Language of document : ECLI:EU:C:2017:821

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 26. Oktober 2017(1)

Rechtssache C-82/16

K.A.,

M.Z.,

M.J.,

N.N.N.,

O.I.O.,

R.I.,

B.A.

gegen

Belgische Staat

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad voor Vreemdelingenbetwistingen [Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Gewährung des Aufenthalts im Mitgliedstaat eines Unionsbürgers, der nie von seinen Rechten auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Nationale Verwaltungspraxis, wonach Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck der Familienzusammenführung nicht geprüft werden, wenn der betroffene Drittstaatsangehörige einem nach nationalem Recht geltenden und bestandskräftigen Einreiseverbot unterliegt – Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2008/115/EG“






1.        Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen wird der Gerichtshof im Wesentlichen um Klärung der Frage ersucht, ob das Unionsrecht einer nationalen Verwaltungspraxis entgegensteht, wonach Anträge auf Aufenthaltsgewährung nicht geprüft werden, die von Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger gestellt wurden, wenn Letzterer noch nie von seinen in den Verträgen verbürgten Rechten auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Die fragliche Verwaltungspraxis wird von den zuständigen nationalen Behörden angewandt, wenn der Drittstaatsangehörige nach nationalem Recht einem Einreiseverbot unterliegt und deshalb verpflichtet ist, nicht nur Belgien (den betroffenen Staat), sondern das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten insgesamt zu verlassen. Der Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) möchte insbesondere wissen, ob diese Praxis mit Art. 20 AEUV in seiner Auslegung anhand der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(2) und der Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger(3) zu vereinbaren ist. Für den Fall, dass Art. 20 AEUV eingreift, möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Faktoren bei der Prüfung, ob zwischen dem Unionsbürger und dem betroffenen Drittstaatsangehörigen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, zu berücksichtigen sind.

 Unionsrecht

 Charta

2.        Art. 7 der Charta bestimmt, dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Familienlebens hat(4).

3.        Art. 24 („Rechte des Kindes“) lautet:

„(1)      Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.

(2)      Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

(3)      Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“

4.        Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union(5).

 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

5.        Art. 20 Abs. 1 AEUV führt eine Unionsbürgerschaft ein und sieht vor, dass Unionsbürger ist, „wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“. Nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a haben die Unionsbürger „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“.

 Richtlinie 2004/38

6.        Die Richtlinie 2004/38/EG(6) regelt die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Union, das Recht auf Daueraufenthalt und die Beschränkungen dieser Rechte. Die Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen Mitgliedstaat (den Aufnahmemitgliedstaat) als denjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen, die ihn begleiten oder ihm nachziehen(7).

 Rückführungsrichtlinie

7.        Mit der Rückführungsrichtlinie sollen ausweislich ihrer Erwägungsgründe Vorschriften eingeführt werden, die für sämtliche Drittstaatsangehörigen gelten, die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen(8). Der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen soll im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet werden. Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts sollten Entscheidungen gemäß der Rückführungsrichtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts der betreffenden Person hinausreichen sollten(9). Bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie sollten die Mitgliedstaaten insbesondere das Wohl des Kindes und den Schutz des Familienlebens beachten(10). Es wird bekräftigt, dass die Richtlinie die Grundrechte wahrt(11).

8.        Die Rückführungsrichtlinie enthält, wie sich aus ihrem Art. 1 ergibt, gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der „Rückführung“ illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang u. a. mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts anzuwenden sind.

9.        Nach Art. 2 Abs. 1 fallen Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, in den Anwendungsbereich der Richtlinie.

10.      Gemäß Art. 3 Nr. 1 bezeichnet der Ausdruck „Drittstaatsangehörige“ „alle Personen, die nicht Unionsbürger im Sinne von [Art. 20 Abs. 1 AEUV] sind und die nicht das [Unions]recht auf freien Personenverkehr nach Artikel 2 Absatz 5 des Schengener Grenzkodex genießen“(12). Nach Art. 3 Nr. 2 bezeichnet der Ausdruck „illegaler Aufenthalt“ „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats“(13). Unter einer „Rückkehrentscheidung“ ist „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird“, zu verstehen (Art. 3 Nr. 4). Der Begriff „Abschiebung“ bedeutet die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat (Art. 3 Nr. 5). Ein „Einreiseverbot“ ist „die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht“ (Art. 3 Nr. 6). Minderjährige und unbegleitete Kinder fallen unter den Begriff der „schutzbedürftigen Personen“ gemäß Art. 3 Nr. 9.

11.      Nach Art. 5 haben die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie u. a. das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in gebührender Weise zu berücksichtigen.

12.      Nach Art. 6 Abs. 1 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, gegen alle Drittstaatsangehörigen, die sich in ihrem Hoheitsgebiet illegal aufhalten, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen(14).

13.      Die Grundregel in Art. 7 Abs. 1 sieht vor, dass Rückkehrentscheidungen eine angemessene Frist für die freiwillige Ausreise einräumen sollen. Diese Frist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls, etwa bei Bestehen familiärer und sozialer Bindungen, gemäß Art. 7 Abs. 2 verlängert werden. Stellt die betreffende Person u. a. eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar, so können die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 4 davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren. Art. 8 regelt die Vollstreckung von Rückkehrentscheidungen im Wege der Abschiebung des betroffenen Drittstaatsangehörigen. Gemäß Art. 10 müssen besondere Vorkehrungen für die Rückkehr und Abschiebung unbegleiteter Minderjähriger unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohls getroffen werden.

14.      Art. 11 („Einreiseverbot“) bestimmt:

„(1)      Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,

a)      falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

b)      falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.

In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.

(2)      Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

(3)      Die Mitgliedstaaten prüfen die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots, wenn Drittstaatsangehörige, gegen die ein Einreiseverbot nach Absatz 1 Unterabsatz 2 verhängt wurde, nachweisen können, dass sie das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen haben.

Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder ein Einreiseverbot aufheben oder aussetzen.

Die Mitgliedstaaten können in Einzelfällen oder bestimmten Kategorien von Fällen ein Einreiseverbot aus sonstigen Gründen aufheben oder aussetzen.

…“

15.      Kapitel III enthält eine Reihe von Verfahrensgarantien. Art. 13 Abs. 1 sieht insbesondere vor, dass den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht eingeräumt werden muss, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen. Nach Art. 14 („Garantien bis zur Rückkehr“) haben die Mitgliedstaaten u. a. die Aufrechterhaltung der Familieneinheit bis zur Rückkehr sicherzustellen.

 Nationales Recht

 Vorschriften über die Familienzusammenführung

16.      Nach Art. 40bis § 2 der Wet van 15 december 1980 betreffende de toegang tot het grondgebied, het verblijf, de vestiging en de verwijdering van vreemdelingen (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern, im Folgenden: Ausländergesetz) werden folgende Personen als Familienangehörige eines Unionsbürgers betrachtet: i) der Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger durch eine gesetzlich registrierte Partnerschaft verbunden ist und der ihn begleitet oder ihm nachkommt; ii) „seine Verwandten in absteigender Linie und diejenigen seines Ehepartners bzw. des ... Lebenspartners, die jünger als 21 Jahre oder zu ihren Lasten sind …“; iii) der Vater/die Mutter eines in Art. 40 § 4 Abs. 1 Nr. 2 erwähnten minderjährigen Unionsbürgers, sofern Letzterer zulasten des Vaters/der Mutter ist und er/sie tatsächlich das Sorgerecht hat.

17.      Art. 43 des Ausländergesetzes sieht vor: „Die Einreise und der Aufenthalt dürfen Unionsbürgern und ihren Familienmitgliedern nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung [oder] der nationalen Sicherheit … verweigert werden, und dies unter Beachtung nachstehender Einschränkungen.“ Solche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und dürfen nur auf das persönliche Verhalten des Betroffenen gestützt werden. Vorherige strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne Weiteres begründen. Das persönliche Verhalten des Betroffenen muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

 Vorschriften über Abschiebungen und Einreiseverbote

18.      In Art. 74/11 des Ausländergesetzes heißt es:

„§ 1      Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt.

Entfernungsbeschlüsse gehen in folgenden Fällen mit einem Einreiseverbot von maximal drei Jahren einher:

1.      falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

2.      falls ein früherer Abschiebungsbescheid nicht ausgeführt worden ist.

Die in Absatz 2 vorgesehene Frist von maximal drei Jahren wird auf maximal fünf Jahre angehoben, wenn:

1.      der betreffende Drittstaatsangehörige einen Betrug begangen oder andere illegale Mittel in Anspruch genommen hat, damit ihm der Aufenthalt gestattet wird oder er sein Aufenthaltsrecht behält,

2.      der betreffende Drittstaatsangehörige eine Ehe oder Partnerschaft eingegangen ist bzw. eine Adoption vorgenommen hat, die dem alleinigen Zweck dienten, dass ihm der Aufenthalt gestattet wird oder er sein Recht auf Aufenthalt in [Belgien] behält.

Entfernungsbeschlüsse können mit einem Einreiseverbot von mehr als fünf Jahren einhergehen, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt.

§ 2      …

Der Minister oder sein Beauftragter kann in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen.

§ 3      Das Einreiseverbot tritt am Tag seiner Notifizierung in Kraft.

Das Einreiseverbot darf nicht gegen das Recht auf internationalen Schutz verstoßen, wie er in den Artikeln 9ter, 48/3 und 48/4 bestimmt ist.“

19.      Art. 74/12 des Ausländergesetzes bestimmt:

„§ 1      Der Minister oder sein Beauftragter kann ein Einreiseverbot aus humanitären Gründen aufheben oder aussetzen.

Außer bei Abweichungen, die durch einen internationalen Vertrag, durch Gesetz oder durch einen Königlichen Erlass bestimmt sind, reicht der Drittstaatsangehörige bei der belgischen diplomatischen oder berufskonsularischen Vertretung, die für seinen Wohnort oder für seinen Aufenthaltsort im Ausland zuständig ist, einen mit Gründen versehenen Antrag ein.

