SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MELCHIOR WATHELET
vom 3. September 2015(1)
Rechtssache C‑388/14
Timac Agro Deutschland GmbH
gegen
Finanzamt Sankt Augustin
(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Köln [Deutschland])
„Niederlassungsfreiheit – Art. 49 AEUV – Abzug der Verluste einer in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte einer Gesellschaft vom Gewinn dieser Gesellschaft – Steuerregelung eines Mitgliedstaats, wonach diese Verluste im Fall der Veräußerung der betreffenden Betriebsstätte nachzuversteuern sind“
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 AEUV. Es betrifft genauer gesagt eine Thematik mit der sich der Gerichtshof seit seinem Urteil Marks & Spencer (C‑446/03, EU:C:2005:763) schon wiederholt auseinandergesetzt hat: den von einem Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat vorgenommenen Abzug der in einer Betriebsstätte dieses Unternehmens in einem anderen Mitgliedstaat entstandenen Verluste.
I – Rechtlicher Rahmen
A – Unionsrecht
2. Art. 49 AEUV gewährleistet die Niederlassungsfreiheit von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Dieser Artikel sieht Folgendes vor:
„Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind … verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind.
Vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen.“
B – Deutsches Recht
3. § 2a Abs. 3 Sätze 1 bis 4 des deutschen Einkommensteuergesetzes (EStG) in der in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 anwendbaren Fassung sieht vor:
„Sind nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei einem unbeschränkt Steuerpflichtigen aus einer in einem ausländischen Staat belegenen Betriebsstätte stammende Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit von der Einkommensteuer zu befreien, so ist auf Antrag des Steuerpflichtigen ein Verlust, der sich nach den Vorschriften des inländischen Steuerrechts bei diesen Einkünften ergibt, bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte abzuziehen, soweit er vom Steuerpflichtigen ausgeglichen oder abgezogen werden könnte, wenn die Einkünfte nicht von der Einkommensteuer zu befreien wären, und soweit er nach diesem Abkommen zu befreiende positive Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit aus anderen in diesem ausländischen Staat belegenen Betriebsstätten übersteigt. Soweit der Verlust dabei nicht ausgeglichen wird, ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 10d der Verlustabzug zulässig. Der nach den Sätzen 1 und 2 abgezogene Betrag ist, soweit sich in einem der folgenden Veranlagungszeiträume bei den nach diesem Abkommen zu befreienden Einkünften aus gewerblicher Tätigkeit aus in diesem ausländischen Staat belegenen Betriebsstätten insgesamt ein positiver Betrag ergibt, in dem betreffenden Veranlagungszeitraum bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte wieder hinzuzurechnen. Satz 3 ist nicht anzuwenden, wenn der Steuerpflichtige nachweist, dass nach den für ihn geltenden Vorschriften des ausländischen Staates ein Abzug von Verlusten in anderen Jahren als dem Verlustjahr allgemein nicht beansprucht werden kann.“
4. § 52 Abs. 3 Sätze 3 und 5 EStG in der 2005 anwendbaren Fassung bestimmt:
„§ 2a Abs. 3 Satz 3, 5 und 6 in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. April 1997 (BGBl. I S. 821) ist für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2008 weiter anzuwenden, soweit sich ein positiver Betrag im Sinne des § 2a Abs. 3 Satz 3 ergibt oder soweit eine in einem ausländischen Staat belegene Betriebsstätte im Sinne des § 2a Abs. 4 in der Fassung des Satzes 5 in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt, übertragen oder aufgegeben wird. … § 2a Abs. 4 ist für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2008 in der folgenden Fassung anzuwenden:
‚(4) Wird eine in einem ausländischen Staat belegene Betriebsstätte
1. in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt oder
2. entgeltlich oder unentgeltlich übertragen oder
3. aufgegeben …,
so ist ein nach Absatz 3 Satz 1 und 2 abgezogener Verlust, soweit er nach Absatz 3 Satz 3 nicht wieder hinzugerechnet worden ist oder nicht noch hinzuzurechnen ist, im Veranlagungszeitraum der Umwandlung, Übertragung oder Aufgabe in entsprechender Anwendung des Absatzes 3 Satz 3 dem Gesamtbetrag der Einkünfte hinzuzurechnen.‘“
C – Die Doppelbesteuerungsabkommen
5. Art. 4 Abs. 1 des am 4. Oktober 1954 geschlossenen Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern (BGBl. 1955 II S. 749) in der durch das Abkommen vom 8. Juli 1992 (BGBl. 1994 II S. 122) geänderten Fassung sieht vor:
„Bezieht eine Person mit Wohnsitz in einem der Vertragsstaaten als Unternehmer oder Mitunternehmer Einkünfte aus einem gewerblichen Unternehmen, dessen Wirkung sich auf das Gebiet des anderen Staates erstreckt, so hat der andere Staat das Besteuerungsrecht für diese Einkünfte nur insoweit, als sie auf eine dort befindliche Betriebsstätte des Unternehmens entfallen.“
6. Art. 7 Abs. 1 des Abkommens vom 24. August 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (BGBl. 2000 II S. 734, im Folgenden: deutsch-österreichisches Abkommen) bestimmt:
„Gewinne eines Unternehmens eines Vertragsstaats dürfen nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, das Unternehmen übt seine Tätigkeit im anderen Vertragsstaat durch eine dort gelegene Betriebsstätte aus. Übt das Unternehmen seine Tätigkeit auf diese Weise aus, so dürfen die Gewinne des Unternehmens im anderen Staat besteuert werden, jedoch nur insoweit, als sie dieser Betriebsstätte zugerechnet werden können.“
7. Art. 23 Abs. 1 des deutsch-österreichischen Abkommens bestimmt:
„Bei einer in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Person wird die Steuer wie folgt festgesetzt:
a) Von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer werden die Einkünfte aus der Republik Österreich sowie die in der Republik Österreich gelegenen Vermögenswerte ausgenommen, die nach diesem Abkommen in der Republik Österreich besteuert werden dürfen und nicht unter Buchstabe b fallen.“ (2)
II – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
8. Die Timac Agro Deutschland GmbH (im Folgenden: Timac Agro) ist eine Kapitalgesellschaft deutschen Rechts. Sie gehört zu einer französischen Unternehmensgruppe. Timac Agro unterhielt seit 1997 eine Betriebsstätte in Österreich. Diese wurde zum 31. August 2005 entgeltlich auf eine in Österreich ansässige Gesellschaft übertragen, die zum gleichen Konzern wie die Klägerin gehört. Gegenstand der Veräußerung war insbesondere das Inventar. Der Kundenstock wurde zu einem Preis von einem Euro übertragen, da die Kunden bereits Kunden der erwerbenden Schwestergesellschaft waren.
