URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
28. Oktober 1999 (1)
„Fernsehsendungen Beschränkung der Sendezeit für Werbung“
In der Rechtssache C-6/98
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234
EG) vom Oberlandesgericht Stuttgart (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen
Rechtsstreit
Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rundfunkanstalten (ARD)
gegen
Pro Sieben Media AG,
Streithelferinnen:
SAT 1 Satellitenfernsehen GmbH,
Kabel 1, K 1 Fernsehen GmbH,
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 11
Absatz 3 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur
Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten
über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (ABl. L 298, S. 23) in der Fassung der
Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997
(ABl. L 202, S. 60)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer R. Schintgen in
Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der
Richter P. J. G. Kapteyn (Berichterstatter) und H. Ragnemalm,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rundfunkanstalten (ARD), vertreten
durch Rechtsanwalt W. Keßler, Stuttgart,
der Pro Sieben Media AG, vertreten durch Rechtsanwalt H.-J. Rabe,
Brüssel,
der Kabel 1, K 1 Fernsehen GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt
T. Jestaedt, Brüssel,
des Großherzogtums Luxemburg, vertreten durch N. Schmit, Direktor für
internationale wirtschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit im
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
der niederländische Regierung, vertreten durch J. G. Lammers,
stellvertretender Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Fernandes, Leiter des
Juristischen Dienstes der Generaldirektion für die Europäischen
Gemeinschaften des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und
durch P. Borges, Jurist in der Generaldirektion für die Europäischen
Gemeinschaften dieses Ministeriums, als Bevollmächtigte,
der schwedischen Regierung, vertreten durch E. Brattgård,
Departementsråd im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als
Bevollmächtigten,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch D. Cooper,
Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Barrister
R. Thompson,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Rechtsberater J. Sack als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Arbeitsgemeinschaft Deutscher
Rundfunkanstalten (ARD), vertreten durch W. Keßler, der Pro Sieben Media AG,
vertreten durch H.-J. Rabe, der Kabel 1, K 1 Fernsehen GmbH, vertreten durch
T. Jestaedt, der französischen Regierung, vertreten durch A. Maitrepierre, Chargé
de mission in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigte, der italienischen Regierung, vertreten durch
Avvocato dello Stato F. Quadri, der Regierung des Vereinigten Königreichs,
vertreten durch Barrister J. Eadie, und der Kommission, vertreten durch J. Sack,
in der Sitzung vom 22. April 1999,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Juni
1999,
folgendes
Urteil
- 1.
- Das Oberlandesgericht Stuttgart hat dem Gerichtshof mit Beschluß vom 17.
Dezember 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 1998, gemäß Artikel
177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung des
Artikels 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989
zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit (ABl. L 298, S. 23) in der
Fassung der Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
30. Juni 1997 (ABl. L 202, S. 60) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen den in der
Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rundfunkanstalten (ARD) zusammengeschlossenen
elf öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten (Kläger) und der Pro Sieben
Media AG (Beklagte), die die SAT 1 Satellitenfernsehen GmbH und die Kabel 1,
K 1 Fernsehen GmbH (SAT 1 und Kabel 1) als Streithelferinnen unterstützen.
- 3.
- Die Kläger sind gemeinsam für das Fernsehprogramm der ARD verantwortlich.
Die Beklagte und die Streithelferinnen sind private Fernsehveranstalter.
Rechtlicher Rahmen
Die Richtlinie 89/552 in der Fassung der Richtlinie 97/36
- 4.
- Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können Fernsehveranstalter, die ihrer Rechtshoheit
unterworfen sind, verpflichten, strengeren oder ausführlicheren Bestimmungen in
den von dieser Richtlinie erfaßten Bereichen nachzukommen.“
- 5.
- Nach Artikel 11 Absatz 1 der Richtlinie 89/552 muß Fernsehwerbung grundsätzlich
zwischen den Sendungen eingefügt werden. Sie kann auch in die laufenden
Sendungen eingefügt werden, sofern sie „den Zusammenhang und den Wert der
Sendungen nicht beeinträchtig[t] wobei die natürlichen
Programmunterbrechungen und die Länge und Art des Programms zu
berücksichtigen sind und sofern nicht gegen die Rechte von Rechtsinhabern
verstoßen wird“.
