Language of document : ECLI:EU:C:2018:308

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

8. Mai 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrolle, Asyl, Einwanderung – Art. 20 AEUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 und 24 – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 und 11 – Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde – Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, der nie von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Weigerung, den Antrag zu prüfen“

In der Rechtssache C‑82/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) mit Entscheidung vom 8. Februar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Februar 2016, in den Verfahren

K.A.,

M.Z.,

M.J.,

N.N.N.,

O.I.O.,

R.I.,

B.A.

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und C. Vajda, der Richter J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, S. Rodin, F. Biltgen und C. Lycourgos (Berichterstatter),

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Februar 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von K.A., M.Z. und B.A., vertreten durch J. De Lien, advocaat,

–        von M.J., vertreten durch W. Goossens, advocaat,

–        von N.N.N., vertreten durch B. Brijs, advocaat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von C. Decordier, D. Matray und T. Bricout, advocaten,

–        der hellenischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, C. Cattabriga und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. Oktober 2017

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV, der Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von sieben Rechtsstreitigkeiten zwischen K.A., M.Z., M.J., N.N.N., O.I.O., R.I. und B.A. auf der einen Seite und dem Gemachtigde van de staatssecretaris voor Asiel en Migratie, Maatschappelijke Integratie en Armoedebestrijding (Beauftragter des für Asyl und Migration, soziale Integration und Armutsbekämpfung zuständigen Staatssekretärs, im Folgenden: zuständige nationale Behörde) auf der anderen Seite wegen der von Letzterem getroffenen Entscheidungen, die jeweiligen Anträge der Erstgenannten auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung nicht zu bearbeiten und ihnen je nach Fall die Anweisung zu erteilen, das Staatsgebiet zu verlassen, oder ihnen aufzugeben, einer Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, nachzukommen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 2 und 6 der Richtlinie 2008/115 lauten:

„(2)      Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.


(6)      Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. Wenn die Mitgliedstaaten Standardformulare für Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr (nämlich Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung) verwenden, sollten sie diesen Grundsatz wahren und alle anwendbaren Bestimmungen dieser Richtlinie strikt beachten.“

4        Art. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des [Unions‑] und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

5        Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.“

6        In Art. 3 der Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.      ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

–        deren Herkunftsland oder

–        ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

–        ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.      ,Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat;

6.      ‚Einreiseverbot‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht;

…“

7        Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)      das Wohl des Kindes,

b)      die familiären Bindungen,

c)      den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

8        Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

…“

9        Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie hat folgenden Wortlaut:

„Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“

10      Art. 11 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,

a)      falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

b)      falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.

In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.

(2)      Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

(3)      Die Mitgliedstaaten prüfen die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots, wenn Drittstaatsangehörige, gegen die ein Einreiseverbot nach Absatz 1 Unterabsatz 2 verhängt wurde, nachweisen können, dass sie das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen haben.

Gegen Opfer des Menschenhandels, denen nach Maßgabe der Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren [(ABl. 2004, L 261, S. 19),] ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, wird unbeschadet des Absatzes 1 Unterabsatz 1 Buchstabe b kein Einreiseverbot verhängt, sofern die betreffenden Drittstaatsangehörigen keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellen.

Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder ein Einreiseverbot aufheben oder aussetzen.

Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen oder bestimmten Kategorien von Fällen ein Einreiseverbot aus sonstigen Gründen aufheben oder aussetzen.

…“

 Belgisches Recht

11      Art. 7 Abs. 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern (Belgisches Staatsblatt vom 31. Dezember 1980, S. 14584) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) bestimmt:

„Unbeschadet günstigerer Bestimmungen eines internationalen Vertrags kann der Minister oder sein Beauftragter den Ausländer, dem es weder erlaubt noch gestattet ist, sich länger als drei Monate im Königreich aufzuhalten oder sich dort niederzulassen, anweisen, das Staatsgebiet binnen einer bestimmten Frist zu verlassen, oder muss ihm in den in Nr. 1, 2, 5, 11 oder 12 erwähnten Fällen eine an eine bestimmte Frist gebundene Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, ausstellen:

12.      wenn gegen den Ausländer ein Einreiseverbot verhängt worden ist, das weder ausgesetzt noch aufgehoben ist.

…“

12      Art. 40bis § 2 des Gesetzes sieht vor:

„Folgende Personen werden als Familienmitglieder eines Unionsbürgers betrachtet:

1.      sein Ehepartner oder der Ausländer, mit dem er eine registrierte Partnerschaft führt, die in Belgien einer Ehe gleichgesetzt ist, und der ihn begleitet oder ihm nachkommt,

2.      der Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger durch eine einem Gesetz entsprechend registrierte Partnerschaft verbunden ist und der ihn begleitet oder ihm nachkommt.

Die Lebenspartner müssen folgende Bedingungen erfüllen:

a)      belegen, dass sie eine ordnungsgemäß nachgewiesene dauerhafte und stabile Beziehung führen.

Der dauerhafte und stabile Charakter dieser Beziehung ist erwiesen:

–        wenn die Partner nachweisen, dass sie ununterbrochen während mindestens eines Jahres vor dem Antrag in Belgien oder in einem anderen Land zusammengewohnt haben,

–        wenn die Partner nachweisen, dass sie sich seit mindestens zwei Jahren vor Einreichung des Antrags kennen …,

–        wenn die Partner ein gemeinsames Kind haben,

b)      eine gemeinsame Wohnung beziehen,

c)      beide älter als einundzwanzig Jahre sein,

d)      ledig sein und keine dauerhafte und stabile Beziehung mit einer anderen Person führen,

3.      seine Verwandten in absteigender Linie und diejenigen seines Ehepartners beziehungsweise des in Nr. 1 oder 2 erwähnten Lebenspartners, die jünger als einundzwanzig Jahre oder zu ihren Lasten sind und die sie begleiten oder ihnen nachkommen …,

5.      der Vater/die Mutter eines in Artikel 40 § 4 Absatz 1 Nr. 2 erwähnten minderjährigen Unionsbürgers, sofern Letzterer zu Lasten des Vaters/der Mutter ist und er/sie tatsächlich das Sorgerecht hat.“

13      Art. 40ter des Gesetzes bestimmt:

„Die Bestimmungen des vorliegenden Kapitels finden Anwendung auf Familienmitglieder eines Belgiers, sofern es sich um:

–        in Artikel 40bis § 2 Absatz 1 Nr. 1 bis 3 erwähnte Familienmitglieder handelt, die den Belgier begleiten oder ihm nachkommen,

–        in Artikel 40bis § 2 Absatz 1 Nr. 4 erwähnte Familienmitglieder handelt, die Eltern eines minderjährigen Belgiers sind, ihre Identität durch ein Identitätsdokument nachweisen und den Belgier begleiten oder ihm nachkommen.

In Bezug auf die in Artikel 40bis § 2 Absatz 1 Nr. 1 bis 3 erwähnten Familienmitglieder müssen die betreffenden belgischen Staatsangehörigen nachweisen, dass:

–        sie über stabile, genügende und regelmäßige Existenzmittel verfügen. …

–        sie über angemessene Unterkunftsmöglichkeiten verfügen, um das Mitglied/die Mitglieder ihrer Familie aufzunehmen, die ihnen nachkommen möchten …“

14      In Art. 43 des Gesetzes, der gemäß dessen Art. 40ter auch auf Familienmitglieder eines belgischen Staatsangehörigen Anwendung findet, heißt es:

„Die Einreise und der Aufenthalt dürfen Unionsbürgern und ihren Familienmitgliedern nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit oder der Volksgesundheit verweigert werden, und dies unter Beachtung nachstehender Einschränkungen:

1.      Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

2.      Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betreffenden ausschlaggebend sein. Vorherige strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen. Das persönliche Verhalten des Betreffenden muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

Wenn der Minister oder sein Beauftragter dem Aufenthalt eines Unionsbürgers oder eines Mitglieds seiner Familie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit oder der Volksgesundheit ein Ende setzen möchte, berücksichtigt er die Dauer des Aufenthalts des Betreffenden im Königreich, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Eingliederung und das Maß, in dem er mit seinem Herkunftsland verbunden ist.“

15      Art. 74/11 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt:

„§ 1 –      Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt.