§ 2      Der Drittstaatsangehörige kann beim Minister oder dessen Beauftragten einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots einreichen mit der Begründung, dass die zu einem früheren Zeitpunkt auferlegte Verpflichtung zur Ausreise befolgt wurde; dazu übermittelt er einen schriftlichen Nachweis, dass er das belgische Staatsgebiet unter uneingeschränkter Einhaltung des Entfernungsbeschlusses verlassen hat.

§ 4      Während der Prüfung des Antrags auf Aufhebung oder Aussetzung hat der betreffende Drittstaatsangehörige kein Recht, [nach Belgien] einzureisen oder sich dort aufzuhalten.

…“

20.      Nach Art. 74/13 des Ausländergesetzes hat der Minister oder sein Beauftragter, wenn er einen Entfernungsbeschluss erlässt, das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

21.      Die sieben Beschwerdeführer sind allesamt Drittstaatsangehörige, die angewiesen wurden, aus Belgien auszureisen. In jedem Einzelfall ging die Ausreiseverfügung nach den nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie mit einem Einreiseverbot einher.

22.      Im Anschluss an die Ausreiseverfügungen und die damit verbundenen Einreiseverbote beantragte jeder der betroffenen Drittstaatsangehörigen eine Aufenthaltsgewährung zum Zweck der Familienzusammenführung mit einem belgischen Staatsangehörigen, der in Belgien wohnhaft ist und noch nie in einen anderen Mitgliedstaat umgezogen ist oder sich dort aufhält(15). Diese Anträge wurden auf folgende Verwandtschaftsverhältnisse gestützt: 1. Elternteil eines minderjährigen Kindes, das ein Unionsbürger ist (Herr R.I., Frau M.J., Frau N.N.N. und Herr O.I.O.), 2. volljähriges Kind eines Unionsbürgers (Frau K.A. und Herr M.Z.) und 3. Lebenspartner eines Unionsbürgers (Herr B.A.)(16).

23.      Herr R.I. ist albanischer Staatsangehöriger. Sein am 23. Juni 2010 geborenes Kind besitzt die belgische Staatsangehörigkeit. Er heiratete am 31. Juli 2013 in Albanien die Mutter des Kindes (ebenfalls eine belgische Staatsangehörige). Am 17. Dezember 2012 wurden eine Verfügung, aus Belgien auszureisen, und ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt(17).

24.      Frau M.J. ist ugandische Staatsangehörige. Sie ist die Mutter eines am 26. Oktober 2013 geborenen Kindes, das (ebenso wie sein Vater) die belgische Staatsangehörigkeit besitzt. Am 11. Januar 2013 wurden eine Verfügung, aus Belgien auszureisen, und ein Einreiseverbot gegen Frau M.J. verhängt(18).

25.      Frau N.N.N. ist kenianische Staatsangehörige. Ihr am 25. Juni 2011 geborenes Kind besitzt die belgische Staatsangehörigkeit. Am 24. April 2014 wurden eine Verfügung, aus Belgien auszureisen, und ein Einreiseverbot gegen sie verhängt(19).

26.      Herr O.I.O. ist nigerianischer Staatsangehöriger. Sein Kind wurde am 15. Januar 2009 geboren. Die Mutter des Kindes besitzt ebenso wie Herrn O.I.Os Tochter die belgische Staatsangehörigkeit. Er wurde von der Mutter geschieden, der das alleinige Sorgerecht für das Kind zusteht. Mutter und Kind sind nicht finanziell abhängig von Herrn O.I.O.; dessen Recht zum persönlichen Umgang mit seiner Tochter ist gegenwärtig aufgrund einer Gerichtsentscheidung vorläufig ausgesetzt. Gegen Herrn O.I.O. wurden am 28. Mai 2013 eine Verfügung, aus Belgien auszureisen, und ein Einreiseverbot verhängt(20).

27.      Frau K.A. ist armenische Staatsangehörige, deren Vater die belgische Staatsangehörigkeit besitzt. Gegen sie wurden am 27. Februar 2013 eine Verfügung, aus Belgien auszureisen, und ein Einreiseverbot verhängt. Ihre beiden Söhne, die sich auf dieselbe Abstammungslinie berufen, stellten entsprechende Anträge auf Aufenthaltsgewährung(21).

28.      Herr M.Z. ist russischer Staatsangehöriger. Sein Vater, ein belgischer Staatsangehöriger, legte den zuständigen Behörden Nachweise darüber vor, dass sein Sohn finanziell von ihm abhängig ist. Am 2. Juli 2014 wurden eine Verfügung, aus dem Hoheitsgebiet auszureisen, und ein Einreiseverbot gegen Herrn M.Z. verhängt(22).

29.      Herr B.A. ist Staatsangehöriger von Guinea. Er lebt zusammen mit seinem Partner, der die belgische Staatsangehörigkeit besitzt. Es ist erwiesen, dass sie eine Beziehung von ernsthafter Natur führen. Am 13. Juni 2014 wurden eine Verfügung, aus dem Hoheitsgebiet auszureisen, und ein Einreiseverbot gegen Herrn B.A. verhängt(23).

30.      Die Anträge auf Familienzusammenführung wurden beim Dienst Vreemdelingenzaken (Ausländeramt, im Folgenden: DVZ) als dem Beauftragten des für Asyl und Migration zuständigen Staatssecretaris (Staatssekretärs) eingereicht(24). Der DVZ war der Ansicht, er könne diese Anträge nicht prüfen, da gegen jeden einzelnen Antragsteller ein Einreiseverbot verhängt worden sei, so dass sie allesamt das belgische Hoheitsgebiet verlassen müssten(25). Der DVZ erließ deshalb Bescheide, mit denen alle Anträge auf Familienzusammenführung zurückgewiesen wurden (im Folgenden: angefochtene Bescheide).

31.      Hiergegen legten die Beschwerdeführer Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein. Sie tragen vor, der DVZ habe ihre Anträge auf Familienzusammenführung zu Unrecht wegen eines gegen sie verhängten geltenden Einreiseverbots nicht auf ihre Begründetheit hin geprüft. Ein solches Einreiseverbot sei eine rechtswidrige Zulässigkeitsvoraussetzung; Anträge auf Familienzusammenführung seien als implizite Anträge auf Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots anzusehen(26). Nach der Rückführungsrichtlinie müsse der DVZ bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung die familiären Bindungen und das Wohl des Kindes berücksichtigen. Diese Richtlinie enthalte keine Vorschrift, wonach ein Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots zulässigerweise nur im Ausland gestellt werden könnte. Die Einreise und der Aufenthalt von Familienangehörigen von Belgiern dürften nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit oder der Volksgesundheit verweigert werden, und zwar nur innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Grenzen. Ihre Entfernung aus dem belgische Staatsgebiet und dem Gebiet der Europäischen Union würde bedeuten, dass ihre abhängigen belgischen Familienangehörigen unter Verstoß gegen Art. 20 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof u. a. in der Rechtssache Ruiz Zambrano(27) ihre Rechte als Unionsbürger nicht in vollem Umfang ausüben könnten. Schließlich habe der DVZ beim Erlass der angefochtenen Bescheide keine einzelfallbezogene Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta vorgenommen.

32.      Der DVZ tritt den Argumenten der Beschwerdeführer entgegen. Er macht geltend, dass ein bestandskräftiges Einreiseverbot für die Betroffenen ein Hindernis darstelle, um nach Belgien einzureisen oder sich dort aufzuhalten, und dass Letztere das belgische Staatsgebiet verlassen und nach Art. 74/12 § 1 des Ausländergesetzes im Ausland die Aussetzung oder Aufhebung des Einreiseverbots beantragen müssten, bevor sie im Rahmen eines Antrags auf Familienzusammenführung eine Aufenthaltsgewährung beantragen könnten.

33.      Das vorlegende Gericht führt aus, nach Art. 74/11 § 3 des Ausländergesetzes trete ein Einreiseverbot am Tag seiner Notifizierung in Kraft. In allen sieben in Rede stehenden Fällen seien geltende und bestandskräftige Einreiseverbote gegen die Beschwerdeführer verhängt worden, die diese nicht anfechten könnten, solange sie sich in Belgien aufhielten. Sie müssten zunächst das nationale Hoheitsgebiet verlassen, um gemäß Art. 74/12 des Ausländergesetzes in ihrem Herkunfts- oder Aufenthaltsland einen solchen Antrag bei der belgischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung zu stellen(28).

34.      Über jeden im Herkunftsland gestellten Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots müsse innerhalb von vier Monaten entschieden werden. Ergehe innerhalb dieser Frist keine Entscheidung, gelte dies als Ablehnung. Stelle ein Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Einreiseverbot verhängt worden sei, in seinem Herkunftsland einen Visumantrag im Hinblick auf eine Familienzusammenführung mit einem belgischen Staatsangehörigen, so ergehe zunächst eine Entscheidung über die Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots. Danach ergehe eine Entscheidung über den Visumantrag. In Art. 42 § 1 des Ausländergesetzes sei hierfür eine Frist von sechs Monaten vorgesehen. Nur wenn das Einreiseverbot aufgehoben oder ausgesetzt und im Rahmen der Familienzusammenführung ein Visum erteilt oder ein Aufenthaltsrecht zuerkannt werde, könne davon ausgegangen werden, dass die Trennung zwischen den betroffenen Drittstaatsangehörigen und dem belgischen Staatsangehörigen „vorübergehend“ sei bzw. dass der Zeitraum begrenzt sei, in dem Belgier als Unionsbürger tatsächlich gezwungen seien, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen.

35.      Aus den angefochtenen Bescheiden gehe nicht hervor, dass die Unionsbürgerschaft der betroffenen belgischen Familienangehörigen berücksichtigt worden wäre. Es sei auch nicht klar, dass der DVZ geprüft habe, ob die Einreiseverbote u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder nationalen Sicherheit verhängt worden seien oder ob das Wohl der betroffenen Kinder und/oder das Familienleben im Sinne der Art. 7 und 24 der Charta berücksichtigt worden seien.

