Language of document : ECLI:EU:C:2018:666

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 5. September 2018(1)

Rechtssache C‑385/17

Torsten Hein

gegen

Albert Holzkamm GmbH & Co.

(Vorabentscheidungsersuchen des Arbeitsgerichts Verden [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Arbeitszeitgestaltung – Tarifvertrag für das Baugewerbe – Recht auf bezahlten Jahresurlaub – Urlaubsvergütung – Auswirkungen der Kurzarbeit“






I.      Einführung

1.        Nach deutschem Arbeitsrecht hat ein Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub von mindestens 24 Werktagen pro Jahr. Ein verringertes Einkommen infolge von Kurzarbeit darf grundsätzlich die Berechnung des Vergütungsanspruchs für den Erholungsurlaub nicht berühren. Parteien eines Tarifvertrags können jedoch von diesen bundesrechtlichen Regelungen zum Erholungsurlaub abweichen. Im Baugewerbe werden die Beschäftigungsbedingungen durch einen speziellen Rahmentarifvertrag geregelt. Dieser sieht vor, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf 30 Tage bezahlten Erholungsurlaub im Jahr hat. Bei der Berechnung der Vergütung während des Erholungsurlaubs wird jedoch ein verringertes Einkommen infolge von Kurzarbeit einberechnet.

2.        Herr Hein arbeitet im Baugewerbe. Während einiger Wochen in den Jahren 2015 und 2016 befand er sich in Kurzarbeit. Er nahm bezahlten Jahresurlaub. Nach seiner Auffassung hätten bei der Berechnung der Vergütung während seines Erholungsurlaubs die Kurzarbeitszeiträume nicht berücksichtigt werden dürfen.

3.        In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof zu entscheiden, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung in einem Tarifvertrag entgegensteht, die vorsieht, dass Verdienstkürzungen infolge von Kurzarbeitszeiten bei der Berechnung der Höhe des Vergütungsanspruchs während des Erholungsurlaubs berücksichtigt werden dürfen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Charta

4.        Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“

2.      Richtlinie 2003/88

5.        In Art. 1 der Richtlinie 2003/88/EG betreffend bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (im Folgenden: Richtlinie 2003/88 oder Arbeitszeitrichtlinie)(2) werden Gegenstand und Anwendungsbereich der Richtlinie definiert:

„(1)      Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2)      Gegenstand dieser Richtlinie sind

a)      … der Mindestjahresurlaub …

…“

6.        „Arbeitszeit“ ist nach Art. 2 Abs. 1 definiert als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Art. 2 Abs. 2 definiert „Ruhezeit“ als „jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“.

7.        Art. 7 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedsstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)      Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

8.        Gemäß Art. 15 „[bleibt d]as Recht der Mitgliedstaaten, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten, … unberührt“.

B.      Deutsches Recht

1.      Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer

9.        Nach § 3 Abs. 1 des Mindesturlaubsgesetzes für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz – BUrlG)(3) „[beträgt d]er Urlaub … jährlich mindestens 24 Werktage“.

10.      § 11 Abs. 1 bestimmt:

„Das Urlaubsentgelt bemisst sich nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst, das der Arbeitnehmer in den letzten dreizehn Wochen vor dem Beginn des Urlaubs erhalten hat, mit Ausnahme des zusätzlich für Überstunden gezahlten Arbeitsverdienstes. … Verdienstkürzungen, die im Berechnungszeitraum infolge von Kurzarbeit, Arbeitsausfällen oder unverschuldeter Arbeitsversäumnis eintreten, bleiben für die Berechnung des Urlaubsentgelts außer Betracht. …“

11.      § 13 Abs. 1 ermöglicht es den Tarifvertragsparteien, von den Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes mit Ausnahme der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 abzuweichen. Nach § 13 Abs. 2 können die Parteien im Bereich des Baugewerbes auch von diesen §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 abweichen, soweit dies zur Sicherung eines zusammenhängenden Jahresurlaubs für alle Arbeitnehmer erforderlich ist.

2.      Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe

12.      § 8 Nr. 1 des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe (BRTV-Bau)(4) sieht vor:

„1.1      Der Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr (Urlaubsjahr) Anspruch auf 30 Arbeitstage bezahlten Erholungsurlaub.

1.4      Die Urlaubsdauer richtet sich nach den in Betrieben des Baugewerbes zurückgelegten Beschäftigungstagen.

…“

13.      § 8 Nr. 2 regelt die Ermittlung der Urlaubsdauer:

„…

2.2      Der Arbeitnehmer erwirbt nach jeweils 12 – als Schwerbehinderter nach jeweils 10,3 – Beschäftigungstagen Anspruch auf einen Tag Urlaub.

2.3      Beschäftigungstage sind alle Kalendertage des Bestehens von Arbeitsverhältnissen in Betrieben des Baugewerbes während des Urlaubsjahres. Ausgenommen hiervon sind Tage, an denen der Arbeitnehmer der Arbeit unentschuldigt ferngeblieben ist und Tage unbezahlten Urlaubs, wenn dieser länger als 14 Tage gedauert hat.“

14.      § 8 Nr. 4 regelt die Urlaubsvergütung und lautet wie folgt:

„4.1      Der Arbeitnehmer erhält für den Urlaub gemäß Nr. 1 eine Urlaubsvergütung.

Die Urlaubsvergütung beträgt 14,25 v. H., bei Schwerbehinderten im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen 16,63 v. H. des Bruttolohnes. Die Urlaubsvergütung besteht aus dem Urlaubsentgelt in Höhe von 11,4 v. H. – bei Schwerbehinderten in Höhe von 13,3 v. H. – des Bruttolohnes und dem zusätzlichen Urlaubsgeld. Das zusätzliche Urlaubsgeld beträgt 25 v. H. des Urlaubsentgelts. Es kann auf betrieblich gewährtes zusätzliches Urlaubsgeld angerechnet werden.

Die Urlaubsvergütung für den nach dem 31. Dezember 2015 und vor dem 1. Januar 2018 entstandenen Urlaub beträgt 13,68 v. H., bei Schwerbehinderten im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen 15,96 v. H. des Bruttolohnes. Die Urlaubsvergütung besteht aus dem Urlaubsentgelt in Höhe von 11,4 v. H. – bei Schwerbehinderten in Höhe von 13,3 v. H. – des Bruttolohnes und dem zusätzlichen Urlaubsgeld. Das zusätzliche Urlaubsgeld beträgt 20,0 v. H. des Urlaubsentgelts. Es kann auf betrieblich gewährtes zusätzliches Urlaubsgeld angerechnet werden.

4.2      Bruttolohn ist

a)      der für die Berechnung der Lohnsteuer zugrunde zu legende und in die Lohnsteuerbescheinigung einzutragende Bruttoarbeitslohn einschließlich der Sachbezüge, die nicht pauschal nach § 40 EStG versteuert werden,

4.3      Die Urlaubsvergütung für teilweise geltend gemachten Urlaub wird berechnet, indem die gemäß Nr. 4.1 errechnete Urlaubsvergütung durch die Summe der gemäß Nr. 2 ermittelten Urlaubstage geteilt und mit der Zahl der beanspruchten Urlaubstage vervielfacht wird.

4.5      Am Ende des Urlaubsjahres sind Restansprüche auf Urlaubsvergütung in das folgende Kalenderjahr zu übertragen.“

15.      § 8 Nr. 5:

„5.1      Für jede Ausfallstunde wegen unverschuldeter Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit, für die kein Lohnanspruch bestand, erhöht sich die nach Nr. 4.1 errechnete Urlaubsvergütung um 14,25 % des zuletzt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VTV [(Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe)] gemeldeten Bruttolohnes.

