URTEIL DES GERICHTSHOFES
5. Mai 1998 (1)
„Vorläufiger Rechtsschutz Landwirtschaft Tierseuchenrecht Dringliche
Maßnahmen gegen die bovine spongiforme Enzephalopathie Sogenannter
Rinderwahnsinn“
In der Rechtssache C-180/96
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch Lindsey
Nicoll, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Sir Nicholas
Lyell, QC, Paul Lasok, QC, und Barrister David Anderson, Zustellungsanschrift:
Britische Botschaft, 14, boulevard Roosevelt, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Hauptrechtsberater Dierk Booss und James Macdonald Flett, Juristischer Dienst,
als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz,
Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
unterstützt durch
Rat der Europäischen Union, vertreten durch Rechtsberater Arthur Brautigam und
Moyra Sims als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Alessandro Morbilli,
Leiter der Direktion für Rechtssachen der Europäischen Investitionsbank,
100, boulevard Konrad Adenauer, Luxemburg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 96/239/EG der Kommission vom 27.
März 1996 mit den zum Schutz gegen die bovine spongiforme Enzephalopathie
(BSE) zu treffenden Dringlichkeitsmaßnahmen (ABl. L 78, S. 47) sowie bestimmter
anderer Handlungen der Kommission
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm, M. Wathelet und R. Schintgen
sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, J. L. Murray,
D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann und L. Sevón
(Berichterstatter),
Generalanwalt: G. Tesauro
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 2. Juli 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30.
September 1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Das Vereinigte Königreich hat mit Klageschrift, die am 24. Mai 1996 bei der
Kanzlei des Gerichtshofes eingereicht wurde, gemäß Artikel 173 EG-Vertrag die
Nichtigerklärung der Entscheidung 96/239/EG der Kommission vom 27. März 1996
mit den zum Schutz gegen die bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE) zu
treffenden Dringlichkeitsmaßnahmen (ABl. L 78, S. 47) sowie bestimmter anderer
Handlungen der Kommission beantragt.
- 2.
- Mit gesondertem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofes
eingereicht wurde, hat das Vereinigte Königreich die Aussetzung des Vollzugs der
Entscheidung 96/239 und/oder den Erlaß bestimmter einstweiliger Anordnungen
beantragt. Dieser Antrag wurde mit Beschluß des Gerichtshofes vom 12. Juli 1996
in der Rechtssache C-180/96 R, Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg. 1996, I-3903, zurückgewiesen.
- 3.
- Mit Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 12. September 1996 ist der
Rat als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen
worden.
- 4.
- Nach den Akten wurde die bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE), auch
Rinderwahnsinn genannt, zum ersten Mal 1986 im Vereinigten Königreich
festgestellt. Sie gehört zu einer Gruppe von Krankheiten, die man übertragbare
spongiforme Enzephalopathien nennt; für sie ist eine Degeneration des Gehirns
und das schwammartige Aussehen der Nervenzellen bei mikroskopischer
Betrachtung kennzeichnend. Diese Krankheiten können sowohl beim Menschen
(Kuru-Krankheit in Neuguinea und Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die insbesondere
ältere Personen befällt) wie bei bestimmten Tierarten, darunter den Rindern, den
Schafen (Traberkrankheit), der Hauskatze und dem Zuchtnerz, auftreten.
- 5.
- Vermutlicher Ursprung von BSE ist eine geänderte Futtermittelzubereitung für
Rinder, die Eiweiß von Schafen enthält, die von der Traberkrankheit befallen
waren. BSE hat eine Inkubationszeit von mehreren Jahren, während deren die
Krankheit am lebenden Tier nicht festgestellt werden kann.
- 6.
- Zur Bekämpfung von BSE hat das Vereinigte Königreich seit Juli 1988 eine Reihe
von Maßnahmen getroffen, darunter das Verbot des Verkaufs von Futtermitteln
für Wiederkäuer, die Wiederkäuereiweiß enthalten, und das Verbot der Fütterung
von Wiederkäuern mit solchen Futtermitteln (ruminant feed ban, enthalten in der
Bovine Spongiform Encephalopathy Order 1988, SI 1988/1039, mit späteren
Änderungen). Angesichts des vermuteten Ursprungs der Krankheit, nämlich der
Aufnahme verseuchter Futtermittel, hätte dieses Verbot nach Ansicht von
Wissenschaftlern neue BSE-Fälle bei Tieren verhüten müssen, die nach seiner
Einführung geboren wurden.