- 6.
- Nach Artikel 11 Absatz 2 der Richtlinie 89/552 kann die Werbung bei Sendungen,
die aus eigenständigen Teilen bestehen, z. B. bei Fernsehübertragungen von
Sportereignissen, nur zwischen die eigenständigen Teile oder in die Pausen
eingefügt werden.
- 7.
- Artikel 11 Absatz 3 dieser Richtlinie bestimmt:
„Die Übertragung audiovisueller Werke wie Kinospielfilme und Fernsehfilme (mit
Ausnahme von Serien, Reihen, leichten Unterhaltungssendungen und
Dokumentarfilmen) kann für jeden vollen Zeitraum von 45 Minuten einmal
unterbrochen werden, sofern ihre programmierte Sendezeit mehr als 45 Minuten
beträgt. Eine weitere Unterbrechung ist zulässig, wenn die programmierte
Sendedauer um mindestens 20 Minuten über zwei oder mehrere volle
45-Minuten-Zeiträume hinausgeht.“
- 8.
- Artikel 20 der Richtlinie 89/552 bestimmt:
„Unbeschadet des Artikels 3 können die Mitgliedstaaten für Sendungen, die
ausschließlich für ihr eigenes Hoheitsgebiet bestimmt sind und weder unmittelbar
noch mittelbar in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten öffentlich
empfangen werden können, unter Einhaltung des Gemeinschaftsrechts andere als
die in Artikel 11 Absätze 2 bis 5 und in den Artikeln 18 und 18a festgelegten
Bedingungen vorsehen.“
Das Europäische Fernsehübereinkommen
- 9.
- Artikel 14 Absatz 3 des Europäischen Übereinkommens vom 5. Mai 1989 über das
grenzüberschreitende Fernsehen (im folgenden: Übereinkommen) lautet in den
verbindlichen englischen und französischen Sprachfassungen wie folgt:
Englische Fassung
„3. The transmission of audiovisual works such as feature films and films made
for television (excluding series, serials, light entertainment programmes and
documentaries), provided their duration is more than forty-five minutes, may be
interrupted once for each complete period of forty-five minutes. A further
interruption is allowed if their duration is at least twenty minutes longer than two
or more complete periods of forty-five minutes.“
Französische Fassung
„3. La transmission d'oeuvres audiovisuelles telles que les longs métrages
cinématographiques et les films conçus pour la télévision (à l'exclusion des séries,
des feuilletons, des émissions de divertissement et des documentaires), à condition
que leur durée soit supérieure à quarante-cinq minutes, peut être interrompue une
fois par tranche de quarante-cinq minutes. Une autre interruption est autorisée si
leur durée est supérieure d'au moins vingt minutes à deux ou plusieurs tranches
complètes de quarante-cinq minutes.“
Das deutsche Recht
- 10.
- Nach dem Grundgesetz haben die Länder die Gesetzgebungsbefugnis für Hörfunk
und Fernsehen. Gemäß dem Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinigten
Deutschland vom 31. August 1991 (im folgenden: RfStV) dürfen die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in ihren Fernsehprogrammen höchstens 20 Minuten
Werbung pro Werktag ausstrahlen. Private Fernsehveranstalter dürfen bis zu 20 %
der täglichen Sendezeit der Werbung vorbehalten, davon 15 % für Werbespots.
- 11.
- § 26 Absatz 4 RfStV bestimmt:
„Abweichend von Absatz 3 Satz 2 dürfen Werke wie Kinospielfilme und
Fernsehfilme mit Ausnahme von Serien, Reihen, leichten Unterhaltungssendungen
und Dokumentarsendungen, sofern sie länger als 45 Minuten dauern, nur einmal
je vollständigem 45-Minutenzeitraum unterbrochen werden. Eine weitere
Unterbrechung ist zulässig, wenn diese Sendungen mindestens 20 Minuten länger
dauern als zwei oder mehr vollständige 45-Minutenzeiträume.“
- 12.