5.2      Für jede Ausfallstunde in dem Zeitraum vom 1. Dezember bis 31. März, für die der Arbeitnehmer Saison-Kurzarbeitergeld bezieht, erhöht sich die nach Nr. 4.1 errechnete Urlaubsvergütung nach Ablauf dieses Zeitraumes um 14,25 % des zuletzt nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VTV gemeldeten Bruttolohnes. Dabei bleiben die ersten 90 Ausfallstunden mit Bezug von Saison-Kurzarbeitergeld unberücksichtigt.

5.4      Für den nach dem 31. Dezember 2015 und vor dem 1. Januar 2018 entstandenen Urlaub beträgt der Prozentsatz für die Mindesturlaubsvergütung abweichend von den Nrn. 5.1 und 5.2 jedoch 13,68 v. H.“

III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

16.      Herr Hein (im Folgenden auch: Kläger) ist seit 1980 als Betonbauer bei der Albert Holzkamm GmbH & Co. (im Folgenden: Beklagte oder Arbeitgeberin) beschäftigt. Im Jahr 2015 betrug sein Stundenlohn 19,57 Euro (brutto), im Jahr 2016 20,04 Euro (brutto).

17.      Die Arbeitgeberin ordnete durch Betriebsvereinbarungen für die Monate August, September, Oktober und November 2015 Kurzarbeit an. Mit weiteren Kurzarbeitszeiten in anderen Monaten desselben Jahres befand sich Herr Hein im Jahr 2015 insgesamt 26 Wochen in Kurzarbeit.

18.      Für das Jahr 2015 hatte er Anspruch auf 30 Tage Jahresurlaub. Vom 19. Oktober 2015 bis 31. Oktober 2015 nahm er zehn seiner Urlaubstage, was gemessen an seiner wöchentlichen Arbeitszeit im Oktober (41 Stunden) insgesamt 82 Arbeitsstunden entspricht. Die Arbeitgeberin berechnete das Urlaubsentgelt(5) mit einem Stundenlohn von rund 10,96 Euro (brutto). Im Vergleich mit Herrn Heins gewöhnlichem Stundenlohn im Jahr 2015 (19,57 Euro brutto) besteht eine Differenz von rund 705,88 Euro (brutto): dies ist der von ihm geltend gemachte Betrag. Hinsichtlich des tarifvertraglich vereinbarten zusätzlichen Urlaubsgeldes macht er eine Differenz von 176,50 Euro (brutto) geltend. Herr Hein nahm des Weiteren am 22. Dezember 2015 einen Tag Urlaub. Für diesen Tag macht er als Urlaubsentgelt 69,45 Euro (brutto) und 17,22 Euro (brutto) als zusätzliches Urlaubsgeld geltend.

19.      Im Jahr 2016 nahm Herr Hein Erholungsurlaub vom 4. Oktober bis 28. Oktober, insgesamt 155,5 Stunden. Die Arbeitgeberin berechnete die Urlaubsvergütung mit einem Stundenlohn von rund 11,76 Euro (brutto). Im Vergleich mit seinem Stundenlohn im Jahr 2016 – 20,04 Euro (brutto) – macht Herr Hein eine Differenz von rund 1 287,85 Euro (brutto) geltend. Hinsichtlich des zusätzlichen Urlaubsgeldes macht er 413,39 Euro (brutto) geltend.

20.      Herr Hein ist der Ansicht, dass die Kurzarbeitszeiten in beiden Jahren nicht zu einer Minderung seines Anspruchs auf Urlaubsvergütung führen sollten. Die tarifliche Regelung des § 8 BRTV-Bau führe zu einer erheblichen Minderung der Urlaubsvergütung bei Kurzarbeit. Daher beantragt er vor dem vorlegenden Gericht, seine Arbeitgeberin zur Zahlung einer Urlaubsvergütung in Höhe von 2 670,27 Euro (brutto) zuzüglich Zinsen zu verurteilen.

21.      Die Albert Holzkamm GmbH & Co. ist der Auffassung, dass die Regelung in § 8 BRTV-Bau von § 13 Abs. 1 und 2 BUrlG gedeckt sei. Die gesetzliche Regelung des § 13 BUrlG und die darauf fußende tarifvertragliche Regelung seien unionsrechtskonform. Es sei weiterhin zu berücksichtigen, dass die Tarifvertragsparteien in der Neuregelung des BRTV-Bau auf eine Reduzierung der Anzahl der zu beanspruchenden Urlaubstage im Fall einer zuvor angeordneten Kurzarbeit verzichtet hätten. Ein Ausgleich für zuvor angeordnete Kurzarbeit sei jedoch bei der Höhe der Urlaubsvergütung vereinbart worden. Die Arbeitgeberin beantragt daher, die Klage von Herrn Hein abzuweisen.

22.      Vor diesem tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund hat das Arbeitsgericht Verden (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 31 der Grundrechtecharta der Europäischen Union und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung dahin auszulegen, dass sie einer nationalen gesetzlichen Regelung entgegenstehen, nach der in Tarifverträgen bestimmt werden kann, dass Verdienstkürzungen, die im Berechnungszeitraum infolge von Kurzarbeit eintreten, auf die Berechnung des Urlaubsentgeltes Einfluss haben, mit der Folge, dass der Arbeitnehmer für die Dauer des jährlichen Mindesturlaubs von vier Wochen eine geringere Urlaubsvergütung – bzw. nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine geringere Urlaubsabgeltung – erhält, als er erhielte, wenn der Berechnung der Urlaubsvergütung der durchschnittliche Arbeitsverdienst zugrunde gelegt wird, den der Arbeitnehmer im Berechnungszeitraum ohne solche Verdienstkürzungen erhalten hätte? Falls ja: Welchen prozentualen Umfang, gemessen am ungekürzten durchschnittlichen Arbeitsverdienst des Arbeitnehmers, dürfte eine in nationalen gesetzlichen Regelungen ermöglichte tarifliche Verringerung der Urlaubsvergütung infolge von Kurzarbeit im Berechnungszeitraum höchstens haben, damit von einer unionsrechtskonformen Auslegung dieser nationalen Regelung ausgegangen werden kann?

2.      Falls Frage 1 bejaht wird: Gebieten es der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot, die Möglichkeit, sich auf die Auslegung zu berufen, die der Gerichtshof den Bestimmungen in Art. 31 der Charta und in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 durch die im vorliegenden Verfahren zu erlassende Vorabentscheidung gibt, mit Wirkung für alle Betroffenen zeitlich zu beschränken, weil die nationale höchstrichterliche Rechtsprechung zuvor entschieden hat, die einschlägigen nationalen gesetzlichen und tariflichen Normen seien einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich? Falls der Gerichtshof dies verneint: Ist es mit Unionsrecht vereinbar, wenn die innerstaatlichen Gerichte auf der Grundlage nationalen Rechts den Arbeitgebern, die auf den Fortbestand der nationalen höchstrichterlichen Rechtsprechung vertraut haben, Vertrauensschutz gewähren, oder ist die Gewährung von Vertrauensschutz dem Gerichtshof der Europäischen Union vorbehalten?

23.      Schriftliche Erklärungen haben der Kläger, die Beklagte, die deutsche und die italienische Regierung sowie die Europäische Kommission eingereicht. Mit Ausnahme der italienischen Regierung haben alle Verfahrensbeteiligten in der Sitzung vom 14. Juni 2018 mündliche Ausführungen gemacht.

IV.    Würdigung

24.      In diesen Schlussanträgen werde ich als ersten Punkt die möglichen Auswirkungen dessen erörtern, dass die nationale Regelung Teil eines Tarifvertrags ist, der von den grundsätzlich anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften über den Erholungsurlaub abweicht, um den spezifischen Gegebenheiten im Baugewerbe Rechnung zu tragen (A). Als Zweites werde ich die unionsrechtlichen Mindestanforderungen für den Anspruch auf Jahresurlaub darlegen, insbesondere für die Vergütung während des Jahresurlaubs (B). Drittens werde ich prüfen, ob das Unionsrecht im vorliegenden Fall einer Berücksichtigung der Kurzarbeitszeiten für die Berechnung der Urlaubsvergütung entgegensteht (C).