36.      Unter diesen Umständen ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass sich die Kernfrage, die durch die Anträge auf Familienzusammenführung in den in Rede stehenden Fällen aufgeworfen werde, auf das Verhältnis zwischen den nach der Rückführungsrichtlinie verhängten Einreiseverboten und dem Schutz der Grundrechte, namentlich des Rechts auf Achtung des Familienlebens und des Kindeswohls, sowie der Einhaltung von Art. 20 AEUV beziehe. Dem Gerichtshof wurden demgemäß folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 20 AEUV sowie die Art. 5 und 11 der Rückführungsrichtlinie in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass es unter bestimmten Umständen eine nationale Praxis verbietet, wonach ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung, den ein Familienangehöriger, der Drittstaatsangehöriger ist, im Rahmen der Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger in dem Mitgliedstaat stellt, in dem der betreffende Unionsbürger wohnt, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und von seinem Recht auf Freizügigkeit und seiner Niederlassungsfreiheit keinen Gebrauch gemacht hat (im Folgenden: statischer Unionsbürger), allein aus dem Grund – eventuell mit dem Erlass eines Abschiebungsbescheids einhergehend – zurückgewiesen wird, dass gegen den betroffenen Familienangehörigen, der Drittstaatsangehöriger ist, ein geltendes Einreiseverbot mit europäischer Tragweite verhängt wurde?

a)      Ist es für die Beurteilung solcher Umstände von Bedeutung, dass zwischen dem Familienangehörigen, der Drittstaatsangehöriger ist, und dem statischen Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das über eine bloße familiäre Bindung hinausgeht? Falls dies bejaht wird: Welche Faktoren spielen bei der Bestimmung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, eine Rolle? Kann hierzu sachdienlich auf die Rechtsprechung zum Vorliegen eines Familienlebens nach Art. 8 EMRK und Art. 7 der Charta verwiesen werden?

b)      Speziell in Bezug auf minderjährige Kinder: Verlangt Art. 20 AEUV mehr als eine biologische Verbindung zwischen dem Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, und dem Kind, das Unionsbürger ist? Ist es insoweit von Bedeutung, dass ein Zusammenwohnen nachgewiesen wird, oder genügen emotionale und finanzielle Bindungen wie eine Aufenthalts- oder Besuchsregelung und Unterhaltszahlungen? Kann hierzu sachdienlich auf die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen Ogieriakhi(29), Singh u. a.(30) und O. und S.(31) verwiesen werden (vgl. diesem Zusammenhang auch das vor dem Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache Chavez-Vilchez u. a.(32))?

c)      Ist die Tatsache, dass das Familienleben zu einem Zeitpunkt begründet wurde, als der Drittstaatsangehörige bereits einem Einreiseverbot unterlag und sich somit dessen bewusst war, dass er sich unrechtmäßig in dem Mitgliedstaat aufhielt, für die Beurteilung solcher Umstände von Bedeutung? Kann auf diese Tatsache sachdienlich Bezug genommen werden, um einen möglichen Missbrauch von Verfahren über die Aufenthaltsgewährung im Rahmen der Familienzusammenführung zu unterbinden?

d)      Ist die Tatsache, dass gegen den Bescheid zur Verhängung eines Einreiseverbots kein Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie eingelegt wurde, oder die Tatsache, dass die Beschwerde gegen diesen Bescheid zur Verhängung eines Einreiseverbots zurückgewiesen wurde, für die Beurteilung solcher Umstände von Bedeutung?

e)      Ist die Tatsache, dass das Einreiseverbot aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder aber aufgrund eines unrechtmäßigen Aufenthalts verhängt wurde, ein relevanter Aspekt? Falls dies bejaht wird: Ist außerdem zu prüfen, ob der betroffene Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt? Können insoweit die Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38, die mit den Art. 43 und 45 des Ausländergesetzes umgesetzt wurden, und die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur öffentlichen Ordnung sinngemäß auf Familienangehörige von statischen Unionsbürgern angewandt werden (vgl. die vor dem Gerichtshof anhängigen Rechtssachen Rendón Marín und CS(33))?

2.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 5 der Rückführungsrichtlinie sowie die Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass es eine nationale Praxis verbietet, wonach auf ein geltendes Einreiseverbot abgestellt wird, um einen später im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellten Antrag auf Familienzusammenführung mit einem statischen Unionsbürger zurückzuweisen, ohne dass dabei die Faktoren Familienleben und Wohl betroffener Kinder – auf die in diesem später gestellten Antrag auf Familienzusammenführung verwiesen wird – berücksichtigt werden?

3.      Ist das Unionsrecht – insbesondere Art. 5 der Rückführungsrichtlinie sowie die Art. 7 und 24 der Charta – dahin auszulegen, dass es eine nationale Praxis verbietet, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen, der bereits einem geltenden Einreiseverbot unterliegt, ein Abschiebungsbescheid erlassen wird, ohne dass dabei die Faktoren Familienleben und Wohl betroffener Kinder berücksichtigt werden, auf die in einem später gestellten Antrag auf Familienzusammenführung mit einem statischen Unionsbürger – also nachdem das Einreiseverbot bereits verhängt wurde – verwiesen wird?

4.      Ist Art. 11 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie dahin zu verstehen, dass ein Drittstaatsangehöriger einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung eines geltenden und bestandskräftigen Einreiseverbots grundsätzlich stets außerhalb der Europäischen Union stellen muss, oder gibt es Umstände, unter denen er diesen Antrag auch in der Europäischen Union stellen kann?

a)      Ist Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4 der Rückführungsrichtlinie dahin zu verstehen, dass die Voraussetzung nach Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 dieser Richtlinie – wonach die Aufhebung oder Aussetzung des Einreiseverbots nur in Betracht kommt, wenn der Drittstaatsangehörige nachweist, dass er das Staatsgebiet unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen hat – in jedem Einzelfall bzw. in allen Fallgruppen ohne Weiteres erfüllt sein muss?

b)      Stehen die Art. 5 und 11 der Rückführungsrichtlinie einer Auslegung entgegen, wonach ein Antrag auf Aufenthaltsgewährung im Rahmen der Familienzusammenführung mit einem statischen Unionsbürger, der von seinem Recht auf Freizügigkeit und seiner Niederlassungsfreiheit keinen Gebrauch gemacht hat, als impliziter (zeitlich begrenzter) Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung eines geltenden und bestandskräftigen Einreiseverbots angesehen wird, wobei das geltende und bestandskräftige Einreiseverbot wieder auflebt, wenn sich herausstellt, dass die Aufenthaltsbedingungen nicht erfüllt sind?

c)      Ist die Tatsache, dass die Verpflichtung, einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung im Herkunftsland zu stellen, möglicherweise eine allenfalls vorübergehende Trennung zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem statischen Unionsbürger zur Folge hat, ein relevanter Aspekt? Gibt es Umstände, unter denen die Art. 7 und 24 der Charta einer vorübergehenden Trennung gleichwohl entgegenstehen?

d)      Ist die Tatsache, dass die Verpflichtung, einen Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung im Herkunftsland zu stellen, lediglich zur Folge hat, dass der Unionsbürger gegebenenfalls für eine begrenzte Zeit das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes verlassen muss, ein relevanter Aspekt? Gibt es Umstände, unter denen es nach Art. 20 AEUV gleichwohl ausgeschlossen ist, dass der statische Unionsbürger für begrenzte Zeit das Gebiet der Europäischen Union als Ganzes verlassen muss?

37.      Frau K.A. und Herr M.Z., die belgische und die griechische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Alle diese Verfahrensbeteiligten haben zusammen mit Frau M.J. und Frau N.N.N. in der Sitzung vom 28. Februar 2017 mündlich verhandelt.

 Würdigung

 Vorbemerkungen

38.      Die sieben in Rede stehenden Fälle weisen folgende Gemeinsamkeiten auf. Jeder einzelne betrifft: 1. einen Unionsbürger, der noch nie von seinen Rechten auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat (auf den ersten Blick ein rein innerstaatlicher Sachverhalt), 2. einen nach nationalem Recht als Familienangehöriger dieses Unionsbürgers anerkannten Drittstaatsangehörigen, der einen Antrag auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck der Familienzusammenführung stellt, und 3. eine Situation, in der dieser Antrag vom DVZ nicht geprüft wird: Er wird zurückgewiesen, weil der betreffende Drittstaatsangehörige einem geltenden und bestandskräftigen Einreiseverbot unterliegt und weil der Antrag nicht außerhalb des Hoheitsgebiets der Europäischen Union gestellt wurde.

39.      Die sieben Fälle werden allesamt nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38 erfasst, da sie Unionsbürger betreffen, die sich stets in Belgien (dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen) aufgehalten haben. Die Unionsbürger fallen deshalb nicht unter den Begriff der „Berechtigten“ im Sinne dieser Richtlinie(34). Im Hinblick auf die Sachverhaltsdarstellung des vorlegenden Gerichts möchte ich der guten Ordnung halber hinzufügen, dass diese Fälle auch nicht vom Geltungsbereich der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung(35) erfasst werden. Diese Richtlinie gilt für Drittstaatsangehörige in ihrer Eigenschaft als „Zusammenführende“, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Union aufhalten und deren Familienangehörige in einen Mitgliedstaat einreisen und sich dort aufhalten wollen, um die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten. Solche Umstände sind hier offensichtlich nicht gegeben.

40.      Es gibt inzwischen eine umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der Frage, wann der Unionsbürgerstatus abgeleitete Rechte für Drittstaatsangehörige entstehen lässt und welche Grenzen diesen Rechten gezogen werden dürfen. Das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Ruiz Zambrano(36) stellt die Grundsatzentscheidung dar. Danach steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte verwehrt wird, die ihnen dieser Status verleiht. Dieses Kriterium wurde in der Rechtssache Dereci u. a. näher bestimmt, in der der Gerichtshof entschieden hat, dass sich dieses Kriterium „auf Sachverhalte bezieht, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes“(37). In seinem jüngst ergangenen Urteil in der Rechtssache Chavez-Vilchez u. a.(38) legt der Gerichtshof dar, welche Entwicklung diese Rechtsprechung genommen hat.

