Language of document : ECLI:EU:C:2019:839

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

7. Oktober 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Art. 119 EG-Vertrag (nach Änderung Art. 141 EG) – Männliche und weibliche Arbeitnehmer – Gleiches Entgelt – Privates betriebliches Rentensystem – Je nach Geschlecht unterschiedliches normales Rentenalter – Tag des Erlasses von Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung – Rückwirkende Angleichung dieses Alters an das der zuvor benachteiligten Personen“

In der Rechtssache C‑171/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England & Wales] [Zivilabteilung], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 16. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 5. März 2018, in dem Verfahren

Safeway Ltd

gegen

Andrew Richard Newton,

Safeway Pension Trustees Ltd

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský, T. von Danwitz (Berichterstatter) und N. Piçarra,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzlerin: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Februar 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Safeway Ltd, vertreten durch B. Green, S. Allen, D. Pannick, QC, R. Mehta, Barrister, sowie T. Green und J. Heap, Solicitors,

–        von Herrn Newton, vertreten durch A. Short, QC, C. Bell und M. Uberoi, Barristers, sowie C. Rowland-Frank und J. H. C. Briggs, Solicitors,

–        der Safeway Pension Trustees Ltd, vertreten durch D. Murphy und E. King, Solicitors, sowie D. Grant, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Szmytkowska und L. Flynn als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. März 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 119 EG-Vertrag (nach Änderung Art. 141 EG).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Safeway Ltd auf der einen und Herrn Andrew Richard Newton und der Safeway Pension Trustees Ltd auf der anderen Seite über die Angleichung der Rentenleistungen für weibliche und männliche Mitglieder des von Safeway Pension Trustees verwalteten Rentensystems.

 Rechtlicher Rahmen

3        Der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen, der nun in Art. 157 AEUV verankert ist, ergab sich zum Zeitpunkt der im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse aus Art. 119 EG-Vertrag.

4        Danach galt:

„Jeder Mitgliedstaat wird während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anwenden und in der Folge beibehalten.

Unter ‚Entgelt‘ im Sinne dieses Artikels sind die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und ‑gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar und unmittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt.

Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bedeutet,

a)      dass das Entgelt für eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Maßeinheit festgesetzt wird,

b)      dass für eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

5        Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rentensystem wurde 1978 von Safeway in Form eines Treuhandvertrags gegründet. Klausel 19 des Gründungsakts dieses Rentensystems (im Folgenden: Änderungsklausel) sieht im Wesentlichen vor, dass das Rentensystem, einschließlich des Wertes der Leistungen, durch Treuhandurkunde ab dem Tag einer schriftlichen Mitteilung an die Mitglieder rückwirkend geändert werden kann. Sie lautet wie folgt:

„Das Hauptunternehmen kann jederzeit und in gewissen Abständen mit Zustimmung der Treuhänder (‚trustees‘) durch vom Hauptunternehmen und den Treuhändern ausgefertigten Vertragszusatz (‚supplemental deed‘) die Treuhandvollmachten sowie die Bestimmungen des Rentensystems einschließlich dieses Treuhandvertrags (‚Trust Deed‘) und der Regeln (‚Rules‘) und aller förmlichen und sonstigen schriftlichen Urkunden, die dem vorliegenden Treuhandvertrag und dessen im Second Schedule aufgeführten förmlichen Urkunden beigefügt sind, ändern oder ergänzen und kann diese Befugnis in der Weise ausüben, dass sie ab einem im Vertragszusatz festgelegten Datum Wirkung entfaltet, welches das Datum des Vertragszusatzes oder das Datum einer vorherigen schriftlichen Ankündigung der Änderung oder der Ergänzung an Mitglieder sein kann oder ein Datum, welches zu einem angemessenen Zeitpunkt vor oder nach dem Datum des Vertragszusatzes liegt, um der Änderung oder Ergänzung rückwirkende oder künftige Wirkung zu verleihen.“

6        Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rentensystem hatte anfangs ein für Frauen und Männer unterschiedliches normales Rentenalter (im Folgenden: NRA) festgelegt, nämlich 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen. Nachdem der Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Mai 1990, Barber (C‑262/88, EU:C:1990:209), jedoch entschieden hatte, dass ein geschlechtsspezifisches NRA eine von Art. 119 des EG-Vertrags verbotene Ungleichbehandlung darstellt, setzten Safeway und Safeway Pension Trustees durch Mitteilungen vom 1. September 1991 und vom 1. Dezember 1991 (im Folgenden: Mitteilungen von 1991) die Mitglieder des Rentensystems schriftlich davon in Kenntnis, dass dieses mit Wirkung ab dem 1. Dezember 1991 dahin abgeändert werden würde, dass fortan ein einheitliches NRA von 65 Jahren für sämtliche Mitglieder gelten werde. Am 2. Mai 1996 wurde eine Treuhandurkunde zur Änderung des Rentensystems ausgefertigt, mit der mit Wirkung vom 1. Dezember 1991 ein einheitliches NRA von 65 Jahren eingeführt wurde.