- 7.
- Um die Gefahren für die menschliche Gesundheit zu verringern, hat das Vereinigte
Königreich weitere Maßnahmen getroffen, darunter das Verbot des Verkaufs und
der Verwendung von Sonderabfällen vom Rind, von denen vermutet wird, daß sie
den Erreger enthalten (The Bovine Offal [Prohibition] Regulations 1989, SI
1989/2061, mit weiteren Änderungen). Verworfen werden dabei insbesondere der
Kopf und das Rückenmark.
- 8.
- Auch die Kommission hat eine Reihe von Entscheidungen zu BSE im Vereinigten
Königreich erlassen. Hierzu zählt die Entscheidung 90/200/EWG der Kommission
vom 9. April 1990 über zusätzliche Anforderungen an gewisse Gewebe und Organe
im Hinblick auf spongiforme Rinderenzephalopathie (ABl. L 105, S. 24), ersetzt
durch die Entscheidung 94/474/EG vom 27. Juli 1994 über Schutzmaßnahmen
gegen die spongiforme Rinderenzephalopathie und zur Aufhebung der
Entscheidungen 89/469/EWG und 90/200/EWG (ABl. L 194, S. 96), geändert durch
Entscheidung 95/287/EG der Kommission vom 18. Juli 1995 (ABl. L 181, S. 40).
Diese Maßnahmen betreffen die Entfernung von Gewebe vom Rind, das
wahrscheinlich Erreger enthält, sowie die Fütterung von Wiederkäuern. Die
Entscheidung 92/290/EWG der Kommission vom 14. Mai 1992 über bestimmte
Schutzmaßnahmen für Rinderembryonen gegen die spongiforme
Rinderenzephalopathie im Vereinigten Königreich (ABl. L 152, S. 37) hat zudem
die Ausfuhr von Embryonen strengen Voraussetzungen unterworfen.
- 9.
- Das Spongiform Encephalopathy Advisory Committee (SEAC), ein unabhängiger
Ausschuß zur wissenschaftlichen Beratung der Regierung des Vereinigten
Königreichs, hat am 20. März 1996 mitgeteilt, bei zehn Personen, deren älteste 42
Jahre alt war, sei eine neue Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit festgestellt
worden. In dieser Mitteilung heißt es, obwohl es keinen unmittelbaren Beweis für
einen Zusammenhang gebe, sei nach den zur Verfügung stehenden Daten mangels
einer glaubwürdigen Alternative die wahrscheinlichste Erklärung (the most likely
explanation) für diese Fälle der Kontakt mit BSE vor der Einführung des Verbotes
bestimmter Sonderabfälle vom Rind im Jahre 1989. Das sei Anlaß zu erheblicher
Sorge.
- 10.
- In derselben Mitteilung führte das SEAC aus, die zum Schutze der Gesundheit
getroffenen Maßnahmen müßten unbedingt beachtet werden; die vollständige
Entnahme des Rückenmarks solle ständig überwacht werden. Schlachtkörper von
mehr als 30 Monate alten Rindern seien in zugelassenen Einrichtungen unter der
Überwachung des Meat Hygiene Service zu entbeinen, die Abfälle beim
Zuschneiden des Fleisches seien als Sonderabfälle vom Rind zu qualifizieren und
die Verwendung von Fleisch- und Knochenmehl von Säugetieren für die Fütterung
aller landwirtschaftlichen Nutztiere sei zu verbieten.
- 11.
- Am selben Tage hat der Minister für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung den
Verkauf und die Lieferung von Fleisch- und Knochenmehl von Säugetieren sowie
ihre Verwendung in Futtermitteln für landwirtschaftliche Nutztiere einschließlich
Geflügel, Pferde und Zuchtfische sowie den Verkauf von Fleisch von mehr als 30
Monate alten Rindern zum menschlichen Verzehr verboten.
- 12.
- Gleichzeitig haben mehrere Mitgliedstaaten und Drittländer die Einfuhr von
Rindern oder Rindfleisch aus dem Vereinigten Königreich oder im Falle
bestimmter Drittländer aus der Europäischen Union verboten.
- 13.
