme von Jahresurlaub ist(161).

150. Damit der allgemeine Rechtsgrundsatz aktiviert und dem nationalen Recht entgegengesetzt werden kann, wäre es schließlich notwendig, dass ein Verstoß gegen das in der Richtlinie verankerte Recht auf Urlaub vorliegt. Letzteres ist bereits im Rahmen meiner Untersuchung der ersten Vorlagefrage bejaht worden(162).

151. Von einem formalen Standpunkt aus betrachtet, wären die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung des Anspruchs auf Jahresurlaub in Gestalt des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, wie er durch die Richtlinie 2003/88 konkretisiert ist, eigentlich erfüllt. Dennoch erscheint es sinnvoll, über die Vor- und Nachteile eines solchen Ansatzes nachzudenken, bevor ein solches Vorgehen in der vorliegenden Rechtssache überhaupt in Erwägung gezogen wird(163).

Vor- und Nachteile eines solchen Ansatzes

152. Dieser Ansatz hat den Vorteil, die bereits genannten Unzulänglichkeiten einer unmittelbaren Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes in reiner Form(164) zu beseitigen. Dies gilt vor allem in Bezug auf das Erfordernis der „hinreichenden Bestimmtheit“. Indem die Richtlinie den allgemeinen Rechtsgrundsatz konkretisiert, erlangt Letzterer schließlich die inhaltliche Bestimmtheit, die für eine unmittelbare Anwendbarkeit notwendig ist.

153. Allerdings sind hinsichtlich der dogmatischen Richtigkeit dieses Ansatzes Bedenken anzumerken, die ich im Folgenden erläutern werde.

Gefahr einer Vermengung der Rechtsquellen

154. Meine Bedenken betreffen zunächst das nicht auszuschließende Risiko einer unzulässigen Vermengung von Rechtsquellen unterschiedlicher Rangordnung innerhalb der Unionsrechtsordnung, die aus einer kombinierten Anwendung von allgemeinem Rechtsgrundsatz und Richtlinie resultiert.

155. Objektiv betrachtet basiert dieser Ansatz im Wesentlichen auf der Annahme, dass der Inhalt des allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Inhalt der Richtlinie Niederschlag gefunden haben muss und dass sich deshalb eine autonome Bestimmung dieses Inhalts im Wege der Auslegung prinzipiell erübrigt. Letzten Endes wird nichts anderes unterstellt, als dass der Schutzbereich des allgemeinen Rechtsgrundsatzes mit dem der konkretisierenden Richtlinienbestimmung weitgehend deckungsgleich ist(165).

156. Er hat allerdings den Nachteil, völlig offenzulassen, wie weit der Schutzbereich des jeweiligen allgemeinen Rechtsgrundsatzes tatsächlich reicht und ob die Richtlinie möglicherweise weiter gehende Regelungen enthält, die gar nicht vom Schutzbereich erfasst sind(166). Die Annahme, auf der dieser Ansatz gründet, täuscht darüber hinweg, dass ein Gleichlauf von Richtlinieninhalt und Gehalt des Primärrechts nicht nur keineswegs zwingend, sondern in Wahrheit die Ausnahme ist, weil das Sekundärrecht meist weiter gehende Regelungen enthalten wird(167). Dies ist insofern problematisch, als in einem solchen Fall ein Rückgriff auf diesen Ansatz nicht in Betracht käme. Wenn dieser Ansatz, wie vom Gerichtshof postuliert, tatsächlich die Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes bezweckt, so wäre es doch dogmatisch richtig, als Erstes eine autonome Bestimmung seines Inhalts vorzunehmen, statt umgekehrt von den Richtlinienbestimmungen auf den Inhalt des allgemeinen Rechtsgrundsatzes zu schließen(168).

157. Da nach diesem Ansatz im Endeffekt die Richtlinie und nicht etwa der allgemeine Rechtsgrundsatz selbst als Ausgangspunkt für die Ermittlung des Schutzbereichs der Norm herangezogen wird(169), birgt diese Vorgehensweise die Gefahr, dass immer mehr normative Inhalte der Richtlinie als Teil des Rechtsgrundsatzes angesehen werden. Mit anderen Worten, die Richtlinie könnte sich theoretisch zu einer unerschöpflichen Erkenntnisquelle für die Anreicherung des Schutzbereichs des allgemeinen Rechtsgrundsatzes entwickeln, was langfristig eine Verschmelzung von Rechtsquellen unterschiedlicher Rangordnung zur Folge hätte(170). Letztendlich würde diese Vorgehensweise zu einer unumkehrbaren „Erstarrung“ dieser normativen Inhalte führen. Dem Gesetzgeber wäre nämlich infolge der Eingliederung von immer mehr normativen Inhalten aus der Richtlinie in den Schutzbereich des allgemeinen Rechtsgrundsatzes die Möglichkeit genommen, Änderungen an der Richtlinie vorzunehmen, zumal solche normativen Inhalte in den Rang des Primärrechts gehoben würden, auf das er nicht einwirken kann.

158. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub um ein soziales Grundrecht handelt, das – seiner Natur entsprechend – in erheblichem Maße konkretisierungsbedürftig ist und zudem oft nur in Abhängigkeit von der jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit gewährt werden kann(171), könnte dieser Ansatz nicht absehbare Folgen für die Union und ihre Mitgliedstaaten haben. Es ist darauf hinzuweisen, dass bei der Konkretisierung eines solchen allgemeinen Rechtsgrundsatzes durch den Gesetzgeber eine gewisse Flexibilität notwendig ist, da die Auffassung in der Gesellschaft darüber, was als „sozial“ bzw. „sozial gerecht“ anzusehen ist, sich zum einen im Laufe der Zeit ändern kann und zum anderen nicht selten auf Kompromissen beruhen wird(172). Nicht außer Acht gelassen werden darf ferner, dass die Umsetzung des Sozialstaatsgedankens von der jeweiligen wirtschaftlichen Situation in der Union und ihren Mitgliedstaaten abhängig sein dürfte. Eine Zementierung von sozialen Standards ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit muss deshalb vermieden werden.

159. Dies darf aber nicht dahin gehend verstanden werden, dass die Union die soziale Dimension der Integration außer Acht lassen soll. Die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Sinne des Gedankens der „Solidarität“ ist und bleibt ein wichtiges Ziel der europäischen Integration, wie Art. 2 („Solidarität“ als Wert der Union) und Art. 3 Abs. 3 EUV („Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“, „soziale Gerechtigkeit“, „sozialer Schutz“, „Gleichstellung von Frauen und Männern“, „Solidarität zwischen den Generationen“, „Schutz der Rechte des Kindes“) sowie Art. 9 AEUV („Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus“, „Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes“, „Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung“) eindeutig zu entnehmen ist. Vielmehr gilt es, den Gestaltungsspielraum, der dem Unionsgesetzgeber bei der Wahrnehmung seiner Schutzpflicht aus dem Grundrecht zusteht, zu beachten.

Keine abschließende Konkretisierung durch die Richtlinie

160. Doch auch wenn der Gerichtshof diese Bedenken nicht teilen sollte, wäre es zweifelhaft, ob der im Urteil Kücükdeveci verwendete Ansatz auf den Ausgangsfall übertragbar wäre, zumal die Richtlinie 2003/88 den allgemeinen Rechtsgrundsatz kaum hinreichend konkretisiert, um dessen unmittelbare Anwendung im Verhältnis zwischen Privaten zu ermöglichen.

161. Nicht nur sieht die Richtlinie 2003/88 eine Reihe von Sonderregelungen vor, indem sie beispielsweise in Art. 15 den Erlass günstigerer mitgliedstaatlicher Bestimmungen oder in Art. 17 Abweichungen und Ausnahmen von einigen zentralen Richtlinienbestimmungen gestattet(173). Darüber hinaus räumt sie den Mitgliedstaaten einen weiten Ausgestaltungsspielraum ein. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 sieht ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten „die erforderlichen Maßnahmen [treffen]“ müssen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Jahresurlaub erhält, und zwar „nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung …, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind“. Konkrete Antworten auf essenzielle Fragen des Urlaubsrechts, wie etwa wie viel Urlaub zu gewähren ist, lassen sich weder der Richtlinie noch dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 2 der Charta unmittelbar entnehmen(174), der im Hinblick auf die Verbürgungen des Grundrechts auf Jahresurlaub sogar kürzer gefasst ist als die relevante Umsetzungsregelung in Art. 7 der Richtlinie 2003/88.

162. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Diskriminierungsverboten, für die der im Urteil Kücükdeveci angewandte Ansatz entwickelt wurde. Die Diskriminierungsverbote weisen die Besonderheit auf, dass ihr inhaltlicher Kern auf primär- und sekundärrechtlicher Ebene im Wesentlichen identisch ist. Was eine Diskriminierung ist, lässt sich auch durch Auslegung der primärrechtlichen Diskriminierungsverbote ermitteln. Die Regeln der Richtlinien sind insoweit nicht mehr als detailliertere Ausformulierungen der primärrechtlichen Grundsätze. Nur soweit die Richtlinien den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich sowie Rechtsfolgen und Verfahren regeln, treffen sie Regelungen, die sich inhaltlich nicht auch ohne Weiteres direkt aus dem Primärrecht ableiten lassen. Bei den Arbeitnehmergrundrechten der Art. 27 ff. der Charta ist dies anders, da sie von vornherein auf eine Konkretisierung durch den Gesetzgeber angelegt sind(175).

163. In Anbetracht der Tatsache, dass die Richtlinie 2003/88 den Jahresurlaub nicht abschließend regelt, sondern in erheblichem Maße auf das nationale Recht verweist, stellt sich die Frage, ob bei der Konkretisierung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes auch das nationale Umsetzungsrecht herangezogen werden darf. Meines Erachtens würde dieser Ansatz aber an Hindernisse stoßen. Denn angesichts der Vielzahl an unterschiedlichen nationalen Regelungen auf dem Gebiet des Urlaubsrechts wäre nicht nur die Praktikabilität eines solchen Ansatzes fragwürdig. Außerdem wäre die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten nicht gewährleistet.

Fehlende Rechtssicherheit für Private

164. Zum anderen bestehen Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit dieses Ansatzes mit dem Gebot der Rechtssicherheit. Letzteres stellt ebenfalls einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts dar(176). Wie der Gerichtshof mehrmals erklärt hat, gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass eine Regelung, die nachteilige Folgen für Einzelne hat, klar und bestimmt und ihre Anwendung für die Einzelnen voraussehbar sein muss(177). Da ein Privater sich aber nie darüber sicher sein können wird, wann ein ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz in seiner Konkretisierung durch die entsprechende Richtlinie sich gegen nationales geschriebenes Recht durchsetzen wird, dürfte aus seiner Perspektive eine ähnliche Unsicherheit im Hinblick auf die Geltung nationalen Rechts bestehen wie bei einer unmittelbaren Anwendung der Richtlinie im Verhältnis zwischen Privaten, die der Gerichtshof, wie so oft in seiner Rechtsprechung(178) bekräftigt, doch gerade vermeiden will(179). Die Folgen dürften gerade im Bereich des Arbeitsrechts, das die Einzelheiten einer kaum zu überblickenden Anzahl von Arbeitsverhältnissen regelt, beträchtlich sein.