- Die gleiche Bestimmung enthält § 44 Absatz 4 des Dritten Staatsvertrags zur
Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge, der am 1. Januar 1997 in Kraft trat.
- 13.
- Mit Schreiben vom 7. April 1992 teilte die deutsche Regierung der Kommission
mit, daß sie die Richtlinie 89/552 umgesetzt habe, und übermittelte ihr den
Rundfunkstaatsvertrag von 1991.
Sachverhalt und Vorabentscheidungsfragen
- 14.
- Nach den Prozeßakten geht es im Ausgangsverfahren um die Berechnung der nach
§ 26 Absatz 4 RfStV zulässigen Zahl von Werbeunterbrechungen bei
Kinospielfilmen, die von privaten Fernsehveranstaltern ausgestrahlt werden. Hierzu
werden zwei Auslegungen vertreten, die im allgemeinen als Bruttoprinzip und
Nettoprinzip bezeichnet werden.
- 15.
- Nach dem von der Beklagten und den Streithelferinnen befürworteten
Bruttoprinzip ist in den Zeitraum, für den die zulässige Zahl der Unterbrechungen
berechnet wird, die Dauer der Werbung einzubeziehen. Nach dem von den Klägern
befürworteten Nettoprinzip darf nur die Dauer der Werke selbst einbezogen
werden. Die Anwendung des Bruttoprinzips erlaubt unter bestimmten Umständen
mehr Werbeunterbrechungen als die des Nettoprinzips.
- 16.
- Mit Urteil vom 10. Oktober 1996 gab das Landgericht Stuttgart der Beklagten auf,
es zu unterlassen, die Ausstrahlung von audiovisuellen Werken wie Kinospielfilmen
und Fernsehfilmen, die bei Berechnung unter Ausschluß zwischengeschalteter
Werbezeiten (Nettoprinzip) nicht länger als 45 Minuten dauern, durch Werbung
zu unterbrechen oder längere audiovisuelle Werke bei Berechnung nach dem
Nettoprinzip öfter als einmal je vollständigem 45-Minuten-Zeitraum durch
Werbung zu unterbrechen. Eine weitere Unterbrechung sei zulässig, wenn die
Sendung bei Berechnung nach dem Nettoprinzip mindestens 20 Minuten länger
dauere als zwei oder mehr vollständige 45-Minuten-Zeiträume.
- 17.
- Die Beklagte legte gegen diese Entscheidung Berufung beim Oberlandesgericht ein
und machte geltend, selbst wenn nach dem deutschen Recht das Nettoprinzip
gelten sollte, stehe dies im Widerspruch zur Richtlinie 89/552 und zum primären
Gemeinschaftsrecht.
- 18.
- Das vorlegende Gericht neigt zwar bezüglich der Auslegung des nationalen Rechts
der Auffassung des Landgerichts Stuttgart zu, ist aber der Ansicht, daß der
Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie 89/552 abhänge.
- 19.
- Das Oberlandesgericht Stuttgart hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Schreibt Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 97/36/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997 zur Änderung der Richtlinie
89/552/EWG (Fernsehänderungsrichtlinie) bzw. der wortgleiche Artikel 11
Absatz 3 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung
bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Ausübung der Fernsehtätigkeit vom 3. Oktober 1989 (Fernsehrichtlinie)
das Brutto- oder Nettoprinzip vor?
2. Unterstellt, § 44 Absatz 4 des Dritten Staatsvertrags zur Änderung
rundfunkrechtlicher Staatsverträge schreibt das Nettoprinzip vor, ist dies
dann mit Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der
Fernsehrichtlinie bzw. primärem Gemeinschaftsrecht (Artikel 5, 6, 30 ff.,
59 ff., 85 ff. EG-Vertrag, allgemeiner Gleichheitssatz) vereinbar?