41.      Der Gerichtshof hat festgestellt, „dass es ganz besondere Sachverhalte gibt, in denen – obwohl das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende abgeleitete Recht nicht eingreift und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger dieses Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich der Unionsbürger infolge einer solchen Weigerung de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm die Unionsbürgerschaft verleiht, verwehrt würde“(39). In der Rechtssache Ruiz Zambrano war gegen den Vater minderjähriger Kinder, die die belgische Staatsangehörigkeit besaßen, eine Ausweisungsverfügung erlassen worden; außerdem wiesen die zuständigen belgischen Behörden seinen Antrag auf Arbeitserlaubnis zurück. Der Gerichtshof entschied, derartige Entscheidungen hätten zur Folge, dass den Kindern von Herrn Ruiz Zambrano der tatsächliche Genuss der Rechte aus Art. 20 AEUV verwehrt würde. Die in diesem Fall in Rede stehenden Entscheidungen hätten dazu geführt, dass die Kinder – Unionsbürger – gezwungen gewesen wären, das Gebiet der Union zu verlassen(40).

42.      Steht die in den vorliegenden sieben Fällen geübte Verwaltungspraxis, wonach von der Prüfung eines Antrags auf Familienzusammenführung ganz abgesehen wird, in einem so engen Zusammenhang mit den Rechten, die Unionsbürgern nach Art. 20 AEUV (in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta) zustehen, dass diese Praxis vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst wird?

43.      Das vorlegende Gericht möchte namentlich wissen, ob die Rückführungsrichtlinie in diesem Kontext anwendbar ist. Während diese Richtlinie gemeinsame Normen und Verfahren „zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger“ festlegt, sieht sie nicht unbedingt ein damit verbundenes und gleichwertiges Verfahren für die Prüfung vor, die vorzunehmen ist, wenn ein Drittstaatsangehöriger (wie im Ausgangsverfahren) eine Familienzusammenführung beantragt.

44.      Das vorlegende Gericht formuliert seine Fragen unter Bezugnahme auf ein mit einem Abschiebungsbescheid einhergehendes Einreiseverbot. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Einreiseverbote auf der Grundlage von Bestimmungen ergangen sind, mit denen die Rückführungsrichtlinie in das nationale Recht umgesetzt wurde. Diese Richtlinie unterscheidet zwischen einer „Rückkehrentscheidung“ (Art. 3 Nr. 4) und einer Entscheidung über die „Abschiebung“ (Art. 3 Nr. 5)(41). Aus der Definition des Begriffs „Einreiseverbot“ (Art. 3 Nr. 6) ergibt sich, dass solche Verbote mit einer Rückkehrentscheidung, nicht aber mit einer Entscheidung über die Abschiebung einhergehen(42). In jedem der sieben in Rede stehenden Fälle hat die nationale Verwaltung eine Entscheidung erlassen, durch die der betroffene Drittstaatsangehörige angewiesen wurde, Belgien zu verlassen. Nach meinem Verständnis entsprechen diese Entscheidungen Rückkehrentscheidungen im Sinne der Rückführungsrichtlinie. Das vorlegende Gericht hat nicht angegeben, dass in einem bestimmten Fall eine Maßnahme zur Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung getroffen oder dass eine Abschiebung angeordnet worden wäre.

 Zu den Fragen 1, 2 und 3

45.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob das Unionsrecht eine nationale Praxis verbietet, wonach die Prüfung von Anträgen abgelehnt wird, mit denen Drittstaatsangehörige, gegen die ein Einreiseverbot (nach der Rückführungsrichtlinie) verhängt wurde, die Familienzusammenführung mit Unionsbürgern, die nie von ihren Rechten auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, in dem Mitgliedstaat begehren, dessen Staatsangehörigkeit Letztere besitzen, wenn die zuständigen Behörden insbesondere nicht prüfen, ob die jeweiligen Umstände unter den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 20 AEUV entwickelten Begriff der „ganz besonderen Sachverhalte“(43) fallen. Außerdem wurden fünf detaillierte Unterfragen nach den Faktoren gestellt, die bei der Prüfung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, zu berücksichtigen sind(44).

46.      Die zweite Frage zielt kurz gesagt darauf ab, ob Art. 5 der Rückführungsrichtlinie die fragliche Verwaltungspraxis in Situationen verbietet, die nicht vom Anwendungsbereich des Art. 20 AEUV erfasst werden. Die dritte Frage geht dahin, ob für den Fall, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits einem Einreiseverbot unterliegt, eine solche Verwaltungspraxis verboten ist, wenn ein Abschiebungsbescheid ohne gebührende Berücksichtigung des Familienlebens und des Kindeswohls (worauf in einem späteren Antrag auf Familienzusammenführung abgestellt wird) ergeht. Die drei Fragen hängen eng miteinander zusammen, und die zu erörternden Probleme sind eng miteinander verflochten. Ich werde sie daher zusammen prüfen.

 Nationale Praxis der unterlassenen Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung und Art. 20 AEUV

47.      Bei der fraglichen Verwaltungspraxis verhält es sich wie folgt. Beantragt ein Drittstaatsangehöriger, gegen den ein geltendes und bestandskräftiges mindestens dreijähriges Einreiseverbot verhängt wurde, später in Belgien die Gewährung von Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit einem Unionsbürger, so wird sein Antrag von den zuständigen Behörden nicht geprüft. Es gibt keinen Spielraum, im Einzelfall das Familienleben, gegebenenfalls das Kindeswohl oder den Umstand zu berücksichtigen, dass der belgische Familienangehörige die Unionsbürgerschaft besitzt.

48.      Nach Ansicht der belgischen Regierung fällt diese Verwaltungspraxis in den Rahmen des den Mitgliedstaaten zustehenden weiten Ermessensspielraums, weshalb die erste Frage zu verneinen sei. Die Kommission und die Beschwerdeführer, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen abgegeben haben, sind anderer Auffassung als Belgien. Griechenland meint, vorbehaltlich einer Prüfung der Umstände des Falles würden die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anträge vom Anwendungsbereich des Art. 20 AEUV erfasst.

49.      Ich lehne das Vorbringen der belgischen Regierung ebenfalls ab.

50.      Erstens ist die Verwaltungspraxis meines Erachtens so eng mit den Unionsbürgerrechten auf Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verbunden, dass sie in einem inneren Zusammenhang mit den durch Art. 20 AEUV garantierten Rechten steht. Eine solche Praxis führt automatisch dazu, dass unberücksichtigt bleibt, ob der Drittstaatsangehörige und der betreffende Unionsbürger im Einzelfall unter den Begriff der „ganz besonderen Sachverhalte“ fallen, was den Mitgliedstaat möglicherweise verpflichten würde, diesen Bürgerrechten im Hoheitsgebiet der Union Wirkung zu verleihen. Nach meinem Dafürhalten besteht die Gefahr, dass dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte verwehrt würde, die die Unionsbürgerschaft verleiht.

51.      Das vorlegende Gericht führt aus, die betroffenen Drittstaatsangehörigen müssten nach nationalem Recht grundsätzlich Belgien und das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten insgesamt verlassen. Solange ein Einreiseverbot in Kraft sei, könne auf dem belgischen Staatsgebiet kein Antrag auf Aufenthaltsgewährung gestellt werden. Ein Antrag auf Aufhebung oder Aussetzung der Einreiseverbote könne nur außerhalb Belgiens gestellt werden und erfordere den schriftlichen Nachweis, dass der Antragsteller diesen Mitgliedstaat verlassen habe.

52.      Vor diesem Hintergrund kann eine Praxis, die darin besteht, Anträge auf Familienzusammenführung nicht einmal zu prüfen, für den betroffenen Unionsbürger möglicherweise drastische Konsequenzen nach sich ziehen, wenn ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das unter den oben erwähnten Begriff der „ganz besonderen Sachverhalte“ fällt(45). Diese Auffassung wird durch den Hinweis des vorlegenden Gerichts bestätigt, wenn ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Familienangehörigen, der die Unionsbürgerschaft besitze, und dem Drittstaatsangehörigen bestehe, könne der belgische Staatsangehörige gezwungen sein, das Hoheitsgebiet der Union zu verlassen, um seinen Familienangehörigen zu begleiten. Dies hat zur Folge, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss der Rechte verwehrt wird, die ihm als Bürger der Europäischen Union zustehen.

53.      Zweitens muss, sofern die vom vorlegenden Gericht beschriebene Verwaltungspraxis in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, den Art. 7 und 24 der Charta Rechnung getragen werden(46). Der Automatismus der fraglichen nationalen Praxis bedeutet, dass kein Raum bleibt, im Einzelfall zu prüfen, ob die in diesen Bestimmungen verankerten Unionsbürgerrechte gewahrt sind(47).

54.      Drittens verfügen die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihrer nationalen Verfahrensvorschriften, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zwar über einen Ermessensspielraum; diese Verfahrensvorschriften dürfen jedoch die Ausübung der durch Art. 20 AEUV verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren(48).

55.      Besteht ein Verhältnis der Abhängigkeit von dem betroffenen Drittstaatsangehörigen, so ist eine automatisch und ohne Spielraum für Ausnahmen angewandte nationale Praxis wie die in der Vorlageentscheidung beschriebene geeignet, das Recht des Unionsbürgers auf Aufenthalt nicht nur in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, sondern im Hoheitsgebiet der gesamten Union zu beeinträchtigen(49).

56.      Schließlich bewirkt die vom vorlegenden Gericht beschriebene Praxis einen potenziellen Normwiderspruch. Das in der Richtlinie 2003/86 vorgesehene Verfahren, nach dem Anträge auf Familienzusammenführung zu stellen und zu prüfen sind, stimmt nicht in allen Punkten mit den nationalen Verfahren in den in Rede stehenden Fällen überein. In der Tat wird einem Drittstaatsangehörigen, der sich als Zusammenführender rechtmäßig in der Europäischen Union aufhält, nach dieser Richtlinie eine gründlichere Prüfung seines Antrags auf Familienzusammenführung gewährleistet, als dies bei Unionsbürgern wie in den sieben in Rede stehenden Fällen geschieht.