A.      Ein Tarifvertrag im Baugewerbe

25.      Das Baugewerbe weist bestimmte ihm innewohnende Besonderheiten auf. Die Branche unterliegt im Jahresverlauf arbeitszeitlichen Schwankungen, insbesondere wegen sich ändernder Wetterbedingungen oder wirtschaftlichen Vorkommnissen. Daher sind die Arbeitnehmer in dieser Branche, vor allem (jedoch nicht nur) im Winter, der sogenannten Kurzarbeit sowie Phasen von hoher Arbeitsbelastung mit unvermeidlichen Überstunden ausgesetzt. Diese arbeitszeitlichen Schwankungen führen dazu, dass die Berechnung des Jahresurlaubs sowie der Urlaubsvergütung schwierig sein kann.

26.      Nach § 11 Abs. 1 BUrlG wird als Grundlage zur Berechnung des Urlaubsentgelts der durchschnittliche Verdienst des Arbeitnehmers ohne Berücksichtigung von Überstunden herangezogen. Der Durchschnitt wird anhand eines Zeitraums von 13 Wochen (Referenzzeitraum) unmittelbar vor Antritt des Erholungsurlaubs ermittelt. Verdienstkürzungen während des Referenzzeitraums infolge von Kurzarbeit werden bei der Berechnung des Urlaubsentgelts nicht berücksichtigt.

27.      § 13 BUrlG enthält jedoch die Bestimmung, dass in Tarifverträgen des Baugewerbes von dieser Regelung im BUrlG abgewichen werden kann. Der BRTV-Bau hat für den Jahresurlaub hinsichtlich der Berechnung sowohl der Dauer (30 Werktage anstelle von 24) als auch der Höhe der Vergütung des Jahresurlaubs von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht. Insbesondere für die Berechnung des durchschnittlichen Bruttostundenlohns berücksichtigt das in § 8 Nr. 4 BRTV-Bau geregelte System zur Urlaubsvergütung Verdienstkürzungen infolge von Kurzarbeit.

28.      In diesem spezifischen Regelungszusammenhang vertritt die deutsche Regierung die Auffassung, dass Gegenstand des vorliegenden Falles die Vereinbarkeit der die Abweichung erlaubenden Regelung (also § 13 BUrlG) und nicht die der materiellen Bestimmungen des BRTV-Bau mit dem Unionsrecht seien. Auch das vorlegende Gericht hat seine erste Vorlagefrage ausgehend davon gestellt, dass diese Rechtsvorschrift den Tarifparteien eine Abweichung gestatte.

29.      Ich stimme zu, dass das BUrlG – formal betrachtet – tatsächlich in erster Linie als Quelle möglicher Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht angesehen werden kann, soweit es den Tarifparteien erlaubt, von der ansonsten allgemein anwendbaren nationalen Regelung abzuweichen. Davon abgesehen kann ich jedoch nicht erkennen, was materiell-rechtlich in der vorliegenden Rechtssache hinsichtlich des BUrlG geprüft werden sollte, da die streitigen anwendbaren Bestimmungen für beide Kernelemente des vorliegenden Falles, die Dauer und die Vergütung des Jahresurlaubs, im BRTV-Bau enthalten sind.

30.      Hier sei daran erinnert, dass die anwendbaren nationalen Vorschriften, auch wenn sie durch Tarifparteien aufgestellt und vereinbart werden, jedenfalls solange nicht dem Geltungsbereich des Unionsrechts entzogen sind, wie sie materiell‑rechtlich von seinem Geltungsbereich erfasst werden. Der Gerichtshof hat bereits in der Vergangenheit die materiell-rechtliche Vereinbarkeit von Tarifverträgen mit dem Unionsrecht geprüft, auch für den Fall, dass der Tarifvertrag von den nationalen Rechtsvorschriften abweicht(6). Wenn Tarifparteien Maßnahmen im Geltungsbereich des Unionsrechts beschließen, müssen sie dieses auch beachten(7).

31.      Aus unionsrechtlicher Sicht ist es unerheblich, dass die Vorschriften eines Tarifvertrags nicht von den Einrichtungen des Mitgliedstaats aufgestellt werden. Maßgeblich ist vielmehr, dass diese Einrichtungen solche Vorschriften zugelassen und sie zu einem Teil der anwendbaren rechtlichen Regelungen in der entsprechenden Branche erklärt haben sowie sie durch die Gerichte des Staates durchsetzen lassen. Zusammengefasst führt das gesetzgeberische „Outsourcing“ in unterschiedlicher Form weder dazu, dass Unionsrecht nicht mehr anwendbar ist, noch dazu, dass dem Mitgliedstaat seine Letztverantwortung für den Inhalt der Bestimmungen entzogen wird(8).

32.      Daher ist der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache eindeutig zuständig, die materiell-rechtliche Vereinbarkeit der beanstandeten Bestimmungen des BRTV-Bau mit dem Unionsrecht zu prüfen.

33.      Der Umstand, dass die streitigen Bestimmungen von Tarifparteien in Form eines Tarifvertrags vereinbart wurden, entzieht diese zwar nicht dem Geltungsbereich des Unionsrechts, ist aus meiner Sicht jedoch in anderer Hinsicht von Bedeutung.

34.      Das Unionsrecht anerkennt die Bedeutung des sozialen Dialogs. Art. 28 der Charta garantiert das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen. Tarifverträge sind Ausdruck des sozialen Dialogs. Ihre (branchenspezifischen) Vorschriften weisen wohl ein erhöhtes Maß an Legitimität auf, weil sie nicht einseitig (und für die Allgemeinheit) von staatlichen Einrichtungen auferlegt, sondern von den betroffenen sozialen Akteuren verhandelt werden, die dabei typischerweise die besonderen Gegebenheiten der jeweiligen Branche im Blick haben. Im Ergebnis können wir daher davon ausgehen, dass Tarifverträge ein wohlaustariertes Gesamtgleichgewicht zwischen den Interessen der Arbeitnehmer auf der einen und denen der Arbeitgeber auf der anderen Seite darstellen.

35.      In diesem Zusammenhang sollte das „Gesamtgleichgewicht“ besonders betont werden.Sofern gesetzlich gestattet, ist es unwahrscheinlich, dass Tarifverträge nur in einem oder zwei Aspekten vom anwendbaren nationalen (Arbeits‑)Recht abweichen. Üblicherweise schaffen sie wesentlich komplexere Strukturen und beinhalten eine Reihe von Kompromissen und Zugeständnissen. Daher dürfen ihre Vorschriften nicht isoliert, sondern müssen als Teil eines Gesamtpakets betrachtet werden.

B.      Unionsrechtliche Mindestanforderungen für den Jahresurlaub

36.      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht für Arbeitnehmer lediglich einen Mindestschutz bietet, einschließlich des Rechts auf Jahresurlaub(9). Es ist Aufgabe der Mitgliedstaaten, die Bedingungen für die Geltendmachung des Anspruchs innerhalb der Grenzen des Unionsrechts festzulegen, ohne es dabei in seinem Kern zu verändern(10). Für das Unionsrecht ist letztendlich nur maßgeblich, dass eine tatsächliche Möglichkeit zur Wahrnehmung des Rechts besteht und somit der Kern des Anspruchs auf Jahresurlaub nicht berührt wird(11).

37.      Was genau sind nun die Mindestanforderungen hinsichtlich des Anspruchs auf Jahresurlaub, die das nationale Recht, einschließlich der Tarifverträge, erfüllen muss, um mit dem Unionsrecht im Einklang zu stehen?