Erste Frage
- 20.
- Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, obArtikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in der Fassung der Richtlinie 97/36 das
Brutto- oder das Nettoprinzip vorsieht.
- 21.
- Nach Auffassung der Kläger, der französischen, der niederländischen und der
portugiesischen Regierung bezieht sich Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552
in ihrer geänderten Fassung auf das Nettoprinzip. Dagegen meint die Beklagte,
unterstützt durch die Streithelferinnen sowie die italienische und die
luxemburgische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die
Kommission, daß sich diese Vorschrift auf das Bruttoprinzip beziehe.
- 22.
- Für ihre jeweiligen Auffassungen haben die Beteiligten des Ausgangsverfahrens, die
Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, und die
Kommission Argumente angeführt, die auf den Wortlaut des Artikels 11 Absatz 3
der Richtlinie 89/552 in ihrer deutschen, ihrer englischen und ihrer französischen
Fassung, auf Artikel 14 Absatz 3 des Übereinkommens, auf die Systematik und den
Sinn und Zweck der Richtlinie 89/552 sowie auf die Entstehungsgeschichte dieser
Richtlinie und der Richtlinie 97/36 gestützt sind.
- 23.
- Wie der Generalanwalt in den Nummern 18 bis 25 seiner Schlußanträge festgestellt
hat, lassen die auf den Wortlaut des Artikels 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in
ihrer geänderten Fassung gestützten Argumente keinen eindeutigen Schluß darauf
zu, ob diese Vorschrift das Brutto- oder das Nettoprinzip vorschreibt.
- 24.
- Artikel 14 Absatz 3 des Übereinkommens unterscheidet sich von Artikel 11 Absatz
3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung nur darin, daß er vom
„[D]auern“ („durée“ bzw. „duration“) der audiovisuellen Werke spricht, nicht, wie
Artikel 11 Absatz 3, von ihrer „programmierte[n] Sendezeit“ („durée programmée“
bzw. „scheduled duration“). Wie der Generalanwalt in Nummer 29 seiner
Schlußanträge angeführt hat, kann diese Abweichung unterschiedlich ausgelegt
werden.
- 25.
- Aus den in den Nummern 31 bis 36 der Schlußanträge des Generalanwalts
genannten Gründen lassen sich aus der Erklärung des Rates und der Kommission
im Sitzungsprotokoll des Rates vom 3. Oktober 1989 und aus dem Vorschlag des
Europäischen Parlaments vom 14. Februar 1996 betreffend die Richtlinie 97/36
keine überzeugenden Argumente für die Beantwortung der Frage herleiten, ob
Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung das Brutto-
oder das Nettoprinzip vorschreibt.
- 26.
- Somit ist festzustellen, daß Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer
geänderten Fassung mehrdeutig ist.
- 27.
- Ist der Wortlaut einer Gemeinschaftsvorschrift in ihren verschiedenen sprachlichen
Fassungen im Lichte der Entstehungsgeschichte der Vorschrift und der Materialien,
auf die die Parteien sich in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen
gestützt haben, so widersprüchlich und mehrdeutig, daß sich ihm keine Antwort auf
die Frage nach seiner Bedeutung entnehmen läßt, so ist für seine Auslegung auf
den Zusammenhang der Vorschrift und auf das mit der Regelung verfolgte Ziel
abzustellen (Urteil vom 7. Februar 1979 in der Rechtssache 11/76,
Niederlande/Kommission, Slg. 1979, 245, Randnr. 6).
- 28.
- Wie der Gerichtshof in den Urteilen vom 9. Februar 1995 in der Rechtssache
C-412/93 (Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179, Randnr. 28) und vom 9. Juli 1997 in den
Rechtssachen C-34/95 bis C-36/95 (De Agostini und TV-Shop, Slg. 1997, I-3843,
Randnr. 3) festgestellt hat, besteht das Hauptziel der Richtlinie, die auf der
Grundlage der Artikel 57 Absatz 2 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 47
Absatz 2 EG) und 66 EG-Vertrag (jetzt Artikel 55 EG) erlassen worden ist, darin,
die freie Ausstrahlung von Fernsehsendungen sicherzustellen.
