Language of document : ECLI:EU:C:2020:300

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 23. April 2020(1)

Rechtssache C681/18

JH

gegen

KG

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale ordinario di Brescia [Gericht von Brescia, Italien])

„Sozialpolitik – Richtlinie 2008/104 – Leiharbeit – Aufeinanderfolgende Verträge mit demselben entleihenden Unternehmen – Art. 5 Abs. 5 – Gleichbehandlung – Umgehung der Bestimmungen der Richtlinie“






1.        Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof erstmals Gelegenheit zur Auslegung von Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 über Leiharbeit(2). Genauer gesagt wird der Gerichtshof ersucht, klarzustellen, ob in einem Sachverhalt, in dem ein Arbeitnehmer von einem Leiharbeitsunternehmen angestellt und durch acht aufeinanderfolgende Leiharbeitsverträge und 17 Verlängerungen als Leiharbeitnehmer demselben entleihenden Unternehmen überlassen wird, „aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen [dieser] Richtlinie umgangen werden sollen“, vorliegen.

 Rechtlicher Rahmen

 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

2.        Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)(3) sieht Folgendes vor:

„(1)      Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.

(2)      Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“

 Richtlinie 2008/104

3.        Die Richtlinie 2008/104 steht, wie ihr erster Erwägungsgrund erläutert, im Einklang mit den Grundrechten und befolgt die in der Charta anerkannten Prinzipien. Sie soll die uneingeschränkte Einhaltung von Art. 31 der Charta gewährleisten. Die Richtlinie legt einen „diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen“ Rahmen zum Schutz der Leiharbeitnehmer fest und „wahrt gleichzeitig die Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen“(4). Innerhalb dieses Rahmens „[sollten] die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für Leiharbeitnehmer … mindestens denjenigen entsprechen, die für diese Arbeitnehmer gelten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt würden“(5).

4.        Der 15. Erwägungsgrund erläutert, dass „unbefristete Arbeitsverträge … die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses [sind]. Im Falle von Arbeitnehmern, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen geschlossen haben, sollte angesichts des hierdurch gegebenen besonderen Schutzes die Möglichkeit vorgesehen werden, von den im entleihenden Unternehmen geltenden Regeln abzuweichen“.

5.        Der 21. Erwägungsgrund weist darauf hin, dass „die Mitgliedstaaten … für Verstöße gegen die Verpflichtungen aus dieser Richtlinie Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren zur Wahrung der Rechte der Leiharbeitnehmer sowie wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen vorsehen [sollten]“.

6.        Art. 1 definiert den Anwendungsbereich der Richtlinie:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten.

(2)      Diese Richtlinie gilt für öffentliche und private Unternehmen, bei denen es sich um Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen handelt, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht.

…“

7.        Gemäß ihrem Art. 2 ist es das Ziel der Richtlinie 2008/104 „für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gemäß Artikel 5 gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen“.

8.        Art. 3 Abs. 1 bestimmt verschiedene Begriffe, die für die Anwendung der Richtlinie maßgeblich sind:

„a)      ‚Arbeitnehmer‘ [bezeichnet] eine Person, die in dem betreffenden Mitgliedstaat nach dem nationalen Arbeitsrecht als Arbeitnehmer geschützt ist;

b)      ,Leiharbeitsunternehmen‘ [bezeichnet] eine natürliche oder juristische Person, die nach einzelstaatlichem Recht mit Leiharbeitnehmern Arbeitsverträge schließt oder Beschäftigungsverhältnisse eingeht, um sie entleihenden Unternehmen zu überlassen, damit sie dort unter deren Aufsicht und Leitung vorübergehend arbeiten;

c)      ,Leiharbeitnehmer‘ [bezeichnet] einen Arbeitnehmer, der mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen hat oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen ist, um einem entleihenden Unternehmen überlassen zu werden und dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorübergehend zu arbeiten;

d)      ,entleihendes Unternehmen‘ [bezeichnet] eine natürliche oder juristische Person, in deren Auftrag und unter deren Aufsicht und Leitung ein Leiharbeitnehmer vorübergehend arbeitet;

e)      ,Überlassung‘ [bezeichnet] den Zeitraum, während dessen der Leiharbeitnehmer dem entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt wird, um dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorübergehend zu arbeiten;

f)      ,wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen‘ [bezeichnet] die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die durch Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift, Tarifvertrag und/oder sonstige verbindliche Bestimmungen allgemeiner Art, die im entleihenden Unternehmen gelten, festgelegt sind und sich auf folgende Punkte beziehen:

i)      Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage,

ii)      Arbeitsentgelt.“

9.        Art. 4 Abs. 1 sieht vor, dass „Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit … nur aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt [sind]; hierzu zählen vor allem der Schutz der Leiharbeitnehmer, die Erfordernisse von Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz oder die Notwendigkeit, das reibungslose Funktionieren des Arbeitsmarktes zu gewährleisten und eventuellen Missbrauch zu verhüten“.

10.      Art. 5 Abs. 1 sieht vor, dass „die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer … während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen [entsprechen], die für sie gelten würden, wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. …“

11.      Gemäß Art. 5 Abs. 5 „[ergreifen] die Mitgliedstaaten … die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, um eine missbräuchliche Anwendung dieses Artikels zu verhindern und um insbesondere aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern. Sie unterrichten die Kommission über solche Maßnahmen“.

12.      Art. 6 sieht vor:

„(1)      Die Leiharbeitnehmer werden über die im entleihenden Unternehmen offenen Stellen unterrichtet, damit sie die gleichen Chancen auf einen unbefristeten Arbeitsplatz haben wie die übrigen Arbeitnehmer dieses Unternehmens. Diese Unterrichtung kann durch allgemeine Bekanntmachung an einer geeigneten Stelle in dem Unternehmen erfolgen, in dessen Auftrag und unter dessen Aufsicht die Leiharbeitnehmer arbeiten.

(2)      Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, damit Klauseln, die den Abschluss eines Arbeitsvertrags oder die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem entleihenden Unternehmen und dem Leiharbeitnehmer nach Beendigung seines Einsatzes verbieten oder darauf hinauslaufen, diese zu verhindern, nichtig sind oder für nichtig erklärt werden können.

…“

13.      Gemäß Art. 10 Abs. 1 „[sehen die Mitgliedstaaten] für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder durch entleihende Unternehmen … geeignete Maßnahmen vor. Sie sorgen insbesondere dafür, dass es geeignete Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren gibt, um die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchsetzen zu können“.