Entfernungsbeschlüsse gehen in folgenden Fällen mit einem Einreiseverbot von maximal drei Jahren einher:

1.      falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

2.      falls ein früherer Entfernungsbeschluss nicht ausgeführt worden ist.

Die in Absatz 2 vorgesehene Frist von maximal drei Jahren wird auf maximal fünf Jahre angehoben, wenn:

1.      der betreffende Drittstaatsangehörige einen Betrug begangen oder andere illegale Mittel in Anspruch genommen hat, damit ihm der Aufenthalt gestattet wird oder er sein Aufenthaltsrecht behält,

2.      der betreffende Drittstaatsangehörige eine Ehe oder Partnerschaft eingegangen ist beziehungsweise eine Adoption vorgenommen hat, die dem alleinigen Zweck dienten, dass ihm der Aufenthalt gestattet wird oder er sein Recht auf Aufenthalt im Königreich behält.

Entfernungsbeschlüsse können mit einem Einreiseverbot von mehr als fünf Jahren einhergehen, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt.

§ 2 –      …

Der Minister oder sein Beauftragter kann in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen.

§ 3 –      Das Einreiseverbot tritt am Tag seiner Notifizierung in Kraft.

Das Einreiseverbot darf nicht gegen das Recht auf internationalen Schutz verstoßen, so wie er in den Artikeln 9ter, 48/3 und 48/4 bestimmt ist.“

16      In Art. 74/12 des Gesetzes heißt es:

„§ 1 – Der Minister oder sein Beauftragter kann ein Einreiseverbot aus humanitären Gründen aufheben oder aussetzen.

Außer bei Abweichungen, die durch einen internationalen Vertrag, durch Gesetz oder durch einen Königlichen Erlass bestimmt sind, reicht der Drittstaatsangehörige bei der belgischen diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretung, die für seinen Wohnort oder für seinen Aufenthaltsort im Ausland zuständig ist, einen mit Gründen versehenen Antrag ein.

§ 2 –      Der Drittstaatsangehörige kann beim Minister oder seinem Beauftragten einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots einreichen mit der Begründung, dass die zu einem früheren Zeitpunkt auferlegte Verpflichtung zur Entfernung befolgt wurde; dazu übermittelt er einen schriftlichen Nachweis, dass er das belgische Staatsgebiet unter uneingeschränkter Einhaltung des Entfernungsbeschlusses verlassen hat.

§ 3 –      Spätestens vier Monate nach Einreichung des Antrags auf Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots wird ein Beschluss gefasst. Ist binnen vier Monaten kein Beschluss gefasst worden, wird dies als negativer Beschluss angesehen.

§ 4 –      Während der Prüfung des Antrags auf Aufhebung oder Aussetzung hat der betreffende Drittstaatsangehörige kein Recht, ins Königreich einzureisen oder sich dort aufzuhalten.

…“

17      Art. 74/13 des Gesetzes bestimmt:

„Fasst der Minister oder sein Beauftragter einen Entfernungsbeschluss, berücksichtigt er das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass es sich bei sämtlichen Beschwerdeführern der Ausgangsverfahren um Drittstaatsangehörige und zugleich um Familienangehörige belgischer Staatsangehöriger handelt, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht haben. Gegen die Beschwerdeführer wurden Rückkehrentscheidungen erlassen, die jeweils mit einem Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats einhergingen. Diese Entscheidungen sind nach den Angaben des vorlegenden Gerichts bezüglich aller Beschwerdeführer bestandskräftig geworden und können nach dem nationalen Recht grundsätzlich nur aufgehoben oder ausgesetzt werden, wenn im Ausland ein Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung gestellt wird.

19      Die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren haben in der Folge in Belgien Anträge auf Aufenthaltsgewährung als unterhaltsberechtigte Abkömmlinge eines belgischen Staatsangehörigen (K.A. und M.Z.), als Elternteile eines minderjährigen belgischen Kindes (M.J., N.N.N., O.I.O. und R.I.) bzw. als mit einem belgischen Staatsangehörigen in einer dauerhaften stabilen Beziehung gesetzlich zusammenwohnender Partner gestellt (B.A.). Diese Anträge wurden von der zuständigen nationalen Behörde mit der Begründung nicht bearbeitet, dass gegen die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren Entscheidungen ergangen seien, mit denen ein Einreiseverbot verhängt worden sei und die noch in Kraft seien. Die Beschwerdeführer haben die streitigen Entscheidungen vor dem vorlegenden Gericht angefochten.

20      Im Einzelnen geht aus der Vorlageentscheidung erstens hervor, dass K.A., die armenische Staatsangehörige ist, am 27. Februar 2013 eine Rückkehrentscheidung notifiziert wurde, die mit einem Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren einherging und damit begründet wurde, dass sie ihrer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei und ihr keine Frist für die freiwillige Rückkehr eingeräumt worden sei, da sie als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werde, nachdem sie auf frischer Tat bei einem Ladendiebstahl gefasst worden sei. Am 10. Februar 2014 stellten K.A. und ihre beiden Söhne während eines Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung als unterhaltsberechtigte Verwandte in absteigender Linie mit dem Vater von K.A., der die belgische Staatsangehörigkeit besitzt. Am 28. März 2014 erließ die zuständige nationale Behörde eine Entscheidung in Form einer Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, mit der sie es wegen des am 27. Februar 2013 notifizierten Einreiseverbots ablehnte, den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten.

21      Zweitens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass M.Z., der russischer Staatsangehöriger ist, am 2. Juli 2014 eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren notifiziert wurden, was damit begründet wurde, dass er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei und ihm keine Frist für die freiwillige Rückkehr eingeräumt worden sei, da er als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werde, nachdem gegen ihn ein Protokoll wegen Garagendiebstahls erstellt worden sei. Am 8. September 2014 wurde M.Z. zwangsweise nach Russland zurückgeführt. Am 5. November 2014 beantragte der Betroffene während eines erneuten Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als gegenüber seinem belgischen Vater unterhaltsberechtigter Verwandter in absteigender Linie eine Aufenthaltskarte. Am 29. April 2015 wies die zuständige nationale Behörde diesen Antrag wegen des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zurück und wies ihn außerdem an, einer Rückkehrentscheidung nachzukommen.