- 29.
- Eine Vorschrift, die im Bereich der Dienstleistungen eine die Ausübung einer
grundlegenden Freiheit betreffende Tätigkeit wie die freie Ausstrahlung von
Fernsehsendungen einer Beschränkung unterwirft, muß diese Beschränkung klar
zum Ausdruck bringen.
- 30.
- Unterwirft eine Bestimmung der Richtlinie 89/552 die Ausstrahlung und
Verbreitung von Fernsehsendungen einer Beschränkung, ohne daß der
Gemeinschaftsgesetzgeber die Beschränkung klar und eindeutig formuliert hat, ist
sie somit eng auszulegen.
- 31.
- Da Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung die
Möglichkeit beschränkt, die Übertragung audiovisueller Werke durch Werbung zu
unterbrechen, ist diese Beschränkung möglichst eng auszulegen.
- 32.
- Das Bruttoprinzip erlaubt eine größere Zahl von Werbeunterbrechungen als das
Nettoprinzip.
- 33.
- Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie
89/552 in der Fassung der Richtlinie 97/36 das Bruttoprinzip vorsieht, daß also bei
der Berechnung des 45-Minuten-Zeitraums zum Zweck der Festlegung der
zulässigen Zahl von Werbeunterbrechungen bei der Übertragung audiovisueller
Werke wie Kinospielfilme und Fernsehfilme die Werbedauer in den genannten
Zeitraum einzubeziehen ist.
Zweite Frage
Erster Teil der zweiten Frage
- 34.
- Mit dem ersten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen,
ob Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 89/552
in der Fassung der Richtlinie 97/36 den Mitgliedstaaten erlaubt, das Nettoprinzip
vorzuschreiben.
- 35.
- Nach Auffassung der Beklagten ergibt sich aus der Systematik und dem Sinn und
Zweck der Richtlinie 89/552, daß Artikel 3 Absatz 1 eng auszulegen sei.
Insbesondere könne sich die in dieser Vorschrift vorgesehene Befugnis der
Mitgliedstaaten, strengere oder ausführlichere Bestimmungen zu erlassen, nicht auf
Artikel 11 der Richtlinie 89/552 beziehen.
- 36.
- Für Fernsehwerbung, die nach Artikel 11 Absatz 1 unter den in den Absätzen 2 bis
5 genannten Voraussetzungen in die laufenden Sendungen eingefügt werden könne,
könnten die Mitgliedstaaten keine anderen Bedingungen vorsehen als diejenigen,
die in Artikel 20 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung genannt seien.
Die in Artikel 20 vorgesehene Abweichung könne die Anwendung des
Nettoprinzips aber nicht rechtfertigen, da sie nur für Sendungen gelte, die
ausschließlich für das eigene Hoheitsgebiet bestimmt seien und weder unmittelbar
noch mittelbar in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten empfangen
werden könnten.
- 37.
- Artikel 20 der Richtlinie 89/552 gilt bereits nach seinem Wortlaut „unbeschadet des
Artikels 3“ der Richtlinie.
- 38.
- Sodann würde die von der Beklagten befürwortete Auslegung dazu führen, daß
Artikel 3 Absatz 1 als allgemeine Vorschrift in einem von der Richtlinie 89/552 in
ihrer geänderten Fassung erfaßten wesentlichen Bereich seine Bedeutung verlöre.
- 39.
- Weder aus den Begründungserwägungen noch aus dem Ziel der Richtlinie 89/552
ergibt sich aber, daß Artikel 20 den Mitgliedstaaten die ihnen in Artikel 3 Absatz
1 der Richtlinie eingeräumte Befugnis nehmen soll.
- 40.
