Language of document : ECLI:EU:C:2000:169

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)

30. März 2000 (1)

„Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Anwendbares Recht - Tragweiteder E-101-Bescheinigung“

In der Rechtssache C-178/97

betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234EG) vom Tribunal du travail Brüssel (Belgien) in dem bei diesem anhängigenRechtsstreit

Barry Banks u. a.

gegen

Théâtre Royal de la Monnaie,

Beteiligte:

Colin Appleton und Christopher Davies,

Mark Curtis

vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 14aNummer 1 Buchstabe a und 14c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Ratesvom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit aufArbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb derGemeinschaft zu- und abwandern, und der Artikel 11a und 12a Absatz 7 derVerordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über dieDurchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EWG)Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) und danach durch dieVerordnung (EWG) Nr. 3811/86 des Rates vom 11. Dezember 1986 (ABl. L 355,S. 5) geänderten und aktualisierten Fassung

erläßt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. A. O. Edward sowie der RichterL. Sevón, C. Gulmann, J.-P. Puissochet (Berichterstatter) und P. Jann,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer


Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

-    von Herrn Banks u. a., vertreten durch Solicitor M. J. S. Renouf undRechtsanwalt B. Blanpain, Brüssel,

-    des Théâtre Royal de la Monnaie, vertreten durch RechtsanwältinS. Capiau, Brüssel,

-    der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat E. Röder undRegierungsdirektor C.-D. Quassowski, Bundesministerium für Wirtschaft, alsBevollmächtigte,

-    der französischen Regierung, vertreten durch M. Perrin de Brichambaut,Direktor für Rechtsangelegenheiten im Ministerium für auswärtigeAngelegenheiten, und C. Chavance, Sekretär für auswärtigeAngelegenheiten in der Direktion für Rechtsangelegenheiten diesesMinisteriums, als Bevollmächtigte,

-    der niederländischen Regierung, vertreten durch J. G. Lammers,stellvertretender Rechtsberater im Ministerium für auswärtigeAngelegenheiten, als Bevollmächtigten,

-    der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. E. Collins,Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigten,

-    der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M.Wolfcarius, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Banks u. a., vertretendurch M. J. S. Renouf und Rechtsanwalt B. Blanpain, des Théâtre Royal de laMonnaie, vertreten durch Rechtsanwältin S. Capiau, der deutschen Regierung,vertreten durch C.-D. Quassowski, der französischen Regierung, vertreten durchC. Chavance, der irischen Regierung, vertreten durch A. O'Caoimh, SC, derniederländischen Regierung, vertreten durch M. A. Fierstra, Rechtsberater imMinisterium für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, der Regierungdes Vereinigten Königreichs, vertreten durch Barrister M. Hoskins, und derKommission, vertreten durch M. Wolfcarius, in der Sitzung vom 22. Oktober 1998,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26.November 1998,

folgendes

Urteil

1.
    Das Tribunal du travail Brüssel hat mit Beschluß vom 21. April 1997, beimGerichtshof eingegangen am 7. Mai 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetztArtikel 234 EG) drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 14a Nummer 1Buchstabe a und 14c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer undSelbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu-und abwandern, (im folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) und der Artikel 11a und12a Absatz 7 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (im folgenden: Verordnung Nr.574/72) in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni1983 (ABl. L 230, S. 6) und danach durch die Verordnung (EWG) Nr. 3811/86 desRates vom 11. Dezember 1986 (ABl. L 355, S. 5) geänderten und aktualisiertenFassung zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2.
    Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Banks, achtweiteren Opernsängern und einem Dirigenten, unterstützt von drei weiterenKünstlern, (im folgenden: Kläger) und dem Théâtre Royal de la Monnaie Brüssel(im folgenden: TRM) wegen Beiträgen, die das TRM gemäß dem belgischenallgemeinen System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer von den Gagen derKläger einbehalten hat.

3.
    Die Kläger sind Bühnenkünstler britischer Staatsangehörigkeit. Sie wohnen imVereinigten Königreich, wo sie gewöhnlich erwerbstätig sind, und unterliegen alsSelbständige dem britischen System der sozialen Sicherheit. Sie wurden vom TRMin den Jahren 1992 bis 1995 für Auftritte in Belgien engagiert. Die Engagementsder Künstler beliefen sich mit einer Ausnahme - hier umfaßte derLeistungszeitraum vier Monate und sechs Tage - auf jeweils weniger als dreiMonate.