9. Sodann stellte sich die Frage der Behandlung der Verluste dieser nicht gebietsansässigen Betriebsstätte, denn zwischen 1997 und 2005 hatte die österreichische Betriebsstätte in jedem Veranlagungszeitraum – mit Ausnahme der Jahre 2000 und 2005 – Verluste erwirtschaftet, die von Timac Agro in Deutschland in Abzug gebracht worden waren.
10. Im Anschluss an eine Steuerprüfung wurden die steuerlichen Bemessungsgrundlagen von Timac Agro für die Jahre 1997 bis 2004 berichtigt. Zum einen wurden die Verluste der österreichischen Betriebsstätte, die ursprünglich von den Einkünften von Timac Agro in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 abgezogen worden waren, deren steuerlichem Ergebnis im Veranlagungszeitraum 2005 hinzugerechnet. Zum anderen wurde die Einbeziehung der Verluste dieser Betriebsstätte in die steuerliche Bemessungsgrundlage von Timac Agro für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2004 abgelehnt.
11. Timac Agro, das diese Berichtigungen beanstandete, erhob beim Finanzgericht Köln Klage. Sie begründete diese damit, dass sowohl die Hinzurechnung der in ihrer österreichischen Betriebsstätte in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 angefallenen Verluste als auch die Versagung der Möglichkeit, die Verluste dieser Betriebsstätte in den Veranlagungszeiträumen 1999 bis 2004 in Abzug zu bringen, mit der Niederlassungsfreiheit unvereinbar seien.
12. Hinsichtlich der streitigen Nachversteuerung durch Hinzurechnung meint das vorlegende Gericht, der Gerichtshof habe noch nicht die Frage beantwortet, ob die Hinzurechnung von Verlusten im Anschluss an die Veräußerung einer gebietsfremden Betriebsstätte mit dem Unionsrecht vereinbar sei.
13. Zwar sei der Sachverhalt, der dem Urteil Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt (C‑157/07, EU:C:2008:588) zugrunde liege, teilweise mit dem des Ausgangsverfahrens vergleichbar; in diesem Urteil sei es aber um die Hinzurechnung der Verluste der gebietsfremden Betriebsstätte bis zur Höhe ihrer Gewinne gegangen. Hier sei die Hinzurechnung der Verluste dagegen wegen der Veräußerung der gebietsfremden Betriebsstätte ohne Zusammenhang mit etwaigen Gewinnen dieser Betriebsstätte erfolgt.
14. Infolgedessen wirft das vorlegende Gericht für den Fall, dass der Gerichtshof die Grundsätze des Urteils Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt (C‑157/07, EU:C:2008:588) auch auf den vorliegenden Fall für anwendbar halten sollte, die Frage auf, ob die vom Gerichtshof in den Rn. 55 und 56 des Urteils Marks & Spencer (C‑446/03, EU:C:2005:763) aufgestellten Grundsätze zu endgültigen Verlusten (im Folgenden: Marks & Spencer-Ausnahme)(3) auf die Verluste in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 Anwendung finden könnten, die, nachdem sie wieder hinzugerechnet worden seien, in Deutschland nicht mehr berücksichtigt würden.
15. Hinsichtlich der Weigerung, die Verluste der österreichischen Betriebsstätte für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2004 zu berücksichtigen, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Republik Österreich nach dem deutsch-österreichischen Abkommen das ausschließliche Besteuerungsrecht für die Einkünfte dieser Betriebsstätte zustehe. Das Doppelbesteuerungsabkommen erfasse somit nicht nur die Gewinne, sondern auch die Verluste. Die Klage von Timac Agro könnte daher nur Erfolg haben, wenn es gegen die Niederlassungsfreiheit verstieße.
16. Das vorlegende Gericht möchte außerdem wissen, ob für diesen Zeitraum endgültige Verluste im Sinne der Marks & Spencer-Ausnahme berücksichtigt werden müssen. Es sieht sich außerstande, die Kriterien zu erkennen, anhand deren die Fälle festgelegt werden können, in denen die Marks & Spencer-Ausnahme anwendbar ist.
17. In diesem Rahmen hat das Finanzgericht Köln beschlossen, das Verfahren auszusetzen und den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.
III – Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof
18. Mit Entscheidung vom 19. Februar 2014, die am 14. August 2014 beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das Finanzgericht Köln beschlossen, dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 49 AEUV so zu verstehen, dass er einer Regelung wie § 52 Abs. 3 EStG entgegensteht, soweit Ursache der Hinzurechnung in Höhe zuvor bei der gebietsansässigen Muttergesellschaft steuermindernd berücksichtigter Verluste aus einer gebietsfremden Betriebsstätte die Veräußerung dieser Betriebsstätte an eine andere Kapitalgesellschaft, die zu dem gleichen Konzern wie die Veräußerin gehört, und nicht die Erzielung von Gewinnen ist?
2. Ist Art. 49 AEUV so zu verstehen, dass er einer Regelung wie Art. 23 Abs. 1 Buchst. a des deutsch-österreichischen Abkommens, wonach von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer Einkünfte aus Österreich ausgenommen werden, wenn diese in Österreich besteuert werden dürfen, entgegensteht, wenn in einer österreichischen Betriebsstätte einer deutschen Kapitalgesellschaft angefallene Verluste deshalb nicht mehr in Österreich berücksichtigt werden können, weil die Betriebsstätte an eine österreichische Kapitalgesellschaft, die zu dem gleichen Konzern gehört wie die deutsche Kapitalgesellschaft, veräußert wird?
19. Das Finanzamt Sankt Augustin, die deutsche, die französische und die österreichische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.
20. Alle Parteien, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, schlagen – abgesehen von einer nuancierteren Antwort der Kommission und des Vereinigten Königreichs, das in seinen schriftlichen Erklärungen nicht auf die erste Frage eingegangen ist – vor, die Vorlagefragen zu verneinen(4).
21. Alle genannten Parteien haben sich außerdem in der mündlichen Verhandlung geäußert, die am 1. Juli 2015 stattgefunden hat.
IV – Analyse
A – Zur Vorbedingung der Vergleichbarkeit der Sachverhalte
1. Direkte Steuern und Unionsrecht
22. Die direkten Steuern fallen zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese ihre Befugnisse unter Wahrung des Unionsrechts ausüben(5), insbesondere der Bestimmungen des Vertrags über die Verkehrsfreiheiten, von denen die in Art. 49 AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit im Mittelpunkt der vorliegenden Rechtssache steht.
23. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Niederlassungsfreiheit beeinträchtigt, wenn nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine Gesellschaft, die in diesem Staat ansässig ist und eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat unterhält, gegenüber einer gebietsansässigen Gesellschaft, die in ihrem Sitzstaat eine Betriebsstätte unterhält, steuerlich benachteiligt wird(6).
24. In diesem Rahmen begründet eine Bestimmung, die bei der Feststellung der Ergebnisse und der Berechnung der zu versteuernden Einkünfte einer Gesellschaft die Berücksichtigung von Verlusten einer von ihr abhängigen Betriebsstätte ermöglicht, einen Steuervorteil(7). „Die Gewährung oder Versagung eines solchen Steuervorteils aufgrund einer Betriebsstätte, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist als das Stammhaus, kann daher die Niederlassungsfreiheit beeinträchtigen.“(8)
25. Wird ein solcher Vorteil nur den in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätten verweigert, stellt dies eine steuerliche Benachteiligung dar, weil es eine in einem Mitgliedstaat der Union ansässige Gesellschaft davon abhalten kann, ihre Tätigkeiten durch eine in einem anderen Mitgliedstaat belegene Betriebsstätte auszuüben. Allerdings muss, damit diese Ungleichbehandlung eine durch Art. 49 AEUV verbotene Beschränkung darstellt, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Situation objektiv vergleichbar sein(9).
26. Mit anderen Worten: Sofern eine solche Ungleichbehandlung nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist(10), ist sie nur mit den Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit vereinbar, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind(11).
2. Erfordernis objektiver Vergleichbarkeit
a) Kriterien
27. Auch wenn das Erfordernis einer objektiven Vergleichbarkeit von rein innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Sachverhalten – als Voraussetzung dafür, dass eine unterschiedliche steuerliche Behandlung Gebietsfremder und Gebietsansässiger (im vorliegenden Fall einer in Deutschland ansässigen Gesellschaft mit einer Betriebsstätte in Österreich und einer anderen in Deutschland ansässigen Gesellschaft mit einer Betriebsstätte im Inland) mit der Ausübung einer Verkehrsfreiheit unvereinbar ist – eher an eine Diskriminierung denken lässt als an eine bloße Beeinträchtigung oder eine bloße Beschränkung, findet sich dieses Erfordernis durchgehend in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verhältnis zwischen den Bestimmungen des Vertrags über die Grundverkehrsfreiheiten und den nationalen direkten Steuern(12).
28. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird die steuerliche Situation der Gebietsansässigen und der Gebietsfremden in den meisten Fällen als objektiv miteinander vergleichbar eingestuft(13), wobei der Vergleich unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu erfolgen hat(14).
29. Die Analyse darf sich jedoch nicht allein auf das Ziel der fraglichen Maßnahme beschränken, damit es nicht zu einer verzerrten Darstellung der steuerlichen Gesamtsituation des Normadressaten kommt.