38.      Gemäß Art. 31 Abs. 2 der Charta hat jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub: weitere Einzelheiten dazu werden nicht genannt. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, der nach einem Urteil des Gerichtshofs unmittelbar anwendbar ist(12), ist spezifischer Ausdruck dieses Rechts. Danach treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

39.      Der Gerichtshof hat bei verschiedenen Gelegenheiten betont, dass das Recht auf bezahlten Jahresurlaub, ein besonders wichtiger Grundsatz des unionsrechtlichen Sozialrechts ist(13) und jedem Arbeitnehmer eine Zeit für Ruhe sowie für Erholung und Muße bieten soll(14). Das Recht besteht aus zwei Komponenten: dem Anspruch auf den Jahresurlaub selbst sowie dem Anspruch auf eine Vergütung während dieses Jahresurlaubs(15). Es darf nicht restriktiv ausgelegt werden(16).

40.      Speziell zur Komponente Urlaubsvergütung enthält die Richtlinie 2003/88 keine Bestimmung(17). Nach ständiger Rechtsprechung ist dem Arbeitnehmer jedoch das gewöhnliche Arbeitsentgelt für den Erholungsurlaub zu zahlen, das der Anzahl der in Anspruch genommenen Urlaubsstunden entspricht(18). Sie müssen vergleichbar sein mit den Arbeitszeiten, die bereits abgeleistet wurden(19). Der Zweck der Zahlung des „gewöhnlichen Arbeitsentgelts“ liegt darin, dass der Arbeitnehmer die ihm zustehenden Urlaubstage für seine persönliche Erholung in Anspruch nehmen soll. Ist die Urlaubsvergütung zu niedrig, könnte der Arbeitnehmer versucht sein, von einer Inanspruchnahme seines Jahresurlaubs abzusehen. Damit würde das Recht auf Jahresurlaub inhaltlich ausgehöhlt(20).

41.      Diesen Ausführungen ist nicht unmittelbar zu entnehmen, wie hoch in Fällen, in denen während des Referenzzeitraums variable Arbeitszeiten gegeben sind, das „gewöhnliche Arbeitsentgelt“ während des Jahresurlaubs ist. Durch die arbeitszeitlichen Schwankungen wird die Berechnung des Jahresurlaubs schwieriger, hinsichtlich sowohl seiner Dauer als auch der Höhe seiner Vergütung, was auch in einer Reihe von vom Gerichtshof behandelten Fällen bestätigt wird.

42.      Erstens hat der Gerichtshof für die Auswirkungen von Krankheitszeiten auf den Jahresurlaub klargestellt, dass diese den Anspruch auf Jahresurlaub nicht berühren(21). „[E]in Mitgliedstaat [kann] den nach der Richtlinie 2003/88 allen Arbeitnehmern zustehenden Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub … nicht von der Voraussetzung abhängig machen …, dass sie während des von diesem Staat festgelegten Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet haben.“(22) Auch Krankheitszeiten, wenn weder beabsichtigt noch vorhersehbar, berühren die Dauer und die Höhe der Vergütung des Jahresurlaubs nicht. Daraus folgt, dass die Ableistung von weniger tatsächlichen Arbeitsstunden wegen Krankheit keine Auswirkung auf den Anspruch auf Jahresurlaub hat(23).

43.      Zweitens sollte bei Tätigkeiten mit verschiedenen Aufgaben und Arbeitszeiten das „gewöhnliche Arbeitsentgelt“ so berechnet werden, dass es den vom Arbeitnehmer ausgeführten Aufgaben entspricht. Im Urteil Williams gab der Gerichtshof Hinweise für die Bestimmung des „gewöhnlichen Arbeitsentgelts“ eines Piloten. Danach kann in Fällen, in denen die Vergütung des Arbeitnehmers aus verschiedenen Bestandteilen besteht und den Vorschriften und Gepflogenheiten nach dem Recht der Mitgliedstaaten unterliegt, „[diese] Struktur … keinen Einfluss auf den … Anspruch des Arbeitnehmers haben …, während des ihm für Erholung und Entspannung zur Verfügung stehenden Zeitraums in den Genuss wirtschaftlicher Bedingungen zu kommen, die mit denen vergleichbar sind, die die Ausübung seiner Arbeit betreffen. … Daher muss jede Unannehmlichkeit, die untrennbar mit der Erfüllung der dem Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben verbunden ist und durch einen in die Berechnung des Gesamtentgelts des Arbeitnehmers eingehenden Geldbetrag abgegolten wird, … zwingend Teil des Betrags sein, auf den der Arbeitnehmer während seines Jahresurlaubs Anspruch hat. … Dagegen müssen Bestandteile des Gesamtentgelts des Arbeitnehmers, die ausschließlich gelegentlich anfallende Kosten oder Nebenkosten decken sollen, welche bei der Erfüllung der dem Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben entstehen, wie Kosten, die mit dem Zeitraum verbunden sind, in dem sich die Piloten gezwungenermaßen nicht am Stützpunkt aufhalten, bei der Berechnung der für den Jahresurlaub zu entrichtenden Zahlung nicht berücksichtigt werden“(24).

44.      Das „gewöhnliche Arbeitsentgelt“ soll also anscheinend ein „Spiegel“ der „üblichen“ Arbeitsbedingungen sein, die Kern der jeweiligen Art der Tätigkeit sind. Abstrakt gesehen scheint die Höhe der Urlaubsvergütung im Licht der Gesamtvergütung bestimmt werden zu müssen, die der Arbeitnehmer als Gegenleistung für die von ihm tatsächlich und regelmäßig ausgeübten Aufgaben erhält.

45.      Drittens hat der Gerichtshof hinsichtlich der Auswirkungen von Kurzarbeit auf das Recht auf Jahresurlaub unter Hinweis auf die unionsrechtliche Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit den Pro-rata-temporis-Grundsatz auf die Dauer des Jahresurlaubs angewandt, so dass diese im Verhältnis zu der tatsächlichen (Teilzeit‑)Arbeit steht. Zum Beispiel hat er im Urteil Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, in dem es um die Auswirkungen einer Änderung von Vollzeit- zu Teilzeitarbeit auf das Recht auf bezahlten Jahresurlaub ging, festgestellt, dass die Verringerung des Anspruchs auf Jahresurlaub für einen solchen Zeitraum in Bezug auf den für einen Zeitraum in Vollzeitbeschäftigung gewährten Anspruch aus objektiven Gründen gerechtfertigt ist. Hingegen kann dieser Grundsatz nicht nachträglich auf einen Anspruch auf Jahresurlaub angewandt werden, der in einer Zeit der Vollzeitbeschäftigung erworben wurde(25).

46.      Später dehnte der Gerichtshof im Urteil Heimann und Toltschin die Anwendung des Pro-rata-temporis-Grundsatzes auf eine sehr ungewöhnliche Form der Kurzarbeit, die sogenannte „Kurzarbeit Null“, aus. Diese Situation entstand durch einen Sozialplan(26) für entlassene, zuvor in Vollzeit arbeitende Arbeitnehmer, die anstelle des Jahresurlaubs eine finanzielle Vergütung erhielten. In Bezug auf diese besondere Konstellation erklärte der Gerichtshof die betroffenen Arbeitnehmer zu faktisch „vorübergehend teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern“(27) und wandte dann den Pro-rata-temporis-Grundsatz an. Im Urteil Heimann und Toltschin hat er also im Grunde den Proratatemporis‑Grundsatz auf die Bestimmung der Dauer des Jahresurlaubs für eine bestimmte Art von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern übertragen. Auf diese Weise hat der Gerichtshof die Dauer des Jahresurlaubs an die tatsächlich geleistete Arbeit dieser Arbeitnehmer angepasst.