165. Es besteht nämlich das nicht auszuschließende Risiko, dass nationale Gerichte sich durch diesen Ansatz dazu gezwungen sehen könnten, nationales Recht, das in irgendeiner Form vom Regelungsbereich einer Richtlinie gedeckt ist, aber ohne jeden Bezug zur Richtlinie erlassen wurde, unangewendet zu lassen, und zwar mit der Begründung, dass die fraglichen Richtlinienbestimmungen allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts konkretisieren bzw. Rechtsgüter von primärrechtlichem Rang verkörpern(180) und zwar ungeachtet dessen, ob ihnen nach nationalem Recht eine entsprechende Verwerfungskompetenz zusteht. Dieses Risiko besteht umso mehr, als aus dem Urteil Kücükdeveci ausdrücklich hervorgeht, dass das nationale Gericht in einer solchen Situation nicht verpflichtet ist, zuvor den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen(181).

166. Sollte sich dieser Ansatz in der Rechtsprechung des Gerichtshofs durchsetzen, würde den Richtlinien eine Stellung eingeräumt werden, die ihnen nach der Konzeption des Primärrechts nicht zukommt. Sie würden zu Einfallstoren für das Primärrecht weit über den Bereich hinaus, den ihnen die sie erlassenden Organe der Union eingeräumt hatten und einräumen wollten. In Kombination mit der primärrechtlichen Folge der Unanwendbarkeit der nationalen Norm und der vom Gerichtshof angenommenen Normverwerfungskompetenz nationaler Gerichte jeder Instanz ohne vorherige Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens würde es angesichts der Tatsache, dass eine Vielzahl von Rechtsmaterien irgendwie durch Richtlinien beeinflusst sind, zu einer erheblichen Erosion nationaler Vorschriften kommen.

167. Es ist indes zweifelhaft, ob dies im Einklang mit dem System der Rechtsetzung und ‑durchsetzung steht, das die Verträge geschaffen haben.

Risiko eines Wertungswiderspruchs zu den Bestimmungen der Charta

168. Der von mir im Zusammenhang mit einer unmittelbaren Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes geltend gemachte Einwand im Hinblick auf das Risiko eines Wertungswiderspruchs zu Art. 51 der Charta(182) gilt im Fall eines Rückgriffs auf diesen Ansatz entsprechend. Insoweit verweise ich auf meine Ausführungen zu dieser Problematik. Die in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta festgelegte Beschränkung des Kreises der Grundrechtsverpflichteten steht demnach einer Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes, wie er durch die Richtlinie 2003/88 konkretisiert ist, ebenfalls entgegen.

–       Ergebnis

169. Nach alledem komme ich zu der Schlussfolgerung, dass eine unmittelbare Anwendung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes wie in der Rechtssache Kücükdeveci, um unionsrechtswidriges nationales Recht zu verdrängen, im Ausgangsfall nicht möglich wäre.

c)      Abschließende Schlussfolgerung

170. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Unionsrecht dem nationalen Gericht keine Möglichkeit einräumt, die streitgegenständliche Regelung in einem Verhältnis zwischen Privaten unangewendet zu lassen. Da die Vorlagefrage so formuliert ist, dass mit ihr eigentlich um Aufschluss darüber gebeten wird, ob eine dahin gehende unionsrechtliche Verpflichtung des nationalen Richters besteht, müsste diese Frage sinngemäß dahin gehend beantwortet werden, dass der nationale Richter mangels Vorgaben aus dem Unionsrecht dazu auch nicht verpflichtet ist.

3.      Hilfsweise Haftung des Mitgliedstaats wegen Verletzung des Unionsrechts

171. Steht – wie im Ausgangsfall – fest, dass ein Verstoß gegen das Unionsrecht wegen mangelhafter Umsetzung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorliegt, eine Unanwendbarkeitserklärung der unionsrechtswidrigen nationalen Regelung durch den nationalen Richter dennoch nicht möglich ist, so bedeutet dies keineswegs, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens rechtlos gestellt wäre.

172. Vielmehr bleibt ihr, wie eingangs angedeutet(183), zwecks Durchsetzung ihres aus dem Unionsrecht abgeleiteten Anspruchs auf Jahresurlaub die Möglichkeit einer Haftungsklage gegen den vertragsbrüchigen Mitgliedstaat offen. Das Rechtsinstitut der unionsrechtlichen Staatshaftung vermag dem Bürger in einem solchen Fall Befriedigung zu verschaffen, indem es dem jeweiligen Mitgliedstaat die Verpflichtung auferlegt, ihm diejenigen Schäden zu ersetzen, die ihm durch staatliche Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen.

173. Das Unionsrecht erkennt einen Entschädigungsanspruch unter drei Voraussetzungen an: Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, den Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang(184). Im Urteil Dillenkofer u. a.(185) hat der Gerichtshof die erste Voraussetzung insbesondere in Bezug auf Fälle, in denen Maßnahmen zur fristgemäßen Umsetzung einer Richtlinie fehlten, zusätzlich geringfügig umformuliert – das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel umfasst die Verleihung von Rechten an den Einzelnen, deren Inhalt auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden kann –, gleichzeitig aber betont, dass die beiden Formulierungen im Wesentlichen die gleiche Bedeutung hätten(186).

174. Was die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Unionsgerichten und den mitgliedstaatlichen Gerichten angeht, ist anzumerken, dass es grundsätzlich Sache der nationalen Gerichten ist, festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Haftung der Mitgliedstaaten für einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht im konkreten Fall erfüllt sind(187). Hingegen betrifft die Frage des Bestehens und des Umfangs der Haftung eines Staates für Schäden, die sich aus einem solchen Verstoß ergeben, die Auslegung des Unionsrechts selbst, die als solche in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt(188).

4.      Ergebnis

175. Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dem mit einem Streitfall zwischen Privatpersonen befassten Richter des Mitgliedstaats nicht die Verpflichtung auferlegt, eine nationale Bestimmung, die den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Mindestarbeitszeit von wenigstens zehn Tagen während des Bezugszeitraums abhängig macht und einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich ist, unangewendet zu lassen.

C –    Zur dritten Vorlagefrage

176. Bei der Formulierung seiner dritten Vorlagefrage geht das vorlegende Gericht offenbar von einem bestimmten nationalen rechtlichen Rahmen aus, der einen Anspruch auf Jahresurlaub von unterschiedlicher Dauer vorsieht, je nachdem, was die Ursache für die krankheitsbedingte Abwesenheit des Arbeitnehmers war, wobei allem Anschein nach danach unterschieden wird, ob die Ursache ein Arbeitsunfall, eine Berufskrankheit, ein Wegeunfall oder eine außerberufliche Krankheit war. Aus dem Vorlagebeschluss geht nicht hervor, wie viel die Urlaubsdauer jeweils beträgt. Es steht lediglich fest, dass dieser nationale rechtliche Rahmen unter bestimmten Voraussetzungen für den bezahlten Jahresurlaub eine längere als die von der Richtlinie vorgesehene Mindestdauer von vier Wochen vorsieht.

177. Bereits im Rahmen meiner Ausführungen zur ersten Vorlagefrage habe ich dargelegt, dass der in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 gewährleistete Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub unabhängig davon entsteht, ob der Arbeitnehmer im fraglichen Zeitraum krankheitsbedingt abwesend war, sofern dieser ordnungsgemäß krankgeschrieben war(189). Wie das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluss zutreffend bemerkt, unterscheidet Art. 7 der Richtlinie 2003/88 nicht nach der Ursache der krankheitsbedingten Abwesenheit. Vielmehr findet diese Richtlinienbestimmung in Bezug auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auf „jeden Arbeitnehmer“ Anwendung. Dementsprechend verfügen alle Arbeitnehmer, einschließlich jener, die aus einem der oben genannten Gründe krankgeschrieben sind, gemäß Art. 7 Abs. 1 über einen Mindestjahresurlaub von vier Wochen.

178. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es den Mitgliedstaaten verwehrt wäre, in ihren nationalen Bestimmungen einen Jahresurlaub festzulegen, dessen Dauer über den unionsrechtlich festgelegten Zeitraum von vier Wochen hinausgeht, da es sich dabei, wie bereits der Wortlaut der Bestimmung verrät, lediglich um eine Mindestdauer handelt. Diese Bestimmung ist nämlich im Zusammenhang mit der allgemeinen Zielsetzung der Richtlinie 2003/88 auszulegen, die gemäß Art. 1 Abs. 1 darin besteht, „Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung“ festzulegen, und im Übrigen gemäß Art. 15 das Recht der Mitgliedstaaten unberührt lässt, „für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten“. Daraus lässt sich die Befugnis der Mitgliedstaaten ableiten, in Bezug auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub günstigere Regelungen zu erlassen als unionsrechtlich vorgegeben.

179. Die Richtlinie 2003/88 hindert ihrerseits die Mitgliedstaaten ebenso wenig daran, solche Regelungen, die eine günstigere Behandlung vorsehen, an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, vorausgesetzt, der in der Richtlinie gewährleistete Mindestschutz wird dadurch nicht beeinträchtigt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das Urteil Merino Gómez(190), in dem der Gerichtshof erklärt hat, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen „nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung [treffen], die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind“, dahin zu verstehen ist, dass „durch die nationalen Anwendungsmodalitäten auf jeden Fall der Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen gewahrt sein muss“(191). Für die Problematik des Ausgangsfalls bedeutet dies, dass es einem Mitgliedstaat grundsätzlich freisteht, Arbeitnehmer im Hinblick auf die Mindestdauer des Jahresurlaubs je nach Ursache ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit unterschiedlich zu behandeln, sofern die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie vorgeschriebene Mindestdauer von vier Wochen dabei nicht unterschritten wird.

180. Etwaige Vorgaben, die zu einer anderen Beurteilung führen könnten, lassen sich den Bestimmungen, die den Anspruch auf Krankheitsurlaub und die Modalitäten für seine Ausübung regeln, auch nicht entnehmen, da dieser Anspruch, wie der Gerichtshof im Urteil Schultz-Hoff u. a. zutreffend festgestellt hat, „beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts von diesem nicht geregelt ist“(192). Dieser Anspruch unterliegt vielmehr der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten. Demzufolge steht ihnen auch frei, Regelungen zu erlassen, die sich eventuell auch mindernd auf die Dauer des Jahresurlaubs auswirken, sofern die von der Richtlinie 2003/88 aufgestellte Voraussetzung der Einhaltung der vierwöchigen Mindestdauer des Jahresurlaubs in jedem Fall erfüllt wird.

181. Die fehlende Anrechenbarkeit als Dienstzeit einer krankheitsbedingten Fehlzeit aufgrund der Vorgaben des nationalen Rechts, wie etwa im Fall eines Wegeunfalls oder einer außerberuflichen Krankheit, darf sich nicht zulasten des vierwöchigen Mindestjahresurlaubs auswirken. Der französischen Regierung(193) ist darin zuzustimmen, dass dies erforderlichenfalls dadurch verhindert werden muss, dass der Arbeitnehmer die Möglichkeit erhält, seinen Urlaub innerhalb eines angemessen langen Übertragungszeitraums nachzuholen, der dem Erholungszweck der Richtlinie 2003/88 Rechnung trägt. Wie der Gerichtshof im Urteil Federatie Nederlandse Vakbeweging(194) festgestellt hat, muss der Jahresurlaub, damit er seine positive Wirkung für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers vollständig entfaltet, zwar grundsätzlich in dem hierfür vorgesehenen, also dem laufenden Jahr genommen werden. Dennoch verliert diese Ruhezeit ihre Bedeutung nicht, wenn sie auch zu einer späteren Zeit, beispielsweise während des Übertragungszeitraums, genommen wird.