7        Im Jahr 2009 stellte sich die Frage nach der Vereinbarkeit der rückwirkenden Änderung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystems mit dem Unionsrecht, und Safeway leitete das Ausgangsverfahren ein, um feststellen zu lassen, dass ab dem 1. Dezember 1991 ein einheitliches NRA von 65 Jahren wirksam eingeführt worden war. Im Rahmen dieses Verfahrens wurde Herr Newton als Vertreter der Mitglieder bestellt.

8        Mit Urteil vom 29. Februar 2016 stellte der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Abteilung Chancery, Vereinigtes Königreich) fest, die rückwirkende Änderung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystems verstoße gegen Art. 119 EG-Vertrag; die Rentenansprüche der Mitglieder seien daher für den Zeitraum vom 1. Dezember 1991 bis zum 2. Mai 1996 auf der Grundlage eines einheitlichen NRA von 60 Jahren zu berechnen.

9        Nach Auffassung des mit einem Rechtsmittel von Safeway gegen dieses Urteil befassten vorlegenden Gerichts haben die Mitteilungen von 1991 für sich genommen nach nationalem Recht das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rentensystem nicht wirksam ändern können; dies sei erst mit der Treuhandurkunde vom 2. Mai 1996 geschehen.

10      Gemäß den nationalen Rechtsvorschriften seien die von den Mitgliedern erworbenen Anwartschaften aufgrund der Änderungsklausel und der Mitteilungen von 1991 für den Zeitraum vom 1. Dezember 1991 bis zum 2. Mai 1996 „entziehbar“ („defeasible“), so dass diese Rechte später jederzeit rückwirkend hätten gemindert werden können. Nach nationalem Recht habe die Treuhandurkunde vom 2. Mai 1996 für diesen Zeitraum das NRA für Frauen auf 65 Jahre erhöht und für Männer das NRA von 65 Jahren beibehalten; jedoch stelle sich die Frage, ob dies mit Art. 119 des EG-Vertrags in der Auslegung durch den Gerichtshof vereinbar sei.

11      Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England & Wales] [Zivilabteilung], Vereinigtes Königreich) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verlangt Art. 157 AEUV (vormals und zum maßgeblichen Zeitpunkt Art. 119 EG-Vertrag) in einem Fall, in dem die Regeln eines Rentensystems nach nationalem Recht durch Änderung seines Treuhandvertrags die Befugnis einräumen, den Wert der erworbenen Rentenanwartschaften für Frauen und Männer rückwirkend für den Zeitraum zwischen dem Tag einer schriftlichen Ankündigung beabsichtigter Änderungen am Rentensystem und dem Tag, an dem der Treuhandvertrag tatsächlich geändert wird, zu mindern, die erworbenen Rentenanwartschaften von Frauen und Männern für diesen Zeitraum in dem Sinne als unentziehbar anzusehen, als ihre Rentenanwartschaften vor rückwirkender Absenkung durch die Ausübung der Befugnis nach nationalem Recht geschützt sind?

 Zur Vorlagefrage

12      Vorab ist festzustellen, dass laut der Vorlageentscheidung das Ausgangsverfahren ausschließlich Rentenansprüche betrifft, die von den Mitgliedern des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystems im Zeitraum vom 1. Dezember 1991 bis zum 2. Mai 1996 erworben wurden. Unter diesen Umständen ist die gestellte Frage im Hinblick auf den in diesem Zeitraum geltenden Art. 119 EG-Vertrag zu prüfen.

13      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 119 EG-Vertrag dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Rentensystem eine mit dieser Vorschrift unvereinbare, sich aus der Festlegung je nach Geschlecht unterschiedlicher NRA ergebende Diskriminierung durch eine Maßnahme beendet, mit der für den Zeitraum zwischen deren Ankündigung und deren Erlass das NRA der Mitglieder dieses Systems rückwirkend an das NRA der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe angeglichen wird, wenn diese Maßnahme nach nationalem Recht und nach dem Gründungsakt dieses Rentensystems zulässig ist.