 Italienisches Recht

14.      Das vorlegende Gericht erläutert, dass in der vorliegenden Rechtssache das Decreto legislativo 10 settembre 2003, n. 276 (Decreto legislativo Nr. 276/2003 vom 10. September 2003 zur Umsetzung der Ermächtigungen gemäß dem Gesetz Nr. 30 vom 14. Februar 2003 in den Bereichen Beschäftigung und Arbeitsmarkt in der durch das Decreto-legge Nr. 34/2014 geänderten Fassung, mit Änderungen in Gesetz umgewandelt durch das Gesetz 78/2014, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 276/2003) Anwendung findet.

15.      Durch die mit dem Gesetz 78/2014 erlassene Änderung wurde sowohl die Bestimmung, die festlegte, dass „die Arbeitnehmerüberlassung auf bestimmte Zeit … aus technischen Gründen sowie aus Gründen der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung von Arbeitnehmern zulässig [ist], selbst wenn die Gründe auf die gewöhnliche Tätigkeit des Entleihers zurückgehen“, als auch das Erfordernis, diese Gründe schriftlich im Vertrag anzugeben, aus Art. 20 Abs. 4 des Decreto legislativo Nr. 276/2003 gestrichen.

16.      Art. 22 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 276/2003 sieht vor, dass bei einer Arbeitnehmerüberlassung auf bestimmte Zeit für das Arbeitsverhältnis zwischen dem Verleiher und dem Arbeitnehmer die Bestimmungen des Decreto legislativo Nr. 368/2001 „mit Ausnahme von dessen Art. 5 Abs. 3 ff.“ gelten. Die ursprüngliche Befristung des Arbeitsvertrags kann auf jeden Fall in den Situationen und für die Dauer, wie sie in dem für den Verleiher geltenden Contratto collettivo nazionale di lavoro (nationaler Tarifvertrag für die Gruppe der Leiharbeitsunternehmen, unterzeichnet am 27. Februar 2014, im Folgenden: CCNL) vorgesehen sind, im Einvernehmen mit dem Arbeitnehmer und unter Einhaltung der Schriftform verlängert werden.

17.      Art. 27 („Unrechtmäßige Arbeitnehmerüberlassung“) des Decreto legislativo Nr. 276/2003 eröffnet dem Arbeitnehmer für den Fall, dass die Arbeitnehmerüberlassung außerhalb der in diesem Decreto legislativo vorgesehenen Grenzen und Bedingungen erfolgt, den Rechtsweg, um mittels einer Klage, die nur gegen das entleihende Unternehmen erhoben werden kann, das Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen ihm und dem entleihenden Unternehmen mit Wirkung ab dem Beginn der Überlassung feststellen zu lassen.

18.      Art. 5 Abs. 3 bis 4-bis des Decreto legislativo 6 settembre 2001, n. 368 (Decreto legislativo Nr. 368 vom 6. September 2001 zur Umsetzung der Richtlinie 1999/70/EG zu der EGB-UNICE‑CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge(6)) sieht in der zeitlich anwendbaren Fassung vor:

„… 3.      Wird ein Arbeitnehmer binnen zehn Tagen nach Ablauf eines Vertrags mit einer Laufzeit von bis zu sechs Monaten oder binnen 20 Tagen nach Ablauf eines Vertrags mit einer Laufzeit von mehr als sechs Monaten erneut gemäß Art. 1 befristet eingestellt, so gilt der zweite Vertrag als unbefristet …

4.      Wird ein Arbeitnehmer zwei Mal aufeinanderfolgend befristet beschäftigt, worunter Beziehungen zu verstehen sind, die ohne jede Unterbrechung zusammenhängen, gilt das Beschäftigungsverhältnis vom Zeitpunkt des Abschlusses des ersten Vertrags an als unbefristet.

4-bis.      Unbeschadet der Regeln über aufeinanderfolgende Verträge in den vorstehenden Absätzen und vorbehaltlich der verschiedenen Bestimmungen in Tarifverträgen gilt das Beschäftigungsverhältnis als unbefristet, wenn aufgrund aufeinanderfolgender befristeter Verträge zur Ausübung vergleichbarer Aufgaben das Beschäftigungsverhältnis zwischen demselben Arbeitgeber und demselben Arbeitnehmer insgesamt die Dauer von 36 Monaten einschließlich Verlängerungen und Erneuerungen, unter Außerachtlassung der Unterbrechungszeiträume zwischen den Verträgen überschreitet …“

19.      Art. 47 des CCNL sieht vor, dass Vertragsverlängerungen ausschließlich durch den CCNL geregelt werden. Somit können bei befristeten Verträgen Verlängerungen im Sinne von Art. 22 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 276/2003 bis zu sechsmal erfolgen. Kein Vertrag kann einschließlich der Verlängerungen 36 Monate überschreiten.

20.      Die Art. 1344 und 1421 des italienischen Zivilgesetzbuchs sehen vor, dass Verträge, die abgeschlossen werden, um die Anwendung zwingender Regeln zu umgehen, nichtig sind.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

21.      JH ist ein von einem Leiharbeitsunternehmen beschäftigter Arbeitnehmer. Er war als Leiharbeitnehmer dem entleihenden Unternehmen KG überlassen, in dem er vom 3. März 2014 bis zum 30. November 2016 im Rahmen aufeinanderfolgender Arbeitnehmerüberlassungsverträge (insgesamt acht) und verschiedener Verlängerungen (insgesamt 17) als Maschinen- und Drehbankarbeiter beschäftigt war.

22.      Am 21. Februar 2017 erhob JH vor dem Tribunale ordinario di Brescia (Gericht von Brescia, Italien) Klage gegen KG. Er machte im Wesentlichen geltend, das vorlegende Gericht solle a) feststellen, dass die Arbeitnehmerüberlassungsverträge, in deren Erfüllung er für KG gearbeitet hatte, rechtswidrig und/oder nichtig seien; b) feststellen, dass seit dem 3. März 2014 ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis zwischen ihm und KG bestehe; c) anordnen, dass KG ihn wieder einstelle sowie das fällige Entgelt und die entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zahle. JH beantragte bei dem vorlegenden Gericht ebenso, diesem Gerichtshof eine Frage zur Auslegung der Richtlinie 2008/104, insbesondere ihres Art. 5 Abs. 5 zur Vorabentscheidung vorzulegen.

23.      Das vorlegende Gericht stellt fest, die zur maßgeblichen Zeit geltenden Rechtsvorschriften (vgl. oben, Nr. 15) hätten nicht vorgesehen, dass (1) die technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines Arbeitnehmers zusammenhängenden Gründe für den Einsatz von Leiharbeit in Verträgen angegeben sein müssten; (2) diese Gründe vorübergehend sein müssten; oder (3) aufeinanderfolgende Überlassungen eines Arbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen begrenzt seien. Des Weiteren stellt das vorlegende Gericht fest, der CCNL (vgl. oben, Nr. 19) finde keine Anwendung, da er lediglich das Verhältnis zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem Leiharbeitsunternehmen, nicht jedoch zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen regele. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass jedenfalls diese Regeln in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung nicht verlangt hätten, die Gründe für den Einsatz der Leiharbeit im Vertrag anzugeben, oder den Abschluss eines neuen Vertrags unmittelbar und ohne Unterbrechung nach Beendigung der sechsten Verlängerung des vorherigen Vertrags untersagt hätten.