182. Aus den vorstehenden Erwägungen ist daher die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin ausgelegt werden muss, dass er nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, die eine entsprechend der Ursache für die Abwesenheit des Arbeitnehmers unterschiedliche Dauer des bezahlten Urlaubs vorsehen, nicht entgegensteht, sofern die in dieser Richtlinienbestimmung vorgesehene Mindestdauer von vier Wochen in jedem Fall gewährleistet ist.

VII – Ergebnis

183. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die von der Cour de cassation gestellten Vorlagefragen wie folgt zu antworten:

1.         Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er nationalen Bestimmungen oder Praktiken entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Mindestarbeitszeit von zehn Tagen (oder einem Monat) während des Bezugszeitraums abhängt.

2.         Art. 7 der Richtlinie 2003/88 erlegt dem mit einem Streitfall zwischen Privatpersonen befassten Richter des Mitgliedstaats nicht die Verpflichtung auf, eine nationale Bestimmung, wonach der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von einer effektiven Mindestarbeitszeit von wenigstens zehn Tagen während des Bezugszeitraums abhängt und die einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich ist, unangewendet zu lassen.

3.         Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, die eine entsprechend der Ursache für die Abwesenheit des Arbeitnehmers unterschiedliche Dauer des bezahlten Urlaubs vorsehen, nicht entgegensteht, sofern die in dieser Richtlinienbestimmung vorgesehene Mindestdauer von vier Wochen in jedem Fall gewährleistet ist.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – ABl. L 299, S. 9.


3 – Urteil vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci (C‑555/07, Slg. 2010, I‑365).


4 – In Anlehnung an die im EUV und im AEUV verwendeten Bezeichnungen wird der Begriff „Unionsrecht“ als Gesamtbegriff für Gemeinschaftsrecht und Unionsrecht verwendet. Soweit es im Folgenden auf einzelne primärrechtliche Bestimmungen ankommt, werden die ratione temporis geltenden Vorschriften angeführt.


5 – Urteil vom 26. Juni 2001, BECTU (C‑173/99, Slg. 2001, I‑4881).


6 – Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, Slg. 2009, I‑179).


7 – Urteil vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, Slg. 1978, 629).


8 – Urteil vom 22. Juni 2010, Melki (C‑188/10 und C‑189/10, Slg. 2010, I‑5677).


9 – Urteil vom 22. November 2005, Mangold (C‑144/04, Slg. 2005, I‑9981).


10 – Urteil Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt).


11 – Vgl. Urteile BECTU (oben in Fn. 5 angeführt, Randnr. 43), vom 18. März 2004, Merino Gómez (C‑342/01, Slg. 2004, I‑2605, Randnr. 29), und vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a. (C‑131/04 und C‑257/04, Slg. 2006, I‑2531, Randnr. 48); zur Richtlinie 2003/88 vgl. Urteile Schultz-Hoff u. a. (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 22), vom 10. September 2009, Vicente Pereda (C‑277/08, Slg. 2009, I‑8405, Randnr. 18), und vom 22. April 2010, Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols (C‑486/08, Slg. 2010, I‑3527, Randnr. 28). Siehe die Synthese der Rechtsprechung von Schrammel, W./Winkler, G., Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Wien 2010, S. 179 f.


12 – Vgl. Urteile BECTU (oben in Fn. 5 angeführt, Randnr. 44), Merino Gómez (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 30), Schultz-Hoff u. a. (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 23) und Vicente Pereda (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 21).


13 – Vgl. Urteile Schultz-Hoff u. a. (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 25) und Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 30).


14 – Siehe S. 8 des Schriftsatzes des Beklagten des Ausgangsverfahrens.


15 – Siehe Randnr. 29 des Schriftsatzes der französischen Regierung.


16 – Siehe S. 5 des Vorlagebeschlusses, die den Gegenstand der zweiten Vorlagefrage etwas klarer wiedergibt.


17 – Vgl. Urteile vom 5. Mai 2011, MSD Sharp (C‑316/09, Slg. 2011, I‑3249, Randnr. 21), und vom 30. November 2006, Brünsteiner und Autohaus Hilgert (C‑376/05 und C‑377/05, Slg. 2006, I‑11383, Randnr. 26).


18 – Vgl. u. a. Urteile vom 16. Dezember 1981, Foglia/Novello (244/80, Slg. 1981, 3045, Randnr. 18), vom 15. Juni 1995, Zabala Erasun u. a. (C‑422/93 bis C‑424/93, Slg. 1995, I‑1567, Randnr. 29), vom 15. Dezember 1995, Bosman (C‑415/93, Slg. 1995, I‑4921, Randnr. 61), vom 12. März 1998, Djabali (C‑314/96, Slg. 1998, I‑1149, Randnr. 19), vom 13. März 2001, PreussenElektra (C‑379/98, Slg. 2001, I‑2099, Randnr. 39), vom 5. Februar 2004, Schneider (C‑380/01, Slg. 2004, I‑1389, Randnr. 22), vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon (C‑212/06, Slg. 2008, I‑1683, Randnr. 29), und vom 23. April 2009, VTB-VAB (C‑261/07 und C‑299/07, Slg. 2009, I‑2949, Randnr. 33).


19 – Vgl. Urteile Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 45), vom 15. April 2008, Impact (C‑268/06, Slg. 2008, I‑2483, Randnr. 42), und vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, Slg. 2004, I‑8835, Randnr. 111).


20 – Vgl. Urteile Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 46), Pfeiffer u. a. (oben in Fn. 19 angeführt Randnr. 108), vom 14. Juli 1994, Faccini Dori (C‑91/92, Slg. 1994, I‑3325, Randnr. 20), vom 11. Juni 1987, Pretore di Salò (14/86, Slg. 1987, 2545, Randnr. 19), und vom 26. Februar 1986, Marshall (152/84, Slg. 1986, 723, Randnr. 48). Siehe zur Horizontalwirkung von Richtlinien Vcelouch, P., Kommentar zu EU- und EG-Vertrag (hrsg. von Heinz Mayer), Wien 2004, Art. 249 EGV, S. 23, Randnr. 72; Knes, R., „Uporaba in učinkovanje direktiv s področja varstva okolja v upravnih in sodnih postopkih“, Varstvo narave, 2008, S. 14, 15, und speziell zum Arbeitsrecht Thüsing, G., Europäisches Arbeitsrecht, München 2008, S. 14, Randnrn. 29 und 30.


21 – Urteil Faccini Dori (oben in Fn. 20 angeführt, Randnr. 24).


22 – Siehe etwa Schlussanträge von Generalanwalt Alber vom 18. Januar 2000, Collino und Chiappero (C‑343/98, Slg. 2000, I‑6659, Nrn. 29 bis 31); Schlussanträge von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer vom 6. Mai 2003, Pfeiffer (Urteil oben in Fn. 19 angeführt, Nr. 58); unter Abstellung auf die Besonderheiten des Antidiskriminierungsrechts: Schlussanträge von Generalanwalt Bot vom 7. Juli 2009, Kücükdeveci (Urteil oben in Fn. 3 angeführt, Nrn. 63, 70).


23 – Siehe Herresthal, C., Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen – Methoden, Kompetenzen, Grenzen dargestellt am Beispiel des Privatrechts, München, 2006, S. 81 f.; v. Danwitz, T., „Rechtswirkung von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH“, Juristenzeitung, 2007, S. 697, 703.


24 – Vgl. Urteile Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 47), vom 10. April 1984, von Colson und Kamann (14/83, Slg. 1984, 1891, Randnr. 26), vom 13. November 1990, Marleasing (C‑106/89, Slg. 1990, I‑4135, Randnr. 8), Faccini Dori (oben in Fn. 20 angeführt, Randnr. 26), vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie (C‑129/96, Slg. 1997, I‑7411, Randnr. 40), Pfeiffer u. a. (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 110) sowie vom 23. April 2009, Angelidaki u. a. (C‑378/07 bis C‑380/07, Slg. 2009, I‑3071, Randnr. 106).


25 – Vgl. Urteile Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 48) und von Colson und Kamann (oben in Fn. 24 angeführt, Randnr. 26).


26 – Urteil Pfeiffer u. a. (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 116).


27 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Oktober 1987, Kolpinghuis Nijmegen (80/86, Slg. 1987, 3969, Randnr. 13), Adeneler u. a. (oben in Fn. 63 angeführt, Randnr. 110), Impact (oben in Fn. 19 angeführt Randnr. 100), Angelidaki u. a. (oben in Fn. 24 angeführt, Randnr. 199) und vom 16. Juli 2009, Mono Car Styling (C‑12/08, Slg. 2009, I‑6653, Randnr. 61).


28 – Siehe Nrn. 71 bis 88 dieser Schlussanträge.


29 – Siehe Nrn. 89 bis 143 dieser Schlussanträge.


30 – Siehe Nrn. 144 bis 169 dieser Schlussanträge.


31 – Vgl. Urteile Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 22) und vom 22. Dezember 2010, DEB (C‑279/09, Slg. 2010, I‑13849, Randnr. 30).


32 – Vgl. Jarass, H. D., Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kommentar, München 2010, Art. 31 Randnr. 3, S. 277, und Art. 51 Randnr. 6, S. 413.


33 – Darauf weisen Lenaerts, K./Van Nuffel, P., European Union Law, London 2011, S. 832, Randnr. 22-022, zutreffend hin. Vgl. Urteile des Gerichtshofs vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat (C‑540/06, Slg. 2006, I‑5769, Randnrn. 38 und 58), vom 13. März 2007, Unibet (C‑432/05, Slg. 2007, I‑2271, Randnr. 37), vom 11. Dezember 2007, International Transport Workers’ Federation and Finnish Seamen’s Union (C‑438/05, Slg. 2007, I‑10779, Randnrn. 90 und 91), vom 29. Januar 2008, Promusicae (C‑275/06, Slg. 2008, I‑271, Randnrn. 61 bis 65), vom 3. September 2008, Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, Slg. 2008, I‑6351, Randnr. 335), Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 22) und vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert (C‑92/09 und C‑93/09, Slg. 2010, I‑11063, Randnrn. 45 f.). Vgl. Urteil des Gerichts vom 3. Mai 2002, Jégo-Quéré/Kommission (T‑177/01, Slg. 2002, II‑2365). Ferner hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den Urteilen vom 11. Juli 2002, Goodwin/Vereinigtes Königreich (Beschwerdenr. 28957/95, Randnr. 100), sowie vom 30. Juni 2005, Bosphorus/Irland (Beschwerdenr. 45036/98, Randnr. 159), Bezug auf die Charta genommen.


34 – Wie Fischinger, P., „Normverwerfungskompetenz nationaler Gerichte bei Verstößen gegen primärrechtliche Diskriminierungsverbote ohne vorherige Anrufung des EuGH“, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht, 2011, S. 206, zutreffend bemerkt, konnte Art. 21 der Charta auf den Sachverhalt, der dem Urteil Kükükdeveci zugrunde lag, nicht anwendbar sein, da die Charta erst lange nach Wirksamwerden der Kündigung in Kraft trat.