22      Drittens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass M.J. ugandische Staatsangehörige ist und zweimal angewiesen wurde, das Staatsgebiet zu verlassen, nämlich am 13. Januar und am 12. November 2012. Am 11. Januar 2013 wurde ihr ein Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren notifiziert, das damit begründet wurde, dass sie diesen Rückkehrverpflichtungen nicht nachgekommen sei und ihr in Anbetracht der Fluchtgefahr wegen Fehlens einer offiziellen Anschrift in Belgien und aufgrund dessen, dass sie als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werde, weil gegen sie ein Protokoll wegen Körperverletzung erstellt worden sei, keine Frist für die freiwillige Rückkehr gewährt worden sei. Am 20. Februar 2014 beantragte M.J. während eines Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als Elternteil eines am 26. Oktober 2013 geborenen minderjährigen Kindes belgischer Staatsangehörigkeit eine Aufenthaltskarte. Mit Entscheidung vom 30. April 2014 lehnte die zuständige nationale Behörde es wegen des geltenden Einreiseverbots vom 11. Januar 2013 ab, ihren Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, und wies sie zugleich an, das Staatsgebiet zu verlassen.

23      Viertens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass N.N.N. kenianische Staatsangehörige ist und gegen sie zwei Rückkehrentscheidungen ergangen sind, die vom 11. September 2012 und vom 22. Februar 2013 datieren. In der Folgezeit brachte N.N.N. eine Tochter zur Welt, die am 3. April 2014 über ihren Vater die belgische Staatsangehörigkeit erwarb. Am 24. April 2014 wurde gegen N.N.N. erneut eine Rückkehrentscheidung erlassen und ihr ein Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren notifiziert, da sie ihrer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei. Am 9. September 2014 beantragte N.N.N. während eines Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als Elternteil eines minderjährigen Kindes belgischer Staatsangehörigkeit eine Aufenthaltskarte. Zur Stützung dieses Antrags legte sie Nachweise über Unterhaltszahlungen, die der Vater ihrer Tochter geleistet hatte, sowie einen Brief vor, worin der Vater erklärt, dass er sich nicht ganztägig um seine Tochter kümmern könne und es vorzuziehen sei, dass diese bei ihrer Mutter verbleibe. Am 4. März 2015 wies die zuständige nationale Behörde den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung wegen des gegen N.N.N. verhängten Einreiseverbots zurück und wies sie außerdem an, einer Rückkehrentscheidung nachzukommen.

24      Fünftens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass O.I.O. nigerianischer Staatsangehöriger ist und mit R.C., einer belgischen Staatsangehörigen, verheiratet ist, mit der eine Tochter hat, die ebenfalls belgische Staatsangehörige ist. Am 11. Mai 2010 wurde O.I.O. wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt. Nach ihrer Scheidung von O.I.O. wurde R.C. am 6. April 2011 das alleinige elterliche Sorgerecht für ihre Tochter zugesprochen. Die Tochter wohnt bei ihrer Mutter, die das Kindergeld und andere soziale Vergünstigungen bezieht. Außerdem ist das Recht zum persönlichen Umgang von O.I.O. mit seiner Tochter vorläufig ausgesetzt. Aufgrund seiner Scheidung von R.C. erging gegen O.I.O. ein Beschluss zur Beendigung seines Aufenthaltsrechts, verbunden mit der Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen. Am 28. Mai 2013 wurde ihm ein Einreiseverbot für die Dauer von acht Jahren notifiziert, weil er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei und ihm keine Frist für die freiwillige Rückkehr eingeräumt worden sei, da er eine ernsthafte, tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle. Am 6. November 2013 beantragte O.I.O. während eines Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als Elternteil eines minderjährigen belgischen Kindes eine Aufenthaltskarte. Am 30. April 2014 lehnte die zuständige nationale Behörde es wegen des geltenden Einreiseverbots vom 28. Mai 2013 ab, diesen Antrag zu bearbeiten, und wies O.I.O. zugleich an, das Staatsgebiet zu verlassen.

25      Sechstens geht aus der Vorlageentscheidung zur Situation von R.I., der albanischer Staatsangehöriger ist, hervor, dass er Vater eines belgischen Kindes ist. Nach der Geburt dieses Kindes wurde sein Aufenthaltsrecht widerrufen, das er auf betrügerische Weise erlangt hatte. Außerdem wurde ihm am 17. Dezember 2012 ein Einreiseverbot für die Dauer von fünf Jahren notifiziert, da er einen Betrug begangen oder andere illegale Mittel in Anspruch genommen habe, damit ihm der Aufenthalt gestattet werde oder er sein Aufenthaltsrecht behalte. In der Folgezeit heiratete R.I. in Albanien die Mutter seines Kindes, die belgische Staatsangehörige ist. Am 21. August 2014 beantragte R.I. während eines erneuten Aufenthalts im belgischen Hoheitsgebiet als Elternteil eines minderjährigen belgischen Kindes eine Aufenthaltskarte. Am 13. Februar 2015 lehnte es die zuständige nationale Behörde wegen des gegen ihn verhängten Einreiseverbots ab, diesen Antrag zu bearbeiten, und wies ihn an, einer Rückkehrentscheidung nachzukommen.

26      Siebtens geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass gegen B.A., der guineischer Staatsangehöriger ist, zwei Rückkehrentscheidungen ergangen sind, nämlich am 23. Januar und am 29. Mai 2013. Am 13. Juni 2014 wurde ihm ein Einreiseverbot für die Dauer von drei Jahren mit der Begründung notifiziert, dass er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen sei. In der Folgezeit schloss B.A. während eines Aufenthalts in Belgien einen Vertrag zur Regelung des Zusammenlebens mit seinem Partner, der belgischer Staatsangehöriger ist, und beantragte eine Aufenthaltskarte als gesetzlich in einer dauerhaften stabilen Beziehung mit einem belgischen Staatsangehörigen zusammenwohnender Partner. Am 21. Mai 2015 lehnte die zuständige nationale Behörde es wegen des Einreiseverbots vom 13. Juni 2014 ab, den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, und wies B.A. außerdem an, einer Rückkehrentscheidung nachzukommen.

27      Das vorlegende Gericht stellt zunächst klar, dass die von den Beschwerdeführern der Ausgangsverfahren gestellten Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gemäß einer nationalen Praxis, die in allen Fällen ohne die Möglichkeit einer Anpassung an die konkrete Situation angewandt werde, nicht bearbeitet und somit nicht in der Sache geprüft worden seien, da gegen diese Drittstaatsangehörigen Einreiseverbote verhängt worden seien. Somit sei im Zusammenhang mit diesen Anträgen weder den familiären Bindungen noch, in den betreffenden Fällen, dem Wohl des Kindes oder der Unionsbürgerschaft der Familienmitglieder, die belgische Staatsangehörige seien, Rechnung getragen worden. Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren nach den Angaben der zuständigen nationalen Behörde zunächst Belgien verlassen und sodann die Aussetzung oder die Aufhebung des Einreiseverbots beantragen müssten, bevor sie einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung im Rahmen einer Familienzusammenführung stellen könnten.

28      Insoweit müsse nach nationalem Recht spätestens vier Monate, nachdem der Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots im Herkunftsland der betreffenden Personen gestellt worden sei, ein Beschluss gefasst werden. Geschehe dies nicht, so gelte dies als negativer Beschluss. Im Übrigen müsse zunächst der Beschluss über die Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots ergehen, bevor innerhalb einer Frist von sechs Monaten über den von dem Drittstaatsangehörigen in seinem Herkunftsland im Rahmen einer Familienzusammenführung gestellten Visumantrag entschieden werde.

29      Das vorlegende Gericht stellt weiter fest, dass die bei ihm anhängig gemachten Rechtssachen weder in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) noch in den der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77) fielen. Außerdem begäben sich die verschiedenen Unionsbürger, um die es in diesen Rechtssachen gehe, nicht wegen der familiären Bindungen, die sie jeweils mit dem entsprechenden Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren verbänden, regelmäßig als Arbeitnehmer oder Erbringer von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedstaat und hätten auch nicht mit den Beschwerdeführern anlässlich eines tatsächlichen Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat als Belgien ein Familienleben entwickelt oder gefestigt.