30. Wenn man nämlich anerkennt, dass eine Maßnahme, die einem Steuerpflichtigen den Abzug der in seinen Betriebsstätten entstandenen Verluste erlaubt, wahrscheinlich bezweckt, dessen Steuerbemessungsgrundlage zu mindern, und dass diese Maßnahme abstrakt analysiert wird, sind die Situation einer Gesellschaft mit einer gebietsansässigen Betriebsstätte und die einer Gesellschaft mit einer gebietsfremden Betriebsstätte stets miteinander vergleichbar. Beide möchten in den Genuss der Abzugsfähigkeit kommen, um ihre Steuerbemessungsgrundlage zu mindern(15).
31. Letztlich ist, wie Generalanwalt Jääskinen jüngst in seinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen Miljoen u. a. (C‑10/14, C‑14/14 und C‑17/14, EU:C:2015:429) ausgeführt hat, der entscheidende Gesichtspunkt für den Vergleich der Situationen von gebietsansässigen und gebietsfremden Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Feststellung einer eventuellen vom Vertrag verbotenen Beschränkung „nicht so sehr der Zweck der in Rede stehenden Rechtsvorschriften …, sondern die Tatsache, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats keine Ungleichbehandlung schaffen darf, die die praktische Auswirkung hat, dass die Gebietsfremden letztlich einer höheren steuerlichen Belastung unterliegen, und die somit geeignet ist, Gebietsfremde davon abzuhalten, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen“(16).
32. Dieses methodische Vorgehen erfordert es, vorab zu prüfen, ob der betreffende Mitgliedstaat (vorliegend der Sitzstaat des Stammhauses, das den Abzug der Verluste seiner in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte begehrt) über die Befugnis zur Besteuerung der betreffenden Einkünfte verfügt oder nicht.
b) Anwendung
33. Generell sind die Fälle, in denen der Gerichtshof entschieden hat, dass die fehlende objektive Vergleichbarkeit der jeweiligen Situation von Gebietsansässigen und Gebietsfremden dazu führt, dass die steuerliche Ungleichbehandlung nicht in Widerspruch zu den Verkehrsfreiheiten steht, letztlich sehr selten(17).
34. In Bezug auf das Problem, das uns beschäftigt, nämlich der von einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft vorgenommene Abzug von Verlusten einer Betriebsstätte dieser Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat, lässt sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs wie folgt zusammenfassen.
35. Der Gerichtshof hat in seinen Urteilen zu dieser Thematik durchgehend das Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit festgestellt, nachdem er die Situation einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft mit einer Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat und die Situation einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft mit einer Betriebsstätte in demselben Mitgliedstaat als miteinander vergleichbar eingestuft hatte. Eine solche Vergleichbarkeit wurde ausdrücklich(18) oder implizit(19) festgestellt.
36. Der Gerichtshof hat außerdem eine Vergleichbarkeit der Situation in den Fällen angenommen, in denen ein Mitgliedstaat beschlossen hatte, die Gewinne in anderen Mitgliedstaaten belegener Betriebsstätten zu besteuern. Denn in diesen Fällen hat der Mitgliedstaat „diese Betriebsstätten den gebietsansässigen Betriebsstätten … gleichgestellt“(20).
37. Die jeweilige Situation von Gebietsansässigen und Gebietsfremden ist hingegen in Bezug auf das Steuersystem eines Mitgliedstaats nicht vergleichbar, wenn der betreffende Mitgliedstaat die Befugnis zur Besteuerung der Gebietsfremden nicht hat oder nicht ausübt.
38. Dieses Erfordernis erklärt die Annahme des Gerichtshofs im Urteil Nordea Bank Danmark (C‑48/13, EU:C:2014:2087), wonach „in Bezug auf Maßnahmen eines Mitgliedstaats, die der Vermeidung oder Abschwächung der Doppelbesteuerung der Gewinne einer gebietsansässigen Gesellschaft dienen, sich Betriebsstätten, die in einem anderen Mitgliedstaat … belegen sind, grundsätzlich nicht in einer Situation befinden, die mit der Situation gebietsansässiger Betriebsstätten vergleichbar wäre“(21).
39. Dieser Gedanke ist nicht neu. So hatte der Gerichtshof bereits im Urteil Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation (C‑374/04, EU:C:2006:773) entschieden, dass natürliche Personen, die Anteilseigner einer nicht im Vereinigten Königreich ansässigen Muttergesellschaft sind, auf Dividenden, die im Vereinigten Königreich ansässige Tochtergesellschaften ausschütten, nicht die gleiche Steuergutschrift beanspruchen können wie natürliche Personen, die Anteilseigner einer im Vereinigten Königreich ansässigen Muttergesellschaft sind, sofern auf diese abfließenden Dividenden keine britische Steuer erhoben wird. Der Gerichtshof hatte in seinem Urteil klargestellt, dass etwas anderes gegolten hätte, wenn das Vereinigte Königreich aufgrund eines Doppelbesteuerungsabkommens oder einer einseitig getroffenen Entscheidung das Recht behalten hätte, die abfließenden Dividenden der britischen Einkommensteuer zu unterwerfen.
40. In Anbetracht dieser Erwägungen hat der Gerichtshof entschieden, dass es nicht gegen die Art. 49 AEUV und 63 AEUV verstößt, „wenn ein Mitgliedstaat bei einer Dividendenausschüttung durch eine gebietsansässige Gesellschaft den diese Dividenden beziehenden Gesellschaften, die ebenfalls in diesem Staat ansässig sind, eine Steuergutschrift gewährt, die dem Steuerteilbetrag entspricht, den die ausschüttende Gesellschaft für die ausgeschütteten Gewinne entrichtet hat, eine solche Steuergutschrift aber den Dividenden beziehenden Gesellschaften, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind und hinsichtlich dieser Dividenden im erstgenannten Staat nicht der Steuer unterliegen, versagt“(22).