24.      Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit dieser nationalen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 2008/104, insbesondere ihrem 15. Erwägungsgrund in Verbindung mit Art. 5 Abs. 5, da sie keine gerichtliche Überprüfung der Gründe für den Einsatz von Leiharbeit und keine Beschränkungen für aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers durch dasselbe Leiharbeitsunternehmen an dasselbe entleihende Unternehmen vorsehen.

25.      Vor diesem Hintergrund ersucht das vorlegende Gericht um eine Vorabentscheidung über die folgende Frage:

Ist Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen, dass er der Anwendung des Decreto legislativo Nr. 276/2003, in der durch das Decreto-legge 34/2014 geänderten Fassung entgegensteht, das a) keine Beschränkungen für die aufeinanderfolgenden Überlassungen desselben Arbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen vorsieht; b) die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von befristeter Arbeitnehmerüberlassung nicht von der Angabe der technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines Arbeitnehmers zusammenhängenden Gründe für den Einsatz der Arbeitnehmerüberlassung abhängig macht; c) nicht die Voraussetzung vorübergehender Produktionserfordernisse des entleihenden Unternehmens als Bedingung für die Rechtmäßigkeit des Einsatzes dieser Art von Arbeitsvertrag vorsieht?

26.      Schriftliche Erklärungen wurden von JH, der italienischen Regierung und der Europäischen Kommission abgegeben. Obgleich JH eine mündliche Verhandlung beantragt hatte, entschied der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung unter Angabe von Gründen, eine solche nicht abzuhalten.

 Beurteilung

 Zulässigkeit

27.      Die italienische Regierung trägt vor, die Vorlage zur Vorabentscheidung sei unzulässig. Sie macht erstens geltend, obgleich die vom vorlegenden Gericht angeführten nationalen Rechtsvorschriften lediglich für befristete Arbeitsverträge gälten, gebe das vorlegende Gericht die Art des Arbeitsvertrags – befristet oder unbefristet – zwischen JH und dem Leiharbeitsunternehmen nicht an. Zweitens handele es sich bei dem Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht um einen Rechtsstreit zwischen Privatpersonen und die Richtlinie 2008/104 entfalte keine unmittelbare horizontale Wirkung. Somit habe die Antwort auf die Vorabentscheidungsfrage keinen Einfluss auf das Ergebnis des Rechtsstreits vor dem vorlegenden Gericht. Für JH bestehe das einzig mögliche positive Ergebnis in der Erlangung von Schadensersatz vom italienischen Staat, falls festgestellt werde, dass Letzterer die Richtlinie 2008/104 unvollständig oder fehlerhaft umgesetzt habe.

28.      Nach ständiger Rechtsprechung „[spricht] eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts …, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind“(7).

29.      Insoweit ist eine dem nationalen Gericht dienliche Auslegung des Unionsrechts nur möglich, wenn dieses Gericht den sachlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen diese Fragen beruhen. Der Gerichtshof ist nämlich nur befugt, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung einer Unionsvorschrift zu äußern. Das vorlegende Gericht hat zudem die genauen Gründe anzugeben, aus denen ihm die Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts fraglich und ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof erforderlich erscheinen. Außerdem ist es unerlässlich, dass das nationale Gericht ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstellt(8).

30.      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass das vorlegende Gericht diesen Gerichtshof um Hinweise zur Auslegung von Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 ersucht. Das vorlegende Gericht erläutert, diese Hinweise seien erforderlich, um über den ihm vorliegenden Fall zu entscheiden. In diesem Zusammenhang ist das Vorbringen der italienischen Regierung betreffend die Unmöglichkeit, die Bestimmungen der Richtlinie unmittelbar in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen anzuwenden, irrelevant. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass er dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts zu entscheiden, unabhängig davon, ob sie zwischen den Parteien des fraglichen Rechtsstreits unmittelbare Wirkung haben oder nicht(9).

31.      Ich bin der Auffassung, dass der Vorlagebeschluss eine ausreichende Darlegung der tatsächlichen Umstände, auf die sich die Vorlagefrage stützt, enthält, um dem Gerichtshof eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Frage zu ermöglichen.

32.      Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass die Vorlage zur Vorabentscheidung zulässig ist.

 Vorlagefrage

33.      Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die a) keine Beschränkungen für aufeinanderfolgende Überlassungen eines Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen vorsehen; b) die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von befristeter Arbeitnehmerüberlassung nicht von der Angabe der technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines Arbeitnehmers zusammenhängenden Gründe für den Einsatz der Arbeitnehmerüberlassung abhängig machen; c) nicht die Voraussetzung vorübergehender Produktionserfordernisse des entleihenden Unternehmens als Bedingung für die Rechtmäßigkeit des Einsatzes dieser Art von Arbeitsvertrag vorsehen.

34.      Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, werde ich auch den weiteren Zusammenhang, nämlich die Frage berücksichtigen, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 umgangen werden.

35.      Dies erfordert die Prüfung des Ziels und des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2008/104 sowie des Zwecks, Wortlauts und Zusammenhangs ihres Art. 5 Abs. 5.

36.      Die Richtlinie 2008/104 basiert auf dem früheren Art. 137 Abs. 1 und 2 EG (nunmehr Art. 153 AEUV), der die Organe ermächtigte, u. a. auf dem Gebiet der „Arbeitsbedingungen“ „durch Richtlinien Mindestvorschriften zu erlassen, die schrittweise anzuwenden sind“. Sie wurde zur Ergänzung zweier früherer Richtlinien erlassen, die untypische Arbeit betreffen und sich jeweils mit Teilzeitarbeit und befristeten Arbeitsverträgen befassen(10). Das globale Ziel der Maßnahmen der Europäischen Union in diesem Bereich bestand in der Entwicklung flexibler Arbeitsformen unter Erreichung eines höheren Grades an Harmonisierung des dafür geltenden Sozialrechts. Das diesen Maßnahmen zugrunde liegende Regelungsmodell, das auf der Suche nach einem Ausgleich zwischen Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt basiert, wurde „Flexicurity“ genannt(11).

37.      Die Richtlinie 2008/104 bemüht sich daher um einen Ausgleich zwischen dem Ziel der von den Unternehmen angestrebten „Flexibilität“ und dem Ziel der „Sicherheit“, das dem Schutz der Arbeitnehmer zuzuordnen ist. Im elften Erwägungsgrund wird dementsprechend festgestellt, dass die Richtlinie nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Bedürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zu vereinbaren, entspricht und somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt beiträgt.