4.
    Das TRM behielt von den Gagen die Beiträge ein, die aufgrund des Anschlussesder Kläger an das belgische allgemeine System der sozialen Sicherheit fürArbeitnehmer geschuldet waren. Dieser Einbehalt erfolgte aufgrund von Artikel 3Absatz 2 der Königlichen Verordnung vom 28. November 1969 zur Durchführungdes Gesetzes vom 27. Juni 1969 zur Änderung der Arrêté-loi vom 28. Dezember1944 über die soziale Sicherheit derjenigen, die dem System der sozialen Sicherheitder im Lohn- oder Gehaltsverhältnis stehenden Arbeitnehmer angehören (Moniteurbelge vom 5. Dezember 1969), der dieses System auf Bühnenkünstler erstreckt hat.Die Verträge der Kläger sahen diesen Einbehalt ausdrücklich vor.

5.
    Im Laufe ihres Engagements oder im Laufe des Verfahrens vor dem vorlegendenGericht legten die Kläger jeweils eine vom britischen Ministerium für sozialeSicherheit gemäß Artikel 11a der Verordnung Nr. 547/72 ausgestellte E-101-Bescheinigung vor, aus der hervorging, daß sie selbständig sind, während ihresEngagements beim TRM eine selbständige Tätigkeit ausüben werden und währenddieser Zeit gemäß Artikel 14a Nummer 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71weiterhin den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs über sozialeSicherheit unterstellt bleiben werden. Nach der genannten Bestimmung unterliegteine Person, die eine selbständige Tätigkeit gewöhnlich im Gebiet einesMitgliedstaats ausübt und die eine Arbeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaatsausführt, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern dievoraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet.

6.
    Die Kläger erhoben beim Tribunal du travail Brüssel Klage gegen ihren Anschlußan das belgische System der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer mit dem Antrag,das TRM zur Erstattung der gezahlten Beiträge, zuzüglich gesetzlicher Zinsen, zuverurteilen. Sie machten geltend, sie unterlägen gemäß Artikel 14a Nummer 1Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 weiterhin nur den Rechtsvorschriften desVereinigten Königreichs, da sie gewöhnlich im Vereinigten Königreich eineselbständige Tätigkeit ausübten und in Belgien weniger als zwölf Monate gearbeitethätten. Sie trugen außerdem vor, das TRM wie auch das belgische Office nationalde sécurité sociale (im folgenden: ONSS) müßten die vom britischen Ministeriumfür soziale Sicherheit ausgestellten E-101-Bescheinigungen beachten.

7.
    Das TRM vertrat die Meinung, daß die belgischen Rechtsvorschriften aufgrund vonArtikel 14c Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 anwendbar seien, wonacheine Person, die im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten gleichzeitig eine Tätigkeitim Lohn- oder Gehaltsverhältnis und eine selbständige Tätigkeit ausübe, denRechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliege, in dessen Gebiet sie ihre Tätigkeitim Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübe. Ferner sei es verpflichtet, sich an dieEntscheidung des ONSS zu halten, das sich weigere, britischen Selbständigenausgestellte E-101-Bescheinigungen zu berücksichtigen. Zudem seien dieseBescheinigungen, deren Rückwirkung zweifelhaft sei, größtenteils erst im Laufe desEngagements der Künstler oder im Laufe des Verfahrens vor dem Tribunal dutravail Brüssel ausgestellt und ihm zugeleitet worden.

8.
    Das vorlegende Gericht weist in seinem Beschluß zunächst darauf hin, daß derGerichtshof in den Urteilen vom 30. Januar 1997 in der Rechtssache C-340/94 (DeJaeck, Slg. 1997, I-461) und in der Rechtssache C-221/95 (Hervein und Hervillier,Slg. 1997, I-609) entschieden habe, daß für die Anwendung der Artikel 14a und 14cder Verordnung Nr. 1408/71 unter „Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis“ und„selbständiger Tätigkeit“ die Tätigkeiten zu verstehen seien, die nach denRechtsvorschriften über die soziale Sicherheit des Mitgliedstaats, in dessen Gebietdiese Tätigkeiten ausgeübt würden, als solche angesehen würden.

9.
    Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, daß die Tätigkeit der Kläger nachden Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs über die soziale Sicherheit alsselbständige Tätigkeit und nach den entsprechenden belgischen Rechtsvorschriftenals Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis angesehen werde.

10.
    Die von den Klägern vertretene Anwendung von Artikel 14a Nummer 1 Buchstabea setze voraus, daß der Begriff „Arbeit“ in dieser Bestimmung eine weiteAuslegung erfahre und jede im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder selbständigerbrachte Arbeitsleistung erfasse, die zwölf Monate nicht überschreite.

11.
    Anderenfalls könnte Artikel 14c der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Klägeranwendbar sein. Das hätte zum Ergebnis, daß jene gemäß Artikel 14d dieserVerordnung mit ihrer gesamten Berufstätigkeit nur den belgischenRechtsvorschriften unterlägen, da sie eine Tätigkeit ausübten, die in Belgien als imLohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt angesehen werde. Jedoch könnten dieKläger angesichts der kurzen Dauer ihrer Tätigkeit in Belgien keine im belgischenSystem vorgesehene Leistung in Anspruch nehmen.