41. Im Ergebnis kann somit nur dann, wenn die Ungleichbehandlung vergleichbare Situationen betrifft, vom Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ausgegangen werden, die wiederum nur dann für mit dem Vertrag vereinbar erklärt werden kann, wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.
B – Anwendung auf die vorliegende Rechtssache
1. Zur Notwendigkeit, zwei Anwendungszeiträume der in Rede stehenden deutschen Rechtsvorschriften zu unterscheiden
42. Vor dem Veranlagungszeitraum 1999 konnten vom Gesamtbetrag der Einkünfte eines in Deutschland ansässigen Unternehmens Verluste abgezogen werden, die in einer in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte entstanden waren. Diese Verluste wurden grundsätzlich in zwei Fällen wieder hinzugerechnet: wenn die im Ausland belegene Betriebsstätte Gewinne erzielte (in diesem Fall bis zur Höhe der Gewinne) oder im Fall der Umwandlung, Übertragung oder Aufgabe dieser Betriebsstätte. Ab dem Veranlagungszeitraum 1999 wurde § 2a Abs. 3 Satz 1 EStG jedoch durch § 52 Abs. 3 EStG aufgehoben, so dass der Abzug dieser Verluste nicht mehr möglich war.
43. Diese Gesetzesänderung erklärt die beiden vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen, von denen sich jede auf eine andere Rechtslage bezieht.
2. Zur ersten Vorlagefrage
44. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV einer Vorschrift wie § 52 Abs. 3 EStG entgegensteht, wonach die Verluste einer gebietsfremden Betriebsstätte, die zuvor in einer die steuerliche Bemessungsgrundlage der gebietsansässigen Hauptgesellschaft mindernden Weise berücksichtigt worden waren, nicht wegen der Erzielung von Gewinnen, sondern deshalb nachversteuert werden, weil die Betriebsstätte an eine andere Kapitalgesellschaft veräußert wird, die zum selben Konzern gehört wie die veräußernde Gesellschaft und ebenfalls gebietsfremd ist.
45. Wie das vorlegende Gericht selbst ausgeführt hat, wird der Gerichtshof nicht das erste Mal zu dieser Steuerregelung befragt.
a) Vorliegen einer Beschränkung
46. Im Urteil Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt (C‑157/07, EU:C:2008:588) hat der Gerichtshof nämlich in dieser Regelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gesehen, aber entschieden, dass die Hinzurechnung von Verlusten – in diesem Fall anlässlich der Erzielung von Gewinnen durch eine im Ausland gelegene Betriebsstätte, die zuvor die betreffenden Verluste verzeichnet hatte, und nicht ihrer Veräußerung – durch das Erfordernis gerechtfertigt war, die Kohärenz des deutschen Steuersystems zu gewährleisten(23). Die Maßnahme wurde außerdem als in Bezug auf die Erreichung dieses Ziels geeignet und verhältnismäßig eingestuft(24).
47. Der Gerichtshof hat, bevor er zu dem Ergebnis kam, dass eine Beschränkung vorliegt, implizit angenommen, dass die Situation vergleichbar war, und zwar mit der Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland, indem sie dem Stammhaus den Abzug der in seiner in Österreich gelegenen Betriebsstätte entstandenen Verluste erlaubte, „dem gebietsansässigen Stammhaus der in Österreich gelegenen Betriebsstätte einen Steuervorteil in der gleichen Weise [gewährte], wie wenn die Betriebsstätte in Deutschland belegen gewesen wäre“(25).
48. Anschließend hat der Gerichtshof entschieden, dass die deutsche Steuerregelung mit der Hinzurechnung der Verluste der in Österreich gelegenen Betriebsstätte zum zu versteuernden Einkommen der Gesellschaft, zu der die Betriebsstätte gehörte, diesen Steuervorteil entzogen hatte und „gebietsansässige Gesellschaften mit Betriebsstätten in Österreich steuerlich ungünstiger behandelt[e] als gebietsansässige Gesellschaften mit Betriebsstätten in Deutschland“(26).
49. Diese Schlussfolgerung machte es erforderlich, mögliche zwingende Gründe des Allgemeininteresses zu prüfen, die geeignet waren, die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zu rechtfertigen(27).
b) Vorliegen einer Rechtfertigung
50. Erstens hat der Gerichtshof im Urteil Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt (C‑157/07, EU:C:2008:588) angenommen, dass die Hinzurechnung von Verlusten anlässlich der Erzielung von Gewinnen durch eine im Ausland gelegene Betriebsstätte, die zuvor die betreffenden Verluste verzeichnet hatte, durch das Erfordernis gerechtfertigt war, die Kohärenz des deutschen Steuersystems zu gewährleisten(28). Es handelte sich außerdem um eine Maßnahme, die zur Erreichung dieses Ziels geeignet und insoweit verhältnismäßig war(29).