38.      Die Richtlinie 2008/104 legt einen diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen Rahmen zum Schutz der Leiharbeitnehmer fest und wahrt gleichzeitig die Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen. Gemäß Art. 2 ist es das Ziel der Richtlinie, die Leiharbeitnehmer zu schützen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz der Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen(12).

39.      Die Richtlinie 2008/104 regelt somit sowohl die Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer als auch die für den Einsatz der Leiharbeit geltenden Bedingungen. Das zweifache Ziel der Richtlinie spiegelt sich ebenso in ihrer Struktur wider. Klammert man die einleitenden Bestimmungen (Anwendungsbereich, Ziel und Begriffsbestimmungen) und die Schlussbestimmungen aus, ist die Richtlinie 2008/104 in zwei Teile gegliedert. Art. 4, der das Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) abschließt, behandelt die Einschränkungen des Einsatzes der Leiharbeit. Das Kapitel II („Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“), das die Art. 5 bis 8 umfasst, behandelt die Gleichberechtigung, Zugang zu Beschäftigung, Gemeinschaftseinrichtungen und beruflicher Bildung, die Vertretung und die Unterrichtung(13).

40.      Während diese Bestimmungen Leiharbeit üblichen Beschäftigungsverhältnissen annähern, ist klar(14), dass die Richtlinie 2008/104 davon ausgeht, dass unbefristete Arbeitsverträge die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses sind – und, wie ich hinzufüge, sein sollten. Die Richtlinie zielt daher darauf ab, den Zugang der Leiharbeitnehmer zu unbefristeter Beschäftigung bei dem entleihenden Unternehmen zu fördern, ein Ziel, das sich insbesondere in ihrem Art. 6 Abs. 1 und 2 widerspiegelt(15).

41.      Die Richtlinie 2008/104 gilt für „Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind, und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten“ (Art. 1 Abs. 1) und für „öffentliche und private Unternehmen, bei denen es sich um Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen handelt, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht“ (Art. 1 Abs. 2). Der Gerichtshof hat den Begriff „Arbeitnehmer“ dahin ausgelegt, „dass er jede Person erfasst, die eine Arbeitsleistung erbringt, d. h., die während einer bestimmten Zeit für eine andere Person nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält, und die aufgrund dieser Arbeitsleistung in dem betreffenden Mitgliedstaat geschützt ist, wobei die rechtliche Einordnung ihres Beschäftigungsverhältnisses nach nationalem Recht, die Art der zwischen den beiden Personen bestehenden Rechtsbeziehung und die Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses unerheblich sind“; und zum Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit hat er darauf hingewiesen, dass „jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten, wirtschaftlichen Charakter hat“(16).

42.      Ein bedeutender Bestandteil der Richtlinie 2008/104 ist der Grundsatz der Gleichbehandlung. So muss ein Leiharbeitnehmer gemäß ihrem Art. 5 Abs. 1 während seiner Überlassung an ein entleihendes Unternehmen in den Genuss wenigstens der wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen kommen, die für ihn gelten würden, wenn er von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wäre.

43.      Der Begriff „wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“, der für den Anwendungsbereich des auf Leiharbeitnehmer anzuwendenden Grundsatzes der Gleichbehandlung maßgeblich ist, wird in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f definiert. Ein Bericht, der von einer von der Kommission ins Leben gerufenen Sachverständigengruppe verfasst wurde, legt nahe, dass die Kommission der Auffassung ist, die Aufzählung solcher Bedingungen in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f Ziff. i und ii sei nicht erschöpfend(17).

44.      Ich habe Verständnis für diesen Ansatz. Die Richtlinie 2008/104 soll die uneingeschränkte Einhaltung (vgl. erster Erwägungsgrund) von Art. 31 der Charta gewährleisten, der in allgemeineren Worten auf die „Arbeitsbedingungen“ verweist. Die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte(18) geben an, dieser Ausdruck sei im Sinne des Art. 156 AEUV zu verstehen(19). Dieser Artikel führt die „Arbeitsbedingungen“ als einen der Bereiche auf, in denen die Kommission eingreifen kann, um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern und die Abstimmung ihres Vorgehens zu erleichtern. Er definiert diesen Begriff jedoch nicht. Mir scheint der Umstand, dass die Richtlinie die uneingeschränkte Einhaltung des Art. 31 der Charta verspricht, verbunden mit dem in der Richtlinie angeführten „Schutz“-Ziel dafür zu sprechen, „Arbeitsbedingungen“ ungeachtet der in ihrem Wortlaut enthaltenen scheinbar erschöpfenden Auflistung nicht übermäßig restriktiv auszulegen(20).

45.      Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um eine missbräuchliche Anwendung von Art. 5 zu verhindern und um insbesondere aufeinanderfolgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern.

46.      Diese Bestimmung erlegt den Mitgliedstaaten zwei verschiedene Verpflichtungen auf. Die erste besteht darin, die missbräuchliche Anwendung des Art. 5 selbst zu verhindern. Die zweite besteht darin, aufeinanderfolgende Überlassungen zu verhindern, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 insgesamt umgangen werden sollen. Ich fasse die Verwendung der Worte „und um insbesondere“, mit denen diese beiden Verpflichtungen verbunden werden, nicht so auf, dass sie bedeuten, dass die zweite Verpflichtung der ersten automatisch und uneingeschränkt untergeordnet ist. Beide Verpflichtungen befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten der Beschäftigung bei einem entleihenden Unternehmen. Die erste betrifft die „missbräuchliche Anwendung“ des Art. 5 – und nur dieses Artikels. Die zweite Verpflichtung ist weiter gefasst und zielt auf die Verhinderung aufeinanderfolgender Überlassungen, mit denen „die Bestimmungen der Richtlinie“ – insgesamt – „umgangen werden sollen“.

47.      Folglich stimme ich der schriftlichen Erklärung der Kommission, dass Art. 5 Abs. 5 ausschließlich auf den Missbrauch des in Art. 5 Abs. 1 bis 4 verankerten Grundsatzes der Gleichbehandlung Anwendung finde, nicht zu. Diese enge Auslegung übersieht, dass Art. 5 Abs. 5 zwei Glieder hat, von denen sich das zweite darauf bezieht, „aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern“. Sie passt auch nicht zu dem ausdrücklichen Ziel der Richtlinie, die Leiharbeitnehmer zu schützen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern.

48.      Mir scheint daher, dass die den Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 5 auferlegte Verpflichtung, aufeinanderfolgende Überlassungen, mit denen „die Bestimmungen“ der Richtlinie 2008/104 „umgangen“ werden sollen, zu verhindern, im Licht der Systematik und des Ziels der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie sich auf alle Bestimmungen dieser Richtlinie bezieht.