30      Allerdings weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Lage eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht habe, nach den Urteilen vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), und vom 5. Mai 2011, McCarthy (C‑434/09, EU:C:2011:277), nicht allein aus diesem Grund einer rein internen Situation gleichgestellt werden könne.

31      Die im Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), aufgestellten Grundsätze seien zwar nur unter außergewöhnlichen Umständen anwendbar, doch ergebe sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht, dass sie Sachverhalten vorbehalten wären, in denen zwischen dem Drittstaatsangehörigen, für den ein Aufenthaltsrecht beantragt werde, und dem Unionsbürger – einem minderjährigen Kind – eine biologische Verbindung bestehe. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehe hervor, dass das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen sei, da sich der Unionsbürger aufgrund dieser Abhängigkeit de facto gezwungen sähe, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn dem Drittstaatsangehörigen, von dem er abhängig sei, der Aufenthalt nicht gestattet würde.

32      Unter diesen Umständen hat der Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass es unter bestimmten Umständen eine nationale Praxis verbietet, wonach ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung, den ein Familienangehöriger, der Drittstaatsangehöriger ist, im Rahmen der Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger in dem Mitgliedstaat stellt, in dem der betreffende Unionsbürger wohnt, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und von seinem Recht auf Freizügigkeit und seiner Niederlassungsfreiheit keinen Gebrauch gemacht hat (im Folgenden: statischer Unionsbürger), allein aus dem Grund – eventuell mit dem Erlass eines Entfernungsbeschlusses einhergehend – zurückgewiesen wird, dass gegen den betroffenen Familienangehörigen, der Drittstaatsangehöriger ist, ein geltendes Einreiseverbot mit europäischer Tragweite verhängt wurde?

a)      Ist es für die Beurteilung solcher Umstände von Bedeutung, dass zwischen dem Familienangehörigen, der Drittstaatsangehöriger ist, und dem statischen Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das über eine bloße familiäre Bindung hinausgeht? Falls dies bejaht wird: Welche Faktoren spielen bei der Bestimmung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, eine Rolle? Kann hierzu sachdienlich auf die Rechtsprechung zum Vorliegen eines Familienlebens nach Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Art. 7 der Charta verwiesen werden?

b)      Speziell in Bezug auf minderjährige Kinder: Verlangt Art. 20 AEUV mehr als eine biologische Verbindung zwischen dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, und dem Kind, das Unionsbürger ist? Ist es insoweit von Bedeutung, dass ein Zusammenwohnen nachgewiesen wird, oder genügen emotionale und finanzielle Bindungen wie eine Aufenthalts- oder Besuchsregelung und Unterhaltszahlungen? Kann hierzu sachdienlich auf die Urteile vom 10. Juli 2014, Ogieriakhi (C‑244/13, EU:C:2014:2068, Rn. 38 und 39), vom 16. Juli 2015, Singh u. a. (C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 54), und vom 6. Dezember 2012, O. u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 56), verwiesen werden? Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354).

c)      Ist die Tatsache, dass das Familienleben zu einem Zeitpunkt begründet wurde, als der Drittstaatsangehörige bereits einem Einreiseverbot unterlag und sich somit dessen bewusst war, dass er sich unrechtmäßig in dem Mitgliedstaat aufhielt, für die Beurteilung solcher Umstände von Bedeutung? Kann auf diese Tatsache sachdienlich Bezug genommen werden, um einen möglichen Missbrauch von Verfahren über die Aufenthaltsgewährung im Rahmen der Familienzusammenführung zu unterbinden?

d)      Ist die Tatsache, dass gegen den Bescheid zur Verhängung eines Einreiseverbots kein Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eingelegt wurde, oder die Tatsache, dass die Beschwerde gegen diesen Bescheid zur Verhängung eines Einreiseverbots zurückgewiesen wurde, für die Beurteilung solcher Umstände von Bedeutung?

e)      Ist die Tatsache, dass das Einreiseverbot aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder aber aufgrund eines unrechtmäßigen Aufenthalts verhängt wurde, ein relevanter Aspekt? Falls dies bejaht wird: Ist außerdem zu prüfen, ob der betroffene Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt? Können insoweit die Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38, die mit den Art. 43 und 45 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 umgesetzt wurden, und die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur öffentlichen Ordnung sinngemäß auf Familienangehörige von statischen Unionsbürgern angewandt werden (vgl. die Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674)?

2.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sowie die Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass es eine nationale Praxis verbietet, wonach auf ein geltendes Einreiseverbot abgestellt wird, um einen später im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellten Antrag auf Familienzusammenführung mit einem statischen Unionsbürger zurückzuweisen, ohne dass dabei die Faktoren Familienleben und Wohl betroffener Kinder – auf die in diesem später gestellten Antrag auf Familienzusammenführung verwiesen wird – berücksichtigt werden?

3.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sowie die Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass es eine nationale Praxis verbietet, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen, der bereits einem geltenden Einreiseverbot unterliegt, ein Abschiebungsbescheid erlassen wird, ohne dass dabei die Faktoren Familienleben und Wohl betroffener Kinder berücksichtigt werden, auf die in einem später gestellten Antrag auf Familienzusammenführung mit einem statischen Unionsbürger – also nachdem das Einreiseverbot bereits verhängt wurde – verwiesen wird?

4.      Ist Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 dahin zu verstehen, dass ein Drittstaatsangehöriger einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung eines geltenden und bestandskräftigen Einreiseverbots grundsätzlich stets außerhalb der Union stellen muss, oder gibt es Umstände, unter denen er diesen Antrag auch in der Union stellen kann?

a)      Ist Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 der Richtlinie 2008/115 dahin zu verstehen, dass die Voraussetzung nach Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 dieser Richtlinie – wonach die Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots nur in Betracht kommt, wenn der Drittstaatsangehörige nachweist, dass er das Staatsgebiet unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen hat – in jedem Einzelfall bzw. in allen Fallgruppen ohne Weiteres erfüllt sein muss?

b)      Stehen die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 einer Auslegung entgegen, wonach ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung im Rahmen der Familienzusammenführung mit einem statischen Unionsbürger, der von seinem Recht auf Freizügigkeit und seiner Niederlassungsfreiheit keinen Gebrauch gemacht hat, als impliziter (zeitlich begrenzter) Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung eines geltenden und bestandskräftigen Einreiseverbots angesehen wird, wobei das geltende und bestandskräftige Einreiseverbot wieder auflebt, wenn sich herausstellt, dass die Aufenthaltsbedingungen nicht erfüllt sind?

c)      Ist die Tatsache, dass die Verpflichtung, einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung im Herkunftsland zu stellen, möglicherweise eine allenfalls vorübergehende Trennung zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem statischen Unionsbürger zur Folge hat, ein relevanter Aspekt? Gibt es Umstände, unter denen die Art. 7 und 24 der Charta einer vorübergehenden Trennung gleichwohl entgegenstehen?

d)      Ist die Tatsache, dass die Verpflichtung, einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung im Herkunftsland zu stellen, lediglich zur Folge hat, dass der Unionsbürger gegebenenfalls für eine begrenzte Zeit das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes verlassen muss, ein relevanter Aspekt? Gibt es Umstände, unter denen es nach Art. 20 AEUV gleichwohl ausgeschlossen ist, dass der statische Unionsbürger für begrenzte Zeit das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes verlassen muss?

 Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

33      Im Anschluss an die Verlesung der Schlussanträge der Generalanwältin hat die belgische Regierung mit Schriftsatz, der am 12. Dezember 2017 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt, um die Möglichkeit zu erhalten, zum einen auf die Schlussanträge zu reagieren, da diese nach Ansicht der belgischen Regierung eine unzutreffende Auslegung der Richtlinie 2008/115 enthalten, und zum anderen eine Stellungnahme zu den Urteilen vom 26. Juli 2017, Ouhrami (C‑225/16, EU:C:2017:59), und vom 14. September 2017, Petrea (C‑184/16, EU:C:2017:684), abzugeben.

34      Hinsichtlich der Kritik an den Schlussanträgen der Generalanwältin ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs und seine Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Zum anderen hat der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV die Aufgabe, öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist dabei weder an die Schlussanträge des Generalanwalts noch an ihre Begründung gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C‑126/16, EU:C:2017:489, Rn. 33).

37      In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung der Generalanwältin der Ansicht, dass er über alle Angaben verfügt, die erforderlich sind, um über das Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden, und dass dieses Ersuchen nicht im Hinblick auf ein Vorbringen zu prüfen ist, das vor ihm nicht erörtert worden ist.

38      In Anbetracht dieser Erwägungen hält es der Gerichtshof nicht für angebracht, das mündliche Verfahren wiederzueröffnen.

 Zu den Vorlagefragen

 Vorbemerkungen

39      Einleitend ist zunächst darauf hinzuweisen, dass alle in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalte die Weigerung der zuständigen nationalen Behörde betreffen, den Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, der in Belgien von einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines belgischen Staatsangehörigen ist, als Abkömmling, Elternteil oder gesetzlich zusammenwohnender Partner dieses belgischen Staatsangehörigen gestellt wurde, wobei die Weigerung damit begründet wird, dass gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt worden sei. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren nach nationalem Recht grundsätzlich in ihrem Herkunftsland einen Antrag auf Aussetzung oder Aufhebung des gegen sie verhängten Einreiseverbots stellen müssten, bevor sie rechtswirksam einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellen könnten.

40      Sodann stellt das vorlegende Gericht klar, dass in allen der sieben verbundenen Ausgangsverfahren der betreffende belgische Staatsangehörige nie von seiner Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht habe. Daher könnten die Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige dieser belgischen Staatsangehörigen seien, weder aus der Richtlinie 2004/38 noch aus Art. 21 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht herleiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 52 bis 54).

41      Schließlich geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die von der zuständigen nationalen Behörde erlassenen „Entfernungsbeschlüsse“ die Verpflichtung für die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren beinhalten, das belgische Staatsgebiet zu verlassen, und dass sie mit einem Einreiseverbot einhergehen. Wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sind solche Beschlüsse somit für die Zwecke der Prüfung der dem Gerichtshof gestellten Fragen als „Rückkehrentscheidungen“ im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 anzusehen (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 39).

 Zu den ersten beiden Fragen

42      Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht Folgendes wissen:

–        Sind die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 sowie Art. 20 AEUV, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta, dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde, ohne dass geprüft worden wäre, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, de facto zwingen würde, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde?

–        Bejahendenfalls: Welche Gesichtspunkte sind bei der Beurteilung des Vorliegens eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses zu berücksichtigen, und – wenn der Unionsbürger minderjährig ist – welche Bedeutung ist dem Bestehen einer familiären Bindung, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, und den Modalitäten der Unterbringung dieses Unionsbürgers, der Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist, und seines Unterhalts beizumessen?

–        Welche Auswirkungen können in diesem Zusammenhang folgende Umstände haben:

–        der Umstand, dass das Abhängigkeitsverhältnis, auf das der Drittstaatsangehörige seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stützt, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde;

–        der Umstand, dass dieses Verbot bestandskräftig geworden war, als der Drittstaatsangehörige seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte, und

–        der Umstand, dass dieses Verbot mit der Nichtbefolgung einer Rückkehrverpflichtung oder mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt wird?

 Zur Weigerung, einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu bearbeiten, weil gegen den Antragsteller ein Verbot der Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat verhängt wurde

43      Als Erstes ist zu klären, ob die Art. 5 und 11 der Richtlinie 2008/115 oder Art. 20 AEUV, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta, dahin auszulegen sind, dass sie der Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats stellt, nicht bearbeitet wird.

–       Zur Richtlinie 2008/115

44      Zunächst ist festzustellen, dass sich die Richtlinie 2008/115 nur auf die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bezieht und somit nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren (Urteil vom 1. Oktober 2015, Celaj, C‑290/14, EU:C:2015:640, Rn. 20). Daher beziehen sich die mit der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung (Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 29).

45      Insbesondere regelt keine Bestimmung dieser Richtlinie die Art und Weise, in der ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zu behandeln ist, der wie in den Ausgangsverfahren nach Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung gestellt wird. Außerdem ist die Weigerung, einen solchen Antrag unter den in Rn. 27 des vorliegenden Urteils beschriebenen Umständen zu bearbeiten, nicht geeignet, die Anwendung des in der Richtlinie vorgesehenen Rückkehrverfahrens scheitern zu lassen.

46      Daraus folgt, dass die Richtlinie 2008/115, insbesondere deren Art. 5 und 11, dahin auszulegen ist, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde.

–       Zu Art. 20 AEUV

47      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. u. a. Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41, und vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Unionsbürger ein elementares, persönliches Recht, sich vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen einschließlich Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen ihr Status verleiht, verwehrt wird (Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 42, vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 45, und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 61).

50      Dagegen verleihen die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft Drittstaatsangehörigen keine eigenständigen Rechte. Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich nicht deren eigene Rechte, sondern aus den Rechten des Unionsbürgers abgeleitete. Ihr Zweck und ihre Rechtfertigung beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger insbesondere in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden muss, obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 43 und 44, sowie vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 63).

52      Die Weigerung, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, kann die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft jedoch nur dann beeinträchtigen, wenn zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu begleiten und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 65 bis 67, vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 56, und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 69).

53      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Praxis die Verfahrensmodalitäten betrifft, nach denen ein Drittstaatsangehöriger im Rahmen eines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung das Bestehen eines abgeleiteten Rechts nach Art. 20 AEUV geltend machen kann.

54      Insoweit ist es zwar Sache der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts festzulegen, das einem Drittstaatsangehörigen in den ganz besonderen Sachverhalten, die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführt sind, nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, doch dürfen diese Verfahrensmodalitäten die praktische Wirksamkeit von Art. 20 nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 76).

55      Die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Praxis macht die Prüfung des Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung und die etwaige Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV aber von der Verpflichtung des betreffenden Drittstaatsangehörigen abhängig, zuvor das Unionsgebiet zu verlassen, um einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zu stellen. Aus der Vorlageentscheidung geht außerdem hervor, dass die Prüfung des etwaigen Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und seinem Familienangehörigen, der Unionsbürger ist, in dem in Rn. 52 des vorliegenden Urteils beschriebenen Sinne unterbleibt, solange der Drittstaatsangehörige nicht die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots erreicht hat.

56      Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung kann die dem Drittstaatsangehörigen somit durch die in Rede stehende nationale Praxis auferlegte Verpflichtung, das Unionsgebiet zu verlassen, um die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots zu beantragen, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV beeinträchtigen, wenn die Befolgung dieser Verpflichtung aufgrund des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und einem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, dazu führt, dass der Unionsbürger de facto gezwungen wäre, den Drittstaatsangehörigen zu begleiten und folglich ebenfalls das Unionsgebiet für einen Zeitraum zu verlassen, der, worauf das vorlegende Gericht hinweist, von unbestimmter Dauer wäre.