51. Nach Ansicht des Gerichtshofs darf nämlich „die von der im Ausgangsverfahren streitigen deutschen Steuerregelung vorgesehene Hinzurechnung der Verluste nicht von der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste getrennt werden … Diese Hinzurechnung folgt … im Fall einer Gesellschaft mit einer in einem anderen Staat belegenen Betriebsstätte, für die dem Ansässigkeitsstaat dieser Gesellschaft kein Besteuerungsrecht zusteht, einer spiegelbildlichen Logik. Somit bestand ein direkter, persönlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten der im Ausgangsverfahren streitigen Steuerregelung, da die Hinzurechnung das logische Pendant zum vorher gewährten Abzug darstellte.“(30)
52. Dieselbe spiegelbildliche Logik besteht auch bei einer Veräußerung der im Ausland belegenen Betriebsstätte.
53. Der Gerichtshof selbst hatte übrigens im Urteil Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt (C‑157/07, EU:C:2008:588) bereits ausgeführt, dass „[d]ie Wertung, dass die sich aus der … streitigen Regelung ergebende Beschränkung durch das Erfordernis, die Kohärenz dieser Regelung zu gewährleisten, gerechtfertigt ist, … auch nicht durch den … Umstand in Frage gestellt werden [kann], dass die betreffende Betriebsstätte von ihrem Stammhaus aufgegeben wurde und die Gewinne und Verluste, die die Betriebsstätte, solange sie bestand, erzielt hatte, insgesamt zu einem Negativsaldo führten“(31). Denn „die Hinzurechnung der Betriebsstättenverluste zu den Einkünften des Stammhauses [ist] das untrennbare und logische Pendant der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste“(32).
54. Zweitens ist zwar das Zusammentreffen mehrerer Rechtfertigungsgründe nicht erforderlich, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht mit dem Vertrag unvereinbar ist(33); unbeschadet dessen lässt sich aber nach meiner Auffassung das Ziel einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, das – wie der Gerichtshof im Urteil Nordea Bank Danmark (C‑48/13, EU:C:2014:2087) bekräftigt hat – „die Wahrung der Symmetrie zwischen dem Recht zur Besteuerung der Gewinne und der Möglichkeit bezweckt, Verluste in Abzug zu bringen“(34), auch zur Rechtfertigung der Nachversteuerung von Verlusten heranziehen, die die deutschen Rechtsvorschriften im Fall der Veräußerung der Betriebsstätte vorsehen(35).
55. Wenn nämlich einem Mitgliedstaat (in der vorliegenden Rechtssache der Bundesrepublik Deutschland) „die Möglichkeit genommen würde, die so in Abzug gebrachten Verluste bei der veräußernden [deutschen] Gesellschaft nachzubesteuern, obwohl [er] die Befugnis zur Besteuerung etwaiger künftiger Gewinne verloren hat, würde durch eine solche Gestaltung seine Besteuerungsgrundlage künstlich untergraben und damit die sich aus dem [deutsch-österreichischen] Abkommen ergebende Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse beeinträchtigt“(36).
56. Wie der Gerichtshof im Urteil Nordea Bank Danmark (C‑48/13, EU:C:2014:2087) erläutert hat, verlangt das Erfordernis der Wahrung dieser Symmetrie, „dass die für eine Betriebsstätte abgezogenen Verluste durch die Besteuerung ihrer Gewinne ausgeglichen werden können, die unter der Steuerhoheit des betreffenden Mitgliedstaats erwirtschaftet wurden, und zwar sowohl der in dem gesamten Zeitraum, in dem die Betriebsstätte zu der gebietsansässigen Gesellschaft gehörte, erwirtschafteten Gewinne als auch der zum Zeitpunkt der Veräußerung dieser Betriebsstätte erwirtschafteten Gewinne“(37).
57. Anders als bei den dänischen Rechtsvorschriften, zu denen das Urteil Nordea Bank Danmark (C‑48/13, EU:C:2014:2087) ergangen ist, können im vorliegenden Fall die eventuellen Gewinne, die anlässlich der Veräußerung einer in Österreich gelegenen Betriebsstätte erzielt werden, in Deutschland nicht besteuert werden. Es ist deshalb logisch, dass anlässlich einer solchen Veräußerung die zuvor berücksichtigten Verluste hinzugerechnet werden.
58. Zudem hat der Gerichtshof auch ausgeführt, dass die Ausgewogenheit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden könnte, wenn den Steuerpflichtigen „die Möglichkeit eingeräumt [würde], für die Berücksichtigung ihrer Verluste im Mitgliedstaat ihrer Niederlassung oder aber in einem anderen Mitgliedstaat zu optieren, … da die Besteuerungsgrundlage im ersten Staat um die übertragenen Verluste erweitert und im zweiten Staat entsprechend verringert würde“(38). Nach meiner Auffassung verhält es sich ebenso, wenn es einem Steuerpflichtigen angesichts der Möglichkeit, die Gewinne seiner gebietsfremden Betriebsstätte bis zur Höhe der zuvor abgezogenen Verluste hinzuzurechnen, vollkommen freisteht, die Höhe des Verkaufspreises dieser Betriebsstätte festzulegen und somit einem Mitgliedstaat die Möglichkeit zu nehmen, seine Befugnis auszuüben, die späteren Gewinne dieser Betriebsstätte in die seiner Besteuerung unterliegenden Einkünfte einzubeziehen.
59. Schließlich ist drittens auf das Ziel der Vermeidung einer Steuerumgehung hinzuweisen, das – wie der Gerichtshof ausgeführt hat – mit dem Ziel einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis verknüpft ist(39).