14      Im Urteil vom 17. Mai 1990, Barber (C‑262/88, EU:C:1990:209), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Festlegung eines je nach Geschlecht unterschiedlichen NRA für von Rentensystemen ausgezahlte Renten eine nach Art. 119 EG-Vertrag verbotene Diskriminierung darstellt.

15      Er hat sich auch zu den Folgen der Feststellung einer solchen Diskriminierung geäußert, insbesondere in den Urteilen vom 28. September 1994, Coloroll Pension Trustees (C‑200/91, EU:C:1994:348), vom 28. September 1994, Avdel Systems (C‑408/92, EU:C:1994:349), und vom 28. September 1994, van den Akker (C‑28/93, EU:C:1994:351). Nach dieser Rechtsprechung fallen diese Folgen je nach den Beschäftigungszeiten unterschiedlich aus.

16      Was erstens die Beschäftigungszeiten vor der Verkündung des Urteils Barber (C‑262/88, EU:C:1990:209) am 17. Mai 1990 betrifft, sind die Rentensysteme nicht verpflichtet, ein einheitliches NRA anzuwenden, da der Gerichtshof durch den Ausschluss der Anwendbarkeit von Art. 119 EG-Vertrag auf Rentenleistungen, die für diese Zeiträume zu leisten sind, die zeitliche Wirkung dieses Urteils begrenzt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. September 1994, Coloroll Pension Trustees, C‑200/91, EU:C:1994:348, Rn. 34, vom 28. September 1994, Avdel Systems, C‑408/92, EU:C:1994:349, Rn. 19, und vom 28. September 1994, van den Akker, C‑28/93, EU:C:1994:351, Rn. 12).

17      Was zweitens die Beschäftigungszeiten zwischen dem 17. Mai 1990 und der Annahme der die Gleichbehandlung wiederherstellenden Maßnahme durch das betreffende Rentensystem angeht, müssen den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vergünstigungen gewährt werden, wie sie den Angehörigen der bevorzugten Gruppe zustehen. Diese Vergünstigungen bleiben, solange Art. 119 EG-Vertrag im innerstaatlichen Recht nicht richtig durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. September 1994, Coloroll Pension Trustees, C‑200/91, EU:C:1994:348, Rn. 31 und 32, vom 28. September 1994, Avdel Systems, C‑408/92, EU:C:1994:349, Rn. 16 und 17, und vom 28. September 1994, van den Akker, C‑28/93, EU:C:1994:351, Rn. 16 und 17).

18      Was drittens die Beschäftigungszeiten nach der Annahme der die Gleichbehandlung wiederherstellenden Maßnahme durch das betreffende Rentensystem anbelangt, verstoßen Maßnahmen, mit denen die Gleichbehandlung durch Herabsetzung der Vergünstigungen der bis dahin bevorzugten Personen auf die Stufe der Vergünstigungen der bis dahin benachteiligten Personen wiederhergestellt wird, nicht gegen Art. 119 EG-Vertrag. Dieser verlangt nämlich nur, dass Frauen und Männer bei gleicher Arbeit das gleiche Entgelt erhalten, ohne aber eine bestimmte Höhe vorzuschreiben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. September 1994, Coloroll Pension Trustees, C‑200/91, EU:C:1994:348, Rn. 33, vom 28. September 1994, Avdel Systems, C‑408/92, EU:C:1994:349, Rn. 21, und vom 28. September 1994, van den Akker, C‑28/93, EU:C:1994:351, Rn. 19).

19      Im vorliegenden Fall stellt sich im Ausgangsverfahren einzig die Frage, ob die Rentenansprüche der Mitglieder des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystems für den Zeitraum vom 1. Dezember 1991 bis zum 2. Mai 1996 auf der Grundlage eines einheitlichen NRA von 60 oder 65 Jahren zu berechnen sind. Hier fragt sich das vorlegende Gericht, ob im Hinblick auf die in Rn. 17 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung mit der Treuhandurkunde vom 2. Mai 1996 für diesen Zeitraum das NRA dieser Mitglieder wirksam rückwirkend an das NRA der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe, nämlich der männlichen Arbeitnehmer, angeglichen werden konnte.

20      Erstens ist festzustellen, dass die Vorlagefrage und die Begründung der Vorlageentscheidung die durch die Treuhandurkunde rückwirkend zum 1. Dezember 1991 erfolgte Angleichung des NRA der Mitglieder des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystems an das NRA der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe betreffen; die Vorlagefrage beruht demnach auf der Prämisse, dass die die Gleichbehandlung wiederherstellenden Maßnahmen erst am 2. Mai 1996 durch diese Treuhandurkunde getroffen wurden.