49.      Erlegt Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 vor diesem Hintergrund den Mitgliedstaaten eine Verpflichtung auf, aufeinanderfolgende Überlassungen, mit denen die „Bestimmungen“ der Richtlinie „umgangen“ werden sollen, zu verhindern, um damit zu gewährleisten, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht allzu leicht zu einer Dauersituation wird, in der Leiharbeitnehmer „festsitzen“?

50.      Ich möchte, auf die Gefahr einer Tautologie hin, damit beginnen, dass „Leiharbeitnehmer“ (in der englischen Sprachfassung: „temporary agency worker“) nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dahin definiert ist, dass er „vorübergehend“ (in der englischen Sprachfassung: „temporarily“) unter der Aufsicht und Leitung des entleihenden Unternehmens arbeitet, dem er überlassen worden ist.

51.      Allein schon der Titel der Richtlinie 2008/104 verdeutlicht, dass die von ihm erfassten Beschäftigungsverhältnisse vorübergehender Natur („temporary“) sind – und definitionsgemäß sein sollten. In der englischen Sprachfassung wird der Begriff „temporary“ u. a. in den Bestimmungen, die den Anwendungsbereich der Richtlinie (Art. 1) und ihr Ziel (Art. 2) definieren, sowie in den Bestimmungen ihrer wesentlichen Begriffe in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b, c, d und e verwendet. Das Wort „temporary“ (vorübergehend) bedeutet „lasting for only a limited period of time“ (nur für eine beschränkte Zeitdauer), „not permanent“ (nicht dauerhaft)(21). In der Richtlinie heißt es darüber hinaus, dass „unbefristete Arbeitsverträge“ – somit dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse – die übliche Form der Beschäftigungsverhältnisse sind und dass Leiharbeitnehmer über die im entleihenden Unternehmen offenen Stellen unterrichtet werden müssen, damit sie die gleichen Chancen auf einen unbefristeten Arbeitsplatz haben wie die übrigen Arbeitnehmer (vgl. den 15. Erwägungsgrund sowie Art. 6 Abs. 1 und 2)(22).

52.      Ich stimme mit der italienischen Regierung und der Kommission darin überein, dass die Richtlinie 2008/104 keine spezifischen Maßnahmen bestimmt, die die Mitgliedstaaten zu erlassen haben, um aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie „umgangen werden sollen“, zu verhindern. Somit verpflichtet die Richtlinie 2008/104 die Mitgliedstaaten z. B. nicht dazu, den Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen von der ausdrücklichen Verpflichtung abhängig zu machen, die Gründe zu erläutern, die den Abschluss oder die Verlängerung der fraglichen Verträge rechtfertigen. Jedoch ziehe ich daraus nicht den Schluss, dass sich Art. 5 Abs. 5 im Wesentlichen in einer Zielvorgabe erschöpft – oder direkt gesagt, zahnlos ist.

53.      Der Wortlaut von Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie 2008/104 („Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, um eine missbräuchliche Anwendung dieses Artikels zu verhindern und um insbesondere aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern“) ist klar, genau und unbedingt. Er bringt ohne größere Schwierigkeit den klassischen Test für die unmittelbare Wirkung in Erinnerung. In diesem Zusammenhang sind „nationale Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten“ als das Mittel anzusehen, durch das der Mitgliedstaat seiner Verpflichtung nachkommt; keines von beiden beeinträchtigt jedoch die Klarheit, Genauigkeit oder Unbedingtheit der Verpflichtung als solcher. Die Mitgliedstaaten haben – natürlich im Rahmen der Richtlinie – sicherzustellen, dass der genannte Missstand nicht eintritt. In einem „vertikalen“ Zusammenhang, in dem der Beklagte der Staat oder eine dem Staat zuzurechnende Einrichtung ist(23), wäre ein Leiharbeitnehmer in der Lage, in der Richtlinie selbst starken Rückhalt zu finden.

54.      Dabei bin ich mir vollkommen bewusst, dass die Richtlinie 2008/104, wie sich aus ihrer Rechtsgrundlage ergibt (vgl. oben, Nr. 36), eine Richtlinie über Mindestvorschriften darstellt. Ihr Wortlaut und ihre Systematik erlauben es nicht, scharf abgegrenzte und konkrete Verpflichtungen in sie hineinzulesen, die in ihrem Wortlaut nicht enthalten sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Verpflichtungen, wie die Richtlinie sie den Mitgliedstaaten auferlegt, ignoriert oder übergangen werden können.

55.      Eine Reihe zusätzlicher Fragen sind zu bedenken.

56.      Erstens ist es, da die Richtlinie 2008/104 eine Richtlinie über Mindestvorschriften darstellt, offenkundig, dass es einem Mitgliedstaat freisteht, solche konkreten Rechtsvorschriften zu erlassen. Ich nehme natürlich zur Kenntnis, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 vorsieht, dass nationale Rechtsvorschriften, die Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit enthalten, aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein müssen, wozu vor allem der Schutz der Leiharbeitnehmer, die Erfordernisse von Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz oder die Notwendigkeit, das reibungslose Funktionieren des Arbeitsmarktes zu gewährleisten und eventuellen Missbrauch zu verhüten, zählen(24). Führen aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer, die – erheblich – länger ist als was vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, stellt dies meines Erachtens einen genau solchen Missbrauch dar. Zwar würde eine nationale Maßnahme zur Verhinderung des Entstehens einer solchen Situation in der Tat eine „Einschränkung des Einsatzes von Leiharbeit“ darstellen, eine solche Einschränkung wäre jedoch aus den in Art. 4 Abs. 1 ausdrücklich aufgeführten Gründen des Allgemeininteresses, nämlich dem Schutz der Leiharbeitnehmer und der Verhütung des Missbrauchs leicht zu rechtfertigen.

57.      Zweitens umgehen häufig wiederholte aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen den Wesensgehalt der Bestimmungen der Richtlinie und kommen einem Missbrauch dieser Form des Beschäftigungsverhältnisses gleich. Sie beeinträchtigen – selbstredend – ebenso den Ausgleich, den die Richtlinie zwischen der „Flexibilität“ für die Arbeitgeber und der „Sicherheit“ für die Arbeitnehmer herstellt (siehe oben, Nrn. 36 und 37), indem sie Letztere unterminieren.

58.      Drittens scheint mir, dass das nationale Gericht, soweit – im jeweiligen Einzelfall – keine objektive Erklärung gegeben wird, warum sich ein entleihendes Unternehmen aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge bedient, zu besonderer Wachsamkeit verpflichtet ist. (Dies ist erst recht der Fall, wenn es derselbe Leiharbeitnehmer ist, der dem entleihenden Unternehmen durch die fragliche Reihe von Verträgen überlassen wird.) Ohne über den Rahmen der Richtlinie hinauszugehen, sollte das nationale Gericht daher – im Kontext des nationalen Rechtsrahmens und unter Berücksichtigung der Umstände jedes Falles – prüfen, ob durch den Einsatz solcher aufeinanderfolgenden Überlassungen eine der Bestimmungen der Richtlinie umgangen wird.