60. „Verhaltensweisen, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, die Steuer zu umgehen, die normalerweise für Gewinne aus inländischen Tätigkeiten geschuldet wird, können nämlich das Recht der Mitgliedstaaten zur Ausübung ihrer Steuerzuständigkeit für diese Tätigkeiten gefährden und so die Ausgewogenheit der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“(40)
61. In Anbetracht der Schwierigkeit, den Wert konzerninterner Übertragungen in Anbetracht des hierfür Geltung beanspruchenden Fremdvergleichsgrundsatzes zu bestimmen, könnte die konzerninterne Veräußerung einer im Ausland gelegenen Betriebsstätte nach Abzug von deren Verlusten der vorstehend beschriebenen Fallgestaltung entsprechen.
62. Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden sind demzufolge meines Erachtens im Hinblick auf die Kohärenz des maßgeblichen Steuersystems gerechtfertigt, wobei dieser zwingende Grund des Allgemeininteresses unter Umständen mit denen einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis und der Vermeidung einer Steuerumgehung verbunden ist.
c) Zur Verhältnismäßigkeit und zur Unanwendbarkeit der Marks & Spencer-Ausnahme
63. Zu prüfen bleibt die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Regelung.
64. Wenn ein Mitgliedstaat keine Möglichkeit hat, etwaige Gewinne zu besteuern, die bei der Veräußerung der gebietsfremden Betriebsstätte, von der die Verluste herrühren, erzielt werden, scheint mir eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht nur zur Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele geeignet zu sein, sondern auch in angemessenem Verhältnis zu ihnen zu stehen.
65. Es trifft zu, dass der Gerichtshof im Urteil Marks & Spencer (C‑446/03, EU:C:2005:763) die dort in Rede stehende restriktive Maßnahme für unverhältnismäßig gehalten hat. In diesem Urteil hat es der Gerichtshof als Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit gewertet, wenn eine gebietsfremde Tochtergesellschaft die in ihrem Sitzstaat vorgesehenen Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Verlusten ausgeschöpft hatte und darüber hinaus keine Möglichkeit bestand, sie in der Zukunft berücksichtigen zu lassen(41). In diesem Ausnahmefall muss der gebietsansässigen Muttergesellschaft die Möglichkeit eingeräumt werden, die Verluste einer solchen gebietsfremden Tochtergesellschaft von den in ihrem eigenen Sitzstaat besteuerten Einkünften abzuziehen.
66. Das vorlegende Gericht hat zum Ausdruck gebracht, es habe Probleme mit dieser – vom Gerichtshof seit dem Urteil Marks & Spencer (C‑446/03, EU:C:2005:763) stets angewandten – Ausnahme von der Rechtfertigung einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. Die Standpunkte, die einige Generalanwälte in jüngerer Zeit hierzu vertreten haben(42), die Zahl der Beiträge in der Literatur, die sich mit diesem Problem befassen(43), sowie die schriftlichen Erklärungen verschiedener Mitgliedstaaten und der Kommission in der vorliegenden Rechtssache sind eine Bestätigung dafür, dass es schwierig ist, diese Ausnahme anzuwenden. Der Gerichtshof hat jedoch ihre Anwendbarkeit unlängst ausdrücklich bestätigt(44).
67. Nach den Ausführungen der Republik Österreich besteht jedoch kein Zweifel mehr daran, ob möglicherweise endgültige Verluste vorliegen. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verluste sind nicht endgültig(45), und daher ist es nicht erforderlich, näher zu prüfen, ob die genannte Ausnahme anzuwenden ist.
68. Außerdem ergibt sich – unbeschadet der Zuständigkeit des nationalen Gerichts in diesem Punkt – aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten kein Anhaltspunkt dafür, dass der Steuerpflichtige den Gegenbeweis erbracht hätte.
3. Zur zweiten Vorlagefrage
69. Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV einer Vorschrift wie Art. 23 Abs. 1 Buchst. a des deutsch-österreichischen Abkommens entgegensteht, die von der Bemessungsgrundlage für die deutsche Steuer die aus Österreich stammenden und dort zu versteuernden Einkünfte ausnimmt, wenn Verluste, die in einer österreichischen Betriebsstätte einer deutschen Kapitalgesellschaft entstanden sind, in Österreich deshalb nicht mehr berücksichtigt werden können, weil die Betriebsstätte an eine österreichische Kapitalgesellschaft veräußert wurde, die zum selben Konzern gehört wie die deutsche Kapitalgesellschaft.
70. Ich teile die von der französischen Regierung sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung am 1. Juli 2015 vertretene Auffassung, dass diese Frage von der falschen Prämisse ausgehe, dass die der österreichischen Betriebsstätte der Klägerin des Ausgangsverfahrens entstandenen Verluste in Österreich deshalb nicht mehr berücksichtigt werden könnten, weil die Betriebsstätte an eine österreichische Kapitalgesellschaft veräußert worden sei.
71. Aus den von der österreichischen Regierung im Rahmen ihrer schriftlichen Erklärungen übermittelten Informationen geht nämlich unbestreitbar hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verluste nicht endgültig waren.
72. Unter diesen Umständen kann die zweite Frage dahin verstanden werden, dass mit ihr geklärt werden soll, ob Art. 49 AEUV der Steuerregelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die aufgrund eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, nach dem die Einkünfte aus Betriebsstätten, die im anderen Vertragsstaat des Abkommens belegen sind, von der Steuer befreit sind, die Berücksichtigung von Verlusten aus diesen Betriebsstätten nicht zulässt.
a) In erster Linie: keine objektive Vergleichbarkeit der Situation und keine Beschränkung
73. Gemäß den Art. 7 Abs. 1 und 23 Abs. 1 des deutsch-österreichischen Abkommens und im Unterschied zur Rechtslage in den Veranlagungszeiträumen vor 1999 hat die Bundesrepublik Deutschland durch eine Gesetzesänderung auf die zuvor ausgeübte Besteuerungsbefugnis für „aus einer in einem ausländischen Staat belegenen Betriebsstätte stammende Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit“, die „nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung … von der Einkommensteuer zu befreien“ sind, verzichtet(46).
