Language of document : ECLI:EU:C:2010:455

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

29. Juli 2010(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 2006/24/EG – Schutz des Privatlebens – Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung elektronischer Kommunikationsdienste erzeugt oder verarbeitet werden – Nichtumsetzung innerhalb der vorgeschriebenen Frist“

In der Rechtssache C‑189/09

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 28. Mai 2009,

Europäische Kommission, vertreten durch L. Balta und B. Schöfer als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

unterstützt durch

Rat der Europäischen Union,

Streithelfer,

gegen

Republik Österreich, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis (Berichterstatter) und D. Šváby,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Republik Österreich dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. L 105, S. 54, im Folgenden: Richtlinie) verstoßen hat, dass sie nicht alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen, oder jedenfalls der Kommission diese Vorschriften nicht mitgeteilt hat.

2        Nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie mussten die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis spätestens 15. September 2007 nachzukommen, und die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis setzen. Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor, dass bis 15. März 2009 jeder Mitgliedstaat die Anwendung dieser Richtlinie auf die Speicherung von Kommunikationsdaten betreffend Internetzugang, Internet-Telefonie und Internet-E-Mail aufschieben kann. Beabsichtigt ein Mitgliedstaat, diesen Absatz in Anspruch zu nehmen, so unterrichtet er den Rat der Europäischen Union und die Kommission hiervon mittels einer Erklärung bei der Annahme dieser Richtlinie. Die Erklärung wird im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.

 Vorverfahren

3        Da die Kommission über die von der Republik Österreich erlassenen Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie in ihre interne Rechtsordnung nicht innerhalb der in der Richtlinie vorgesehenen Frist in Kenntnis gesetzt worden war, leitete sie das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG ein. Sie forderte die Republik Österreich mit einem Mahnschreiben vom 26. November 2007 auf, binnen zwei Monaten Stellung zu nehmen.

4        Mit Schreiben vom 28. Jänner 2008 teilte die Republik Österreich der Kommission mit, dass die Umsetzung der Richtlinie zu einer politischen Diskussion geführt habe, die wegen der starken Kritik, die die Richtlinie vor allem in Bezug auf die Vorratsdatenspeicherung hervorrufe, noch andauere. Sobald in dieser Frage ein politischer Konsens erreicht werde, könne der Gesetzgebungsprozess eingeleitet werden.

5        Da die Kommission die Antwort der Republik Österreich für unzureichend hielt, forderte sie diesen Mitgliedstaat mit einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 18. September 2008 auf, binnen zwei Monaten nach ihrer Zustellung die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen.

6        Mit Schreiben vom 24. November 2008 teilte die Republik Österreich der Kommission mit, dass es wegen erheblicher Kritik im Hinblick auf den der Vorratsdatenspeicherung immanenten Grundrechtseingriff und infolge des nicht vorhersehbaren vorzeitigen Endes der Legislaturperiode im Sommer 2008 noch nicht möglich gewesen sei, die Richtlinie umzusetzen.

7        Mangels Informationen, aus denen hervorgegangen wäre, dass die für die Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Maßnahmen von der Republik Österreich erlassen wurden, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

8        Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. Dezember 2009 ist der Rat als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission in der mündlichen Verhandlung für den Fall zugelassen worden, dass eine solche stattfindet.

 Zur Klage

9        Zunächst ist festzustellen, dass die Republik Österreich in ihrer Klagebeantwortung einräumt, dass es zu zeitlichen Verzögerungen im Gesetzgebungsprozess zum Erlass der Umsetzungsmaßnahmen für die Richtlinie gekommen ist. In ihrer Gegenerwiderung geht sie davon aus, dass die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht im Laufe des April 2010 abgeschlossen sein müsste.

10      Gleichwohl trägt die Republik Österreich vor, dass die verspätete Umsetzung der Richtlinie darauf zurückzuführen sei, dass diese Anlass zu Bedenken und Erörterungen hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Recht auf Datenschutz, wie es durch Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährt werde, gegeben habe.

11      Die Republik Österreich weist in diesem Zusammenhang auf die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Datenschutzgrundsätze hin, um die Schwierigkeiten der Mitgliedstaaten bei einer diesen Grundsätzen entsprechenden Umsetzung der Richtlinie zu verdeutlichen.