12.
    Das Tribunal du travail Brüssel hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshofdie folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.    a)    Erfaßt der Begriff „Arbeit“ in Artikel 14a Nummer 1 Buchstabe a derVerordnung Nr. 1408/71 jede - im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oderselbständig erbrachte - Arbeitsleistung, deren Dauer zwölf Monatenicht überschreitet?

    b)    Falls der Begriff „Arbeit“ im Sinne von Artikel 14a Nummer 1Buchstabe a ausschließlich selbständige Tätigkeit bedeutet, bestimmtsich dieser Begriff dann anhand des Rechts der sozialen Sicherheit desMitgliedstaats, in dem die selbständige Tätigkeit gewöhnlich ausgeübtwird, oder anhand des Rechts der sozialen Sicherheit desMitgliedstaats, in dem die „Arbeit“ ausgeführt wird?

2.    Welche Zeiteinheit ist bei der Würdigung des Begriffes „gleichzeitig“ inArtikel 14c der Verordnung Nr. 1408/71 zugrunde zu legen, oder anhandwelcher Kriterien ist dieser Begriff zu bestimmen?

3.    a)    i)    Ist der Vordruck E 101, dessen Ausstellung insbesondere in denArtikeln 11a und 12a Absatz 7 der Verordnung Nr. 2001/83vorgesehen ist, in bezug auf die Rechtswirkungen, die erbescheinigt, bindend

            -    für den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in dem diezweite Tätigkeit ausgeübt wird;

            -    für die Person, der der Arbeitnehmer, der eine Tätigkeitim Gebiet der beiden Mitgliedstaaten ausübt, dieLeistungen erbringt?

        ii)    Falls diese Frage bejaht wird, wie lange besteht dieseBindungswirkung?

    b)    Entfaltet der Vordruck E 101 Rückwirkung, soweit die Zeiten, die erbescheinigt, vor seiner Ausstellung oder seiner Vorlage liegen?

Zur ersten Frage

13.
    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff„Arbeit“ in Artikel 14a Nummer 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 jede- im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder selbständig erbrachte - Arbeitsleistungerfaßt. Für den Fall, daß sich diese Bestimmung nur auf eine selbständige Tätigkeitbezieht, fragt das Gericht, ob der Charakter der betreffenden Arbeit anhand derRechtsvorschriften über die soziale Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Personeine selbständige Tätigkeit gewöhnlich ausübt, oder anhand der entsprechendenRechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu bestimmen ist, in dem die Arbeitausgeführt wird.

14.
    Artikel 13, die erste Bestimmung des Titels II - Bestimmung der anzuwendendenRechtsvorschriften - der Verordnung Nr. 1408/71, bestimmt in Absatz 1, daßvorbehaltlich des Artikels 14c Personen, für die diese Verordnung gilt, denRechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen.

15.
    Gemäß Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 gilt, soweitnicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, daß eine Person, die imGebiet eines Mitgliedstaats eine selbständige Tätigkeit ausübt, denRechtsvorschriften dieses Staates unterliegt, und zwar auch dann, wenn sie imGebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.

16.
    Nach Artikel 14a - Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eineselbständige Tätigkeit ausüben - der Verordnung Nr. 1408/71 gelten vomGrundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe b die folgenden Ausnahmen undBesonderheiten. Gemäß Absatz 1 Buchstabe a unterliegt eine Person, diegewöhnlich eine selbständige Tätigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaats ausübt, unddie eine Arbeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausführt, weiterhin denRechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauerdieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet.

17.
    Die Kläger, das TRM, die Regierung des Vereinigten Königreichs und dieKommission, denen sich in der Sitzung die irische Regierung angeschlossen hat,sind der Auffassung, daß sich der Begriff „Arbeit“ in Artikel 14a Nummer 1Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 auf jede - im Lohn- oderGehaltsverhältnis oder selbständig erbrachte - Arbeitsleistung erstrecken müsse.Diese Auslegung sei durch den sehr weiten Sinn geboten, der diesem Begriff in derUmgangssprache zukomme. Die Kläger und die Kommission machen außerdemgeltend, daß sich die Verwendung dieses Begriffes aus einer wohlbedachtenEntscheidung des Rates beim Erlaß der Verordnung (EWG) Nr. 1390/81 vom 12.Mai 1981 zur Ausdehnung der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Selbständigen undihre Familienangehörigen (ABl. L 143, S. 1) ergebe. Denn die Kommission habein ihrem ursprünglichen Vorschlag wie in ihrem geänderten Vorschlag für dieVerordnung anstelle des Begriffes „Arbeit“ den Begriff „Dienstleistung“ verwendetund damit die Anwendung der Bestimmung allein auf den Fall beschränken wollen,daß ein Selbständiger im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine selbständigeArbeit ausübe.