57.      Art. 5 der Richtlinie 2003/86 regelt die Stellung und Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung. Anders als bei der vom vorlegenden Gericht beschriebenen Verwaltungspraxis bedeuten die den Mitgliedstaaten nach dieser Richtlinie obliegenden Verpflichtungen zur Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung, dass die zuständigen Behörden es nicht automatisch ablehnen dürfen, Anträge nach dieser Richtlinie zu prüfen, wenn sich der aus einem Drittstaat stammende Familienangehörige bereits in dem fraglichen Mitgliedstaat befindet(50). Im Rahmen des Verfahrens der Antragstellung und -prüfung nach der Richtlinie 2003/86 wird der aus einem Drittstaat stammende Zusammenführende (im Sinne dieser Richtlinie) somit offensichtlich günstiger behandelt als ein Unionsbürger, der sich in einer Situation wie in der Vorlageentscheidung beschrieben befindet und dessen Rechte in Art. 20 AEUV verankert sind.

58.      Ich bin deshalb der Ansicht, dass die mit der ersten Frage des vorlegenden Gerichts aufgeworfene Grundsatzfrage dahin beantwortet werden sollte, dass die fragliche Verwaltungspraxis mit Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta unvereinbar ist.

59.      Sollte der Gerichtshof anders als ich davon ausgehen, dass die fragliche Verwaltungspraxis nicht unter Art. 20 AEUV fällt, würden die Grundrechte der Betroffenen nicht zwangsläufig schutzlos bleiben. Das nationale Gericht müsste prüfen, ob diese Praxis mit Art. 8 EMRK zu vereinbaren ist(51). In diesem Zusammenhang muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden(52). Es ist daher zweifelhaft, ob bei einer Verwaltungspraxis, die automatisch angewandt wird, um Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck der Familienzusammenführung ohne Sachprüfung zurückzuweisen, gesagt werden kann, dass sie die Faktoren berücksichtigt, anhand deren festgestellt werden muss, ob das Recht auf Familienleben gewahrt ist(53).

 Das Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Art. 20 AEUV

60.      Mit Hilfe der folgenden detaillierten Unterfragen sollen die Faktoren herausgearbeitet werden, auf die bei der Beurteilung des Abhängigkeitsverhältnisses im Sinne von Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta abzustellen ist(54). Welches sind die in Bezug auf das Familienleben und auf minderjährige Kinder zu berücksichtigenden relevanten Faktoren (Fragen 1 a und b)? Sind für diese Prüfung die folgenden Faktoren von Bedeutung: ob wahrscheinlich ein Verfahrensmissbrauch vorliegt, das Familienleben nämlich erst begründet wurde, als der Drittstaatsangehörige bereits einem Einreiseverbot unterlag, ob Rechtsbehelfe gegen das Einreiseverbot eingelegt wurden, bevor es bestandskräftig wurde, und dieses Verbot aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder wegen eines unrechtmäßigen Aufenthalts verhängt wurde (Fragen 1 c, d und e)?

61.      Art. 7 der Charta ist im Licht von Art. 8 EMRK auszulegen(55). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, das wesentliche Ziel des Art. 8 bestehe darin, den betroffenen Einzelnen gegen willkürliche hoheitliche Eingriffe zu schützen, wenngleich diese Bestimmung einen Staat nicht allgemein dazu verpflichte, Familienzusammenführungen zu gestatten(56). Bei der Prüfung im Rahmen des Art. 8 EMRK habe eine Abwägung der widerstreitenden Interessen des betroffenen Einzelnen und des Staates zu erfolgen. Es müsse den Folgen der Auflösung des Familienverbands Rechnung getragen werden, die sich bei einer Ausweisung des aus einem Drittstaat stammenden Familienangehörigen ergeben würden. Dabei sei zu berücksichtigen, wie lange der betreffende Staat die Anwesenheit dieser Person in seinem Hoheitsgebiet geduldet habe, ob die Ehegatten (oder Lebenspartner) einen gemeinsamen Hintergrund hätten, ob der Drittstaatsangehörige etwa für die alltägliche Betreuung von Kindern verantwortlich sei und welches die finanziellen Verpflichtungen und die emotionalen Bindungen innerhalb der Familie seien(57).

62.      Andererseits hat der Gerichtshof schon entschieden, die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union möglicherweise wünschenswert sei, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besäßen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten könnten, rechtfertige für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde(58).

63.      In der EMRK findet sich kein Art. 24 der Charta entsprechendes Recht. Obwohl die Charta keine Definition des Begriffs „Kind“ enthält, dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass die Abkömmlinge von Herrn R.I., Frau M.J., Frau N.N.N. und Herrn O.I.O. Kinder im Sinne dieser Bestimmung sind. Es muss ermittelt werden, ob es im wohlverstandenen Interesse eines jeden Kindes liegt, dass die Beziehungen zu dem betreffenden Elternteil aufrechterhalten werden. Der Unionsbürgerstatus eines Kindes und die damit verbundenen Aufenthaltsrechte verschaffen für sich allein seinen Eltern kein Aufenthaltsrecht. Insoweit kommt es u. a. darauf an, wem das Sorgerecht für das Kind zusteht und ob Letzteres rechtlich, finanziell oder emotional von dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit abhängig ist(59).

64.      Was die Frage des vorlegenden Gerichts betrifft, ob auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2004/38 zurückgegriffen werden kann, so halte ich es – da von dieser Richtlinie erfasste Sachverhalte auch in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen – für möglich, bestimmte Grundsätze zu extrapolieren, vor allem solche zur Anwendung der Charta, die entsprechend angewendet werden könnten. Die spezifischen Kriterien, auf die nach dieser Richtlinie abgestellt wird, lassen sich jedoch nicht auf eine Prüfung gemäß Art. 20 AEUV übertragen. Die Voraussetzungen, unter denen ein Unionsbürger nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ein Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat erhalten kann und unter denen nach Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie abgeleitete Aufenthaltsrechte auf aus Drittstaaten stammende Familienangehörige dieses Unionsbürgers erstreckt werden können, haben keine unmittelbare Bedeutung für eine Prüfung gemäß Art. 20 AEUV(60).

65.      Ob das Familienleben zu einer Zeit begründet wurde, als der Drittstaatsangehörige bereits einem Einreiseverbot unterlag, ist nach meiner Meinung nicht unbedingt eine relevante Erwägung. Gewiss kann das Unionsrecht bei missbräuchlichen Praktiken keine Anwendung finden. Im Rahmen der nach Art. 20 AEUV vorzunehmenden Prüfung ist aber auch kein Raum für eine generelle Vermutung missbräuchlichen Verhaltens, wenn ein familiäres Band zu einem Zeitpunkt hergestellt wird, zu dem ein Drittstaatsangehöriger feststellt, dass sein aufenthaltsrechtlicher Status irregulär ist. Es sollte nicht ipso facto davon ausgegangen werden, dass der Betroffene das familiäre Band nur begründet hat, um im Hoheitsgebiet der Union verbleiben zu können. Der Nachweis eines Missbrauchs setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen, dass ein subjektives Element gegeben ist, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden(61). Außerdem hat der EGMR den Umstand, dass die betroffenen Drittstaatsangehörigen zu einem Zeitpunkt Eltern wurden, als ihr Einwanderungsstatus prekär war, zwar als eine „bedeutsame Erwägung“ bezeichnet, diesen speziellen Faktor jedoch zusammen mit anderen Elementen des Falles einer Beurteilung unterzogen(62). Elternteil eines Kindes in einer solch unsicheren Zeit zu werden, wird nicht zwangsläufig als ein versuchter Missbrauch der Einwanderungsregeln gewertet(63).

66.      Ich habe mich bereits dahin geäußert, dass der Erlass einer mit einem Einreiseverbot einhergehenden Rückkehrentscheidung keine Rolle bei der Prüfung spielen sollte, ob „ganz besondere Sachverhalte“ vorliegen, die ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne von Art. 20 AEUV entstehen lassen(64). Es ist daher irrelevant, ob ein Drittstaatsangehöriger eine solche Maßnahme angefochten oder ihre Überprüfung beantragt hat. In diesem Zusammenhang braucht auch nicht geprüft zu werden, ob das Einreiseverbot aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder nur wegen irregulären Aufenthalts verhängt wurde. Zu Letzterem ist darauf hinzuweisen, dass es nach der Rückführungsrichtlinie keine von der Rückkehrentscheidung losgelösten Einreiseverbote gibt(65). Auf die öffentliche Ordnung kann man sich daher nur im Zusammenhang mit einer Rückkehrentscheidung berufen. Es gibt keine Grundlage dafür, aus einem solchen Grund ein Einreiseverbot allein zu verhängen(66).

67.      Ergibt eine Würdigung der tatsächlichen Umstände im Einzelfall hingegen, dass es sich hierbei nicht um einen „ganz besonderen Sachverhalt“ handelt, so wird dieser Fall hinsichtlich der Rechte der betroffenen Unionsbürger nicht vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst. In einer solchen Situation wären die zuständigen Behörden dennoch verpflichtet, eine Prüfung auf der Grundlage von Art. 8 EMRK durchzuführen, da alle Mitgliedstaaten die Konvention unterzeichnet haben(67).

 Die Rückführungsrichtlinie

68.      Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob Art. 5 der Rückführungsrichtlinie in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta die fragliche Verwaltungspraxis verbietet, sofern diese sieben Fälle vom Anwendungsbereich des Art. 20 AEUV nicht erfasst werden (Frage 2).

69.      Belgien trägt vor, die Verwaltungspraxis, die das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung beschrieben habe, stehe im Einklang mit der Rückführungsrichtlinie. Mit einer solchen Praxis solle die Bestandskraft von Rückkehrentscheidungen sichergestellt und verhindert werden, den betreffenden Fall „durch die Hintertür“ erneut aufzurollen, indem es Drittstaatsangehörigen, die einem geltenden Einreiseverbot unterlägen, gestattet würde, Anträge auf Familienzusammenführung zu stellen. Letzteres wäre mit einer effizienten Rückführungspolitik nicht zu vereinbaren und würde andere Drittstaatsangehörige benachteiligen, die Rückkehrentscheidungen Folge leisteten.