47.      Bisher hat der Gerichtshof den Pro-rata-temporis-Grundsatz jedoch nicht auf den Vergütungsanspruch während des Jahresurlaubs angewandt. Gleichwohl könnte dieser Grundsatz auch auf eine Reihe von Zusatzleistungen für Teilzeitarbeitnehmer Auswirkungen haben. In der Rechtssache Schönheit und Becker zog der Gerichtshof den Pro-rata-temporis-Grundsatz beispielsweise heran, um das Ruhegehalt einer teilzeitbeschäftigten Person zu berechnen (und somit zu reduzieren)(28). Er bestand darauf, dass die Verringerung des Ruhegehalts streng proportional zu erfolgen habe(29). Auch im Urteil Österreichischer Gewerkschaftsbund(30) entschied der Gerichtshof für eine andere Art von Zusatzleistung, eine Kinderzulage, dass, für den Fall, dass der Arbeitnehmer gemäß den Bestimmungen des Arbeitsverhältnisses in jener Rechtssache teilzeitbeschäftigt ist, die Berechnung der Kinderzulage nach dem Pro-rata-temporis-Grundsatz objektiv gerechtfertigt sei. Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass Teilzeitbeschäftigte Anspruch auf Zahlung eines Betrags haben, der im Verhältnis zu ihren tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zu berechnen ist.

48.      Schließlich beschäftigte sich der Gerichtshof in der Rechtssache Greenfield mit der gegensätzlichen Situation, dass die Anzahl der Arbeitsstunden gestiegen war, nicht im Zusammenhang mit Kurzarbeit, sondern infolge von unvorhersehbaren Arbeitszeitschwankungen. In jenem Fall sah der Arbeitsvertrag vor, dass sich die Arbeitszeiten von Woche zu Woche ändern konnten. Dementsprechend änderte sich auch das Arbeitsentgelt wöchentlich. Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass die Berechnung der Ansprüche auf bezahlten Mindestjahresurlaub im Hinblick auf die als Arbeit geleisteten und im Arbeitsvertrag hierfür vorgesehenen Tage oder Stunden vorzunehmen sei(31). Im Ergebnis müssen die Mitgliedstaaten bei Arbeitszeitschwankungen nicht rückwirkend berechnen, wie viele Urlaubstage vor der Schwankung bereits angesammelt (und vielleicht in Anspruch genommen) wurden. Nach dem Unionsrecht muss vielmehr lediglich für den auf die Schwankung folgenden Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer mehr gearbeitet hat, neu berechnet werden(32). Auch diese Entscheidung zeigt, dass der Jahresurlaub – abgesehen von mit Krankheitszeiten vergleichbaren Fällen – eher auf den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden beruht.

49.      Im Ergebnis wird der Jahresurlaub bei Arbeitszeitschwankungen aus unterschiedlichen Anlässen also im Allgemeinen anhand der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit berechnet. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das zur Schwankung führende Ereignis vorhersehbar ist oder willentlich eintritt, typischerweise, weil sie der Art des betreffenden Arbeitsverhältnisses immanent ist, wie beispielsweise bei bestimmten Tätigkeiten oder bei Teilzeitbeschäftigten und bestimmten Kurzarbeitern, die Ersteren gleichgestellt werden können. Die einzige klare Ausnahme von der „Regel der tatsächlichen Arbeitszeit“ betrifft Arbeitszeitschwankungen aufgrund von Krankheit. Durch diese Ausnahme soll gewährleistet werden, dass ein unvorhersehbares oder zufälliges Ereignis, wie krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, das eigenständige Recht auf Jahresurlaub nicht über Gebühr berührt, dessen Zweck sich von dem des Anspruchs auf Krankheitsurlaub sehr stark unterscheidet. Abgesehen von diesem speziellen Fall scheint die tatsächliche Arbeitszeit im Gegensatz zur theoretischen das Standardmaß für die Berechnung des Jahresurlaubs zu sein(33).

C.      Zur vorliegenden Rechtssache

50.      Die im Ausgangsverfahren streitige Regelung betrifft die Berechnungsweise der Urlaubsvergütung, die im Tarifvertrag für die Bauwirtschaft, dem BRTV-Bau, vereinbart ist. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob es unionsrechtlich zulässig ist, bei der Berechnung dieser Vergütung die (durch Betriebsvereinbarung) tarifvertraglich geregelte Verkürzung der tatsächlichen Arbeitszeit (und somit des Arbeitsentgelts) wegen Kurzarbeit zu berücksichtigen, und zwar im besonderen Rahmen einer – formal betrachtet – Beschäftigung in Vollzeit, aber in einer Branche mit erheblich schwankenden Arbeitszeiten.

51.      Dem vorlegenden Gericht zufolge verknüpfen die deutschen Regelungen zum Jahresurlaub die Höhe der Urlaubsvergütung mit dem tatsächlichen Verdienst des Arbeitnehmers im Referenzzeitraum. Auf der Grundlage dieses tatsächlichen Verdiensts, der seinerseits auf der tatsächlichen Arbeitszeit beruht, wird der maßgebliche Stundenlohn berechnet, der dann für die Berechnung der Gesamturlaubsvergütung herangezogen wird.

52.      Der Kläger trägt vor, dass die Kurzarbeit während des Referenzzeitraums eine Kürzung des durchschnittlichen Stundenlohns um fast 50 % zur Folge gehabt habe, der für die Berechnung der Urlaubsvergütung maßgeblich sei. Werde über den gesamten Referenzzeitraum hinweg Kurzarbeit geleistet, könne der durchschnittliche Stundenlohn in dieser Zeit auch auf null herabsinken. Die Höhe der Urlaubsvergütung müsse jedoch mindestens der Höhe der Vergütung entsprechen, die der Arbeitnehmer erhalten hätte, wenn er in seinen üblichen Arbeitszeiten weitergearbeitet hätte. Der Anspruch auf Urlaubsvergütung sei ein echter Anspruch auf Vergütung. Daher solle der „Wert“ des Jahresurlaubs nicht von dem Zeitpunkt abhängen, wann er während des Referenzzeitraums genommen werde.

53.      Nach Ansicht der Beklagten weist der BRTV-Bau bereits einen hohen Schutz für Arbeitnehmer im Baugewerbe auf. Angesichts der Vorteile des Tarifvertrags seien die Nachteile einer geringeren Urlaubsvergütung vernachlässigbar. Beispielsweise hätten die Arbeitnehmer anstelle von 24 Urlaubstagen bei einer 6‑Tage-Woche 30 Tage bezahlten Jahresurlaub bei einer 5‑Tage-Woche. Die Anzahl der Urlaubstage werde bei vereinbarter Kurzarbeit nicht herabgesetzt. Außerdem würden bei der Berechnung der Urlaubsvergütung Überstunden berücksichtigt.

54.      Des Weiteren hätten die Arbeitnehmer während des Kurzarbeitszeitraums die Möglichkeit, sich zu erholen und Freizeitaktivitäten nachzugehen, da ihre Arbeitsverpflichtungen gegenüber dem Arbeitgeber außer Kraft gesetzt seien. Auch erhalte der Arbeitnehmer während der Kurzarbeit trotz der Aussetzung seiner Verpflichtungen dennoch eine (steuerfreie) Mindestvergütung gemäß den einschlägigen Tabellen, die jährlich von der Bundesregierung veröffentlicht würden. Der Arbeitnehmer zahle außerdem weiterhin die Sozialabgaben für den Arbeitnehmer in voller Höhe (Kranken- und Rentenversicherung). Schließlich seien Kurzarbeitszeiträume, die im Wesentlichen wirtschaftlich bedingten Entlassungen vorbeugen sollen, vorhersehbar, da sie bereits im Tarifvertrag geregelt worden seien.