35 – Schlussanträge vom 24. Januar 2008, Schultz-Hoff u. a. (Urteil, oben in Fn. 6 angeführt, Nr. 38).


36 – Schlussanträge von Generalanwalt Tizzano vom 8. Februar 2001, BECTU (Urteil oben in Fn. 5 angeführt, Nr. 28).


37 – Lenaerts, K., „La solidarité ou le chapitre IV de la Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne“, Revue trimestrielle des droits de l’homme, 2010, Nr. 28, S. 217 f.; Jarass, H., a. a. O. (Fn. 32), Randnr. 2; Picod, F., Traité établissant une Constitution pour l’Europe, Partie II – La Charte des droits fondamentaux de l’Union, Band 2, Brüssel 2005, Art. II‑91, S. 424, 653; Frenz, W., Handbuch Europarecht, Band 4 (Europäische Grundrechte), S. 1078, Randnr. 3597 sowie S. 1164, Randnr. 3881; Riedel, E., Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., Baden-Baden 2011, Art. 31, S. 442, Randnr. 12; Seifert, A., „Mangold und kein Ende – die Entscheidung der Großen Kammer des EuGH vom 19.1.2010 in der Rechtssache Kücükdeveci“, Europarecht, 2010, S. 808, spricht in Bezug auf Art. 31 Abs. 2 der Charta von einem Grundrecht.


38 – In diesem Sinne Riedel, E., a. a. O. (Fn. 37), Art. 31, S. 442, Randnr. 12.


39 – Schwarze, J., „Der Grundrechtsschutz für Unternehmen in der Europäischen Grundrechtecharta“, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 2001, S. 519.


40 – Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 134, Randnr. 444.


41 – Vgl. Borowsky, M., Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., Baden-Baden 2011, Art. 51, S. 660, Randnr. 34.


42 – Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1164, Randnr. 3882.


43 – Ebd., S. 135, Randnr. 444.


44 – Lenaerts, K., a. a. O. (Fn. 37), Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1165, Randnr. 3884.


45 – Beim Problem der „Drittwirkung“ geht es um die Frage, ob die Grundrechte nur für das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat Bedeutung haben (d. h. staatsgerichtet sind) oder ob sie auch im Bereich der Beziehungen der Bürger untereinander gelten. Dabei wird sowohl eine Theorie der „unmittelbaren Drittwirkung“ der Grundrechte als auch eine Theorie der „mittelbaren Drittwirkung“ vertreten. Unter der „unmittelbaren Drittwirkung“ wird die unmittelbare Geltung der Grundrechte auch im Privatrechtsverkehr verstanden. Rechtsgeschäfte wären nach dieser Auffassung daher nicht möglich, wenn sie einem Grundrecht widersprechen. Dagegen sieht die Theorie der „mittelbaren Drittwirkung“ die Generalklauseln als „Einbruchstellen“ der Grundrechte in das Privatrecht an; bei der Auslegung dieser Generalklauseln sei das in der Grundrechtsordnung verankerte Wertsystem zu berücksichtigen. Nur bei der mittelbaren Drittwirkung könnten die maßgebenden Gesichtspunkte (z. B. Grundrecht und Vertragsfreiheit) abgewogen werden (siehe dazu Walter, R./Mayer, H., Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 9. Aufl., Wien 2000, S. 548 f., und meine Schlussanträge vom 29. März 2007, Carp, C‑80/06, Urteil vom 7. Juni 2007, Slg. 2007, I‑4473, Nr. 69).


      Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Drittwirkung von Grundrechten in den Mitgliedstaaten (vgl. Rengeling, H.-W./Szczekalla, P., Grundrechte in der Europäischen UnionCharta der Grundrechte und Allgemeine Rechtsgrundsätze, Köln 2004, S. 179 f., Randnrn. 338 f.) ergibt, dass sie in den meisten Mitgliedstaaten jedenfalls bekannt ist und erörtert wird, die einzelnen Fragen aber auch dort zum Teil noch ungeklärt sind und zur Diskussion stehen. In Italien ist sowohl die mittelbare Bindung für gleichgeordnete Privatrechtsverhältnisse anerkannt als auch die unmittelbare Bindung Privater in Rechtsbeziehungen, in denen ein Vertragspartner mehr Macht ausüben kann als der andere. In Belgien wird die Drittwirkung der Grundrechte diskutiert und in der Rechtsprechung eine Tendenz zur Anerkennung einer mittelbaren Drittwirkung ausgemacht. Auch in Österreich findet zum Teil noch eine kontroverse Diskussion statt. Ebenfalls noch nicht entschieden ist die Frage in Griechenland. Anerkannt ist die Drittwirkung einzelner Grundrechte jedenfalls in Frankreich, Irland, den Niederlanden, Portugal, Spanien und Slowenien. Die slowenische Rechtslehre weist darauf hin, dass einige Grundrechte aus der slowenischen Verfassung die (unmittelbare) Drittwirkung ermöglichen (vgl. Krivic, M., „Ustavno sodišče, pristojnosti in postopek“, in: Pavčnik/Mavčič [Hrsg.], Ustavno sodstvo, Cankarjeva založba, 2000, S. 69). Bisher nicht anerkannt ist die Drittwirkung grundrechtlicher Bestimmungen etwa in Dänemark und Luxemburg. Im Vereinigten Königreich müssen die Grundrechte mangels einer geschriebenen Verfassung im Sinne eines umfassenden Dokuments den Gesetzen und dem Common Law entnommen werden (vgl. Soziale Grundrechtein Europa, Europäisches Parlament – Generaldirektion Wissenschaft, Arbeitsdokument SOCI 104 DE, S. 26 f.). Gleichwohl gewinnt die einschlägige Rechtsprechung zur EMRK insbesondere nach dem „Human Rights Act“ von 1998 sowie schon früher über das Unionsrecht zunehmend an Bedeutung. In Finnland binden Grundrechte die Einzelnen nicht unmittelbar; der Staat ist aber verpflichtet, Verletzungen durch Private zu unterbinden.


46 – Jarass, H., a. a. O. (Fn. 32), Randnr. 9; Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1171, Randnr. 3909.


47 – Jarass, H., a. a. O. (Fn. 32), Art. 51, S. 419, Randnr. 21.


48 – In diesem Sinne Geiger, R., EUV/AEUV-Kommentar (hrsg. von Rudolf Geiger/Daniel-Erasmus Khan/Markus Kotzur), 5. Aufl., München 2010, Art. 51, S. 1016. Vgl. Urteile vom 12. Dezember 1996, Strafverfahren gegen X (C‑74/95, Slg. 1996, I‑6609, Randnr. 25), vom 13. April 2000, Karlsson (C‑292/97, Slg. 2000, I‑2737, Randnr. 37), vom 6. November 2003, Lindqvist (C‑101/01, Slg. 2003, I‑12971, Randnr. 87), vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. (C‑305/05, Slg. 2007, I‑5305, Randnr. 28), und Promusicae (oben in Fn. 33 angeführt, Randnr. 68).


49 – Jarass, H., a. a. O. (Fn. 32), Art. 31, S. 279, Randnr. 9 sowie Art. 51, S. 419, Randnr. 21; Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1172, Randnr. 3910.


50 – Gegen eine unmittelbare Drittwirkung: Jarass, H a. a. O. (Fn. 32), Art. 31, S. 277, Randnr. 3 sowie Art. 51, S. 421, Randnr. 24; derselbe, EU-Grundrechte, München 2005, § 4, S. 42, S. 42; De Mol, M., „Kücükdeveci: Mangold Revisited – Horizontal Direct Effect of a General Principle of EU Law“, European Constitutional Law Review, 2010, Nr. 6, S. 302; Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1172, Randnr. 3910; Schiek, D., „Constitutional Principles and Horizontal Effet: Kücükdeveci Revisited“, European Labour Law Journal, 2010, Nr. 3, S. 373; Hatje, A., EU-Kommentar (hrsg. von Jürgen Schwarze), 2. Aufl., Baden-Baden 2009, Art. 51, S. 2324, Randnr. 20; Kingreen, T., EUV/EGV – Kommentar, 3. Aufl., München 2007, Art. 51 GRCh, S. 2713, Randnr. 18, der darauf hinweist, dass einige Grundrechte der Charta bei unbefangener Lektüre zwar als drittwirkend verstanden werden könnten, dennoch vertritt der Autor die Auffassung, dass die darin aufgeführten Grundrechte keine Drittwirkung entfalten, da Art. 51 Abs. 1 Satz 1 nur die Union und die Mitgliedstaaten bindet. Beeinträchtigungen von Grundrechten durch Private können nach Ansicht des Autors durch Ausübung der hoheitlichen Schutzpflicht gegenüber Übergriffen nichtstaatlicher Dritter unterbunden werden. Ähnlich auch Riesenhuber, K., Europäisches Arbeitsrecht, Hamburg 2009, § 2, S. 45, Randnr. 25, dem zufolge die Grundrechte der Charta Private nicht unmittelbar binden, sondern nur mittelbar über die Schutzpflichten des Gesetzgebers. Kokott, J./Sobotta, C., „The Charter of fundamental rights of the European Union after Lisbon“, EUI Working Papers (2010/6) − Academy of European Law, S. 14, vertreten ebenfalls die Auffassung, dass Art. 51 der Charta einer unmittelbaren Wirkung von Grundrechten im Verhältnis zwischen Privaten entgegensteht.


      Für eine unmittelbare Drittwirkung: Dauses, M., Der Schutz der Grundrechte in der Rechtsordnung der Europäischen Union, Frankfurt am Main 2010, S. 99, der zur Begründung seiner Rechtsauffassung auf das Fallrecht des Gerichtshofs verweist, wonach unter bestimmten Voraussetzungen auch Einzelpersonen zu grundrechtlichen Gewährleistungen verpflichtet werden können, z. B. bei Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder im Bereich der Geschlechtergleichbehandlung.


      Keinen klaren Standpunkt bezieht Streinz, R., EUV/EGVKommentar, München 2003, Art. 51, S. 2652, Randnr. 10, der erklärt, dass die Frage einer unmittelbaren oder mittelbaren Drittwirkung der Rechte der Charta ebenso wie die Frage grundrechtlicher Schutzpflichten ausgespart und eher Rechtsprechung und Lehre überlassen wurden.


51 – Vgl. Jarass, H., a. a. O. (Fn. 32), Art. 31, S. 277, Randnr. 3; Knecht, M., EU-Kommentar (hrsg. von Jürgen Schwarze), 2. Aufl., Baden-Baden 2009, Art. 31, S. 2276, Randnr. 4); Kingreen, T., a. a. O. (Fn. 50); Kühling, J., Europäisches Verfassungsrecht (hrsg. von Armin von Bogdandy), Heidelberg 2003, S. 603, geht davon aus, dass Grundrechte hoheitliche Schutzpflichten gegenüber Handlungen Privater begründen können, so dass es der fragwürdigen Konstruktion einer Bindung Privater an die Grundrechte bedürfte.