18.
    Für den Fall, daß der Gerichtshof zu der Auffassung gelangen sollte, der Begriff„Arbeit“ erfasse ausschließlich selbständig erbrachte Arbeit, vertreten die Kläger,das TRM und die Regierung des Vereinigten Königreichs die Ansicht, daß derCharakter der betreffenden Arbeit anhand der Rechtsvorschriften über die sozialeSicherheit des Mitgliedstaats zu bestimmen sei, in dem der Betroffene gewöhnlichseine selbständige Tätigkeit ausübe. Gestützt auf die Urteile De Jaeck sowieHervein und Hervillier ist die Kommission demgegenüber der Ansicht, daß sichdiese Beurteilung nach den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit desMitgliedstaats richte, in dem die Arbeit ausgeführt werde.

19.
    Die deutsche, die französische und die niederländische Regierung tragen vor, derBegriff „Arbeit“ erfasse ausschließlich selbständig erbrachte Arbeit, wobei dieBestimmung ihres Charakters anhand der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaatsvorzunehmen sei, in dem die Arbeit ausgeführt werde. Diese Auslegung ergebe sichzunächst bereits aus der Überschrift des Artikels 14a der Verordnung Nr. 1408/71.Sie stehe überdies im Einklang mit den entsprechenden Bestimmungen des TitelsII für Arbeitnehmer und Seeleute im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, die zurAusführung einer Arbeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats oder an Bordeines Schiffes, das unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaats fahre, entsandtwürden. Für diese Arbeitnehmer und Seeleute würden nämlich nur dann weiterhinallein die Rechtsvorschriften ihres Herkunftsmitgliedstaats gelten, wenn sie eineArbeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausführten.

20.
    Der von den Klägern, der irischen Regierung, der Regierung des VereinigtenKönigreichs und der Kommission vertretenen Auslegung des Begriffes „Arbeit“ istzu folgen.

21.
    Diese Auslegung ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut des Artikels 14a Nummer1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71. Denn dem Begriff „Arbeit“ kommtgemeinhin allgemeine Bedeutung zu, die ohne Unterschied eine im Lohn- oderGehaltsverhältnis oder selbständig erbrachte Arbeitsleistung bezeichnet. Artikel 14aNummer 1 Buchstabe a unterscheidet sich insoweit von Artikel 14b Nummer 2,wonach eine Person, die gewöhnlich eine selbständige Tätigkeit im Gebiet einesMitgliedstaats oder an Bord eines Schiffes, das unter der Flagge einesMitgliedstaats fährt, ausübt und eine Arbeit an Bord eines Schiffes ausführt, dasunter der Flagge eines anderen Mitgliedstaats fährt, weiterhin denRechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliegt, soweit diese Person dieseArbeit für eigene Rechnung ausführt.

22.
    Zwar gilt Artikel 14a der Verordnung Nr. 1408/71 gemäß seiner Überschrift fürandere Personen als Seeleute, die eine selbständige Tätigkeit ausüben. Daraus läßtsich jedoch nicht ableiten, daß die in Artikel 14a Nummer 1 Buchstabe a genannteArbeit notwendig selbständig sein müsse. Denn in diesem Artikel bezeichnet derBegriff „selbständige Arbeit“ die Tätigkeit, die die betreffende Person gewöhnlichim Gebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten ausübt, und nicht die gelegentlicheLeistung, die sie außerhalb dieses Mitgliedstaats oder dieser Mitgliedstaatenausführt.

23.
    Diese Auslegung des Artikels 14a Nummer 1 Buchstabe a der Verordnung Nr.1408/71 entspricht der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung. Sie wurde durchdie Verordnung Nr. 1390/81 in die Verordnung Nr. 1408/71 eingefügt, die dieseVerordnung auf die Selbständigen und ihre Familienangehörigen ausgedehnt hat.Nun hatte die Kommission in ihrem ursprünglichen Vorschlag zur Anpassung derVerordnung Nr. 1408/71 (ABl. 1978, C 14, S. 9) wie in ihrem geänderten Vorschlag(ABl. 1978, C 246, S. 2) anstelle des Begriffes „Arbeit“ den Begriff „Dienstleistung“verwendet und damit die Anwendung dieser Bestimmung allein auf den Fall derDurchführung einer selbständigen Arbeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaatsbeschränken wollen. Daher spricht alles dafür, daß der Rat den Begriff „Arbeit“in der Absicht verwendet hat, auch den Fall einer Arbeit im Lohn- oderGehaltsverhältnis unter diese Bestimmung zu fassen.