59.      Somit sollte das nationale Gericht bei der Prüfung, ob der Verpflichtung nach Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 Folge geleistet wird, nicht nur den in Art. 5 Abs. 1 verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung im Hinblick auf die „Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ sondern auch andere Bestimmungen, wie Art. 6 Abs. 1 und 2, der den Zugang der Leiharbeitnehmer zu einem unbefristeten Arbeitsplatz erleichtert, im Blick haben.

60.      An dieser Stelle erscheint es hilfreich, die Begründung des Gerichtshofs im Urteil Sciotto(25) zu betrachten, auf die sich JH besonders gestützt hat.

61.      Frau Sciotto, eine Balletttänzerin, war bei der Fondazione Teatro dell’Opera di Roma durch eine Vielzahl befristeter Verträge beschäftigt, die auf der Grundlage verschiedener künstlerischer Aufführungen verlängert wurden, die zwischen 2007 und 2011 vorgesehen waren. Ihre Arbeitsverträge enthielten keine Angaben über konkrete technische Gründe oder Gründe der Produktion oder der Organisation zur Rechtfertigung des Einsatzes befristeter Arbeitsverträge statt eines unbefristeten Vertrags. Sie begehrte daher die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Verträge, die Umwandlung ihres Beschäftigungsverhältnisses in einen unbefristeten Vertrag und Ersatz des erlittenen Schadens.

62.      In jenem Fall stellte die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70 das anwendbare Unionsrecht dar. Paragraf 5 dieser Rahmenvereinbarung führte konkrete Maßnahmen ein, um Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse zu vermeiden(26). Wie der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, „verpflichtet Paragraf 5 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Vermeidung der missbräuchlichen Verwendung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse dazu, effektiv und mit verbindlicher Wirkung mindestens eine der dort aufgeführten Maßnahmen zu ergreifen, sofern ihr innerstaatliches Recht keine gleichwertigen gesetzlichen Maßnahmen enthält. Die hierfür in Paragraf 5 Nr. 1 Buchst. a bis c aufgeführten drei Maßnahmen betreffen sachliche Gründe, die die Verlängerung solcher Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse rechtfertigen …“(27). Der Gerichtshof erinnerte daran, dass „der Begriff ‚sachliche Gründe‘ … dahin zu verstehen [ist], dass er genau bezeichnete, konkrete Umstände meint, die eine bestimmte Tätigkeit kennzeichnen und daher in diesem speziellen Zusammenhang den Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge rechtfertigen können. Diese Umstände können sich etwa aus der besonderen Art der Aufgaben, zu deren Erfüllung die Verträge geschlossen worden sind, und deren Wesensmerkmalen oder gegebenenfalls aus der Verfolgung eines legitimen sozialpolitischen Ziels durch einen Mitgliedstaat ergeben“(28).

63.      Vor dem Hintergrund dieser Rechtsvorschriften und Rechtsprechung stellte der Gerichtshof fest, dass „eine nationale Vorschrift, die sich darauf beschränkte, den Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge allgemein und abstrakt durch Gesetz oder Verordnung zuzulassen, nicht [diesen] Erfordernissen [entspräche]. Einer solchen rein formalen Vorschrift lassen sich nämlich keine objektiven und transparenten Kriterien für die Prüfung entnehmen, ob die Verlängerung derartiger Verträge tatsächlich einem echten Bedarf entspricht und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist. Eine solche Vorschrift birgt somit die konkrete Gefahr eines missbräuchlichen Rückgriffs auf derartige Verträge und ist daher mit dem Ziel und der praktischen Wirksamkeit der [Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70] unvereinbar“(29).

64.      Dementsprechend entschied der Gerichtshof, Paragraf 5 sei dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Vorschriften über Arbeitsverhältnisse, mit denen durch die automatische Umwandlung des befristeten Vertrags in einen unbefristeten der missbräuchliche Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge geahndet werden soll, wenn das Arbeitsverhältnis über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus andauert, auf den Tätigkeitsbereich der Stiftungen für Oper und Orchester nicht anwendbar sind, wenn es in der innerstaatlichen Rechtsordnung keine andere wirksame Maßnahme gibt, mit der die in dieser Branche festgestellten Missbräuche geahndet werden(30).

65.      JH macht in seinen schriftlichen Erklärungen geltend, das Urteil in der Rechtssache Sciotto könne schlichtweg auf die vorliegende Rechtssache übertragen werden.

66.      Ich teile diese Auffassung nicht. Es ist offensichtlich, dass sich das Ergebnis in der Rechtssache Sciotto aus einer Unionsrechtsvorschrift herleitet, die sich ihrem Wesen nach von Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 unterscheidet(31). So legt Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70 konkrete Verpflichtungen fest, um Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu vermeiden. Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 legt eine allgemeine Verpflichtung fest, um Missbrauch durch den Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern. Auch angesichts dessen, dass die Richtlinie 2008/104 lediglich Mindestvorschriften festlegt, ist es nicht möglich, in die Richtlinie 2008/104 ausführliche und konkrete Verpflichtungen – wie etwa die Gesamthöchstdauer aufeinanderfolgender Verträge oder eine (Höchst‑)Zahl für Verlängerungen solcher Verträge – hineinzulesen, die denen entsprechen, die nach Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70 vorgeschrieben sind.

67.      Abgesehen davon ist auf die Stellen in der Begründung des Gerichtshofs im Urteil Sciotto hinzuweisen, die allgemeiner gefasst sind. So hat der Gerichtshof betont, dass es „wenn das Unionsrecht insoweit keine spezifischen Sanktionen für den Fall vorsieht, dass dennoch Missbräuche festgestellt worden sind, … den nationalen Stellen [obliegt], Maßnahmen zu ergreifen, die nicht nur verhältnismäßig, sondern auch hinreichend effektiv und abschreckend sein müssen, um die volle Wirksamkeit der [aufgrund der fraglichen Bestimmung des Unionsrechts] erlassenen Normen sicherzustellen. … [W]enn es zu einem missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge gekommen ist, [muss] die Möglichkeit bestehen, eine Maßnahme anzuwenden, die effektive und äquivalente Garantien für den Schutz der Arbeitnehmer bietet, um diesen Missbrauch angemessen zu ahnden und die Folgen des Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beseitigen“(32). Nach ständiger Rechtsprechung „obliegt die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, und die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 EUV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten“(33). Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof entschieden, dass „es dem angerufenen Gericht zu[kommt], die einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts im Rahmen des Möglichen und, wenn ein Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge stattgefunden hat, so auszulegen und anzuwenden, dass eine angemessene Ahndung des Missbrauchs und die Beseitigung der Folgen des Unionsrechtsverstoßes möglich ist“(34).