74. Da es keinen Steuervorteil geben kann, wo keine Besteuerungsbefugnis besteht(47), ist die Situation einer Gesellschaft wie Timac Agro meines Erachtens nicht mit der einer Gesellschaft vergleichbar, die in Deutschland ansässig ist und dort über eine Betriebsstätte verfügt.
75. Im Übrigen sehe ich in Anbetracht der Aufteilung der Steuerhoheit nach dem deutsch-österreichischen Abkommen kein Verfahren, das für die Bundesrepublik Deutschland in Betracht käme, um das Ziel der Abzugsfähigkeit der Verluste zu gewährleisten, das der deutschen Regierung zufolge darin besteht, vorübergehend einen Liquiditätsvorteil zu gewähren. Wenn auf die Besteuerung etwaiger späterer Gewinne der Betriebsstätte, von der die Verluste herrühren, nicht zurückgegriffen werden kann, weil sich die Betriebsstätte im österreichischen Hoheitsgebiet befindet, ist die Situation nicht vergleichbar.
76. Mangels objektiv vergleichbarer Situation stellen Rechtsvorschriften wie die in Rede stehenden keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar(48).
b) Hilfsweise: Vorliegen einer Rechtfertigung
77. Sollte der Gerichtshof allerdings zu dem Ergebnis gelangen, dass die Situation vergleichbar ist und eine Beschränkung vorliegt, halte ich diese für gerechtfertigt.
78. Der Gerichtshof musste sich nämlich bereits im Urteil Lidl Belgium (C‑414/06, EU:C:2008:278) mit einem Mechanismus auseinandersetzen, der Verluste generell ausschloss. In dieser Rechtssache wollte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV einer nationalen Steuerregelung entgegensteht, die für eine gebietsansässige Gesellschaft die Möglichkeit ausschließt, bei der Ermittlung ihres Gewinns und der Berechnung ihrer steuerpflichtigen Einkünfte die von einer ihr gehörenden Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat erlittenen Verluste geltend zu machen, eine solche Abzugsmöglichkeit jedoch für Verluste einer gebietsansässigen Betriebsstätte vorsieht.
79. In diesem Urteil hat der Gerichtshof das Vorliegen zwingender Gründe des Allgemeininteresses bejaht, die sich aus der Notwendigkeit ergaben, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis unter den betroffenen Mitgliedstaaten zu wahren sowie eine doppelte Berücksichtigung von Verlusten zu verhindern(49).
80. Der Gerichtshof hielt die betreffende Steuerregelung außerdem für geeignet, die Erreichung der vorgenannten Ziele zu gewährleisten(50), und für diesen Zielen angemessen(51), da die betreffende Gesellschaft nicht nachgewiesen hatte, dass ihre gebietsfremde Tochtergesellschaft die Möglichkeiten der Berücksichtigung von Verlusten im Mitgliedstaat ihres Sitzes für den betreffenden sowie frühere Steuerzeiträume ausgeschöpft hatte und keine Möglichkeit bestand, dass die Verluste dieser Tochtergesellschaft in deren Sitzstaat für künftige Steuerzeiträume berücksichtigt werden können(52).
81. Der Gerichtshof hat daraus den Schluss gezogen, dass Art. 49 AEUV „dem nicht entgegensteht, dass eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft von ihrer Steuerbemessungsgrundlage nicht die Verluste einer Betriebsstätte abziehen kann, die ihr gehört und in einem anderen Mitgliedstaat belegen ist, sofern nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Einkünfte dieser Betriebsstätte im letztgenannten Mitgliedstaat besteuert werden, in dem diese Verluste bei der Besteuerung der Einkünfte dieser Betriebsstätte für künftige Steuerzeiträume berücksichtigt werden können“(53).
82. Sämtliche Merkmale, die zu diesem Schluss geführt haben, finden sich auch in der Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, und die Antwort des Gerichtshofs sollte identisch sein.
V – Ergebnis
83. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Finanzgerichts Köln wie folgt zu antworten:
1. Art. 49 AEUV steht einer nationalen Steuerregelung nicht entgegen, die – nachdem sie die Berücksichtigung von Verlusten einer Betriebsstätte zugelassen hat, die in einem anderen Mitgliedstaat gelegen ist als dem, in dem die Gesellschaft ansässig ist, von der diese Betriebsstätte abhängt – vorsieht, dass bei der Berechnung der Steuer auf die Einkünfte dieser Gesellschaft die genannten Verluste wegen der Veräußerung der betreffenden Betriebsstätte an eine andere Kapitalgesellschaft, die demselben Konzern angehört wie die Veräußerin, steuerlich hinzugerechnet werden.
2. Art. 49 AEUV steht einer nationalen Steuerregelung nicht entgegen, die es einer gebietsansässigen Gesellschaft nicht erlaubt, von ihrer Steuerbemessungsgrundlage die Verluste einer ihr gehörenden und in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte abzuziehen, wenn die Einkünfte dieser Betriebsstätte aufgrund eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung im erstgenannten Mitgliedstaat von der Steuer befreit sind und im anderen Mitgliedstaat besteuert werden.