57      Folglich darf zwar die Weigerung eines Drittstaatsangehörigen, der Rückkehrverpflichtung nachzukommen und im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens zu kooperieren, es ihm nicht ermöglichen, sich den Rechtswirkungen eines Einreiseverbots ganz oder teilweise zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 52), doch darf die zuständige nationale Behörde, wenn sie mit einem Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Gewährung eines Aufenthaltsrechts zum Zweck einer Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats befasst ist, die Bearbeitung dieses Antrags nicht allein deshalb verweigern, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verhängt wurde. Sie ist vielmehr verpflichtet, den Antrag zu prüfen und zu beurteilen, ob zwischen dem betreffenden Drittstaatsangehörigen und dem betreffenden Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, so dass dem Drittstaatsangehörigen grundsätzlich nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren ist, da andernfalls der Unionsbürger de facto gezwungen wäre, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde. Wenn dies der Fall ist, muss der betreffende Mitgliedstaat die gegen den Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung und das ihm auferlegte Einreiseverbot aufheben, zumindest aber aussetzen.

58      Es liefe nämlich dem mit Art. 20 AEUV verfolgten Ziel zuwider, den Drittstaatsangehörigen zu zwingen, das Unionsgebiet für unbestimmte Zeit zu verlassen, um die Aufhebung oder die Aussetzung des gegen ihn verhängten Verbots der Einreise in dieses Gebiet zu erreichen, ohne dass zuvor geprüft worden wäre, ob nicht zwischen ihm und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das den Unionsbürger zwingen würde, den Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland zu begleiten, obwohl diesem gerade aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses grundsätzlich nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt werden müsste.

59      Entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung können Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 dieses Ergebnis nicht in Frage stellen.

60      Zwar können die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115 die Möglichkeit einer Aufhebung oder einer Aussetzung eines mit einer Rückkehrentscheidung, in der eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt wird, einhergehenden Einreiseverbots prüfen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet unter Einhaltung dieser Entscheidung verlassen hat. In den Unterabs. 3 und 4 von Art. 11 Abs. 3 hat der Unionsgesetzgeber jedoch vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten ein solches Verbot in Einzelfällen aus anderen als den in Unterabs. 1 genannten Gründen aufheben oder aussetzen können, ohne dass es in den Unterabs. 3 und 4 hieße, dass der Drittstaatsangehörige, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verlassen haben muss.

61      Folglich untersagen Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 es entgegen dem Vorbringen der belgischen Regierung den Mitgliedstaaten nicht, ein Einreiseverbot aufzuheben oder auszusetzen, wenn die Rückkehrentscheidung nicht durchgeführt wurde und sich der Drittstaatsangehörige in ihrem Hoheitsgebiet aufhält.

62      Demnach ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde, ohne dass geprüft worden wäre, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, de facto zwingen würde, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.

 Zum Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses, das in den Ausgangsverfahren ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV begründen kann

63      Als Zweites sind die Umstände zu prüfen, aufgrund deren in den verbundenen Ausgangsverfahren ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen kann, das geeignet ist, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu begründen.

64      Hierzu ist festzustellen, dass die in den Ausgangsverfahren von K.A., M.Z. und B.A. erhobenen Beschwerden Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung betreffen, die von volljährigen Drittstaatsangehörigen gestellt wurden, deren Vater oder ebenfalls volljähriger Partner belgischer Staatsangehöriger ist. Hingegen betreffend die in den Ausgangsverfahren von M.J., N.N.N., O.I.O. und R.I. erhobenen Beschwerden Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, die von volljährigen Drittstaatsangehörigen gestellt wurden, deren minderjähriges Kind belgischer Staatsangehöriger ist.

65      Zum einen ist in Bezug auf die Ausgangsverfahren, in denen K.A., M.Z. und B.A. Beschwerdeführer sind, zunächst darauf hinzuweisen, dass ein Erwachsener im Unterschied zu Minderjährigen – erst recht, wenn es sich bei diesen um Kleinkinder wie die Unionsbürger handelt, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), ergangen ist – grundsätzlich in der Lage ist, ein von seinen Familienangehörigen unabhängiges Leben zu führen. Daraus folgt, dass die Anerkennung eines Abhängigkeitsverhältnisses, das geeignet ist, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zu rechtfertigen, zwischen zwei Erwachsenen, die derselben Familie angehören, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht kommt, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist.

66      Im vorliegenden Fall scheint bei keinem der drei Ausgangsverfahren, in denen es um eine familiäre Beziehung zwischen Volljährigen geht, aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ein Abhängigkeitsverhältnis hervorzugehen, das die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV gegenüber dem Drittstaatsangehörigen rechtfertigen würde.

67      So beschränkt sich das vorlegende Gericht erstens, was K.A. betrifft, auf die Feststellung, dass diese gegenüber ihrem Vater, einem belgischen Staatsangehörigen, unterhaltsberechtigt sei, ohne dass aus der Vorlageentscheidung oder den von K.A. eingereichten Erklärungen hervorginge, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis geeignet sein könnte, ihren Vater zu zwingen, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn K.A. ein Aufenthaltsrecht in Belgien verweigert würde.

68      Was zweitens M.Z. betrifft, so ist diese nur in finanzieller Hinsicht von ihrem belgischen Vater abhängig. Ein solches rein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis ist aber, wie die Generalanwältin im Wesentlichen in Nr. 79 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, offenkundig nicht geeignet, den Vater von M.Z., einen belgischen Staatsangehörigen, zu zwingen, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, falls M.Z. ein Aufenthaltsrecht in Belgien verweigert würde.

69      Drittens enthält die Vorlageentscheidung keine Hinweise darauf, dass ein irgendwie geartetes Abhängigkeitsverhältnis zwischen B.A. und seinem eingetragenen Partner bestünde.

70      Zum anderen ist in Bezug auf die in den Ausgangsverfahren von M.J., N.N.N., O.I.O. und R.I. erhobenen Beschwerden darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass bei der Prüfung, ob eine Verweigerung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts des einem Drittstaat angehörenden Elternteils dessen Kind, das Unionsbürger ist, die Möglichkeit nähme, den Kernbestand der mit seinem Status verbundenen Rechte in Anspruch zu nehmen, indem sie das Kind de facto zwingen würde, den Elternteil zu begleiten und damit das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, die Frage des Sorgerechts für das Kind und die Frage, ob die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für das Kind von dem einem Drittstaat angehörenden Elternteil ausgeübt wird, relevante Gesichtspunkte sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71      Genauer gesagt obliegt es dem vorlegenden Gericht, zur Beurteilung des Risikos, dass sich das betreffende Kind, das Unionsbürger ist, gezwungen sähe, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn seinem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im betreffenden Mitgliedstaat verweigert würde, in jedem der Ausgangsverfahren zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit besteht. Im Rahmen dieser Beurteilung haben die zuständigen Behörden dem Recht auf Achtung des Familienlebens Rechnung zu tragen, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist, wobei diese Vorschrift in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen ist, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 70).

72      Der Umstand, dass der andere Elternteil, wenn er Unionsbürger ist, wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, bildet einen relevanten Gesichtspunkt, der aber allein nicht für die Feststellung genügt, dass zwischen dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets zwingen würde, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Denn einer solchen Feststellung muss im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl an den Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch an den Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 71).