- Die 27. Begründungserwägung der Richtlinie 89/552 bezieht sich nämlich allgemein
und ohne Beschränkung auf die in Artikel 20 genannten Umstände auf das Recht
der Mitgliedstaaten, ausführlichere oder strengere Bestimmungen als die
Mindestnormen und Kriterien einzuführen, denen die Fernsehwerbung nach der
Richtlinie unterworfen ist.
- 41.
- Dagegen wird die Befugnis der Mitgliedstaaten nach Artikel 20 der Richtlinie
89/552 von der 28. Begründungserwägung erfaßt, da diese sich auf das Recht der
Mitgliedstaaten bezieht, in bezug auf Sendungen, die ausschließlich für ihr eigenes
Hoheitsgebiet bestimmt sind und weder unmittelbar noch mittelbar in einem oder
mehreren anderen Mitgliedstaaten empfangen werden können, andere Bedingungen
für die Plazierung der Werbung und andere Grenzen für den Umfang der Werbung
vorzusehen, um diese Art von Sendungen zu erleichtern.
- 42.
- Schließlich wird die Erreichung des Zieles der Richtlinie 89/552, die freie
Ausstrahlung von Fernsehsendungen entsprechend den in der Richtlinie
vorgesehenen Mindestnormen zu gewährleisten, nicht gefährdet, wenn die
Mitgliedstaaten die Werbung strengeren Bestimmungen unterwerfen.
- 43.
- Somit ist zu antworten, daß Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz
1 der Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung den Mitgliedstaaten erlaubt, für
die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Fernsehveranstalter das Nettoprinzip für
Werbung vorzusehen, die in die laufenden Sendungen eingefügt werden kann,
mithin zu bestimmen, daß bei der Berechnung des fraglichen Zeitraums die
Werbedauer nicht einbezogen werden darf, wobei diese Vorschriften mit sonstigen
einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vereinbar sein müssen.
Zweiter Teil der zweiten Frage
- 44.
- Mit dem zweiten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen,
ob es den Mitgliedstaaten nach den Artikeln 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG),
6, 30, 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 12 EG, 28 EG und 49 EG) und
85 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 EG) sowie nach dem allgemeinen
Gleichbehandlungsgrundsatz verwehrt ist, gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie
89/552 die Anwendung des Nettoprinzips vorzuschreiben.
Artikel 30 EG-Vertrag
- 45.
- Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß eine Regelung, die in einem
bestimmten Bereich Fernsehwerbung untersagt, die Verkaufsmodalitäten betrifft,
da sie eine bestimmte Form der Förderung einer bestimmten Methode des
Absatzes von Erzeugnissen verbietet (Urteil Leclerc-Siplec, Randnr. 22).
- 46.
- Da die im Ausgangsverfahren streitige Einschränkung von Werbung ähnlich geartet,
aber weniger weitgehend ist, betrifft sie ebenfalls Verkaufsmodalitäten.
- 47.
- In seinem Urteil vom 24. November 1993 in den Rechtssachen C-267/91 und C-268/91 (Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097, Randnr. 16) hat der Gerichtshof
festgestellt, daß nationale Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten
beschränken oder verbieten, nicht unter Artikel 30 EG-Vertrag fallen, sofern diese
Bestimmungen für alle Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland
ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der
Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen
Weise berühren.
- 48.
- Diese beiden Voraussetzungen werden von einer Regelung über Fernsehwerbung
wie der des Ausgangsverfahrens offenkundig erfüllt.
Artikel 59 EG-Vertrag
- 49.
- Eine von einem Mitgliedstaat aufgrund der Befugnis nach Artikel 3 Absatz 1 der
Richtlinie 89/552 in ihrer geänderten Fassung erlassene nationale Regelung, die das
Nettoprinzip vorschreibt, beschränkt den freien Dienstleistungsverkehr des Artikels
59 EG-Vertrag, da sie für die im Sendestaat niedergelassenen Fernsehveranstalter
die Möglichkeit einschränkt, Werbung für in anderen Mitgliedstaaten
niedergelassene Werbetreibende auszustrahlen.
- 50.