52 – Vgl. Becker, U., EU-Kommentar (hrsg. von Jürgen Schwarze), 2. Aufl., Baden-Baden 2009, Art. 53, S. 2333, Randnr. 1), nach dessen Ansicht Art. 53 der Charta dazu dient, Kollisionen zwischen verschiedenen Quellen der Grundrechtsgewährung auszuschließen. Die Vorschrift führe im Ergebnis zu einer Meistbegünstigung: Geht das andere Grundrecht (z. B. aus der EMRK) über die Chartarechte hinaus, dürfen die Letztgenannten nicht so verstanden werden, dass sie einen umfassenderen Schutz verbieten würden. Gewährt umgekehrt die Charta weiter gehende Rechtsfolgen als andere Grundrechte, werden diese schon von vornherein gerade nicht eingeschränkt.


53 – In diesem Sinne Grabenwarter, C., Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl., Wien 2009, S. 130, Randnr. 14.


54 – Vgl. Rengeling, H.-W./Szczekalla, P., a. a. O. (Fn. 45), S. 180, Randnr. 339. Siehe Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte vom 11. Oktober 1988, Ian Nimmo/Vereinigtes Königreich (Beschwerdenr.: 12327/86) und vom 7. April 1997, Scientology Kirche Deutschland e.V./Deutschland (Beschwerdenr.: 34614/97).


55 – Vgl. Reid, K., A practitioner’s Guide to the European Convention on Human Rights, 2. Aufl., London 2004, S. 46, Randnr. I‑064; Grabenwarter, C., a. a. O. (Fn. 53), S. 127, Randnr. 7; Jarass, H., EU-Grundrechte, München 2005, S. 52, Randnr. 12; Rengeling, H.-W./Szczekalla, P., a. a. O. (Fn. 45), S. 180, Randnr. 339, die eine Drittwirkung der einzelnen Verbürgungen in der EMRK verneinen. Stattdessen gehe es allein um eine konventionskonforme Auslegung des Rechts der Vertragsstaaten und sogenannte positive Pflichten (Schutzpflichten) derselben, gerade auch zum Schutz der Konventionsrechte durch die nationale Gesetzgebung. Vergleichbares gelte für sonstige völkerrechtliche Verträge zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte.


56 – Grabenwarter, C., a. a. O. (Fn. 53), S. 131, Randnr. 15.


57 – Siehe Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 16. Dezember 2008, Khurshid Mustafa und Tarzibachi/Schweden (Beschwerdenr.: 23883/06), Randnr. 50 [Recht auf Information], vom 24. Juni 2004, Von Hannover/Deutschland (Beschwerdenr.: 59320/00), Randnr. 57 [Gebot der Achtung der Privatsphäre], vom 16. November 2004, Moreno Gómez/Spanien (Beschwerdenr.: 4143/02), Randnr. 55 [Gebot der Achtung der Privatsphäre], und vom 30. November 2004, Öneryildiz/Türkei (Beschwerdenr.: 48939/99), Randnr. 135 [Eigentumsrecht].


58 – Vgl. Grabenwarter, C., a. a. O. (Fn. 53), S. 131, Randnr. 15, nach dessen Ansicht die Probleme der Drittwirkung in der Schutzpflichtendogmatik aufgehen.


59 – Siehe Schwarze, J., European Administrative Law, Luxemburg 2006, S. 65, und Sariyiannidou, E., Institutional balance and democratic legitimacy in the decision-making process of the EU, Bristol 2006, S. 145.


60 – Urteil vom 16. Juli 1956, Fédération Charbonnière de Belgique/Hohe Behörde (8/55, Slg. 1955, 199, 311).


61 – Urteil vom 21. Juni 1958, Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie/Hohe Behörde (13/57, Slg. 1958, 273, 304).


62 – Urteil vom 22. März 1961, SNUPAT/Hohe Behörde (42 und 49/59, Slg. 1961, 111, 169).


63 – Urteil vom 13. Februar 1979, Hoffmann-La Roche/Kommission (85/76, Slg. 1979, 461, 511).


64 – Urteil vom 15. Juli 1960, von Lachmüller u. a./Kommission (43/59, 45/59 und 48/59, Slg. 1960, 967, 989).


65 – Urteil vom 12. Juli 1962, Hoogovens/Hohe Behörde (14/61, Slg. 1962, 513, 549).


66 – Urteil vom 19. Oktober 1977, Ruckdeschel/HZA Hamburg-St. Annen (117/76 und 16/77, Slg. 1977, 1753, Randnr. 7).


67 – Tridimas, T., The General Principles of EU Law, 2. Aufl., London 2006, S. 17 f. und 29 f., weist zum einen auf die Lückenfüllungsfunktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht hin, was aus dem Umstand resultiere, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung eine neue und junge Rechtsordnung sei und der Weiterentwicklung bedürfe. Zudem stelle der EG-Vertrag einen Rahmenvertrag mit zahlreichen allgemein gefassten Bestimmungen und unbestimmten Rechtsbegriffen dar, die dem Gerichtshof weitgehende Befugnis zur Entwicklung des Rechts einräumen. Zum anderen weist der Autor auf die Funktion als Auslegungshilfe bei der Auslegung des Sekundärrechts hin. Lenaerts, K./Van Nuffel, P., Constitutional Law of the European Union, 2. Aufl., London 2005, Randnr. 17-066, S. 711, weisen darauf hin, dass die Verwaltung sich im Rahmen der Auslegung von Gemeinschaftsrecht in der Regel des Rückgriffs auf allgemeine Rechtsgrundsätze, vor allem bei Unklarheiten im auszulegenden Recht oder Regelungslücken, bedient. Toriello, F., I principi generali del diritto comunitario – Il ruolo della comparazione, Mailand 2000, S. 141, weist sowohl auf die Lückenfüllungsfunktion als auch auf die Funktion als Auslegungshilfe hin, zählt aber auch andere Funktionen auf.


68 – In diesem Sinne Schwarze, J., a. a. O. (Fn. 59), S. 65.


69 – Vgl. Lenaerts, K./Gutiérrez-Fons, J. A., „The constitutional allocation of powers and general principles of law“, Common Market Law Review, 2010, S. 1629; Toriello, F., a. a. O. (Fn. 67), S. 141.


70 – Vgl. Toriello, F., a. a. O. (Fn. 67), S. 141.


71 – Vgl. Schweitzer, M./Hummer, W./Obwexer, W., Europarecht, S. 65, Randnrn. 240 und 241.


72 – In diesem Sinne Lengauer, A.-M., Kommentar zu EU- und EG-Vertrag (hrsg. von Heinz Mayer), Wien 2004, Art. 220, Randnr. 27, S. 65; Toriello, F., a. a. O. (Fn. 67), S. 315 bis 318.


73 – In diesem Sinne Schweitzer, M./Hummer, W./Obwexer, W., Europarecht, Randnr. 244, S. 66; Oppermann, T., Europarecht, 3. Aufl., München 2005, Randnr. 21, S. 144; Toriello, F., a. a. O. (Fn. 67), S. 140.


74 – Vgl. Tridimas, T., a. a. O. (Fn. 67), S. 6.


75 – Nach allgemeiner Ansicht stehen die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Rang von Primärrecht (vgl. Schroeder, W., EUV/EGV – Kommentar [hrsg. von Rudolf Streinz], Art. 249, S. 2159, Randnr. 15). Der Gerichtshof hat wiederholt erklärt, dass Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane an den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu messen sind. Siehe Urteile vom 12. November 1969, Stauder (29/69, Slg. 1969, 419, Randnr. 7), und vom 13. Dezember 1979, Hauer (44/79, Slg. 1979, 3727, Randnrn. 14 f.).


76 – So auch Wegener, B., in Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EUV/EGV, 3. Aufl., München 2007, Art. 220, Randnr. 37, S. 1956, und Tridimas, T., a. a. O. (Fn. 67), S. 2 f.


77 – Vgl. Urteil vom 9. August 1994, Deutschland/Rat (C‑359/92, Slg. 1994, I‑3681). Bereits vor der Positivierung dieses Gedankens in Art. 5 Abs. 3 EG (jetzt Art. 5 Abs. 4 EUV) war es sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum unstreitig, dass die Inanspruchnahme von Gemeinschaftskompetenzen unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit steht (vgl. Lienbacher, G., EU-Kommentar [hrsg. von Jürgen Schwarze], 1. Aufl., Baden-Baden 2000, Art. 5 EG, Randnr. 36, S. 270).


78 – Vgl. Urteil vom 10. Juni 1980, Kommission/Vereinigtes Königreich (32/79, Slg. 1980, 2403).


79 – Vgl. Urteil des Gerichts vom 6. März 2001, Dunnett, Hackett und Turró Calvet/Europäische Investitionsbank (T‑192/99, Slg. 2001, II‑813). Siehe speziell zum Recht auf wirksamen Zugang zu den Gerichten die Urteile des Gerichtshofs vom 15. Mai 1986, Johnston (222/84, Slg. 1986, 1651, Randnrn. 18 und 19), vom 15. Oktober 1987, Heylens u. a. (222/86, Slg. 1987, 4097, Randnr. 14), vom 27. November 2001, Kommission/Österreich (C‑424/99, Slg. 2001, I‑9285, Randnr. 45), vom 25. Juli 2002, Unión de Pequeños Agricultores/Rat (C‑50/00 P, Slg. 2002, I‑6677, Randnr. 39), vom 19. Juni 2003, Eribrand (C‑467/01, Slg. 2003, I‑6471, Randnr. 61), Unibet (oben in Fn. 33 angeführt, Randnr. 37) und DEB (oben in Fn. 31 angeführt, Randnr. 29).


80 – Vgl. Urteil vom 6. Juli 2000, Agricola Tabacchi Bonavicina (C‑402/98, Slg. 2000, I‑5501).


81 – Vgl. Urteil vom 13. Februar 1969, Walt Wilhelm (14/68, Slg. 1969, 1).


82 – Vgl. Urteil vom 4. Juli 1963, Alves (32/62, Slg. 1963, 109).


83 – Vgl. Urteile vom 14. Juli 1972, Cassella Farbwerke Mainkur/Kommission (55/69, Slg. 1972, 887), vom 28. Mai 1980, Kuhner/Kommission (33/79 und 75/79, Slg. 1980, 1677), vom 29. Juni 1994, Fiskano/Kommission (C‑135/92, Slg. 1994, I‑2885), vom 24. Oktober 1996, Kommission/Lisrestal u. a. (C‑32/95 P, Slg. 1996, I‑5373, Randnr. 21), vom 21. September 2000, Mediocurso/Kommission (C‑462/98 P, Slg. 2000, I‑7183, Randnr. 36), vom 12. Dezember 2002, Cipriani (C‑395/00, Slg. 2002, I‑11877, Randnr. 51), vom 13. September 2007, Land Oberösterreich und Österreich/Kommission (C‑439/05 P und C‑454/05 P, Slg. 2007, I‑7141), und vom 18. Dezember 2008, Sopropré (C‑349/07, Slg. 2008, I‑10369, Randnrn. 36 und 37).


84 – Vgl. Urteil vom 25. Oktober 1978, Koninklijke Scholten-Honig (125/77, Slg. 1978, 1991).


85 – Vgl. Urteil vom 21. November 1991, Technische Universität München (C‑269/90, Slg. 1991, I‑5469).


86 – Vgl. Urteil vom 14. Februar 1978, IFG/Kommission (68/77, Slg. 1978, 353).


87 – Vgl. Urteil des Gerichts vom 25. Mai 2004, Distilleria Palma/Kommission (T‑154/01, Slg. 2004, II‑1493, Randnr. 45).