73      Somit gehört der Umstand, dass der Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, mit dem minderjährigen Kind, das Unionsbürger ist, zusammenlebt, zu den relevanten Gesichtspunkten, die zu berücksichtigen sind, um zu bestimmen, ob zwischen ihnen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, ohne jedoch eine notwendige Bedingung dafür darzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 54).

74      Hingegen rechtfertigt die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Unionsgebiet wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Unionsgebiet aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 68, und vom 6. Dezember 2012, O. u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 52).

75      Somit kann das Bestehen einer familiären Bindung zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, nicht ausreichen, um es zu rechtfertigen, dass diesem Elternteil nach Art. 20 AEUV ein abgeleitetes Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuerkannt wird, dessen Staatsangehörigkeit das minderjährige Kind besitzt.

76      Aus den Rn. 64 bis 75 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass Art. 20 AEUV wie folgt auszulegen ist:

–        Bei einem erwachsenen Unionsbürger kommt ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach dieser Vorschrift gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zu rechtfertigen, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist.

–        Bei einem minderjährigen Unionsbürger muss der Beurteilung des Bestehens eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung an jeden Elternteil und des Risikos, das für sein inneres Gleichgewicht mit der Trennung von dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit verbunden wäre. Zur Feststellung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses reicht weder das Bestehen einer familiären Bindung an den Drittstaatsangehörigen, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, aus, noch ist ein Zusammenleben mit ihm erforderlich.

 Zur Bedeutung des Zeitpunkts, zu dem das Abhängigkeitsverhältnis entstanden ist

77      Als Drittes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde.

78      Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass das Aufenthaltsrecht, das nach Art. 20 AEUV Drittstaatsangehörigen gewährt wird, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht ist, das den Schutz der Freizügigkeit und der Aufenthaltsfreiheit des Unionsbürgers bezweckt, und zum anderen, dass dem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger dieses Unionsbürgers ist, aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses in dem in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten Sinne ein Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zuzuerkennen ist, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt.

79      Vor diesem Hintergrund würde die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigt, falls ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung automatisch zurückgewiesen werden müsste, wenn ein solches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und seinem Familienangehörigen, der Drittstaatsangehöriger ist, zu einem Zeitpunkt entsteht, zu dem gegen Letzteren bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung ergangen war, und er somit um seinen unerlaubten Aufenthalt wusste. In einem solchen Fall konnte das Bestehen eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen nämlich bei der mit einem Einreiseverbot einhergehenden Rückkehrentscheidung, die gegen Letzteren verhängt wurde, zwangsläufig nicht berücksichtigt werden.

80      Im Übrigen hat der Gerichtshof in den Urteilen vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), und vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354), bereits anerkannt, dass Drittstaatsangehörigen, die Eltern minderjähriger Unionsbürger sind, die noch nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, obwohl sie sich zum Zeitpunkt der Geburt der Kinder illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhielten.

81      Nach alledem ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde.

 Zur Bestandskraft des Einreiseverbots

82      Als Viertes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.

83      Insoweit geht aus den Rn. 57 bis 61 des vorliegenden Urteils hervor, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV die Aufhebung oder Aussetzung eines solchen Einreiseverbots auch dann gebietet, wenn es bestandskräftig geworden ist, sofern zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das die Gewährung eines abgeleiteten Rechts zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 20 rechtfertigt.

84      Folglich ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.

 Zu den Gründen für das Einreiseverbot

85      Als Fünftes ist zu klären, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist, oder mit Gründen der öffentlichen Ordnung.

86      Zunächst ist hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 verpflichtet sind, eine Entscheidung zu erlassen, mit der ein Einreiseverbot verhängt wird, wenn der Drittstaatsangehörige, gegen den eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist oder wenn ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt worden ist, was nach Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie der Fall sein kann, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

87      Was erstens die Nichtbefolgung der Rückkehrverpflichtung anbelangt, ist es unerheblich, dass das Einreiseverbot aus einem solchen Grund erlassen wurde.

88      Aus den in den Rn. 53 bis 62 sowie den Rn. 79 und 80 des vorliegenden Urteils genannten Gründen darf ein Mitgliedstaat die Bearbeitung eines in seinem Hoheitsgebiet durch einen Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung nämlich nicht allein deshalb verweigern, weil sich der Drittstaatsangehörige, da er seiner Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen ist, illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhält, sondern er muss zuvor geprüft haben, ob nicht zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger, der sein Familienangehöriger ist, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das es gebietet, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen.

89      Außerdem ist zum einen darauf hinzuweisen, dass sich das Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, das Art. 20 AEUV dem Drittstaatsangehörigen gewährt, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, unmittelbar aus dieser Vorschrift ergibt und nicht voraussetzt, dass der Drittstaatsangehörige bereits über einen anderen Aufenthaltstitel verfügt, der ihn zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats berechtigt, und zum anderen, dass der Drittstaatsangehörige, da ihm dieses Aufenthaltsrecht ab der Entstehung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihm und dem Unionsbürger zuzuerkennen ist, von da an für die Dauer des Abhängigkeitsverhältnisses nicht mehr als im Sinne von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats illegal aufhältig angesehen werden kann.

90      Was zweitens den Umstand anbelangt, dass das Einreiseverbot auf Gründen der öffentlichen Ordnung beruht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 20 AEUV die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt lässt, sich u. a. auf eine Ausnahme im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der öffentlichen Sicherheit zu berufen. Da die Situation der Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ist bei ihrer Beurteilung allerdings das in Art. 7 der Charta genannte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu berücksichtigen, wobei diese Vorschrift gegebenenfalls im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu sehen ist, das Wohl des Kindes, wie es in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannt wird, zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 81, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 36).

91      Im Übrigen sind die Begriffe „öffentliche Ordnung“ und „öffentliche Sicherheit“ als Rechtfertigung für eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen eng auszulegen. Der Begriff „öffentliche Ordnung“ setzt dabei jedenfalls voraus, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum Begriff „öffentliche Sicherheit“ geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass der Begriff „öffentliche Sicherheit“ die Bekämpfung der mit bandenmäßigem Handel mit Betäubungsmitteln verbundenen Kriminalität oder des Terrorismus umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 82 und 83, sowie vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 37 bis 39).

92      In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass die Verweigerung des Aufenthaltsrechts wegen des Vorliegens einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit aufgrund u. a. von Straftaten, die ein Drittstaatsangehöriger begangen hat, mit dem Unionsrecht vereinbar wäre, selbst wenn sie die Verpflichtung für den Unionsbürger, der dessen Familienangehöriger ist, zur Folge hätte, das Gebiet der Union zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 84, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 40).

93      Ein solcher Schluss kann jedoch nicht automatisch allein auf der Grundlage der Vorstrafen des Betroffenen gezogen werden. Vorausgehen muss stets eine konkrete Beurteilung sämtlicher aktueller, relevanter Umstände des Einzelfalls im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, des Wohls des Kindes und der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert (Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 85, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 41).

94      Bei dieser Beurteilung sind daher u. a. das persönliche Verhalten des Betroffenen, Dauer und Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, Art und Schwere der begangenen Straftat, der Grad der gegenwärtigen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Gesellschaft, das Alter etwa betroffener Kinder und ihr Gesundheitszustand sowie ihre familiäre und wirtschaftliche Situation zu berücksichtigen (Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 86, und vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 42).