24.
    Die deutsche und die niederländische Regierung haben allerdings ausgeführt, daßeine Auslegung des Begriffes „Arbeit“, die nicht auf selbständige Tätigkeitenbeschränkt sei, schwerwiegende Folgen haben könne. Eine solche Auslegung laufedarauf hinaus, es jedermann zu ermöglichen, sich dem System der sozialenSicherheit für Selbständige eines Mitgliedstaats, in dem die Beiträge niedrig seien,mit dem einzigen Ziel anzuschließen, sich in einen anderen Mitgliedstaat zubegeben, um dort für ein Jahr eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnisauszuüben, ohne die im letztgenannten Staat geltenden höheren Beiträge zuentrichten.

25.
    Dem ist nicht zu folgen. Artikel 14a Nummer 1 Buchstabe a der Verordnung Nr.1408/71 verlangt zunächst, daß der Betroffene „gewöhnlich“ eine selbständigeTätigkeit im Gebiet eines Mitgliedstaats ausübt. Das setzt voraus, daß diebetreffende Person üblicherweise nennenswerte Tätigkeiten in dem Mitgliedstaatverrichtet, in dem sie wohnt (vgl. entsprechend zu Artikel 14 Nummer 1 Buchstabea der Verordnung Nr. 1408/71 zur Entsendung von Arbeitnehmern Urteil vom 10.Februar 2000 in der Rechtssache C-202/97, FTS, Slg. 2000, I-0000, Randnr. 45). Siemuß daher in dem Zeitpunkt, in dem sie sich auf die fragliche Bestimmung berufenmöchte, ihre Tätigkeit bereits seit einiger Zeit ausgeübt haben. Ferner muß siewährend der Zeit, in der sie eine Arbeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaatsausführt, in ihrem Herkunftsstaat weiterhin die Voraussetzungen für die Ausübungihrer Tätigkeit unterhalten, um diese bei ihrer Rückkehr fortsetzen zu können.

26.
    Wie der Generalanwalt in Nummer 59 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, erfolgtdie Beibehaltung einer solchen Infrastruktur im Herkunftsmitgliedstaatbeispielsweise durch die Benutzung von Büroräumen, die Entrichtung vonBeiträgen an das System der sozialen Sicherheit, die Zahlung von Steuern, denBesitz einer Gewerbeerlaubnis und einer Umsatzsteuernummer oder auch dieEintragung bei Handelskammern und Berufsverbänden.

27.
    Zudem setzt die Anwendung des Artikels 14a Nummer 1 Buchstabe a derVerordnung Nr. 1408/71 voraus, daß die Person, die eine selbständige Tätigkeit imGebiet eines Mitgliedstaats ausübt, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine„Arbeit“, d. h. eine bestimmte Aufgabe, ausführt, deren Inhalt und Dauer imvoraus festgelegt sind und deren Nachweis durch die Vorlage entsprechenderVerträge möglich sein muß.

28.
    Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß der Begriff „Arbeit“ in Artikel 14aNummer 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 jede - im Lohn- oderGehaltsverhältnis oder selbständig erbrachte - Arbeitsleistung erfaßt.

Zur zweiten Frage

29.
    Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts betrifft die Auslegung des Begriffes„gleichzeitig“ in Artikel 14c der Verordnung Nr. 1408/71.

30.
    Nach dem Vorlagebeschluß setzt die Anwendung des Artikels 14a Nummer 1Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 im Ausgangsverfahren voraus, daß derdort verwendete Begriff „Arbeit“ sich auf jede - im Lohn- oder Gehaltsverhältnisoder selbständig erbrachte - Arbeitsleistung bezieht und daß die zweite Frage nurfür den Fall gestellt wurde, daß diese Bestimmung im vorliegenden Fall nichtanwendbar wäre.

31.
    Angesichts der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage daher nichtbeantwortet zu werden.

Zum ersten Teil der dritten Frage

32.
    Mit dem ersten Teil seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, obdie gemäß den Artikeln 11a und 12a Absatz 7 der Verordnung Nr. 574/72ausgestellte E-101-Bescheinigung sowohl den zuständigen Träger des Mitgliedstaats,in dem die Arbeit ausgeführt wird, als auch die Person bindet, die Leistungen vonmit dieser Bescheinigung ausgestatteten Selbständigen in Anspruch nimmt. Fallsdiese Frage bejaht wird, fragt das vorlegende Gericht danach, wie lange dieseBescheinigung ihre Bindungswirkung entfaltet.