88 – Vgl. Urteil vom 21. September 2005, Ali Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat (T‑306/01, Slg. 2005, II‑3533, Randnr. 277).


89 – Vgl. Urteil vom 18. März 1980, Ferriera Valsabbia/Kommission (154/78, 205/78, 206/78, 226/78 bis 228/78, 263/78 und 264/78 sowie 39/79, 31/79, 83/79 und 85/79, Slg. 1980, 907).


90 – Vgl. Urteil vom 28. Mai 1980, Kuhner/Kommission (33 und 75/79, Slg. 1980, 1677).


91 – Vgl. Urteil vom 5. Mai 1981, Kommission/Vereinigtes Königreich (804/79, Slg. 1981, 1045).


92 – Vgl. Urteil vom 30. März 1995, Parlament/Rat (C‑65/93, Slg. 1995, I‑643, Randnr. 21).


93 – Vgl. Urteil vom 17. Januar 1984, VBVB und VBBB/Kommission (43/82 und 63/82, Slg. 1984, 19).


94 – Vgl. Urteil Bosman (oben in Fn. 18 angeführt).


95 – Vgl. Urteil vom 12. Juli 1984, Prodest (237/83, Slg. 1984, 3153).


96 – Vgl. Urteil vom 15. Juni 1978, Defrenne (149/77, Slg. 1978, 1365).


97 – Vgl. Urteile vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, Slg. 2005, I‑3565, Randnrn. 67 bis 69), vom 11. März 2008, Jager (C‑420/06, Slg. 2008, I‑1315, Randnr. 59), und vom 28. April 2011, El Dridi (C‑61/11 PPU, Slg. 2011, I‑3015, Randnr. 61).


98 – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet am 10. Dezember 1948 mit Resolution 217 A (III) durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen.


99 – Europäische Sozialcharta, Vertrag aufgelegt zur Unterzeichnung durch die Mitgliedstaaten des Europarates am 18. Oktober 1961 in Turin und am 26. Februar 1965 in Kraft getreten. Ihr Art. 2 Abs. 3 besagt, dass sich die Vertragsparteien, um die wirksame Ausübung des Rechts auf gerechte Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, dazu verpflichten, die Gewährung eines bezahlten Jahresurlaubs von mindestens zwei Wochen sicherzustellen.


100 – Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wurde am 19. Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig verabschiedet. Sein Art. 7 Buchst. d besagt, dass „die Vertragsstaaten das Recht eines jeden auf gerechte und billige Arbeitsbedingungen anerkennen, durch die insbesondere Arbeitspausen, Freizeit, eine angemessene Begrenzung der Arbeitszeit, regelmäßiger bezahlter Urlaub sowie Vergütung gesetzlicher Feiertage gewährleistet werden“.


101 – Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. Dezember 1989 besagt in ihrem Art. 8, dass „jeder Arbeitnehmer der Europäischen Gemeinschaft Anspruch auf die wöchentliche Ruhezeit und auf einen bezahlten Jahresurlaub [hat], deren Dauer gemäß den einzelstaatlichen Gepflogenheiten auf dem Wege des Fortschritts in den einzelnen Staaten einander anzunähern ist“.


102 – Vgl. Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1059, Randnr. 3539.


103 – Übereinkommen Nr. 132 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung vom Jahr 1970), angenommen von der Allgemeinen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation am 24. Juni 1970, in Kraft getreten am 30. Juni 1973.


104 – Übereinkommen Nr. 52 über den bezahlten Jahresurlaub, angenommen von der Allgemeinen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation am 24. Juni 1936, in Kraft getreten am 22. September 1939. Dieses Übereinkommen ist mit dem Übereinkommen Nr. 132 neu gefasst worden, bleibt selbst aber weiterhin zur Ratifikation offen.


105 – Zuleeg, M., „Der Schutz sozialer Rechte in der Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft“, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1992, Heft 15/16, S. 331, weist darauf hin, dass Akte ohne rechtliche Verbindlichkeit wie die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer in erster Linie als programmatische Wegweiser dienen. Sie gewinnen allenfalls dann eine rechtliche Bedeutung, wenn Gerichte sie zur Auslegung oder Rechtsfortbildung heranziehen. Balze, W., „Überblick zum sozialen Arbeitsschutz in der EU“, Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, 38. Ergänzungslieferung 1998, Randnr. 4, stellt zutreffend fest, dass obwohl die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer zwar selbst als feierliche Erklärung keine Rechtsverbindlichkeit entfaltet, sie dennoch ein wesentlicher Auslöser für das Ende 1989 verabschiedete Aktionsprogramm der Kommission zur Anwendung der Gemeinschaftscharta vom 28. November 1989 war. Das Aktionsprogramm sah insgesamt 23 konkrete Richtlinienvorschläge u. a. auf dem Gebiet der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer vor, die im Wesentlichen bis 1993 umgesetzt wurden. Daraus folgt, dass auch feierliche Erklärungen als Inspirationsquelle für gesetzgeberische Tätigkeit schließlich doch Bedeutung bei der Verwirklichung der in ihnen proklamierten sozialen Grundrechte erlangen können.


106 – Vgl. Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1060, Randnr. 3542.


107 – Vgl. González Ortega, S., „El disfrute efectivo de la vacaciones anuales retribuidas: una cuestión de derecho y de libertad personal, de seguridad en el trabajo y de igualdad“, Revista española de derecho europeo, Nr. 11 (2004), S. 423 ff.


108 – Vgl. Vieira De Andrade, J. C., „La protection des droits sociaux fondamentaux dans l’ordre juridique du Portugal“, La protection des droits sociaux fondamentaux dans les États membres de l’Union européenne – Étude de droit comparé, Athen/Brüssel/Baden-Baden 2000, S. 677.


109 – Vgl. Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1062, Randnr. 3542.


110 – Ebd., S. 1062, Randnr. 3548.


111 – Beispielsweise sieht Art. 24 Abs. 3 der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen vor, dass das Recht auf einen ausreichenden, bezahlten Urlaub gesetzlich festzulegen ist.


112 – Vgl. Riedel, E., Charta der Grundrechte der Europäischen Union (hrsg. von Jürgen Meyer), 2. Aufl., Baden-Baden 2006, Art. 31, Randnrn. 3, 4.


113 – Siehe Nr. 92 dieser Schlussanträge.


114 – Vgl. Nielsen, R., „Free movement and fundamental rights“, European Labour Law Journal, 2010, Nr. 1, S. 258, die auf die potenzielle Bedeutung der Charta bei der Entwicklung von sozialen Grundrechten im Wege der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen hinweist. Nach Ansicht der Autorin sollte sich der Gerichtshof bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe zunehmend auf die Charta stützen, die – anders als die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) – zahlreiche soziale Standards festlege, wie etwa das Verbot von Diskriminierungen, das Verbot von Kinderarbeit sowie das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, die Versammlungsfreiheit, das Recht auf kollektive Verhandlungen und das Streikrecht der Arbeitnehmer.


115 – Siehe Lenaerts, K./Gutiérrez-Fons, J. A., a. a. O. (Fn. 69), S. 1633, die darauf hinweisen, dass der Gerichtshof desto mehr dazu geneigt sein wird, eine bestimmte Art von Regelung zu übernehmen, je größer die Konvergenz unter den Rechtsordnungen ist. Sofern die Konvergenz zwar nicht vollständig ist, aber ein bestimmter Ansatz sich in der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten durchgesetzt haben sollte, wird der Gerichtshof in der Regel diesem Ansatz folgen, indem er ihn der Rechtsordnung der Union anpassen wird.


116 – Tridimas, T., a. a. O. (Fn. 67), S. 6, weist darauf hin, dass der Gerichtshof unter Umständen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz als solchen anerkennen kann, obwohl dieser nicht in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt ist.


117 – Vgl. Beschluss vom 7. April 2011, May (C‑519/09, Slg. 2011, I‑2761, Randnrn. 26 und 27), in dem der Gerichtshof erklärt hat, dass auch eine für eine öffentlich-rechtliche Körperschaft berufstätige Person ungeachtet ihres Status als Beamter ein „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ist.


118 – Tridimas, T., a. a. O. (Fn. 67), S. 1, wirft die Frage auf, wie ein allgemeiner Rechtsgrundsatz von einer spezifischen Regelung unterschieden werden kann. Seiner Ansicht nach kommt es zum einen auf die allgemeine Geltung dieses Grundsatzes an, wobei „allgemein“ so zu verstehen ist, dass der Grundsatz einen gewissen Grad an Abstraktheit aufweisen muss. Zum anderen kommt es auf die Relevanz dieses Grundsatzes innerhalb einer Rechtsordnung an.


119 – Siehe Nrn. 39 bis 42 meiner Schlussanträge vom 16. Juni 2011 in der Rechtssache C‑155/10 (Williams u. a.), in der es um das Recht auf bezahlten Jahresurlaub von Piloten eines Luftfahrtunternehmens ging. Ausgelegt wurde Klausel 3 der Europäischen Vereinbarung über die Arbeitszeitorganisation für das fliegende Personal der Zivilluftfahrt, geschlossen von der Vereinigung Europäischer Fluggesellschaften (AEA), der Europäischen Transportarbeiter- Föderation (ETF), der European Cockpit Association (ECA), der European Regions Airline Association (ERA) und der International Air Carrier Association (IACA), wie sie durch die Richtlinie 2000/79/EG (ABl. L 302, S. 59) durchgeführt wird. Jene Klausel enthält eigene Urlaubsbestimmungen für das fliegende Personal der Zivilluftfahrt.


120 – Als weiteres Beispiel lassen sich die Arbeitszeitregelungen für Seeleute anführen. Gemäß dem 12. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 gilt sie nämlich nicht für diese Personengruppe. Verwiesen wird stattdessen auf die Richtlinie 1999/63/EG des Rates vom 21. Juni 1999 zu der vom Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (European Community Shipowners’ Association ECSA) und dem Verband der Verkehrsgewerkschaften in der Europäischen Union (Federation of Transport Workers’ Unions in the European Union FST) getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten (ABl. L 167, S. 33). Diese Vereinbarung enthält in Paragraf 16 spezielle Urlaubsregelungen für Seeleute, die denen des Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ähneln.


121 – Nach Auffassung von Tridimas, T., a. a. O. (Fn. 67), S. 26, muss ein allgemeiner Rechtsgrundsatz ein feststellbares Minimum an rechtsverbindlichem Inhalt aufweisen.