68.      Ich erinnere ebenso daran, dass die Große Kammer den nationalen Gerichten im Urteil Pfeiffer u. a.(35) hilfreiche Hinweise zum richtigen Ansatz bei der Beurteilung der Auswirkungen einer Richtlinienbestimmung mit unmittelbarer Wirkung im Kontext eines Rechtsstreits zwischen Privatparteien gegeben hat.

69.      Insbesondere betrifft demnach „dieser vom [Unionsrecht] aufgestellte Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts … zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, beschränkt sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen, sondern verlangt, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt“(36). Kurz gefasst „verlangt der Grundsatz der [unionsrechtskonformen] Auslegung somit, dass das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts alles tun muss, was in seiner Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit [der fraglichen Richtlinie] zu gewährleisten“(37).

70.      Mutatis mutandis auf eine Rechtssache angewandt, die in den Geltungsbereich von Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 fällt, bedeuten diese Erwägungen, dass (1) es im Rahmen der Richtlinie 2008/104 Aufgabe des Mitgliedstaats ist, zu gewährleisten, dass sein nationales Rechtssystem geeignete Maßnahmen enthält, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts, das die Verhinderung des Einsatzes aufeinanderfolgender Überlassungen bezweckt, mit denen der vorübergehende Charakter der von der Richtlinie 2008/104 erfassten Beschäftigungsverhältnisse umgangen werden soll, zu gewährleisten, und (2) der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung verlangt, dass das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts alles tun muss, was in seiner Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie 2008/104 zu gewährleisten, indem der fragliche Missbrauch geahndet wird und die Folgen des Verstoßes gegen das Unionsrecht beseitigt werden.

71.      Im Licht der vorstehenden Erwägungen komme ich zu dem Ergebnis, dass Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die a) keine Beschränkungen für aufeinanderfolgende Überlassungen eines Arbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen vorsehen; b) die Rechtmäßigkeit des Einsatzes befristeter Arbeitnehmerüberlassung nicht von der Angabe der technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines Arbeitnehmers zusammenhängenden Gründe für den Einsatz der Arbeitnehmerüberlassung abhängig machen; und c) nicht die Voraussetzung vorübergehender Produktionserfordernisse des entleihenden Unternehmens als Bedingung für die Rechtmäßigkeit des Einsatzes dieser Art des Arbeitsvertrags vorsehen.

72.      Aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Arbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen, die zusammengenommen eine Dauer überschreiten, die vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, und die keinen unbefristeten Arbeitsvertrag zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer betreffen, umgehen jedoch den Wesensgehalt der Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 und kommen einem Missbrauch dieser Form des Beschäftigungsverhältnisses gleich. Es ist Sache des nationalen Gerichts, diese Umstände zu beurteilen. Liegt ein Missbrauch aufeinanderfolgender Überlassungen vor, verlangen die Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit und der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung, dass das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts alles tun muss, was in seiner Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie 2008/104 zu gewährleisten, indem der fragliche Missbrauch geahndet wird und die Folgen des Verstoßes gegen das Unionsrecht beseitigt werden.

 Ergebnis

73.      Ich schlage dem Gerichtshof vor, auf die vom Tribunale ordinario di Brescia (Gericht von Brescia, Italien) vorgelegte Frage wie folgt zu antworten:

–        Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 steht nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, die a) keine Beschränkungen für aufeinanderfolgende Überlassungen eines Arbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen vorsehen; b) die Rechtmäßigkeit des Einsatzes befristeter Arbeitnehmerüberlassung nicht von der Angabe der technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines Arbeitnehmers zusammenhängenden Gründe für den Einsatz der Arbeitnehmerüberlassung abhängig machen; und c) nicht die Voraussetzung vorübergehender Produktionserfordernisse des entleihenden Unternehmens als Bedingung für die Rechtmäßigkeit des Einsatzes dieser Art des Arbeitsvertrags vorsehen.

–        Aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Arbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen, die zusammengenommen eine Dauer überschreiten, die vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, und die keinen unbefristeten Arbeitsvertrag zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer betreffen, umgehen den Wesensgehalt der Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 und kommen einem Missbrauch dieser Form des Beschäftigungsverhältnisses gleich. Es ist Sache des nationalen Gerichts zu beurteilen, ob diese Umstände im jeweiligen Einzelfall vorliegen.

–        Liegt ein Missbrauch aufeinanderfolgender Überlassungen vor, verlangen die Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit und der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung, dass das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts alles tun muss, was in seiner Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der Richtlinie 2008/104 zu gewährleisten, indem der fragliche Missbrauch geahndet wird und die Folgen des Verstoßes gegen das Unionsrecht beseitigt werden.


1       Originalsprache: Englisch.


2       Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 (ABl. 2008, L 327, S. 9).


3       ABl. 2007, C 303, S. 1.


4       Vgl. 12. Erwägungsgrund.


5       Vgl. 14. Erwägungsgrund.


6       Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE‑CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. 1999, L 175, S. 43).


7       Urteil vom 11. April 2013, Della Rocca (C‑290/12, EU:C:2013:235, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof kann ein Vorabentscheidungsersuchen auch aus dem letztgenannten Grund zurückweisen: vgl. Urteil vom 16. Februar 2012, Varzim Sol (C‑25/11, EU:C:2012:94, Rn. 29).


8       Urteil vom 2. Mai 2019, Asendia Spain (C‑259/18, EU:C:2019:346, Rn. 17 und 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).


9       Urteil vom 8. Mai 2019, Praxair MRC (C‑486/18, EU:C:2019:379, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10       Es handelt sich um die Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinigung über Teilzeitarbeit (ABl. 1998, L 14, S. 9) und die Richtlinie 1999/70, oben in Fn. 6 angeführt.


11       Vgl. neunter Erwägungsgrund und die vom Rat am 5. und 6. Dezember 2007 angenommenen gemeinsamen Grundsätze für den Flexicurity-Ansatz, die am 14. Dezember 2007 vom Europäischen Rat bestätigt wurden (Dokument Nr. 16201/07 des Rates), sowie die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Gemeinsame Grundsätze für den Flexicurity-Ansatz herausarbeiten: Mehr und bessere Arbeitsplätze durch Flexibilität und Sicherheit“ (KOM[2007] 359 endgültig vom 27. Juni 2007). Vgl. ebenso Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache AKT (C‑533/13, EU:C:2014:2392, Nr. 33).


12       Vgl. Urteil vom 17. November 2016, Betriebsrat der Ruhrlandklinik (C‑216/15, EU:C:2016:883, Rn. 35, zusammengefasst).