21      Vor dem Gerichtshof haben Safeway und die Kommission dieser Prämisse widersprochen und geltend gemacht, die Mitteilungen von 1991 und die Verwaltung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystems auf der Grundlage eines einheitlichen NRA von 65 Jahren ab dem 1. Dezember 1991 seien Maßnahmen, mit denen die Gleichbehandlung mit Wirkung ab diesem Zeitpunkt wiederhergestellt worden sei.

22      Zwar obliegt es grundsätzlich dem nationalen Gericht, das allein über unmittelbare Kenntnis des ihm unterbreiteten Rechtsstreits verfügt und das allein für die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen wurden; da diese Maßnahmen jedoch den Anforderungen des Unionsrechts entsprechen müssen, kann der Gerichtshof dem nationalen Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2016, EURO 2004. Hungary, C‑291/15, EU:C:2016:455, Rn. 36, und vom 30. Juni 2016, Ciup, C‑288/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:495, Rn. 33).

23      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs entfaltet Art. 119 EG‑Vertrag unmittelbare Wirkung, indem er für Einzelne Rechte begründet, die die nationalen Gerichte zu gewährleisten haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. April 1976, Defrenne, 43/75, EU:C:1976:56, Rn. 24, und vom 28. September 1994, van den Akker, C‑28/93, EU:C:1994:351, Rn. 21).

24      Die unmittelbare Wirkung von Art. 119 EG-Vertrag bedeutet, dass Arbeitgeber diesen nach Feststellung der Diskriminierung unverzüglich und vollständig umzusetzen haben; die zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung getroffenen Maßnahmen dürfen grundsätzlich nicht von Bedingungen abhängig gemacht werden, die einen – auch nur vorübergehenden – Fortbestand der Diskriminierung bedeuten würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. September 1994, Avdel Systems, C‑408/92, EU:C:1994:349‚ Rn. 25 und 26).

25      Darüber hinaus ist auch der Grundsatz der Rechtssicherheit zu beachten. Dieser gilt in besonderem Maß, wenn es um Vorschriften geht, die finanzielle Konsequenzen haben können; er verlangt, dass die dem Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte hinreichend präzise, klar und vorhersehbar umgesetzt werden, damit die Betroffenen ihre Rechte und Pflichten genau kennen, sich darauf einstellen können und sie gegebenenfalls vor nationalen Gerichten geltend machen können. Die bloße Einführung einer gegenüber den Betroffenen rechtlich unverbindlichen Praxis entspricht diesen Anforderungen nicht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Dezember 2009, Aventis Pasteur, C‑358/08, EU:C:2009:744, Rn. 47, und vom 8. März 2017, Euro Park Service, C‑14/16, EU:C:2017:177, Rn. 36 bis 38, 40 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Demnach können Maßnahmen zur Beendigung einer gegen Art. 119 EG-Vertrag verstoßenden Diskriminierung die in dieser Vorschrift geforderte Gleichbehandlung nur wiederherstellen, wenn sie den in den Rn. 24 und 25 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen entsprechen.

27      Hier entsprechen die von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystem vor der Ausfertigung der Treuhandurkunde am 2. Mai 1996 getroffenen Maßnahmen diesen Anforderungen nicht.

28      Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, wurde das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rentensystem nach nationalem Recht nämlich erst durch die Ausfertigung dieser Treuhandurkunde wirksam geändert. Hierzu hat das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren mit Urteil vom 5. Oktober 2017 entschieden, dass nach dem Wortlaut der Änderungsklausel Änderungen nur durch eine Treuhandurkunde erfolgen dürfen und dass nach nationalem Recht die Auslegung dieser Klausel deren Wortlaut nicht widersprechen darf, da die Begünstigten dieses Rentensystems zu schützen sind und sie ihre Rechte kennen müssen.

29      Aus der Vorlageentscheidung scheint ebenfalls hervorzugehen, dass die einzige Rechtswirkung der Änderungsklausel und der Mitteilungen von 1991 darin bestand, den Verantwortlichen des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystems zu ermöglichen, zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt durch eine Treuhandurkunde das NRA der Mitglieder dieses Systems rückwirkend an das NRA der Männer anzugleichen.