- Jedoch stellen der Schutz der Verbraucher gegen ein Übermaß an geschäftlicher
Werbung bzw. die Erhaltung einer bestimmten Programmqualität im Rahmen der
Kulturpolitik zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Beschränkungen
des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen können (vgl. insbesondere Urteil
vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-288/89, Collectieve Antennevoorziening
Gouda, Slg. 1991, I-4007, Randnr. 27).
- 51.
- Dabei muß die in Rede stehende Beschränkung verhältnismäßig sein; die
Anforderungen an Dienstleistungserbringer müssen nach ständiger Rechtsprechung
geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen angestrebten Zieles zu
gewährleisten, und dürfen nicht über das zur Erreichung dieses Zieles Erforderliche
hinausgehen (vgl. insbesondere Urteil Collectieve Antennevoorziening Gouda,
Randnr. 15, und Urteil vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-384/93, Alpine
Investments, Slg. 1995, I-1141, Randnr. 45).
- 52.
- Den Akten läßt sich kein Hinweis darauf entnehmen, daß diese Voraussetzungen
im Ausgangsverfahren nicht erfüllt wären.
Artikel 5, 6 und 85 EG-Vertrag sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz
- 53.
- Wie der Generalanwalt in den Nummern 83 bis 85 seiner Schlußanträge festgestellt
hat, sind die Artikel 5, 6 und 85 EG-Vertrag sowie der Gleichbehandlungsgrundsatz
in dem vom vorlegenden Gericht geschilderten Fall nicht einschlägig.
- 54.
- Nach alledem finden die Artikel 5, 6, 30 und 85 EG-Vertrag sowie der allgemeine
Gleichbehandlungsgrundsatz keine Anwendung auf eine nationale Regelung, die die
Anwendung des Nettoprinzips auf die Fernsehveranstalter vorsieht, die der
Rechtshoheit des betreffenden Mitgliedstaats unterworfen sind. Nach Artikel 59
EG-Vertrag ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, gemäß Artikel 3 Absatz 1 derRichtlinie 89/552 die Anwendung des Nettoprinzips vorzusehen.
Kosten
- 55.
- Die Auslagen der französischen, der italienischen, der luxemburgischen, der
niederländischen, der portugiesischen und der schwedischen Regierung, der
Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei
dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom Oberlandesgericht Stuttgart mit Beschluß vom 17. Dezember 1997
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 89/552 des Rates vom 3. Oktober 1989
zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit in der Fassung der
Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.
Juni 1997 sieht das Bruttoprinzip vor. Bei der Berechnung des 45-Minuten-Zeitraums zum Zweck der Festlegung der zulässigen Zahl von
Werbeunterbrechungen bei der Übertragung audiovisueller Werke wie
Kinospielfilme und Fernsehfilme ist also die Werbedauer in den genannten
Zeitraum einzubeziehen.
2. Artikel 11 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie
89/552 in ihrer geänderten Fassung erlaubt den Mitgliedstaaten, für die
ihrer Rechtshoheit unterworfenen Fernsehveranstalter das Nettoprinzip für
Werbung vorzusehen, die in die laufenden Sendungen eingefügt werden
kann, mithin zu bestimmen, daß bei der Berechnung des fraglichen
Zeitraums die Werbedauer nicht einbezogen werden darf, wobei diese
Vorschriften mit sonstigen einschlägigen Bestimmungen des
Gemeinschaftsrechts vereinbar sein müssen.
Die Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG), 6, 30 EG-Vertrag (nach
Änderung jetzt Artikel 12 EG und 28 EG) und 85 EG-Vertrag (jetzt Artikel
81 EG) sowie der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz finden keine
Anwendung auf eine nationale Regelung, die die Anwendung des
Nettoprinzips auf die Fernsehveranstalter vorsieht, die der Rechtshoheit des
betreffenden Mitgliedstaats unterworfen sind.
Nach Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) ist es
einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie
89/552 die Anwendung des Nettoprinzips vorzusehen.
SchintgenKapteyn
Ragnemalm
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. Oktober 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
J. C. Moitinho de Almeida