70.      Ich bin mit der Argumentation Belgiens nicht einverstanden.

71.      Die Rechte der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Europäischen Union frei zu bewegen und aufzuhalten, fallen nicht unter die Rückführungsrichtlinie. Dieser Rechtsakt enthält Vorschriften, die für Drittstaatsangehörige gelten, die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen(68). Die Rückführungsrichtlinie ist grundsätzlich irrelevant für die Frage, ob einem Drittstaatsangehörigen nach Art. 20 AEUV abgeleitete Rechte auf Aufenthalt bei einem Unionsbürger im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zustehen. Diese Prüfung erfolgt aus der Perspektive der dem Unionsbürger zustehenden Rechte, was nicht zum Regelungsgehalt der Rückführungsrichtlinie gehört. Noch weniger bietet die Rückführungsrichtlinie eine Basis für eine nationale Politik, wonach die Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung systematisch abgelehnt wird.

72.      Die im Rahmen von Art. 5 der Rückführungsrichtlinie vorgenommene Prüfung deckt sich nicht zwangsläufig mit der Prüfung, die bezüglich eines auf Art. 20 AEUV gestützten Antrags auf Familienzusammenführung durchzuführen ist. Art. 5 der Rückführungsrichtlinie bezieht sich auf das Gebot, bei der Umsetzung der Richtlinie das Kindeswohl und die familiären Bindungen zu beachten(69). Im Rahmen der Rückführungsrichtlinie werden unbegleitete Minderjährige als eine besonders schutzbedürftige Personengruppe anerkannt, wenn von ihnen verlangt wird, in ihr Herkunftsland zurückzukehren(70). Daher sollte dem Wohl der Kinder unter solchen Umständen Rechnung getragen und ihre Rückkehr erst angeordnet werden, nachdem das Kindeswohl geprüft wurde(71). Was die familiären Bindungen anbelangt, so sollten die Mitgliedstaaten diesen Faktor nach der Systematik der Richtlinie bei der Einzelfallprüfung der die jeweilige Person betreffenden Umstände berücksichtigen(72).

73.      Daraus folgt: Auch wenn die zuständigen Behörden dem Kindeswohl und den familiären Bindungen gemäß Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie Rechnung getragen haben, werden dadurch nicht notwendigerweise alle Faktoren erfasst, die bei der Prüfung eines Antrags auf Familienzusammenführung zu berücksichtigen sind(73). Überdies konnte eine solche Prüfung, als die Einreiseverbote in den fraglichen Fällen verhängt wurden, nicht stattgefunden haben, da die Anträge auf Familienzusammenführung erst nach Erlass der Rückkehrentscheidungen und der damit einhergehenden Einreiseverbote gestellt wurden.

74.      Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob die streitige Verwaltungspraxis im Einklang mit dem Unionsrecht steht, wenn ein Abschiebungsbescheid ergangen ist (Frage 3). Die Darstellung des Sachverhalts in der Vorlageentscheidung enthält allerdings keinen Hinweis darauf, dass ein solcher Bescheid (im Sinne von Art. 3 Nr. 5 der Rückführungsrichtlinie) gegenüber irgendeinem Beschwerdeführer erlassen worden wäre. Ich halte daher eine Beantwortung dieser Frage für überflüssig. Angesichts der Verwirrung, die durch die Verwendung des Begriffs „Abschiebungsbescheid“ als Synonym für „Rückkehrentscheidung“ entstanden ist, füge ich der guten Ordnung halber hinzu, dass sich das vorlegende Gericht möglicherweise auf die Tatsache bezieht, dass gegen den betroffenen Drittstaatsangehörigen in allen Fällen außer dem von Herrn R.I. mehr als eine Rückkehrentscheidung ergangen ist. Bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Art. 5 zu berücksichtigen(74). Es gibt keine Bestimmung, die eine Ausnahme von diesen Verpflichtungen für den Fall vorsähe, dass gegen einen Einzelnen aufeinanderfolgende Rückkehrentscheidungen erlassen werden. Daher sind die Verpflichtungen in Art. 5 Buchst. a und b bei solchen Entscheidungen zu berücksichtigen.

75.      Obwohl für Anträge auf Familienzusammenführung und für Rückkehrentscheidungen unterschiedliche Verfahren vorgesehen sind, kann es sein, dass es bei den auftretenden Fragen zu gewissen Überschneidungen kommt. Dies bedeutet aber nicht, dass solche Anträge als „Rechtsbehelfe“ oder als Hebel zur Wiederaufnahme des Rückführungsverfahrens anzusehen wären. Das Kriterium der „ganz besonderen Sachverhalte“, das erfüllt werden muss, damit abgeleitete Aufenthaltsrechte für einen Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 20 AEUV entstehen können, ist sehr anspruchsvoll. Infolgedessen bin ich nicht der Ansicht, bereits die bloße Prüfung derartiger Anträge würde die in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen Verfahren untergraben.

 Die zu behandelnden Fälle

76.      Wenn der Gerichtshof mit mir der Auffassung ist, dass diese sieben Fälle vom Anwendungsbereich des Art. 20 AEUV erfasst werden und dass die Vorschriften der Rückführungsrichtlinie nicht in die Sachprüfung einbezogen werden sollten, werden die zuständigen Behörden in jedem der fraglichen Einzelfälle zu ermitteln haben, ob ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Unionsbürger und dem Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigkeit besteht(75). Dabei muss die Prüfung in Bezug auf jeden Beschwerdeführer unter gebührender Beachtung der Art. 7 und 24 der Charta durchgeführt werden.

77.      Was Herrn R.I., Frau M.J., Frau N.N.N. und Herrn O.I.O. betrifft, die alle jeweils Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers sind, so ist u. a. die Tatsache zu berücksichtigen, dass das Kind einen Elternteil hat, der Unionsbürger ist, und zu ermitteln, welchem Elternteil das Sorgerecht (oder ob es beiden gemeinsam) zusteht und ob das Kind rechtlich, finanziell oder emotional von dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit abhängig ist(76).

78.      Herr O.I.O. befindet sich insoweit in einer besonderen Lage, als nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts in der Vorlageentscheidung die belgische Mutter seiner Tochter das alleinige Sorgerecht innehat, seine Tochter nicht finanziell von ihm abhängt und sein Recht zum persönlichen Umgang mit ihr aufgrund einer Gerichtsentscheidung vorläufig ausgesetzt ist. Daraus dürfte zu entnehmen sein, dass er wohl nicht die wichtigste oder primär sorgeberechtigte Person für das Kind ist und dass wohl kein Abhängigkeitsverhältnis besteht.

79.      Im Hinblick auf Frau K.A. und Herrn M.Z., die volljährigen Kinder eines belgischen Vaters, sollten die zuständigen Behörden beachten, dass der Wunsch, eine Familienzusammenführung in Belgien zu erreichen, für sich allein nicht ausreicht(77). Bei der Feststellung, ob ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, spielt der Umstand, dass der Unionsbürger das volljährige Kind mit Drittstaatsangehörigkeit finanziell unterstützt (wie im Fall von Herrn M.Z.), keine Rolle. Wie der Gerichtshof vielmehr entschieden hat, „ist es das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem... Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen, dem ein Aufenthaltsrecht verweigert wird, das die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen kann, da diese Abhängigkeit dazu führen würde, dass der Unionsbürger sich als Folge einer solchen Verweigerung de facto gezwungen sähe, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats zu verlassen, dessen Staatsangehöriger er ist, sondern auch das Gebiet der Union als Ganzes“(78). Was das volljährige Kind eines Elternteils betrifft, der Unionsbürger ist, so können solche Umstände z. B. dann gegeben sein, wenn ein bejahrter oder gebrechlicher Elternteil auf die Anwesenheit seines volljährigen Kindes mit Drittstaatsangehörigkeit angewiesen ist und die Europäische Union verlassen müsste, wenn dieses Kind aus dem betreffenden Mitgliedstaat ausgewiesen würde.

80.      Auch bei der Prüfung des Falles von Herrn B.A. sollte dieses wesentliche Element berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass er und sein Lebenspartner keine Blutsverwandten sind, spielt meines Erachtens keine entscheidende Rolle, da er nach dem nationalen Recht als Familienangehöriger angesehen wird(79).

81.      Ich bin deshalb der Auffassung, dass das Unionsrecht – insbesondere Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – eine nationale Praxis verbietet, wonach die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats es automatisch ablehnen, Anträge auf Gewährung von Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet zu prüfen, die ein Drittstaatsangehöriger, gegen den eine Rückkehrentscheidung und ein damit einhergehendes Einreiseverbot ergangen sind, zum Zweck der Zusammenführung mit einem Familienangehörigen gestellt hat, der Unionsbürger ist, in dem Mitgliedstaat wohnt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und noch nie von seinen Rechten auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Die Rückführungsrichtlinie bietet keine Grundlage für die Rechtfertigung einer solchen Praxis. Vielmehr müssen die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls geprüft werden, bevor die nationalen Behörden über den Antrag auf Familienzusammenführung entscheiden.

 Zu Frage 4

82.      Das vorlegende Gericht bittet um Klärung, wie Art. 11 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie in Bezug auf die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots auszulegen ist. Es stellt vier spezielle Fragen. Diese zielen u. a. auf die Auslegung von Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 3 und 4(80) sowie darauf ab, ob das fragliche nationale Recht, insbesondere die Vorschriften über die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots, mit dem Unionsrecht vereinbar sind(81).

83.      Ich werde mit einigen allgemeinen Bemerkungen zu den Einreiseverboten beginnen, die im Mittelpunkt der vierten Frage stehen. Nach dem nationalen Recht gilt ein Einreiseverbot ab dem Tag seiner Notifizierung, nicht aber ab dem Tag, an dem der betroffene Drittstaatsangehörige das belgische Hoheitsgebiet verlässt. Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, solche Verbote sollten Rückkehrentscheidungen ergänzen(82). Er hat auch festgestellt, der Zeitraum des Einreiseverbots beginne erst ab dem Zeitpunkt zu laufen, zu dem der Betroffene tatsächlich das Territorium der Union verlassen habe(83). Der illegale Aufenthalt des betroffenen Drittstaatsangehörigen wird eher durch die Rückkehrentscheidung als durch das Einreiseverbot geregelt. Die in der Vorlageentscheidung beschriebenen nationalen Rechtsvorschriften scheinen insoweit Wortlaut, Zweck und Systematik der Rückführungsrichtlinie nicht widerzuspiegeln.