30      Eine solche Befugnis einzuräumen, die zu einem im Ermessen dieser Verantwortlichen stehenden Zeitpunkt auszuüben war, konnte jedoch weder die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Diskriminierung beenden noch den Mitgliedern erlauben, ihre Rechte genau zu kennen.

31      Was die Verwaltung des Systems ab dem 1. Dezember 1991 angeht, so geht aus Rn. 25 des vorliegenden Urteils hervor, dass die bloße Einführung einer gegenüber den Betroffenen rechtlich unverbindlichen Praxis den Anforderungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit nicht entspricht und daher keine Maßnahme zur Wiederherstellung der in Art. 119 EG-Vertrag geforderten Gleichbehandlung darstellt.

32      Unter diesen Umständen wurden für das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Rentensystem Maßnahmen, die den in den Rn. 24 und 25 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen des Unionsrechts entsprechen, erst am 2. Mai 1996 mit der an diesem Tag ausgefertigten Treuhandurkunde getroffen.

33      Was zweitens die Frage betrifft, ob Art. 119 EG-Vertrag eine Maßnahme wie die durch diese Treuhandurkunde getroffene deckt, mit der das NRA der Mitglieder eines Rentensystems rückwirkend ab dem 1. Dezember 1991 an das NRA der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe angeglichen wurde, wird nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt worden ist und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind, der Gleichheitsgrundsatz nur dann eingehalten, wenn den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie den Angehörigen der begünstigten Gruppe (Urteile vom 28. Januar 2015, Starjakob, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 46, und vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation, C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, das dieser Grundsatz es Rentensystemen verbietet, eine gegen Art. 119 EG-Vertrag verstoßende Diskriminierung dadurch zu beenden, dass den Angehörigen der bevorzugten Gruppe ihre Vergünstigungen für die Vergangenheit entzogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. September 1994, Avdel Systems, C‑408/92, EU:C:1994:349, Rn. 5, 13, 14, 17 und 18).

35      Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob dies auch für Situationen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gilt, in denen die betreffenden Rentenansprüche sowohl nach nationalem Recht als auch nach dem Gründungsakt des betreffenden Rentensystems entziehbar sind.

36      Diese Frage hat der Gerichtshof noch nicht ausdrücklich entschieden; jedoch ist die Befugnis, in solchen Situationen die sich aus den Rechten der Mitglieder eines Rentensystems ergebenden Konditionen rückwirkend an die Stufe der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe anzugleichen, von dieser Rechtsprechung nicht gedeckt. Eine solche Befugnis würde vielmehr, wie der Generalanwalt in Rn. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Tragweite dieser Rechtsprechung stark einschränken, weil sie dann nur auf Fälle anwendbar wäre, in denen diese rückwirkende Angleichung bereits durch das nationale Recht oder den Gründungsakt des Rentensystems ausgeschlossen wäre.

37      Auch und vor allem stellen Maßnahmen zur Beseitigung von unionsrechtswidrigen Diskriminierungen eine Durchführung des Unionsrechts dar, die unionsrechtlichen Anforderungen genügen muss. Insbesondere können weder das nationale Recht noch die Bestimmungen des Gründungsakts des betreffenden Rentensystems eine Nichtbeachtung dieser Anforderungen rechtfertigen.

38      Nach ständiger Rechtsprechung verbietet etwa der Grundsatz der Rechtssicherheit allgemein eine rückwirkende Wirkung eines das Unionsrecht durchführenden Rechtsakts, erlaubt diese jedoch ausnahmsweise, wenn ein zwingender Grund des Allgemeininteresses dies gebietet und wenn das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2005, „Goed Wonen“, C‑376/02, EU:C:2005:251‚ Rn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Hinzu kommen die sich speziell aus Art. 119 EG-Vertrag ergebenden Anforderungen, die die Verantwortlichen eines Rentensystems beachten müssen, sobald eine gegen Art. 119 EG-Vertrag verstoßende Diskriminierung festgestellt wird.

40      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Rechtfertigung der Pflicht, die den Angehörigen der bevorzugten Gruppe zustehenden Vergünstigungen auch den Angehörigen der benachteiligten Gruppe zu gewähren, solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung getroffen wurden, darin liegt, dass Art. 119 EG-Vertrag laut der Präambel und laut Art. 117 EG-Vertrag mit der Angleichung der Arbeitsbedingungen im Wege des Fortschritts verknüpft ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. April 1976, Defrenne, 43/75, EU:C:1976:56, Rn. 10, 11 und 15, sowie vom 28. September 1994, Avdel Systems, C‑408/92, EU:C:1994:349, Rn. 15 und 17).