33.
    Artikel 11a der Verordnung Nr. 574/72 sieht u. a. vor, daß der Träger, den diezuständige Behörde desjenigen Mitgliedstaats bezeichnet, dessen Rechtsvorschriftengemäß Artikel 14a Nummer 1 der Verordnung Nr. 1408/71 weiterhin anzuwendensind, eine Bescheinigung darüber ausstellt, daß und bis zu welchem Zeitpunkt dieseRechtsvorschriften weiterhin für den Selbständigen gelten. Kommt Artikel 14cBuchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 zur Anwendung, so stellt nach Artikel 12aAbsatz 7 der Verordnung Nr. 574/72 der von der zuständigen Behörde desMitgliedstaats, in dessen Gebiet eine Person selbständig tätig ist, bezeichneteTräger dieser eine Bescheinigung darüber aus, daß diese Rechtsvorschriften für siegelten. Da Artikel 14c im Ausgangsverfahren jedoch aus den in den Randnummern29 bis 31 dieses Urteils angegebenen Gründen nicht einschlägig ist, ist es nichterforderlich, Artikel 12a Absatz 7 der Verordnung Nr. 574/72 zu prüfen.

34.
    Mit dem zur entscheidungserheblichen Zeit geltenden Beschluß Nr. 130 vom 17.Oktober 1985 über die zur Durchführung der Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr.574/72 erforderlichen Vordrucke (E 001; E 101 bis 127; E 201 bis 215; E 301 bis303; E 401 bis 411) (ABl. 1986, L 192, S. 1) legte die in den Artikeln 80 und 81 derVerordnung Nr. 1408/71 genannte Verwaltungskommission der EuropäischenGemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (im folgenden:Verwaltungskommission) u. a. für die Bescheinigung nach Artikel 11a derVerordnung Nr. 574/72 eine „E-101-Bescheinigung“ genannte Musterbescheinigungfest.

35.
    Die Kläger, das TRM, die irische Regierung und die Regierung des VereinigtenKönigreichs vertreten die Auffassung, daß die E-101-Bescheinigung, solange sie derausstellende Träger nicht zurückgezogen habe, gegenüber den zuständigen Trägernder anderen Mitgliedstaaten Bindungswirkung entfalte. Denn andernfalls würde dasFunktionieren der in Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 niedergelegtenKonfliktlösungsregeln gefährdet. Die Regierung des Vereinigten Königreichs meint,diese Bescheinigung binde auch diejenigen, die Arbeitnehmer einstellten, die imBesitz dieser Bescheinigung seien. Dagegen trägt das TRM hierzu vor, daß diesean die Anweisungen des zuständigen Trägers des Mitgliedstaats gebunden seien,dem sie angehörten.

36.
    Die deutsche, die französische und die niederländische Regierung sowie dieKommission verweisen darauf, daß in Titel II der Verordnung Nr. 1408/71festgelegt sei, welche Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit aufArbeitnehmer anwendbar seien. Es sei jedoch nicht auszuschließen, daß derzuständige Träger, der die E-101-Bescheinigung ausgestellt habe, aufgrund einesunzutreffenden Sachverhalts oder anhand einer fehlerhaften Beurteilung zurAnwendung seiner eigenen Rechtsvorschriften gekommen sei. Somit hätten, auchwenn die E-101-Bescheinigung einen wichtigen Hinweis auf die anwendbarenRechtsvorschriften darstelle, die zuständigen Träger der anderen Mitgliedstaatendas Recht, gegebenenfalls zu einem anderen Ergebnis zu gelangen.

37.
    In einem solchen Fall haben nach Ansicht der deutschen und der niederländischenRegierung die Träger der anderen Mitgliedstaaten das Recht, die E-101-Bescheinigung unberücksichtigt zu lassen. Dagegen verweist die Kommission aufdie Verpflichtung zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den zuständigenTrägern der Mitgliedstaaten. Weigere sich der ausstellende Träger, der von einemanderen Träger geäußerten Bitte auf Rücknahme nachzukommen, sei es daherdessen Sache, die nationalen Gerichte mit diesem Streit zu befassen.

38.
    Der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Artikel 5 EG-Vertrag(jetzt Artikel 10 EG) verpflichtet den ausstellenden Träger, den Sachverhalt, derfür die Bestimmung der im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbarenRechtsvorschriften maßgebend ist, ordnungsgemäß zu beurteilen und damit dieRichtigkeit der in der E-101-Bescheinigung aufgeführten Angaben zu gewährleisten(vgl. Urteil FTS, Randnr. 51).

39.
    Der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Arbeit ausgeführt wird, würdeseine Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nach Artikel 5 EG-Vertrag verletzen- und die Ziele der Artikel 14a Nummer 1 Buchstabe a der Verordnung Nr.1408/71 und 11a der Verordnung Nr. 574/72 verfehlen -, wenn er sich nicht an dieAngaben in der Bescheinigung gebunden sähe und den Selbständigen zusätzlichseinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellte (vgl. ebenda, Randnr.52).