84.      Sodann bin ich der Meinung, da die fragliche Verwaltungspraxis durch Art. 20 AEUV verboten ist, dass die Vorschriften über Einreiseverbote für die nach diesem Artikel durchzuführende Prüfung irrelevant sind; die Anträge auf Familienzusammenführung müssen nämlich von Fall zu Fall individuell beurteilt werden. Stellen die zuständigen Behörden daher im Einzelfall fest, dass einem solchen Antrag stattzugeben ist, so folgt daraus, dass der Aufenthalt des Antragstellers im nationalen Staatsgebiet rechtmäßig und die Rückführungsrichtlinie gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 nicht länger auf ihn anwendbar ist, da sein Aufenthalt nicht mehr als illegal im Sinne von Art. 3 Nr. 2 dieser Richtlinie angesehen werden kann(84).

85.      Stellen diese Behörden hingegen fest, dass der Antrag erfolglos bleiben wird, so wird die Anwesenheit des Antragstellers im nationalen Staatsgebiet weiterhin unter den Begriff des „illegalen Aufenthalts“ fallen, und er wird der bestehenden Rückkehrentscheidung sowie dem damit verbundenen Einreiseverbot unterliegen. Es wird dann Sache der zuständigen Behörden sein, diese Entscheidung im Einklang mit der Rückführungsrichtlinie durchzusetzen, indem sie die hierfür erforderlichen Maßnahmen, wie etwa die Anordnung einer Abschiebung nach Art. 8 dieser Richtlinie, erlassen. Für alle diese Maßnahmen werden selbstverständlich die Verfahrensgarantien nach Kapitel III gelten.

86.      Da hinsichtlich der im Ausgangsverfahren streitigen Fälle noch keine Entscheidung in der Sache ergangen ist, bedarf es genau genommen zur Klärung dieser Fälle nicht der Auslegung von Art. 11 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie. Es ist denkbar, dass diese Bestimmung in einem späteren Stadium bedeutsam werden kann; dies hängt jedoch vom Ergebnis der Sachprüfung ab, die die zuständigen Behörden in jedem Einzelfall vornehmen werden. Ich schlage deshalb dem Gerichtshof vor, die vierte Frage nicht zu beantworten.

 Ergebnis

87.      Nach alledem sollten die Vorlagefragen des Raad voor Vreemdelingenbetwistingen (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) meines Erachtens wie folgt beantwortet werden:

–      Das Unionsrecht – insbesondere Art. 20 AEUV in Verbindung mit den Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – verbietet eine nationale Praxis, wonach die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats es automatisch ablehnen, Anträge auf Gewährung von Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet zu prüfen, die ein Drittstaatsangehöriger, gegen den eine Rückkehrentscheidung und ein damit einhergehendes Einreiseverbot ergangen sind, zum Zweck der Zusammenführung mit einem Familienangehörigen gestellt hat, der Unionsbürger ist, in dem Mitgliedstaat wohnt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und noch nie von seinen Rechten auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.

–      Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bietet keine Grundlage für die Rechtfertigung einer solchen Praxis.

–      In einem solchen Fall müssen vielmehr die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls geprüft werden, bevor die nationalen Behörden eine Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung erlassen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      ABl. 2010, C 83, S. 389 (im Folgenden: Charta).


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 (ABl. 2008, L 348, S. 98, im Folgenden: Rückführungsrichtlinie). Ich habe den Begriff „Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“ verwendet, da dieser Begriff in der Rückführungsrichtlinie benutzt wird, um deren räumlichen Anwendungsbereich zu bestimmen. Diese Richtlinie gilt weder für Irland noch für das Vereinigte Königreich. Hingegen gilt sie für Dänemark und Liechtenstein, Island, Norwegen und die Schweiz. Bezugnahmen auf das „Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“ im Zusammenhang mit der Rückführungsrichtlinie sind dementsprechend aufzufassen.


4      Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) statuiert das Art. 7 der Charta entsprechende Recht.


5      Nach Art. 52 Abs. 7 der Charta sind die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Charta verfasst wurden, von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen (Erläuterungen zur Charta der Grundrechte) (ABl. 2007, C 303, S. 17).


6      Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77).


7      Vgl. Art. 1: Solche Personen sind gemäß Art. 3 Abs. 1 Berechtigte im Sinne der Richtlinie 2004/38.


8      Fünfter Erwägungsgrund.


9      Sechster Erwägungsgrund.


10      22. Erwägungsgrund.


11      24. Erwägungsgrund.


12      Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf freien Personenverkehr ausgeübt hat (siehe dazu oben, Nr. 6), oder Drittstaatsangehörige (und ihre Familienangehörigen), die aufgrund von Übereinkommen zwischen der Europäischen Union nebst ihren Mitgliedstaaten und den betreffenden Drittstaaten ein Recht auf freien Personenverkehr genießen, das dem der Unionsbürger gleichwertig ist, sind nach Art. 2 Nr. 5 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) vom Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie ausgeschlossen. Diese Verordnung wurde am 11. April 2016 durch die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1) aufgehoben und ersetzt. Art. 2 Nr. 5 dieser Verordnung hat denselben Inhalt wie die Vorgängerbestimmung.


13      Die Einreisevoraussetzungen für Drittstaatsangehörige, die einen Aufenthalt im Unionsgebiet von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen planen, sind in Art. 5 des Schengener Grenzkodex geregelt (jetzt Art. 6 der Verordnung 2016/399). Diese Voraussetzungen bestehen im Wesentlichen darin, dass der Betroffene im Besitz eines gültigen Reisedokuments und Visums sein sowie den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen muss, dass er nicht im Schengener Informationssystem ausgeschrieben sein darf und dass er keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen darf.


14      Von dieser Verpflichtung bestehen folgende Ausnahmen. Die Mitgliedstaaten können vom Erlass einer Rückkehrentscheidung absehen, wenn der Drittstaatsangehörige Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels eines anderen Mitgliedstaats ist (Art. 6 Abs. 2), von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rückführungsrichtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen wird (Art. 6 Abs. 3) oder aus humanitären Gründen einen Aufenthaltstitel erhält (Art. 6 Abs. 4) oder wenn ein Verfahren anhängig ist, in dem über die Verlängerung des Aufenthaltstitels oder einer anderen Aufenthaltsberechtigung des Drittstaatsangehörigen entschieden wird (Art. 6 Abs. 5).


15      Ich möchte drei linguistische Bemerkungen zum Text dieser Schlussanträge machen. Erstens spreche ich einfach von „Familienzusammenführung“, um die Anträge der sieben Drittstaatsangehörigen im Ausgangsverfahren zu erfassen. Zweitens verwendet das vorlegende Gericht den Begriff „statischer Unionsbürger“, um die Stellung der Familienangehörigen zu beschreiben, die in den in Rede stehenden Fällen die belgische Staatsangehörigkeit besitzen. Drittens haben die zuständigen Behörden im Ausgangsverfahren den betroffenen Drittstaatsangehörigen in manchen Fällen keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt. Die entsprechenden Entscheidungen wurden u. a. damit begründet, dass die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle (Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie). Ich habe schon früher darauf hingewiesen, dass der in der englischen Fassung der Rückführungsrichtlinie verwendete Ausdruck „public policy“ genauer mit dem Begriff „öffentliche Ordnung“ wiedergegeben wird. In der Tat findet sich in der französischen sowie in anderen Sprachfassungen dieser Richtlinie der Begriff „ordre public“. Dazu verweise ich auf meine Schlussanträge in der Rechtssache Ouhrami (C‑225/16, EU:C:2017:398, Nr. 69 und Fn. 59).


16      Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts in der Vorlageentscheidung werden die sieben Beschwerdeführer allesamt als Familienangehörige von Unionsbürgern im Sinne des nationalen Rechts angesehen. Siehe oben, Nr. 16.


17      Die Ausreiseverfügung und ein fünfjähriges Einreiseverbot ergingen deshalb, weil Herr R.I. in betrügerischer Absicht ein falsches Alter angegeben und behauptet hatte, ein unbegleiteter Minderjähriger zu sein, während er in Wirklichkeit bereits zu dem Zeitpunkt volljährig war, als er einen früheren Antrag auf Genehmigung der Einreise nach Belgien gestellt hatte.


18      In der Ausreiseverfügung wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt. Zusammen mit dieser Verfügung wurde ein dreijähriges Einreiseverbot erlassen. Diese Entscheidungen ergingen deshalb, weil Frau M.J. einer früheren Verfügung, aus Belgien auszureisen, nicht nachgekommen war, weil gegen sie ein Protokoll wegen Körperverletzung erstellt worden war und weil die Gefahr bestand, dass sie untertauchen würde. Frau M.J. wurde daher als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen.


19      Die Ausreiseverfügung und ein dreijähriges Einreiseverbot ergingen deshalb, weil Frau N.N.N. einer früheren Verfügung, aus Belgien auszureisen, nicht nachgekommen war.


20      In der Ausreiseverfügung wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt. Zusammen mit dieser Verfügung wurde ein achtjähriges Einreiseverbot erlassen. Diese Entscheidungen ergingen deshalb, weil Herr O.I.O. einer früheren Verfügung, aus Belgien auszureisen, nicht nachgekommen war. Er wurde als eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit angesehen, da er wegen schwerwiegender Straftaten verurteilt worden war, wie sich aus den ihm auferlegten Freiheitsstrafen wegen häuslicher Gewalt ergab.


21      In der Ausreiseverfügung wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt. Zusammen mit dieser Verfügung wurde ein dreijähriges Einreiseverbot erlassen. Diese Entscheidungen ergingen deshalb, weil Frau K.A. einer früheren Verfügung, aus Belgien auszureisen, nicht nachgekommen war und als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wurde, da sie bei einem Ladendiebstahl gefasst worden war. Ihre Söhne sind in der Verfügung, aus Belgien auszureisen, und dem damit verbundenen Einreiseverbot ebenfalls erwähnt.