13       Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache AKT (C‑533/13, EU:C:2014:2392, Nrn. 30 und 35).


14       Vgl. 15. Erwägungsgrund.


15       Vgl. Engel, Chris, „Regulating temporary work in the European Union: The Agency Directive“, in Temporary work in the European Union and the United States, Bulletin of comparative labour relations, Nr. 82, 2013, S. 19.


16       Vgl. Urteil vom 17. November 2016, Betriebsrat der Ruhrlandklinik (C‑216/15, EU:C:2016:883, Rn. 43 und 44).


17       Vgl. Europäische Kommission, Bericht – Sachverständigengruppe – Umsetzung der Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit, August 2011, S. 24.


18       ABl. 2007, C 303, S. 17.


19       Art. 156 AEUV lautet: „Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge fördert die Kommission im Hinblick auf die Erreichung der Ziele des Artikels 151 die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und erleichtert die Abstimmung ihres Vorgehens in allen unter dieses Kapitel fallenden Bereichen der Sozialpolitik insbesondere auf dem Gebiet – der Beschäftigung, – des Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen, – der beruflichen Ausbildung und Fortbildung, – der sozialen Sicherheit, – der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten, – des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit, – des Koalitionsrechts und der Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.“


20       Vgl. Robin-Olivier, Sophie, „Article 31: conditions de travail justes et équitables“, in Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, Picod, Fabrice, Rizcallah, Cécilia, Van Drooghenbroeck, Sébastien, Brüssel, Bruylant, 2019, S. 789-805.


21       Vgl. Oxford Dictionary of English. In der französischen Fassung wird im Titel der Richtlinie, in den Bestimmungen über die Festlegung ihres Anwendungsbereichs und ihres Ziels sowie in den wesentlichen Begriffsbestimmungen für „temporary“ das Wort „intérimaire“ verwendet, für das – in Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. b, c, d und e – die Umschreibung als „travailler de manière temporaire“ verwendet wird. „Intérimaire“ wird im Petit Robert de la langue française als „vorübergehend“ oder „übergangsweise“ und „temporaire“ als „zeitlich begrenzt“ definiert. Im Italienischen, der Verfahrenssprache, lauten die verwendeten Worte „interinale“ und „temporaneamente“.


22      Ich weise darauf hin (wobei ich nicht der Auffassung bin, dass diese Erwägungen als solche auf den vorliegenden Fall übertragbar sind, siehe unten, Nr. 66), dass der Gerichtshof in Fällen, die Paragraf 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70 betreffen, entschieden hat, dass „[d]ie Verlängerung befristeter Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse zur Deckung eines Bedarfs, der in Wirklichkeit kein zeitweiliger, sondern ein ständiger und dauerhafter ist, … nicht im Sinne von Paragraf 5 Nr. 1 Buchst. a der Rahmenvereinbarung gerechtfertigt [ist], da ein solcher Einsatz befristeter Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse der Prämisse der Rahmenvereinbarung, dass unbefristete Arbeitsverträge die übliche Form der Beschäftigungsverhältnisse sind, auch wenn befristete Arbeitsverträge für die Beschäftigung in bestimmten Branchen oder für bestimmte Berufe und Tätigkeiten charakteristisch sind, unmittelbar zuwiderläuft“ (Hervorhebung nur hier). Vgl. Urteil vom 19. März 2020, Sánchez Ruiz u. a. (C‑103/18 und C‑429/18, EU:C:2020:219, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).


23       Die klassische Fundstelle für diese Formulierung im Falle vertikaler unmittelbarer Wirkung stellt das Urteil vom 12. Juli 1990, Foster u. a. (C‑188/89, EU:C:1990:313), dar. Aus jüngerer Zeit vgl. Urteil vom 10. Oktober 2017, Farrell (C‑413/15, EU:C:2017:745), zusammen mit meinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache (EU:C:2017:492).


24       Vgl. Urteil vom 17. März 2015, AKT (C‑533/13, EU:C:2015:173, Rn. 23 und 32).


25       Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018 (C‑331/17, EU:C:2018:859) (im Folgenden: Sciotto).


26       Paragraf 5 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70 lautet: „Um Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse zu vermeiden, ergreifen die Mitgliedstaaten nach der gesetzlich oder tarifvertraglich vorgeschriebenen oder in dem Mitgliedstaat üblichen Anhörung der Sozialpartner und/oder die Sozialpartner, wenn keine gleichwertigen gesetzlichen Maßnahmen zur Missbrauchsverhinderung bestehen, unter Berücksichtigung der Anforderungen bestimmter Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen: a) sachliche Gründe, die die Verlängerung solcher Verträge oder Verhältnisse rechtfertigen; b) die insgesamt maximal zulässige Dauer aufeinanderfolgender Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse; c) die zulässige Zahl der Verlängerungen solcher Verträge oder Verhältnisse.“


27       Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Sciotto (C‑331/17, EU:C:2018:859, Rn. 32, Hervorhebung nur hier).


28       Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Sciotto (C‑331/17, EU:C:2018:859, Rn. 39).


29       Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Sciotto (C‑331/17, EU:C:2018:859, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30       Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Sciotto (C‑331/17, EU:C:2018:859, Rn. 72 und Tenor).


31       Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich auch, dass die Richtlinie 1999/70 und die Richtlinie 2008/104 unterschiedliche Anwendungsbereiche haben. Demnach fallen die befristeten Arbeitsverhältnisse eines Leiharbeitnehmers, der einem entleihenden Unternehmen durch ein Leiharbeitsunternehmen zur Verfügung gestellt wird, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 1999/70. Vgl. Urteil vom 11. April 2013, Della Rocca (C‑290/12, EU:C:2013:235, Rn. 42).


32       Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Sciotto (C‑331/17, EU:C:2018:859, Rn. 64 und 65).


33       Urteil vom 25. Oktober 2018, Sciotto (C‑331/17, EU:C:2018:859, Rn. 67); Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 67).


34       Vgl. Urteil vom 25. Oktober 2018, Sciotto (C‑331/17, EU:C:2018:859, Rn. 69, Hervorhebung nur hier).


35       Vgl. Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 107 bis 119).


36       Vgl. Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 115).


37       Vgl. Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a. (C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 118). Vgl. ebenso Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache AKT (C‑533/13, EU:C:2014:2392, Nr. 134), die Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 betraf. In Nr. 135 dieser Schlussanträge unterstrich Generalanwalt Szpunar, dass das Fehlen von Umsetzungsmaßnahmen im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 das vorlegende nationale Gericht nicht daran hindert, zu prüfen, ob es im Wege der Auslegung zu einer mit dem Unionsrecht in Einklang stehenden Lösung gelangen kann, indem es das gesamte innerstaatliche Recht berücksichtigt.