40.
    Da die E-101-Bescheinigung eine Vermutung dafür begründet, daß der Anschlußdes betreffenden Selbständigen an das System der sozialen Sicherheit desMitgliedstaats, in dem er ansässig ist, ordnungsgemäß ist, bindet sie folglich denzuständigen Träger des Mitgliedstaats, in dem dieser Arbeitnehmer eine Arbeitausführt (ebenda, Randnr. 53).

41.
    Jede andere Lösung würde den Grundsatz des Anschlusses der Selbständigen anein einziges System der sozialen Sicherheit sowie die Vorhersehbarkeit desanwendbaren Systems und damit die Rechtssicherheit beeinträchtigen: In Fällen,in denen die Feststellung des anwendbaren Systems schwierig wäre, könnte derzuständige Träger beider betreffender Mitgliedstaaten sein eigenes System dersozialen Sicherheit für anwendbar erklären, was dem betroffenen Selbständigenzum Nachteil gereichte (ebenda, Randnr. 54).

42.
    Solange also eine E-101-Bescheinigung nicht zurückgezogen oder für ungültigerklärt wird, hat der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem der Selbständigeeine Arbeit ausführt, dem Umstand Rechnung zu tragen, daß dieser bereits demRecht der sozialen Sicherheit des Staates unterliegt, in dem er ansässig ist; derTräger kann daher den fraglichen Selbständigen nicht seinem eigenen System dersozialen Sicherheit unterstellen (ebenda, Randnr. 55).

43.
    Allerdings muß der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der dieseE-101-Bescheinigung ausgestellt hat, deren Richtigkeit überprüfen und dieBescheinigung gegebenenfalls zurückziehen, wenn der zuständige Träger desMitgliedstaats, in dem der Selbständige eine Arbeit ausführt, Zweifel an derRichtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und demnachder darin gemachten Angaben insbesondere deshalb geltend macht, weil diese denTatbestand des Artikels 14a Nummer 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71nicht erfüllten (ebenda, Randnr. 56).

44.
    Soweit die betroffenen Träger im Einzelfall namentlich bei der Beurteilung desSachverhalts und damit der Frage, ob dieser unter Artikel 14a Nummer 1Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, zu keiner Übereinstimmunggelangen, können sie sich an die Verwaltungskommission wenden (ebenda, Randnr.57).

45.
    Gelingt es dieser nicht, zwischen den Standpunkten der zuständigen Träger inbezug auf das anwendbare Recht zu vermitteln, steht es dem Mitgliedstaat, in demder Selbständige eine Arbeit ausführt, - unbeschadet einer in dem Mitgliedstaat derausstellenden Behörde etwa möglichen Klage - zumindest frei, gemäß Artikel 170EG-Vertrag (jetzt Artikel 227 EG) ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten,so daß der Gerichtshof die Frage des auf diesen Selbständigen anwendbaren Rechtsund damit die Richtigkeit der Angaben in der E-101-Bescheinigung prüfen kann(ebenda, Randnr. 58).

46.
    Demnach bindet die gemäß Artikel 11a der Verordnung Nr. 574/72 ausgestellte E-101-Bescheinigung, solange sie nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärtworden ist, den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in den sich der Selbständigezur Ausführung einer Arbeit begibt.

47.
    Da die E-101-Bescheinigung diesen Träger bindet, gibt es im übrigen auch keinenGrund dafür, daß die Person, die Leistungen dieses Selbständigen in Anspruchnimmt, sich nicht daran halten müßte. Bezweifelt sie die Gültigkeit derBescheinigung, muß diese Person jedoch den fraglichen Träger davon in Kenntnissetzen.

48.
    Auf den ersten Teil der dritten Frage ist daher zu antworten, daß die gemäßArtikel 11a der Verordnung Nr. 574/72 ausgestellte E-101-Bescheinigung, solangesie nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt worden ist, den zuständigenTräger des Mitgliedstaats, in den sich der Selbständige zur Ausführung einer Arbeitbegibt, wie auch die Person bindet, die Leistungen dieses Selbständigen inAnspruch nimmt.

Zum zweiten Teil der dritten Frage

49.
    Mit dem zweiten Teil seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen,ob die gemäß Artikel 11a der Verordnung Nr. 574/72 ausgestellte E-101-Bescheinigung Rückwirkung entfalten kann, wenn sie sich auf einen Zeitraumerstreckt, der zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung teilweise oder ganz abgelaufen ist.

50.
    Die Kläger, die deutsche, die französische und die niederländische Regierung, dieRegierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission schlagen vor, dieseFrage zu bejahen. Sie machen u. a. geltend, nach der Verordnung Nr. 574/72 seies nicht erforderlich, daß die Bescheinigung ausgestellt werde, bevor die Arbeit imGebiet des zweiten Mitgliedstaats aufgenommen werde.