55.      Nach Ansicht der deutschen Regierung steht das Unionsrecht der Berechnung der Urlaubsvergütung anhand des tatsächlich enthaltenen Durchschnittverdiensts während des Referenzzeitraums unter Berücksichtigung einer Verdienstkürzung wegen Kurzarbeit nicht entgegen. Eine Regelung, die hinsichtlich eines spezifischen Gesichtspunkts zum Nachteil des Arbeitnehmers erscheine, sei Teil eines von den Tarifparteien vereinbarten Regelwerks, was bei der Bewertung dieser Einzelregelung berücksichtigt werden sollte. Es sei davon auszugehen, dass der Tarifvertrag ausgewogen sei. Die potenziell „negativen“ Auswirkungen würden von anderen Regelungen des Tarifvertrags mit positiven Auswirkungen für die Arbeitnehmer zum Ausgleich der der Baubranche innewohnenden härteren Umstände ausgeglichen, wie die Zahlung von zusätzlichem Urlaubsgeld oder einem höheren Basisverdienst.

56.      Die Kommission sieht keinen Grund, die Charta an sich zu prüfen, denn Art. 7 der Richtlinie 2003/88 sei eine spezialrechtliche Ausprägung von Art. 31 Abs. 2 der Charta. Der Arbeitnehmer habe Anspruch auf sein gewöhnliches Arbeitsentgelt, das anhand des Durchschnitts eines repräsentativen Referenzzeitraums berechnet werde. Dieser Anspruch kenne keine Ausnahmen oder Abweichungen. Gewähre ein Mitgliedstaat mehr als vier Wochen Jahresurlaub, könnten die Bedingungen dafür frei festgelegt werden, z. B., ob eine Vergütung für nicht in Anspruch genommene Tage gewährt wird und unter welchen Bedingungen dies erfolgen kann. Die Kommission hält die hier streitigen nationalen Vorschriften für mit der Richtlinie 2003/88 vereinbar, falls festgestellt werde, dass die Vorschriften den Pro-rata-temporis-Grundsatz umgesetzt hätten. Es sei Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob der fragliche Tarifvertrag diesen Grundsatz angewandt habe.

57.      Ich stimme der Vorbemerkung der Kommission zu, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta im vorliegenden Fall keine Rolle spielt. Die Vorschrift bestimmt lediglich allgemein und abstrakt, dass jeder Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub hat. Die Charta sieht nicht einmal einen Mindestjahresurlaub, geschweige denn Regeln zur Berechnung der Urlaubsvergütung vor.

58.      Im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und die Rechtsprechung zu dieser Vorschrift stelle ich fest, dass weder dieser Artikel noch die zu seiner Auslegung ergangene Rechtsprechung einen Fingerzeig gibt, wie die Mitgliedstaaten die Urlaubsvergütung genau zu berechnen haben. Die einzige Anforderung, die er stellt, ist die, dass eine solche übliche Vergütung die Mindestanforderungen nicht in einer Art und Weise unterschreiten darf, dass das Recht auf Erholungsurlaub inhaltlich leerläuft. Anhand des dem Gerichtshof vorgelegten Sachverhalts kann ich nicht erkennen, dass im vorliegenden Fall eine solche Gefahr bestünde.

59.      Die Rechtsprechung(34) verlangt, dass Arbeitnehmer während der Urlaubszeit das gewöhnliche Arbeitsentgelt erhalten, so dass ihre wirtschaftlichen Verhältnisse mit denjenigen während der Arbeitszeit vergleichbar sind. Insbesondere muss sichergestellt sein, dass ein Arbeitnehmer nicht dazu verleitet wird, seinen Jahresurlaub nicht in Anspruch zu nehmen, da dadurch das Recht auf Jahresurlaub inhaltlich leerliefe.

60.      Im vorliegenden Fall stellt sich also die Frage, welches „gewöhnliche Arbeitsentgelt“ nach dem Unionsrecht dem Arbeitnehmer zusteht, der sich infolge der Besonderheiten des Baugewerbes recht häufig in Kurzarbeit befindet. Ist es – wie der Kläger vorträgt – die Vergütung, mit der die „theoretische“ Arbeit entgolten würde, hätte der Arbeitnehmer während des Referenzzeitraums normal weitergearbeitet? Oder ist es eher diejenige Vergütung, die der tatsächlich vom Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeit entspricht?

61.      Im Urteil Williams hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Urlaubsvergütung in einer Gesamtbetrachtung der Vergütung zu bestimmen ist, die der Arbeitnehmer tatsächlich als Gegenleistung für die tatsächlich geleistete Arbeit regelmäßig erhalten hat(35). Dementsprechend schließt die Urlaubsvergütung als Mindestanforderung des Unionsrechts die Vergütung ein, die mit der tatsächlich geleisteten Arbeit eng in Verbindung steht. Die Mitgliedstaaten können jedoch günstigere Regelungen erlassen. Entscheiden sie sich dazu, ist dies eine rein einzelstaatliche Sache, denn das Unionsrecht verlangt nicht, dass sie über die Vergütung für die tatsächlich während des Referenzzeitraums geleistete Arbeit hinausgehen.

62.      Darüber hinaus können, da die Urlaubsvergütung vernünftigerweise nicht unabhängig von der Dauer des Jahresurlaubs berechnet werden kann, auch diese beiden Elemente wiederum nicht völlig losgelöst von der Struktur im weiteren Sinne betrachtet werden, zu der sie gehören. Wie die Beklagte und die deutsche Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen und ihren mündlichen Ausführungen herausgestellt haben, ist die hier streitige Regelung Teil eines Gesamtpakets, in dem die Interessen der Tarifparteien in Form des BRTV-Bau ausbalanciert wurden. Für Vereinbarungen zum Jahresurlaub regelt der BRTV-Bau, dass der Jahresurlaub – unabhängig davon, ob sich der Arbeitnehmer in Kurzarbeit befindet oder nicht – 30 Tage pro Jahr zu betragen hat, was die Mindestanforderung der Richtlinie 2003/88 um zehn Tage übersteigt. Bei der Urlaubsvergütung werden für den Fall, dass der Betrag in Abhängigkeit von dem letztgenannten Faktor tatsächlich variiert, Überstunden als Berechnungsgrundlage berücksichtigt, diese also ausgeweitet, und auf die Berechnungsgrundlage ein ziemlich hoher Prozentsatz angewandt. Außerdem ist dem Vortrag der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung zufolge der Referenzzeitraum das gesamte Kalenderjahr, was es ermöglicht, Zeiträume normaler Arbeitszeiten mit denjenigen von Kurzarbeit auszubalancieren. Schließlich haben die Beklagte angedeutet und die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass die Arbeitnehmer während Kurzarbeitszeiten nicht nur weiterhin eine Vergütung erhalten (vom Arbeitgeber gezahltes Kurzarbeitergeld, das dieser von der deutschen Arbeitsagentur letztlich erstattet bekommt(36)), sondern auch weiterhin kranken- und rentenversichert sind.

63.      Der BRTV-Bau sollte – innerhalb gewisser Grenzen – als Ergebnis einer Gesamtabwägung betrachtet werden und aufgrund seiner komplexen Struktur dürfen die einzelnen Vorschriften nicht isoliert, sondern als Teil eines Pakets verstanden werden(37). Aus Sicht des in der Richtlinie 2003/88 verankerten Rechts auf bezahlten Jahresurlaub bleibt unter dem Strich, dass der Kern des Rechts auf Jahresurlaub nicht berührt werden darf. Es trifft in der Tat zu, dass es sich dabei um ein eigenständiges Recht handelt, das einem bestimmten Zweck dienen soll. Daher können eventuelle Beeinträchtigungen dieses Rechts nicht durch andere Arten von sozialen Vergünstigungen aus dem BRTV-Bau „kompensiert“ werden. Falls es einen „Ausgleich“ zwischen Vor- und Nachteilen gibt, muss er daher innerhalb der Vereinbarungen zum Jahresurlaub erfolgen. Der Umstand, dass ein Tarifvertrag in anderer Hinsicht sehr vorteilhaft sein kann, darf sicherlich nicht dazu führen, dass der Kern des Rechts auf Jahresurlaub berührt wird.