122 – So entschied der Gerichtshof z. B., dass verschiedene nationale Maßnahmen durch das Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen waren, weil diese mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (vgl. z. B. Urteile vom 25. November 1986, Klensch, 201/85 und 202/85, Slg. 1986, 3477, vom 13. Juli 1989, und Wachauf, 5/88, Slg. 1989, 2609) oder speziellen Ausprägungen dieses Grundsatzes – wie dem Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit in verschiedenen Zusammenhängen (vgl. z. B. Urteile vom 13. Februar 1985, Gravier, 293/83, Slg. 1985, 593 [Zugang zur Berufsausbildung], vom 2. Februar 1988, Blaizot, 24/86, Slg. 1988, 379 [Zugang zum Universitätsunterricht], vom 27. September 1988, Kommission/Belgien, 42/87, Slg. 1988, 5445 [Ausbildungsbeihilfen], vom 20. Oktober 1993, Phil Collins u. a., C‑92/92 und C‑326/92, Slg. 1993, I‑5145 [geistige Eigentumsrechte], und vom 26. September 1996, Data Delecta, C‑43/95, Slg. 1996, I‑4661 [Gerichtsverfahren]), der Achtung der Grundrechte (vgl. z. B. Urteile Johnston, oben in Fn. 79 angeführt [wirksame gerichtliche Kontrolle im Zusammenhang mit „beruflichen Anforderungen“ als Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen], Wachauf, oben angeführt [Eigentumsrechte im Zusammenhang mit der gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse], und vom 11. Juli 2002, Carpenter, C‑60/00, Slg. 2002, I‑6279 [Recht auf Achtung des Familienlebens im Zusammenhang mit einer möglichen Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit]), dem Grundsatz des Vertrauensschutzes (vgl. z. B. Urteil vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C‑62/00, Slg. 2002, I‑6325 [Vertrauensschutz im Zusammenhang mit einer neuen nationalen Verjährungsfrist, innerhalb deren die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht eingezogenen Beträgen beantragt werden kann]) und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. z. B. Urteile vom 19. Juni 1980, Testa, 41/79, 121/79 und 796/79, Slg. 1980, I‑1979 [Ermessen des Mitgliedstaats bei der Verlängerung der Dauer des Leistungsanspruchs bei Arbeitslosigkeit nach Art. 69 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71], und vom 18. Dezember 1997, Molenheide u. a., C‑286/94, C‑340/95, C‑401/95 und C‑47/96, Slg. 1997, I‑7281) – nicht vereinbar waren.


123 – In diesem Sinne Tridimas, T., a. a. O. (Fn. 67), S. 47. Ähnlich Walter, R./Mayer, H., a. a. O. Fn. 45), S. 549, Randnr. 1330, nach deren Ansicht eine Geltung der Grundrechte gerade im Fall der Übermacht eines Vertragspartners (z. B. eines Monopolisten) gegenüber einem anderen wünschenswert erscheinen kann.


124 – Deshalb wird der Arbeitnehmer in der Rechtsprechung des Gerichtshofs oft auch als die sozial und wirtschaftlich schwächere und deshalb schutzbedürftigere Vertragspartei angesehen. Siehe z. B. im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 6 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (ABl. L 266, S. 1), Urteil vom 15. März 2011, Koelzsch (C‑29/10, Slg. 2011, I‑1595, Randnr. 40).


125 – Vgl. Preis, U./Temming, F., „Der EuGH, das BVerfG und der Gesetzgeber“, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Lehren aus Mangold II, 2010, S. 190. Zutreffend weist Thüsing, G., a. a. O. (Fn. 20), S. 15, Randnrn. 34, darauf hin, dass die Grenzen, wo der Staat anfängt und wo er aufhört, fließend sind.


126 – Vgl. Rengeling, H.-W./Szczekalla, P., a. a. O. (Fn. 45), S. 182, Randnr. 341.


127 – Urteil vom 8. April 1976, Defrenne (43/75, Slg. 1976, 455).


128 – Urteil vom 12. Dezember 1974, Walrave (36/74, Slg. 1974, 1405).


129 – Ebd. (Randnr. 16/19).


130 – Urteil Bosman (oben in Fn. 18 angeführt ).


131 – Urteil vom 6. Juni 2000, Angonese (C‑281/98, Slg. 2000, I‑4139, Randnr. 36).


132 – Urteil Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt).


133 – Urteil Mangold (oben in Fn. 9 angeführt , Randnr. 75).


134 – Siehe Nrn. 144 ff. dieser Schlussanträge.


135 – In diesem Sinne auch Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen vom 22. Mai 2008 in der Rechtssache Bartsch (C‑427/06, Slg. 2008, I‑7245, Nr. 85).


136 – Vgl. Jarass, H., „Bedeutung der EU-Rechtsschutzgewährleistung für nationale und EU-Gerichte“, Neue Juristische Wochenschrift 2011, S. 1394.


137 – Lenaerts, K./Gutiérrez-Fons, J. A., a. a. O. (Fn. 69), S. 1656, scheinen auch von der parallelen Geltung der Rechte aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen bzw. aus der Charta auszugehen, da sie der Charta Bedeutung als Erkenntnisquelle für die Entdeckung neuer allgemeiner Rechtsgrundsätze beimessen. Ähnlich auch Preis, U./Temming, T., a. a. O. (Fn. 125), die sich dafür aussprechen, dass der Gerichtshof auf der Basis seiner Befugnis aus Art. 6 Abs. 3 EUV ein ungeschriebenes subsidiäres Unionsgrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit herleitet, damit Privaten die Möglichkeit gegeben wird, Verstöße gegen die ordnungsgemäße Richtlinienbestimmung als solche generell zu rügen.


138 – Vgl. Geiger, R., a. a. O. (Fn. 48), Art. 6, S. 45, Randnr. 27; Jarass, H., a. a. O. (Fn. 55), S. 19, Randnr. 15.


139 – In diesem Sinne Jarass, H., a. a. O. (Fn. 136).


140 – Vgl. Jarass, H., a. a. O. (Fn. 55), S. 19, Randnr. 15.


141 – In diesem Sinne De Mol, M., a. a. O. (Fn. 50), die unter Verweis auf die in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der Charta vorgesehene ausschließliche Grundrechtsbindung der Union und ihrer Mitgliedstaaten eine horizontale Wirkung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen verneint.


142 – Vgl. Urteile vom 4. Dezember 1974, Van Duyn (41/74, Slg. 1974, 1338, Randnrn. 13/14), vom 12. Mai 1987, Traen (372/85 bis 374/85, Slg. 1987, 2141, Randnr. 25), vom 20. September 1988, Beentjes (31/87, Slg. 1988, 4635, Randnr. 43), vom 23. Februar 1994, Comitato di coordinamento per la difesa della Cava/Regione Lombardia (C‑236/92, Slg. 1994, I‑483, Randnr. 9).


143 – Vgl. Urteile vom 22. September 1983, Auer (271/82, Slg. 1983, 2727, Randnr. 16), vom 15. Dezember 1983, Rienks (5/83, Slg. 1983, 4233, Randnr. 8), Marshall (oben in Fn. 20 angeführt, Randnr. 52), vom 4. Dezember 1986, Federatie Nederlandse Vakbeweging (71/85, Slg. 1986, 3855, Randnr. 18), Comitato di coordinamento per la difesa della Cava/Regione Lombardia (oben in Fn. 142 angeführt, Randnr. 10).


144 – Vgl. Urteile vom 27. Juni 1989, Kühne (50/88, Slg. 1989, 1925, Randnr. 26) und vom 22. Mai 1980, Santillo (131/79, Slg. 1980, 1585, Randnr. 13).


145 – Vgl. Fischinger, P., a. a. O. (Fn. 34), der am Fall des Altersdiskriminierungsverbots erklärt, dass es bei der Prüfung, ob ein Verstoß gegen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz vorliegt, zunächst einmal notwendig ist, den Inhalt dieses allgemeinen Rechtsgrundsatzes autonom (d. h. ohne Heranziehung einer sekundärrechtlichen Norm) festzustellen.


146 – Vgl. De Mol, M., a. a. O. (Fn. 50), S. 301, die die Anerkennung der horizontalen Wirkung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Urteil Kücükdeveci als bemerkenswert bezeichnet, denn ihrer Ansicht nach zeichnen sich allgemeine Rechtsgrundsätze dadurch aus, dass sie erstens normalerweise den Bürger im Verhältnis zum Staat schützen und zweitens „insofern abstrakt sind, als sie nur in eine bestimmte Richtung weisen, ohne aber eine konkrete Rechtsregel festzulegen“.


147 – In diesem Sinne Schweitzer, M./Hummer, W./Obwexer, W., Europarecht, S. 178, Randnr. 653; Sariyiannidou, E., a. a. O. (Fn. 59), S. 122, spricht ebenfalls von einer „Funktionsteilung“. Laut Oppermann, T., a. a. O. (Fn. 73), § 5, Randnr. 5, S. 80, ist in der Europäischen Gemeinschaft die staatliche Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative zugunsten eines spezifischen institutionellen Gleichgewichts zwischen den Gemeinschaftsorganen abgewandelt. Insbesondere zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission seien die Aufgaben anders verteilt als auf staatlicher Ebene. Auch in der Europäischen Gemeinschaft ergebe sich gegenseitige Kontrolle und Machtgleichgewicht („checks and balances“). Das institutionelle Gleichgewicht der Organe sei Widerspiegelung eines grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzips. Es gebiete, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübe und dass Verstöße hiergegen durch die Kontrolle des Gerichtshofs geahndet werden können.


148 – Siehe meine Schlussanträge vom 30. Juni 2009, Audiolux (C‑101/08, Slg. 2009, I‑9823, Nr. 107).


149 – Sariyiannidou, E., a. a. O. (Fn. 59), S. 137, ist der Auffassung, dass Art. 220 EG dem Gerichtshof im Endeffekt die Kompetenz einräumt, zu bestimmen, was „Recht“ ist, allerdings ohne dass klare Kompetenzbeschränkungen hierfür vorhanden wären. Der Gerichtshof habe bei der Entwicklung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen umfassend Gebrauch von seiner Rechtsfortbildungskompetenz gemacht. Die Autorin äußert die Befürchtung, dass dies die Grenzen zwischen gerichtlicher und politischer Tätigkeit verwischen könnte.


150 – So auch Seifert, A., a. a. O. (Fn. 37), der eine entsprechende Anwendung der im Urteil Kücükdeveci entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze auf andere grundrechtlich geschützte Bereich für denkbar hält. Er verweist dabei auf das Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub in Art. 31 Abs. 2 der Charta, das vor allem durch die Arbeitszeitrichtlinie konkretisiert worden ist.


151 – ABl. L 303, S. 16.


152 – Urteil Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 53).


153 – Vgl. Simon, D., „L’invocabilité des directives dans les litiges horizontaux: confirmation ou infléchissement“, Europe: actualité du droit communautaire, 2010, Nr. 3, S. 7, Randnr. 19.


154 – Vgl. Seifert, A., a. a. O. (Fn. 37), S. 806, nach dessen Einschätzung der Rückgriff auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz ein Mittel für den Gerichtshof ist, sich nicht zu der eigenen Rechtsprechung zum Fehlen einer unmittelbaren Horizontalwirkung von Richtlinien zwischen Einzelnen in Widerspruch zu setzen.


155 – Urteil Mangold (oben in Fn. 9 angeführt , Randnr. 75).


156 – Urteil Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 50).


157 – Ebd. (Randnr. 51).


158 – Ebd. (Randnrn. 28 bis 43).


159 – Ebd. (Randnrn. 25 und 26).


160 – Siehe Nrn. 110 bis 114 dieser Schlussanträge.


161 – Siehe Nr. 47 dieser Schlussanträge.


162 – Siehe Nr. 53 dieser Schlussanträge.