12      Sie wirft zudem die Frage nach der Zulässigkeit einer inzidenten Kontrolle des umzusetzenden Rechtsakts und seiner Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage auf der Grundlage von Art. 241 EG auf.

13      Die Kommission trägt vor, die Republik Österreich habe keinen dahin gehenden Antrag gestellt. Alleiniges Ziel der vorliegenden Klage sei es, feststellen zu lassen, dass dieser Mitgliedstaat seine Umsetzungspflichten nicht erfüllt habe, was dieser im Übrigen nicht bestreite.

14      Es sei zwar zu begrüßen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie umsichtig vorgingen. Dies entbinde sie jedoch nicht von ihrer Verpflichtung, sie fristgemäß umzusetzen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten nähmen an den vorbereitenden Arbeiten für die Richtlinie teil und müssten somit in der Lage sein, innerhalb der festgesetzten Frist die zu ihrer Durchführung erforderlichen Gesetzestexte auszuarbeiten.

15      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Klagesystem des EG-Vertrags zwischen den in den Art. 226 EG und 227 EG vorgesehenen Klagen, die auf die Feststellung gerichtet sind, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, und den in den Art. 230 EG und 232 EG vorgesehenen Klagen, mit denen die Rechtmäßigkeit von Handlungen oder Unterlassungen der Gemeinschaftsorgane überprüft werden soll, unterscheidet. Diese Klagemöglichkeiten verfolgen verschiedene Ziele und unterliegen unterschiedlichen Voraussetzungen. Ein Mitgliedstaat kann sich daher mangels einer Vorschrift des EG-Vertrags, die ihn dazu ausdrücklich ermächtigte, zur Verteidigung gegenüber einer auf die Nichtdurchführung einer an ihn gerichteten Richtlinie gestützten Vertragsverletzungsklage nicht mit Erfolg auf die Rechtswidrigkeit dieser Richtlinie berufen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 30. Juni 1988, Kommission/Griechenland, 226/87, Slg. 1988, 3611, Randnr. 14, vom 27. Oktober 1992, Kommission/Deutschland, C‑74/91, Slg. 1992, I‑5437, Randnr. 10, und vom 6. März 2008, Kommission/Spanien, C‑196/07, Randnr. 34).

16      Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der fragliche Rechtsakt mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet wäre, so dass er als inexistenter Rechtsakt qualifiziert werden könnte (Urteile Kommission/Griechenland, Randnr. 16, und Kommission/Spanien, Randnr. 35).

17      Die Republik Österreich hat keine der Richtlinie innewohnenden Fehler und keine konkreten Anhaltspunkte geltend gemacht, die schon die Existenz der Richtlinie in Frage stellen könnten.

18      Im Übrigen kann sich nach ständiger Rechtsprechung ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der in den Normen des Unionsrechts festgelegten Verpflichtungen zu rechtfertigen (vgl. u. a. Urteile vom 4. Oktober 2001, Kommission/Luxemburg, C‑450/00, Slg. 2001, I‑7069, Randnr. 8, vom 28. April 2005, Kommission/Luxemburg, C‑375/04, Randnr. 11, und vom 25. Februar 2010, Kommission/Spanien, C‑295/09, Randnr. 10).

19      Zudem ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist befand; später eingetretene Änderungen können vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden (vgl. u. a. Urteile vom 27. Oktober 2005, Kommission/Luxemburg, C‑23/05, Slg. 2005, I‑9535, Randnr. 9, und vom 27. September 2007, Kommission/Tschechische Republik, C‑115/07, Randnr. 9).

20      Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Republik Österreich bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht die erforderlichen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie in ihre interne Rechtsordnung ergriffen hatte.

21      Unter diesen Umständen ist die von der Kommission erhobene Klage begründet.

22      Daher ist festzustellen, dass die Republik Österreich dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie verstoßen hat, dass sie die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist erlassen hat.

 Kosten

23      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Österreich mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Republik Österreich hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG verstoßen, dass sie die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie nachzukommen, nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist erlassen hat.

2.      Die Republik Österreich trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.