64.      Auch wenn dies letztendlich das vorlegende Gericht zu entscheiden hat, scheint dies hier nicht der Fall zu sein. Die deutschen Sozialpartner haben sich für die Lösung entschieden, eine größere Zahl an Tagen Jahresurlaub und eine Urlaubsvergütung zu gewähren, bei deren Berechnung u. a. Überstunden, aber auch Kurzarbeit berücksichtigt werden. Diese Entscheidung der Sozialpartner scheint die Arbeitnehmer nicht davon abzuhalten, ihren Anspruch auf Jahresurlaub einzulösen – eher im Gegenteil. Dass derselbe Betrag über eine größere Anzahl von Tagen verteilt wird, kann sogar als Anreiz für die Arbeitnehmer gesehen werden, die 30 Tage Jahresurlaub in vollem Umfang in Anspruch zu nehmen, um die gesamte jährliche, ihnen nach BRTV-Bau zustehende Urlaubsvergütung zu erhalten. Demnach scheint diese Vereinbarung zum Jahresurlaub den Kern des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub nicht zu verletzen.

65.      Dieses Ergebnis bleibt unberührt von der in der mündlichen Verhandlung umfassend erörterten Frage, ob der Pro-rata-temporis-Grundsatz im vorliegenden Fall angewandt werden könnte. In ihren schriftlichen Erklärungen trug die Kommission vor, dass der vorliegende Fall dem von Teilzeitarbeitnehmern vergleichbar sei. Daher sollte der Pro-rata-temporis-Grundsatz, auch wenn er wohl nicht gedacht sei, auf die Dauer des Jahresurlaubs angewandt zu werden (jedenfalls seien vier Wochen das Mindestmaß), auf die Urlaubsvergütung im vorliegenden Fall Anwendung finden.

66.      Die Kommission stützte sich dabei auf das Urteil Heimann und Toltschin(38).Darin hat der Gerichtshof tatsächlich festgestellt, dass „Kurzarbeiter“, als „vorübergehend teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer“ anzusehen seien, da ihre Situation faktisch der von Teilzeitbeschäftigten vergleichbar sei(39). Der Gerichtshof wandte dann bei der Berechnung der Dauer des Jahresurlaubs den Pro-rata-temporis-Grundsatz auf eine Art von Teilzeitbeschäftigung an.

67.      In der Rechtssache Heimann und Toltschin ging es jedoch um die vollständige Aussetzung der Verpflichtungen sowohl des Arbeitnehmers als auch des Arbeitgebers bei Kurzarbeit-Null, die nach der De-facto-Beendigung des Arbeitsverhältnisses von Herrn Heimann gemäß einem vereinbarten Sozialplan für ein Jahr bestand. In diesem Zusammenhang sah das nationale Recht vor, dass Ansprüche auf Jahresurlaub im Rahmen einer solchen Kurzarbeit-Null anhand des Pro-rata-temporis-Grundsatzes berechnet wird. Die vom vorlegenden Gericht in jener Rechtssache gestellte Frage ging dahin, ob die nationalen Vorschriften, die den Pro-rata-temporis-Grundsatz in solchen Situationen anwandten, mit dem Unionsrecht vereinbar seien, da, falls in einem Jahr tatsächlich keinerlei Arbeit geleistet wurde, die für den Jahresurlaub angesammelten Tage ebenfalls gleich null waren.

68.      In diesem besonderen Zusammenhang stellte der Gerichtshof Kurzarbeiter faktisch mit Teilzeitbeschäftigten gleich und antwortete, dass das Unionsrecht derartigen nationalen Vorschriften nicht entgegenstehe.

69.      Im vorliegenden Fall schlägt die Kommission nun praktisch eine dreifache Erweiterung der Heimann-und-Toltschin-Rechtsprechung vor. Erstens solle Kurzarbeit während eines im Übrigen ersichtlich fortdauernden Beschäftigungsverhältnisses aus praktischen Gründen wie eine Teilzeitbeschäftigung behandelt werden. Zweitens fände dann der Pro-rata-temporis-Grundsatz nicht nur auf die Dauer des Jahresurlaubs, sondern auch auf die Urlaubsvergütung Anwendung. Drittens mutierte die Anwendbarkeit des Pro-rata-temporis-Grundsatzes von einem Instrument, dessen Anwendung den Mitgliedstaaten freisteht und dem das Unionsrecht nicht entgegensteht, unter bestimmten Umständen zu einer den Mitgliedstaaten unionsrechtlich vorgegebenen Verpflichtung, bei der diese prüfen müssten, ob sie die unionsrechtlichen Mindestanforderungen erfüllten oder nicht.

70.      Zudem könnte diese von der Kommission vorgeschlagene dreifache Erweiterung im vorliegenden Fall zu einem ziemlich paradoxen Ergebnis führen, nämlich das den Mitgliedstaaten bei der Berechnung des gewöhnlichen Arbeitsentgelts gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 berechtigterweise zustehende Ermessen, um den in einer bestimmten Branche bereits existierenden Schutz der Arbeitnehmer zu senken, zu entziehen.

71.      All dies spricht nach meiner Auffassung dafür, die anfänglichen Ergebnisse in den Nrn. 58 und 59 der vorliegenden Schlussanträge zu bekräftigen: in Fällen wie dem vorliegenden, sieht das Unionsrecht einfach keine präzisen Regeln für die Berechnung der Urlaubsvergütung vor. Die Mitgliedstaaten können diese selbst festlegen, sofern das Recht auf bezahlten Jahresurlaub durch diese Regeln nicht inhaltlich unterlaufen wird.

72.      Angesichts der vorgeschlagenen Antwort auf die erste Vorlagefrage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

V.      Ergebnis

73.      Im Licht der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Vorlagefrage des Arbeitsgerichts Verden (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung steht einer nationalen gesetzlichen Regelung nicht entgegen, wenn diese – wie im Ausgangsverfahren – vorsieht, dass Verdienstkürzungen, die im Berechnungszeitraum infolge von Kurzarbeit eintreten, auf die Berechnung des Urlaubsentgelts Einfluss haben, mit der Folge, dass der Arbeitnehmer für die Dauer des jährlichen Mindesturlaubs von vier Wochen eine geringere Urlaubsvergütung – bzw. nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine geringere Urlaubsabgeltung – erhält, als er erhielte, wenn der Berechnung der Urlaubsvergütung der durchschnittliche Arbeitsverdienst zugrunde gelegt wird, den der Arbeitnehmer im Berechnungszeitraum ohne solche Verdienstkürzungen erhalten hätte. Es ist jedoch letztendlich Sache des vorlegenden Gerichts, anhand einer Gesamtbetrachtung des Bundestarifvertrags für das Baugewerbe und insbesondere anhand der Vereinbarungen zum Jahresurlaub zu prüfen, ob nicht das Recht auf bezahlten Jahresurlaub durch diese nationalen Regeln inhaltlich unterlaufen wird.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 (ABl. 2003, L 299, S. 9).


3      BGBl. III S. 800-4, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. April 2013 (BGBl. I S. 868).


4      Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 4. Juli 2002 in der Fassung vom 17. Dezember 2003, 14. Dezember 2004, 29. Juli 2005, 19. Mai 2006, 20. August 2007, 31. Mai 2012, 17. Dezember 2012, 5. Juni 2014 und 10. Dezember 2014.