163 – Siehe in diesem Zusammenhang die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott vom 6. Mai 2010, Roca Álvarez (C‑104/09, Urteil vom 30. September 2010, Slg. 2010, I‑8661, Nr. 55), in denen sie auf die Urteile Mangold und Kücükdeveci verwiesen und dabei die Frage aufgeworfen hat, ob der Gerichtshof eine horizontale Direktwirkung auf andere allgemeine Rechtsgrundsätze wie das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausdehnen würde. Nach Ansicht der Generalanwältin wäre vor einer solchen Weiterentwicklung die Erörterung der dogmatischen Fundamente dieser umstrittenen horizontalen Direktwirkung und ihrer Grenzen erforderlich. Auch Thüsing, G./Horler, S., „Besprechung des Urteils Kücükdeveci“, Common Market Law Review, 2010, S. 1171, sprechen sich für eine ausführlichere dogmatische Begründung dieses Ansatzes aus.


164 – Siehe Nr. 136 dieser Schlussanträge.


165 – Vgl. De Mol, M., a. a. O. (Fn. 50) , S. 305, die zutreffend davon ausgeht, dass der Gerichtshof bei seinem Ansatz den allgemeinen Rechtsgrundsatz weitgehend mit der Richtlinie gleichsetzt.


166 – Dies wird ebenfalls von Simon, D., a. a. O. (Fn. 153), Nr. 3, S. 4, Randnr. 7, beanstandet. Nach Auffassung des Autors wird bei diesem Ansatz weder die Tragweite des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung noch seiner Konkretisierung und auch nicht der Richtlinie selbst klar definiert.


167 – In diesem Sinne Fischinger, P., a. a. O. (Fn. 34), S. 207.


168 – Vgl. Fischinger, P., a. a. O. (Fn. 34), S. 207, nach dessen Ansicht der Ansatz im Urteil Kücükdeveci auf nationaler Ebene dem Versuch gleichkäme, vom Inhalt eines Gesetzes auf den Schutzbereich eines verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechts zu schließen.


169 – Vgl. Mörsdorf, O., „Diskriminierung jüngerer Arbeitnehmer – Unanwendbarkeit von § 622 II2 BGB wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht“, Neue Juristische Wochenschrift, 2010, S. 1048, der bemerkt, dass der Gerichtshof im Urteil Kücükdeveci als Prüfungsmaßstab für die Unionsrechtskonformität des nationalen Rechts – trotz gegenteiliger Beteuerungen – nicht den abstrakten primärrechtlichen Rechtssatz (d. h. den allgemeinen Rechtsgrundsatz), sondern die Richtlinie heranzieht, die detaillierte Regelungen enthält. Nach Ansicht von Fischinger, P., a. a. O. (Fn. 34), S. 206, wird bei dem im Urteil Kücükdeveci angewandten Ansatz faktisch der Richtlinie der Tatbestand, die Rechtsfolge aber dem Primärrecht entnommen.


170 – Fischinger, P., a. a. O. (Fn. 34), S. 207, äußert die Vermutung, dass der Gerichtshof im Urteil Kücükdeveci sich eine Hintertür offengelassen hat, um auch in der Zukunft von Richtlinieninhalten auf den Gehalt neu erfundenen Primärrechts zu schließen.


171 – In diesem Sinne Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 137, Randnr. 453, der die Verwirklichung von sozialen Rechten auch von den finanziellen Möglichkeiten abhängig macht. Siehe Riesenhuber, K., a. a. O. (Fn. 50), S. 49 f., Randnr. 34, der auf die Entstehungsgeschichte des Titels IV („Solidarität“) verweist und dabei bemerkt, dass die Aufnahme von sozialen Grundrechten in die Charta im Konvent besonders umstritten war, da befürchtet wurde, dass die Anerkennung sozialer Rechte zu übermäßigen finanziellen Belastungen der Union und der Mitgliedstaaten führen würde. Für ihre Berücksichtigung sei hingegen die Unteilbarkeit politischer und sozialer Rechte ins Feld geführt worden ebenso wie die Tatsache, dass die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte bereits in Art. 136 Abs. 1 bzw. Art. 151 AEUV Berücksichtigung gefunden habe. Das Ergebnis sei ein Kompromiss gewesen, da zwar soziale Rechte aufgenommen, indes weithin nur schwach und nicht als echte Leistungsansprüche gestaltet worden seien. In vielen Fällen enthalte die Charta keine eigenständigen Gewährleistungen, sondern verweise für das „Ob“ und das „Wie“ des Schutzes auf das Unionsrecht und das mitgliedstaatliche Recht.


172 – Vgl. Frenz, W., a. a. O. (Fn. 37), S. 1059, Randnr. 3540, der zu erklären versucht, warum die Charta gerade im Bereich der sozialen Rechte unvollständig ist. Seiner Ansicht nach können soziale Rechte schwerlich vollständig sein. Zum einen wandeln sich die gesellschaftlichen Vorstellungen hinsichtlich dessen, was als „sozial“ anzusehen ist, zum anderen wird die Festlegung von sozialen Ansprüchen stets auf Kompromissen beruhen. Rengeling, H.-W./Szczekalla, P., a. a. O. (Fn. 45), S. 793, Randnr. 793, weisen zutreffend darauf hin, dass der Begriff „sozial“ in der Charta eher offenbleibt. Auch sei unklar, was genau mit der Überschrift „Solidarität“ in Titel IV der Charta gemeint sei.


173 – Siehe zu den Abweichungen und Ausnahmen im Einzelnen Blanpain, R., European Labour Law, 11. Aufl., Alphen aan den Rijn 2008, S. 586 f.


174 – Vgl. Bauer, J.‑H./von Medem, A., „Kücükdeveci = Mangold hoch zwei? Europäische Grundrechte verdrängen deutsches Arbeitsrecht“, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, Heft 11, 2010, S. 452.


175 – In diesem Sinne Bauer, J.‑H./von Medem, A., a. a. O. (Fn. 174), die sich gegen eine Anwendung des Ansatzes im Urteil Kücükdeveci im Fall der Arbeitnehmergrundrechte der Art. 27 ff. der Charta aufgrund der Unterschiede zwischen dieser Art von Grundrechten und den Diskriminierungsverboten aussprechen. Sie weisen darauf hin, dass zu vielen der in Titel IV („Solidarität“) der Charta angeführten Sachbereichen Richtlinien existieren, die nach herkömmlicher Lesart nicht in der Lage sind, entgegenstehendes nationales Recht in Streitigkeiten zwischen Privaten zu verdrängen. Die Autoren beziehen sich dabei ausdrücklich auch auf die Arbeitszeitrichtlinie, die beispielsweise das Recht auf bezahlten Jahresurlaub in Art. 31 Abs. 2 der Charta konkretisiert.


176 – Siehe im Zusammenhang mit den rechtsstaatlichen Prinzipien im Unionsrecht Nr. 96 dieser Schlussanträge. Vgl. Urteile vom 16. Juni 1993, Frankreich/Kommission (C‑325/91, Slg. 1993, I‑3286, Randnr. 26), und vom 16. Oktober 1997, Banque Indosuez u. a. (C‑177/96, Slg. 1997, I‑5659, Randnrn. 26 bis 31).


177 – Vgl. Urteile vom 7. Juni 2005, VEMW (C‑17/03, Slg. 2005, I‑4983, Randnr. 80), und vom 14. Januar 2010, Stadt Papenburg (C‑226/08, Slg. 2010, I‑131, Randnr. 45).


178 – Siehe Nrn. 61 bis 63 dieser Schlussanträge.


179 – Vgl. Avbelj, M., „Temeljna načela prava EU padajo na glavo“, Pravna praksa, 2010, Nr. 7, S. 34, der das Urteil Kücükdeveci kritisiert, da es seiner Meinung nach die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur fehlenden Horizontalwirkung von Richtlinien auf den Kopf stellen könnte. De Mol, M., a. a. O. (Fn. 50), S. 307, äußert Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit dieses Ansatzes, bei dem es um die Durchsetzung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes (Verbot der Altersdiskriminierung) geht, mit dem Gebot der Rechtssicherheit, das schließlich auch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz sei. Nach Ansicht der Autorin könnten sich Private nicht mehr auf nationales (geschriebenes) Recht verlassen. Stattdessen müssten sie die möglichen Wirkungen des (ungeschriebenen) allgemeinen Rechtsgrundsatzes berücksichtigen.


180 – In diesem Sinne Thüsing, G./Horler, S., a. a. O. (Fn. 163); Seifert, A., a. a. O. (Fn. 37).


181 – Urteil Kücükdeveci (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 53).


182 – Siehe Nr. 127 dieser Schlussanträge.


183 – Siehe Nr. 65 dieser Schlussanträge.


184 – Goffin, L., „À propos des principes régissant la responsabilité non contractuelle des États membres en cas de violation du droit communautaire“, Cahiers de droit européen, Nr. 5-6 (1997), S. 537 ff.; Lenaerts, K./Arts, D./Maselis, I., Procedural Law of the European Union, 2. Aufl., London 2006, Randnr. 3-042, S. 109; Knez, R., „Varstvo pravic posameznika, ki jih vsebuje pravo skupnosti“, Revizor, Nr. 4/5 (2003), Jahrgang 14, S. 105; Ossenbühl, F., Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., München 1998, S. 505 und Guichot, E., La responsabilidad extracontractual de los poderes públicos según el Derecho Comunitario, Valencia 2007, S. 473, 474, gehen von drei Voraussetzungen aus: (1) die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, (2) der Verstoß ist hinreichend qualifiziert, und (3) es besteht ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden. Vgl. u. a. Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du Pêcheur und Factortame (C‑46/93 und C‑48/93, Slg. 1996, I‑1029, Randnr. 51), vom 23. Mai 1996, Hedley Lomas (C‑5/94, Slg. 1996, I 2553, Randnr. 25), vom 4. Juli 2000, Haim (C‑424/97, Slg. 2000, I 5123, Randnr. 36), sowie vom 4. Dezember 2003, Evans (C‑63/01, Slg. 2003, I‑14447, Randnr. 83), und vom 25. Januar 2007, Robins u. a. (C‑278/05, Slg. 2007, I‑1053, Randnr. 69).


185 – Urteil vom 8. Oktober 1996, Dillenkofer u. a. (C‑178/94, C‑179/94, C‑188/94 bis C‑190/94, Slg. 1996, I‑4845, Randnr. 23).


186 – In diesem Sinne auch Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen vom 26. September 2000, Lindöpark (C‑150/99, Slg. 2001, I‑493, Nr. 51).


187 – Urteile Brasserie du Pêcheur und Factortame (oben in Fn. 184 angeführt, Randnr. 22), vom 26. März 1996, British Telecommunications (C‑392/93, Slg. 1996, I‑1631, Randnr. 41), sowie vom 18. Januar 2001, Lindöpark (C‑150/99, Slg. 2001, I‑493, Randnr. 38).


188 – Urteil Brasserie du Pêcheur und Factortame (oben in Fn. 184 angeführt, Randnr. 25).


189 – Siehe Nr. 52 dieser Schlussanträge.


190 – Urteil Merino Gómez (oben in Fn. 11 angeführt).


191 – Ebd. (Randnr. 31).


192 – Urteil Schultz-Hoff u. a. (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 27).


193 – Siehe Randnr. 53 des Schriftsatzes der französischen Regierung.


194 – Vgl. Urteile vom 6. April 2006, Federatie Nederlandse Vakbeweging (C‑124/05, Slg. 2006, I‑3243, Randnr. 30), und Schultz-Hoff u. a. (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 30).