51.
    Das TRM vertritt hingegen die Ansicht, daß die verspätete Ausstellung oderVorlage der E-101-Bescheinigung es der Person, der der betreffende ArbeitnehmerLeistungen erbringe, unmöglich mache, sie rechtzeitig zu berücksichtigen.

52.
    Zunächst setzt Artikel 11a der Verordnung Nr. 574/72 keine Frist für dieAusstellung der dort genannten Bescheinigung.

53.
    Außerdem erklärt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats mit der Ausstellungder Bescheinigung nach Artikel 11a nur, daß der betreffende Selbständige für einenbestimmten Zeitraum, während dessen er im Gebiet eines anderen Mitgliedstaatseine Arbeit ausführt, den Rechtsvorschriften jenes Mitgliedstaats unterstellt bleibt.Eine solche Erklärung aber kann, auch wenn sie besser vor Beginn desbetreffenden Zeitraums erfolgt, auch während dieses Zeitraums und sogar nachdessen Ablauf abgegeben werden.

54.
    Damit spricht nichts dagegen, daß die E-101-Bescheinigung gegebenenfallsRückwirkung entfaltet.

55.
    So regelt der Beschluß Nr. 126 der Verwaltungskommission vom 17. Oktober 1985zur Anwendung des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a, des Artikels 14a Absatz 1Buchstabe a und des Artikels 14b Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1408/71(ABl. 1986, C 141, S. 3), daß der in den Artikeln 11 und 11a der Verordnung Nr.574/72 genannte Träger verpflichtet ist, eine Bescheinigung über die geltendenRechtsvorschriften (E-101-Bescheinigung) auszustellen, selbst wenn die Ausstellungdieser Bescheinigung erst nach Beginn der Tätigkeit beantragt wird, die derbetreffende Arbeitnehmer und Selbständige im Gebiet des anderen als deszuständigen Staates ausübt.

56.
    Im übrigen ist der Gerichtshof davon ausgegangen, daß die E-101-BescheinigungRückwirkung entfalten kann, als er entschieden hat, daß die den Mitgliedstaatendurch Artikel 17 der Verordnung Nr. 1408/71 eröffnete Möglichkeit, dieAnwendung anderer Rechtsvorschriften als der in den Artikeln 13 bis 16bezeichneten zugunsten eines Arbeitnehmers zu vereinbaren, auch für bereitsabgelaufene Zeiträume gilt (Urteile vom 17. Mai 1984 in der Rechtssache 101/83,Brusse, Slg. 1984, 2223, Randnrn. 20 und 21, und vom 29. Juni 1995 in derRechtssache C-454/93, Van Gestel, Slg. 1995, I-1707, Randnr. 29). Denn die Artikel11 und 11a der Verordnung Nr. 574/72 sehen auch in einem solchen Fall dieAusstellung der E-101-Bescheinigung vor.

57.
    Daher ist auf den zweiten Teil der dritten Frage zu antworten, daß die gemäßArtikel 11a der Verordnung Nr. 574/72 ausgestellte E-101-BescheinigungRückwirkung entfalten kann.

Kosten

58.
    Die Auslagen der deutschen, der französischen, der irischen und derniederländischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie derKommission, die Erklärungen beim Gerichtshof abgegeben haben, sind nichterstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren einZwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; dieKostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal du travail Brüssel mit Beschluß vom 21. April 1997vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1.    Der Begriff „Arbeit“ in Artikel 14a Nummer 1 Buchstabe a der Verordnung(EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung derSysteme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowiederen Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- undabwandern, in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Ratesvom 2. Juni 1983 und danach durch die Verordnung (EWG) Nr. 3811/86 desRates vom 11. Dezember 1986 geänderten und aktualisierten Fassung erfaßtjede - im Lohn- oder Gehaltsverhältnis oder selbständig erbrachte -Arbeitsleistung.

2.    Die gemäß Artikel 11a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrerdurch die Verordnung Nr. 2001/83 und danach durch die Verordnung Nr.3811/86 geänderten und aktualisierten Fassung ausgestellte E-101-Bescheinigung bindet, solange sie nicht zurückgezogen oder für ungültigerklärt worden ist, den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in den sichder Selbständige zur Ausführung einer Arbeit begibt, wie auch die Person,die Leistungen dieses Selbständigen in Anspruch nimmt.

3.    Die gemäß Artikel 11a der Verordnung Nr. 574/72 ausgestellte E-101-Bescheinigung kann Rückwirkung entfalten.

Edward
Sevón
Gulmann

        Puissochet                        Jann

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. März 2000.

Der Kanzler

Der Präsident der Fünften Kammer

R. Grass

D. A. O. Edward


1: Verfahrenssprache: Französisch.