5      Gemäß § 8 Nr. 4 BRTV-Bau besteht die Urlaubsvergütung aus dem Urlaubsentgelt in Höhe von 11,4 v. H. – bei Schwerbehinderten in Höhe von 13,3 v. H. – des Bruttolohns sowie aus dem zusätzlichen Urlaubsgeld. Das zusätzliche Urlaubsgeld ist ein bestimmter Prozentsatz des Urlaubsentgelts. Mit Ausnahme der Fälle, in denen es konkret nur um das Urlaubsentgelt geht, werde ich im Folgenden den Begriff „Urlaubsvergütung“ verwenden.


6      Vgl. z. B. Urteil vom 22. November 2011, KHS (C‑214/10, EU:C:2011:761), in dem der Gerichtshof die Vereinbarkeit einer von der rechtlichen Urlaubsregelung abweichenden tarifvertraglichen Regelung (einer anderen Branche) mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 prüfte. Als Beispiel für einen Fall, in dem der Gerichtshof die Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift über die Nachwirkung des Kollektivvertrags trotz seiner Beendigung mit Unionsrecht prüfte, vgl. Urteil vom 11. September 2014, Österreichischer Gewerkschaftsbund (C‑328/13, EU:C:2014:2197).


7      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Januar 1998, Schöning-Kougebetopoulou (C‑15/96, EU:C:1998:3), vom 12. Oktober 2010, Rosenbladt (C‑45/09, EU:C:2010:601, Rn. 53), und vom 13. September 2011, Prigge u. a. (C‑447/09, EU:C:2011:573, Rn. 46 und 48).


8      In weiter gefasster Analogie zur Rechtsprechung zur Staatshaftung haftet aus unionsrechtlicher Sicht immer der Mitgliedstaat für Schäden, die einem Bürger durch Verletzung des Unionsrechts entstehen, unabhängig davon, welche Institution für die Verletzung verantwortlich ist (vgl. z. B. Urteile vom 1. Juni 1999, Konle, C‑302/97, EU:C:1999:271, Rn. 62, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 31 bis 33, und vom 25. November 2010, Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 46). Unabhängig davon, welche gesetzgeberischen oder verfassungsmäßigen Systeme ein Mitgliedstaat auch geschaffen hat, sowohl horizontal (Legislative – Exekutive – Judikative – und/oder andere zentrale Einrichtungen) oder vertikal, was auf seinem Staatsgebiet rechtlich durchsetzbar ist, fällt – ungeachtet der fraglichen Akteure – letztendlich in die Verantwortlichkeit des Mitgliedstaats.


9      Zur Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Anforderungen des Unionsrechts auszuweiten, vgl. z. B. im Zusammenhang mit der Berechnung der Urlaubsvergütung das Urteil vom 15. September 2011, Williams u. a. (C‑155/10, EU:C:2011:588, Rn. 29 und 30). Vgl. auch zu Ansprüchen auf bezahlten Urlaub über den unionsrechtlichen Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hinaus, Urteile vom 3. Mai 2012, Neidel (C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 36), und vom 20. Juli 2016, Maschek (C‑341/15, EU:C:2016:576, Rn. 39).


10      Urteil vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a. (C‑131/04 und C‑257/04, EU:C:2006:177, Rn. 57), und vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 28).


11      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 45 und 46).


12      Vgl. Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 35).


13      Vgl. z. B. Urteile vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 22 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) und vom 15. September 2011, Williams u. a. (C‑155/10, EU:C:2011:588, Rn. 17).


14      Vgl. Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 25).


15      Vgl. Urteil vom 15. September 2011, Williams u. a. (C‑155/10, EU:C:2011:588, Rn. 26).


16      Vgl. Urteile vom 21. Juni 2012, ANGED (C‑78/11, EU:C:2012:372, Rn. 18), und vom 8. November 2012, Heimann und Toltschin (C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693, Rn. 23).


17      Bestätigt durch Urteil vom 11. November 2015, Greenfield (C‑219/14, EU:C:2015:745, Rn. 48 bis 50), insbesondere in Bezug auf die Berechnung der Vergütung anstelle des Jahresurlaubs.


18      Vgl. Urteile vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a. (C‑131/04 und C‑257/04, EU:C:2006:177, Rn. 50), und vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 58 und 60).


19      Vgl. Urteile vom 15. September 2011, Williams u. a. (C‑155/10, EU:C:2011:588, Rn. 20), und vom 22. Mai 2014, Lock (C‑539/12, EU:C:2014:351, Rn. 17).


20      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a. (C‑131/04 und C‑257/04, EU:C:2006:177, Rn. 51), in dem der Gerichtshof klarstellte, dass die Vergütung für geleistete Arbeit den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht zunichtemachen darf. Vgl. auch Urteil vom 15. September 2011, Williams u. a. (C‑155/10, EU:C:2011:588, Rn. 21), in dem der Gerichtshof feststellte, dass eine finanzielle Vergütung den unionsrechtlichen Vorgaben nicht genügt, wenn sie gerade noch so bemessen ist, dass keine ernsthafte Gefahr besteht, dass der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub nicht antritt.


21      Vgl. z. B. Urteile vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 48 und 49), und vom 21. Juni 2012, ANGED (C‑78/11, EU:C:2012:372, Rn. 21).


22      Vgl. Urteile vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 41), und vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 20).


23      Vgl. hinsichtlich einer ähnlichen Behandlung der Elternzeit Urteil vom 18. März 2004, Merino Gómez (C‑342/01, EU:C:2004:160, Rn. 32 und 33).


24      Vgl. Urteil vom 15. September 2011, Williams u. a. (C‑155/10, EU:C:2011:588, Rn. 19 bis 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Vgl. Urteil vom 22. April 2010, Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols (C‑486/08, EU:C:2010:215, Rn. 33).


26      Dieser Sozialplan sah vor, die Arbeitsverträge der entlassenen Arbeitnehmer ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der jeweiligen Kündigungsfrist um ein Jahr zu verlängern, jedoch im Wege von „Kurzarbeit Null“ die Arbeitspflicht des Arbeitnehmers auf der einen und die Lohnzahlungspflicht des Arbeitgebers auf der anderen Seite zu suspendieren.


27      Urteil vom 8. November 2012, Heimann und Toltschin (C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693, Rn. 32).


28      Vgl. Urteil vom 23. Oktober 2003, Schönheit und Becker (C‑4/02 und C‑5/02, EU:C:2003:583, Rn. 90 und 91).


29      Vgl. Urteil vom 23. Oktober 2003, Schönheit und Becker (C‑4/02 und C‑5/02, EU:C:2003:583, Rn. 93).


30      Urteil vom 5. November 2014, Österreichischer Gewerkschaftsbund (C‑476/12, EU:C:2014:2332).


31      Vgl. Urteil vom 11. November 2015, Greenfield (C‑219/14, EU:C:2015:745, Rn. 32).


32      Vgl. Urteil vom 11. November 2015, Greenfield (C‑219/14, EU:C:2015:745, Rn. 38, 39, 43 und 44).


33      Vgl. in diesem Sinne im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Jahres- und Erziehungsurlaub Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Ministerul Justiţiei u. a. (C‑12/17, EU:C:2018:195, Nrn. 23 bis 29).


34      Oben, insbesondere in Nr. 40 angeführt.


35      Siehe oben, Nrn. 43 und 44. Vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 23. Oktober 2003, Schönheit und Becker (C‑4/02 und C‑5/02, EU:C:2003:583), und vom 5. November 2014, Österreichischer Gewerkschaftsbund (C‑476/12, EU:C:2014:2332).


36      Die deutsche Regierung gab in der mündlichen Verhandlung an, dass das Kurzarbeitergeld mindestens 60 % des Arbeitsentgelts des Arbeitnehmers beträgt.


37      Siehe oben, Nrn. 34 und 35 der vorliegenden Schlussanträge.


38      Urteil vom 8. November 2012 (C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693).


39      Urteil vom 8. November 2012, Heimann und Toltschin (C‑229/11 und C‑230/11, EU:C:2012:693, Rn. 32).