41      Mit diesem Ziel und mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit sowie den in den Rn. 17, 24 und 34 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen wäre es jedoch unvereinbar, den Verantwortlichen des betreffenden Rentensystems zu ermöglichen, eine gegen Art. 119 EG-Vertrag verstoßende Diskriminierung durch eine Maßnahme zu beenden, mit der das NRA der Mitglieder dieses Systems rückwirkend an das NRA der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe angeglichen wird. Dies würde nämlich bedeuten, dass die Verantwortlichen sich der Pflicht entziehen könnten, eine Diskriminierung unverzüglich und vollständig zu beseitigen, sobald sie festgestellt wird. Auch würde dadurch sowohl die Pflicht unterlaufen, den Angehörigen der benachteiligten Gruppe – in Bezug auf die Rentenansprüche für die Beschäftigungszeiten zwischen dem Tag der Verkündung des Urteils vom 17. Mai 1990, Barber (C‑262/88, EU:C:1990:209), und dem Tag des Erlasses der Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichberechtigung – dasselbe NRA zu gewähren wie den Angehörigen der bis dahin bevorzugten Gruppe, als auch das Verbot, den bis dahin begünstigten Personen ihre Vergünstigungen für die Vergangenheit zu entziehen. Schließlich würde die bis zum Erlass dieser Maßnahmen geschaffene Unsicherheit in Bezug auf die Reichweite der Rechte der Mitglieder den Grundsatz der Rechtssicherheit verletzen.

42      Dies gilt auch dann, wenn Mitglieder des betreffenden Rentensystems durch eine Mitteilung ohne konstitutive Wirkung darüber informiert wurden, dass zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung das NRA der Mitglieder dieses Rentensystems an das NRA der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe angeglichen wird.

43      Dabei sind, wie in Rn. 38 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Maßnahmen zur Beendigung unionsrechtswidriger Diskriminierungen ausnahmsweise dann rückwirkend zulässig, wenn das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet wird und ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel dies tatsächlich gebietet. Insbesondere kann nach ständiger Rechtsprechung eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des betreffenden Rentensystems ein zwingender Grund des Allgemeininteresses sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Januar 2007, ITC, C‑208/05, EU:C:2007:16, Rn. 43, und vom 7. März 2018, DW, C‑651/16, EU:C:2018:162, Rn. 33).

44      Hier beziffert das vorlegende Gericht in der Vorlageentscheidung das finanzielle Risiko im Ausgangsverfahren mit etwa 100 Mio. Pfund Sterling; sie legt jedoch nicht dar, dass die rückwirkende Angleichung des NRA der Mitglieder des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rentensystems auf das NRA der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe erforderlich war, um eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts dieses Rentensystems zu vermeiden. Da die dem Gerichtshof vorliegende Akte keine weiteren Informationen enthält, aus denen sich schließen ließe, dass diese Maßnahme tatsächlich durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses geboten war, erscheint die Maßnahme sachlich nicht gerechtfertigt; dies wird allerdings das vorlegende Gericht zu prüfen haben.

45      Nach alledem ist auf die gestellte Frage zu antworten, dass Art. 119 EG-Vertrag dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Rentensystem eine mit dieser Vorschrift unvereinbare, sich aus der Festlegung je nach Geschlecht unterschiedlicher NRA ergebende Diskriminierung ohne sachliche Rechtfertigung durch eine Maßnahme beendet, mit der für den Zeitraum zwischen deren Ankündigung und deren Erlass das NRA der Mitglieder dieses Systems rückwirkend an das NRA der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe angeglichen wird, selbst wenn diese Maßnahme nach nationalem Recht und nach dem Gründungsakt dieses Rentensystems zulässig ist.

 Kosten

46      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 119 EG-Vertrag (nach Änderung Art. 141 EG) ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Rentensystem eine mit dieser Vorschrift unvereinbare, sich aus der Festlegung je nach Geschlecht unterschiedlicher normaler Rentenalter ergebende Diskriminierung ohne sachliche Rechtfertigung durch eine Maßnahme beendet, mit der für den Zeitraum zwischen deren Ankündigung und deren Erlass das normale Rentenalter der Mitglieder dieses Systems rückwirkend an das normale Rentenalter der Angehörigen der bis dahin benachteiligten Gruppe angeglichen wird, selbst wenn diese Maßnahme nach nationalem Recht und nach dem Gründungsakt dieses Rentensystems zulässig ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.