95      Aus der Vorlageentscheidung geht aber hervor, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Praxis der zuständigen nationalen Behörde nicht vorschreibt, eine solche konkrete Beurteilung aller relevanten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, bevor sie einen unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zurückweist.

96      Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass aus den bei ihm angefochtenen Entscheidungen nicht hervorgehe, dass eine solche konkrete Beurteilung anlässlich des Erlasses der mit einem Einreiseverbot einhergehenden Rückkehrentscheidungen gegen die Beschwerdeführer der Ausgangsverfahren vorgenommen worden wäre. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, wäre die zuständige nationale Behörde jedenfalls verpflichtet, in dem Moment, in dem sie den Antrag des Drittstaatsangehörigen auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung zurückweisen möchte, zu prüfen, ob sich die tatsächlichen Umstände seit dem Erlass der Rückkehrentscheidung nicht geändert haben, so dass ihm nunmehr ein Aufenthaltsrecht nicht mehr verweigert werden kann (vgl. entsprechend Urteile vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, EU:C:2004:262, Rn. 79 und 82, sowie vom 11. November 2004, Cetinkaya, C‑467/02, EU:C:2004:708, Rn. 45 und 47).

97      Folglich ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass es unerheblich ist, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass einer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen worden sei. Wurde eine solche Entscheidung mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, können diese nur dann dazu führen, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zu verweigern, wenn sich aus einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Wohls etwaiger betroffener Kinder und der Grundrechte ergibt, dass der Betroffene eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

 Zur dritten Frage

98      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sowie die Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden.

99      In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die dritte Frage dahin zu verstehen, dass sie sich ausschließlich auf die Fälle bezieht, in denen der Drittstaatsangehörige nicht in den Genuss eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 20 AEUV kommen kann.

100    Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2008/115 nach ihrem zweiten Erwägungsgrund eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden soll, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. Wie sich sowohl aus ihrem Titel als auch aus ihrem Art. 1 ergibt, werden durch die Richtlinie 2008/115 „gemeinsame Normen und Verfahren“ geschaffen, die von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind (Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

101    Zudem geht aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, gegen illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige nach Abschluss eines fairen und transparenten Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

102    Insbesondere müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 („Grundsatz der Nichtzurückweisung, Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand“) der Richtlinie 2008/115 bei deren Umsetzung zum einen in gebührender Weise das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen berücksichtigen und zum anderen den Grundsatz der Nichtzurückweisung einhalten (Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida, C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 48).

103    Folglich muss die zuständige nationale Behörde, wenn sie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen beabsichtigt, zwingend die Verpflichtungen nach Art. 5 der Richtlinie 2008/115 einhalten und den Betroffenen hierzu anhören. Insoweit obliegt es Letzterem, bei seiner Anhörung mit der zuständigen nationalen Behörde zu kooperieren, um ihr alle relevanten Informationen über seine persönliche und familiäre Situation zu geben, insbesondere jene, die es rechtfertigen können, dass von einer Rückkehrentscheidung abgesehen wird (Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida, C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 49 und 50).

104    Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verwehrt es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er – sei es auch zur Stützung eines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung – geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern; dies gilt auch dann, wenn gegen den Drittstaatsangehörigen bereits eine mit einem Einreiseverbot verbundene Rückkehrentscheidung ergangen ist.

105    Wie in Rn. 103 des vorliegenden Urteils hervorgehoben, ist der Betroffene jedoch zur loyalen Zusammenarbeit mit der zuständigen nationalen Behörde verpflichtet. Aufgrund dieser Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit muss er die Behörde unverzüglich über jede relevante Veränderung seines Familienlebens informieren. Der Anspruch des Drittstaatsangehörigen darauf, dass eine Veränderung seiner familiären Verhältnisse berücksichtigt wird, bevor eine Rückkehrentscheidung ergeht, darf nämlich nicht instrumentalisiert werden, um das Verwaltungsverfahren immer wieder zu eröffnen oder unbegrenzt zu verlängern (vgl. entsprechend Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 71).

106    Ist wie in den Ausgangsverfahren gegen den Drittstaatsangehörigen bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen und konnte er im Lauf dieses ersten Verfahrens die Aspekte seines Familienlebens geltend machen, die zu dieser Zeit bereits bestanden und auf denen sein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung beruht, kann der zuständigen nationalen Behörde daher nicht zum Vorwurf gemacht werden, diese Aspekte, die der Betroffene in einem früheren Verfahrensstadium hätte anführen müssen, im später eröffneten Rückkehrverfahren nicht berücksichtigt zu haben.

107    Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden, es sei denn, der Betroffene hätte diese Aspekte schon früher anführen können.

 Zur vierten Frage

108    In Anbetracht der Antworten auf die ersten drei Fragen ist die vierte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

109    Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere deren Art. 5 und 11, ist dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die darin besteht, dass ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung, den ein einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in dessen Hoheitsgebiet stellt, allein deshalb nicht bearbeitet wird, weil gegen den Drittstaatsangehörigen ein Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet verhängt wurde.

2.      Art. 20 AEUV ist wie folgt auszulegen:

–        Er steht einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegen, die darin besteht, dass ein solcher Antrag allein aus dem genannten Grund nicht bearbeitet wird, ohne dass geprüft worden wäre, ob ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen besteht, das den Unionsbürger im Fall der Weigerung, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, de facto zwingen würde, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen, so dass ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, vorenthalten würde.

–        Bei einem erwachsenen Unionsbürger kommt ein Abhängigkeitsverhältnis, das geeignet ist, die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach dieser Vorschrift gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zu rechtfertigen, nur in außergewöhnlichen Fällen in Betracht, in denen die betreffende Person in Anbetracht aller relevanten Umstände keinesfalls von dem Familienangehörigen getrennt werden darf, von dem sie abhängig ist.

–        Bei einem minderjährigen Unionsbürger muss der Beurteilung des Bestehens eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung an jeden Elternteil und des Risikos, das für sein inneres Gleichgewicht mit der Trennung von dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit verbunden wäre. Zur Feststellung eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses reicht weder das Bestehen einer familiären Bindung an den Drittstaatsangehörigen, sei sie biologischer oder rechtlicher Natur, aus, noch ist ein Zusammenleben mit ihm erforderlich.

–        Es ist unerheblich, dass das Abhängigkeitsverhältnis, das der Drittstaatsangehörige zur Stützung seines Antrags auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung geltend macht, erst entstanden ist, nachdem gegen ihn ein Einreiseverbot verhängt wurde.

–        Es ist unerheblich, dass die Entscheidung, mit der gegen den Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, bereits bestandskräftig war, als er seinen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung stellte.

–        Es ist unerheblich, dass die Entscheidung, mit der ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt wird, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung gestellt hat, damit gerechtfertigt wird, dass einer Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen worden sei. Wurde eine solche Entscheidung mit Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, können diese nur dann dazu führen, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zu verweigern, wenn sich aus einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls im Licht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Wohls etwaiger betroffener Kinder und der Grundrechte ergibt, dass der Betroffene eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

3.      Art. 5 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach in Bezug auf einen Drittstaatsangehörigen, gegen den bereits eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die noch in Kraft ist, eine Rückkehrentscheidung ergeht, ohne dass dabei die in einem nach Verhängung eines solchen Einreiseverbots gestellten Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck einer Familienzusammenführung erwähnten Aspekte seines Familienlebens – insbesondere das Wohl seines minderjährigen Kindes – berücksichtigt werden, es sei denn, der Betroffene hätte diese Aspekte schon früher anführen können.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.