22      In der Ausreiseverfügung wurde keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt. Zusammen mit dieser Verfügung wurde ein dreijähriges Einreiseverbot erlassen. Diese Entscheidungen ergingen deshalb, weil Herr M.Z. einer früheren Verfügung, aus Belgien auszureisen, nicht nachgekommen war und als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wurde, da gegen ihn ein Protokoll wegen Garagendiebstahls erstellt worden war.


23      Herr B.A. und sein Lebenspartner haben ihre Beziehung durch den Abschluss eines Partnerschaftsvertrags vor einem Notar formalisiert. Die Ausreiseverfügung und das dreijährige Einreiseverbot ergingen deshalb, weil Herr B.A. einer früheren Ausreiseverfügung nicht nachgekommen war


24      In jedem der sieben Fälle wurden die Anträge auf Aufenthaltsgewährung zum Zweck der Familienzusammenführung eingereicht, nachdem die Ausreiseverfügungen ergangen waren.


25      Siehe oben, Nrn. 18 bis 20.


26      In Art. 11 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie wird der Ausdruck „Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots“ verwendet. Die vom vorlegenden Gericht in seinen Vorlagefragen verwendeten Ausdrücke „opheffing of opschorting“ sind meines Erachtens dahin zu verstehen, dass sie sich auf einen Bescheid beziehen, der die Aufhebung oder Aussetzung („intrekking of schorsing“) eines Einreiseverbots im Sinne dieser Richtlinienbestimmung zum Gegenstand hat.


27      Urteil vom 8. März 2011 (C‑34/09, EU:C:2011:124).


28      Dem vorlegenden Gericht zufolge gibt es zwei Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz. Die erste bezieht sich auf medizinische Gründe, der zweite betrifft Anträge auf internationalen Schutz.


29      Urteil vom 10. Juli 2014 (C‑244/13, EU:C:2014:2068, Rn. 38 und 39).


30      Urteil vom 16. Juli 2015 (C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 54).


31      Urteil vom 6. Dezember 2012 (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 56).


32      Urteil vom 10. Mai 2017 (C‑133/15, EU:C:2017:354). Diese Rechtssache war noch anhängig, als das vorlegende Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen einreichte.


33      Urteile vom 13. September 2016 (C‑165/14, EU:C:2016:675, und C‑304/14, EU:C:2016:674). Diese Rechtssachen waren noch anhängig, als das vorlegende Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen einreichte.


34      Siehe oben, Nr. 6; vgl. auch Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 50 und 52 bis 54).


35      Richtlinie des Rates vom 22. September 2003 (ABl. 2003, L 251, S. 12). Diese Richtlinie gilt für einen „Zusammenführenden“, d. h. den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen. Diese Richtlinie findet auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers ausdrücklich keine Anwendung (Art. 3 Abs. 3). In Art. 5 ist geregelt, wie Anträge zu stellen und zu prüfen sind, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/86 fallen; siehe dazu unten, Nr. 56.


36      Urteil vom 8. März 2011 (C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41 bis 43).


37      Urteil vom 15. November 2011 (C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 66). Der Hinweis auf das Gebiet der Union als Ganzes im Zusammenhang mit Art. 20 AEUV bezieht sich auf alle 28 Mitgliedstaaten (siehe oben, Fn. 3).


38      Urteil vom 10. Mai 2017 (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 60 bis 65).


39      Urteil vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou (C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).


40      Vgl. die in jüngerer Zeit ergangenen Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín (C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 74) und CS (C‑304/14 EU:C:2016:674, Rn. 29).


41      Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami (C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 47).


42      Siehe oben, Nrn. 10, 12 und 14. Rückkehrentscheidungen ergehen nicht zwangsläufig immer zusammen mit Einreiseverboten. Art. 6 Nr. 6 gestattet den Mitgliedstaaten zwar, eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot gleichzeitig zu erlassen; nach der Systematik der Richtlinie handelt es sich hierbei jedoch eindeutig um zwei getrennte Entscheidungen. Eine Rückkehrentscheidung zieht die Konsequenzen aus der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Aufenthalts, während ein Einreiseverbot einen späteren Aufenthalt betrifft, der für rechtswidrig erklärt wird. Vgl. Art. 11 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie und ferner Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami (C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 50).


43      Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 63).


44      Siehe unten, Nr. 60.


45      Siehe Nrn. 40 und 41.


46      Art. 51 Abs. 1 der Charta, vgl. ferner Urteil vom 8. November 2012, Iida (C‑40/11, EU:C:2012:691, Rn. 78).


47      Siehe oben, Nrn. 2 und 3.


48      Vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri (C‑482/01 und C‑493/01, EU:C:2004:262, Rn. 80).


49      Siehe ferner unten, Nr. 33.


50      Nach Art. 5 Abs. 3 ist es die allgemeine Regel, dass solche Anträge zu stellen und zu prüfen sind, wenn sich die Familienangehörigen noch außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats aufhalten, in dem sich der Zusammenführende aufhält. „Abweichend davon kann ein Mitgliedstaat [jedoch] gegebenenfalls zulassen, dass ein Antrag gestellt wird, wenn sich die Familienangehörigen bereits in seinem Hoheitsgebiet befinden.“


51      Alle Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien der EMRK, in deren Art. 8 das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verankert ist. Diese Bestimmung wäre für alle Aspekte dieser sieben Fälle von Bedeutung, die vom Geltungsbereich des Unionsrechts nicht erfasst werden sollten. Vgl. Urteil vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, EU:C:2008:449, Rn. 79).


52      Vgl. z. B. EGMR, 3. November 2011,Arvelo Aponte/the Netherlands (CE:ECHR:2011:1103JUD002877005, §§ 57 und 58).


53      Vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri (C‑482/01 und C‑493/01, EU:C:2004:262, Rn. 99).


54      Siehe oben, Nr. 45.


55      In der Erläuterung zu Art. 7 der Charta heißt es, dass die in dieser Bestimmung niedergelegten Rechte den Rechten entsprechen, die durch Art. 8 EMRK garantiert sind, dem zufolge jede Person das Recht u. a. auf Achtung ihres Familienlebens hat (Art. 8 Abs. 1). Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts „nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ (Art. 8 Abs. 2).


56      EGMR, 3. Oktober 2014, Jeunesse/the Netherlands (GK) (CE:ECHR:2014:1003JUD001273810, §§ 106 bis 109).


57      EGMR, 3. Oktober 2014, Jeunesse/the Netherlands (GK) (CE:ECHR:2014:1003JUD001273810, §§ 115 bis 121).


58      Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 68).


59      Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 68 bis 70).


60      In seinem Urteil vom 10. Juli 2014, Ogieriakhi (C‑244/13, EU:C:2014:2068), verwies der Gerichtshof insbesondere auf die Art. 7 Abs. 2 und 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38. Die letztgenannte Bestimmung erkennt Unionsbürgern, die sich fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, das Recht zu, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Nach Art. 16 Abs. 2 dieser Richtlinie können sich auch Familienangehörige mit Drittstaatsangehörigkeit, die sich rechtmäßig ebenso lang mit diesem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, auf ein Daueraufenthaltsrecht berufen. Vgl. auch Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a. (C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 56 bis 59), und oben, Nr. 6.


61      Urteil vom 12. März 2014, O. und B. (C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).


62      Siehe oben, Nr. 61.


63      Vgl. z. B. EGMR, 3. November 2011,Arvelo Aponte/the Netherlands (CE:ECHR:2011:1103JUD002877005, § 60).


64      Siehe oben, Nr. 40.


65      Vgl. Art. 11 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie sowie oben, Nr. 44 und Fn. 42.


66      Ein Einreiseverbot kann fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr u. a. für die öffentliche Ordnung darstellt (Art. 11 Abs. 2).


67      Urteile vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 72 und 73), und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a. (C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 44).


68      Vgl. Erwägungsgründe 5 und 6 sowie Art. 1 der Rückführungsrichtlinie.


69      Vgl. 22. Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie.


70      Vgl. Art. 3 Nr. 9 der Rückführungsrichtlinie. Vgl. ferner Art. 5 der Rückführungsrichtlinie und Urteil vom 11. Dezember 2014, Boudjlida (C‑249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 49 und 50).


71      Vgl. Art. 10 und sechster Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie. Vgl. ferner Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega (C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 62).


72      Dies bestätigen die in Art. 6 Abs. 4 enthaltenen Vorschriften über die Ausnahme von der allgemeinen Regel, wonach die Mitgliedstaaten gegen Drittstaatsangehörige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet illegal aufhalten, Rückkehrentscheidungen erlassen müssen. Vgl. ferner die Vorschriften über die freiwillige Ausreise in Art. 7 Abs. 2 und die Verfahrensgarantien in Kapitel III der Rückführungsrichtlinie.


73      Siehe oben, Nrn. 61 bis 63.


74      Selbstverständlich wahrt die Rückführungsrichtlinie die Grundrechte (vgl. 24. Erwägungsgrund).


75      Vgl. entsprechend Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 70).


76      Die elterliche Beziehung zwischen dem Drittstaatsangehörigen und seinem die Unionsbürgerschaft besitzenden Kind reicht für sich allein nicht aus: vgl. Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 50 bis 52). Vgl. auch Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 71).


77      Urteil vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a. (C‑87/12, EU:C:2013:291, Rn. 39).


78      Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a. (C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 69).


79      Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a. (C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 55).


80      Siehe oben, Nr. 14.


81      Siehe Nrn. 18 und 19.


82      Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami (C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 45 und 51).


83      Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami (C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 53).


84      Die für Anträge auf Familienzusammenführung zuständigen Behörden haben nicht unbedingt auch die Zuständigkeit für die Anwendung der Einwanderungsregeln. Ebenso hat ein erfolgreicher Antrag auf Familienzusammenführung nicht automatisch zur Folge, dass eine frühere Rückkehrentscheidung unwirksam oder auf andere Weise aufgehoben wird. Der Einwanderungsstatus des Betroffenen muss möglicherweise nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften in einem separaten Verwaltungsverfahren bereinigt werden.