- Am 22. März 1996 vertrat der Wissenschaftliche Veterinärausschuß der
Europäischen Union die Auffassung, die zur Verfügung stehenden Daten erlaubten
nicht den Nachweis, daß BSE auf den Menschen übertragen werden könne.
Angesichts einer gleichwohl bestehenden Gefahr, die der Ausschuß immer
berücksichtigt habe, hat er jedoch empfohlen, die jüngst vom Vereinigten
Königreich getroffenen Maßnahmen betreffend die Entbeinung von
Schlachtkörpern von mehr als 30 Monate alten Rindern in überwachten
Einrichtungen für den Binnenhandel der Gemeinschaft umzusetzen; außerdem solle
die Gemeinschaft geeignete Maßnahmen ergreifen, um die Verwendung von
Fleisch- und Knochenmehl in Futtermitteln zu verbieten. Zudem müsse jeder
Kontakt von Rückenmark mit Fett, Knochen und Fleisch ausgeschlossen werden;
andernfalls sei der Schlachtkörper als Sonderabfall vom Rind zu behandeln.
Schließlich hat der Ausschuß empfohlen, Untersuchungen über die Übertragbarkeit
von BSE auf den Menschen fortzusetzen. Im Anhang zu diesem Gutachten findet
sich die Erklärung eines Ausschußmitglieds, „auf der Grundlage der beschränkten
wissenschaftlichen Daten, die sich nur auf die Würdigung von Material stützten, das
von neun Rindern stamme, sei nicht sicher, daß Rindfleisch aus Muskelgewebe
hinsichtlich der Übertragung von BSE keine Gefahr darstelle“.
- 14.
- Am 24. März 1996 hat das SEAC seine früheren Empfehlungen über die
Entbeinung von Schlachtkörpern in zugelassenen Einrichtungen, über die
Behandlung von Zuschneideabfällen mit Nerven- und lymphatischem Gewebe, vom
Rückgrat und vom Kopf (mit Ausnahme der Zunge, wenn sie unverseucht
entnommen wird) als Sonderabfälle vom Rind sowie das Verbot der Verwendung
von Fleisch- und Knochenmehl von Säugetieren in Futtermitteln für Wiederkäuer
und landwirtschaftliche Nutztiere (einschließlich Fische und Pferde) sowie als
Dünger für Flächen bestätigt, zu denen Wiederkäuer Zugang haben. Das SEAC hat
jedoch ausgeführt, es könne einen Kausalzusammenhang zwischen BSE und der
jüngst entdeckten Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit nicht bestätigen; diese
Frage bedürfe der weiteren wissenschaftlichen Untersuchung.
- 15.
- Am 27. März 1996 hat die Kommission die angefochtene Entscheidung 96/239
erlassen, die auf den EG-Vertrag, auf die Richtlinie 90/425/EWG des Rates vom
26. Juni 1990 zur Regelung der veterinärrechtlichen und tierzüchterischen
Kontrollen im innergemeinschaftlichen Handel mit lebenden Tieren und
Erzeugnissen im Hinblick auf den Binnenmarkt (ABl. L 224, S. 29), geändert durch
die Richtlinie 92/118/EWG des Rates vom 17. Dezember 1992 über die
tierseuchenrechtlichen und gesundheitlichen Bedingungen für den Handel mit
Erzeugnissen tierischen Ursprungs in der Gemeinschaft sowie für ihre Einfuhr in
die Gemeinschaft, soweit sie diesbezüglich nicht den spezifischen
Gemeinschaftsregelungen nach Anhang A Kapitel I der Richtlinie 89/662/EWG und
in bezug auf Krankheitserreger der Richtlinie 90/425/EWG unterliegen
(ABl. 1993, L 62, S. 49), insbesondere auf Artikel 10 Absatz 4, sowie auf die
Richtlinie 89/662/EWG des Rates vom 11. Dezember 1989 zur Regelung der
veterinärrechtlichen Kontrollen im innergemeinschaftlichen Handel im Hinblick auf
den gemeinsamen Binnenmarkt (ABl. L 395, S. 13), geändert durch die Richtlinie
92/118, insbesondere auf Artikel 9, gestützt wurde.
- 16.
- Artikel 10 Absätze 1 Unterabsatz 1 und 4 der Richtlinie 90/425 lauten:
„(1) Jeder Mitgliedstaat unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten und die
Kommission unverzüglich über das Auftreten in seinem Hoheitsgebiet von
Krankheiten gemäß der Richtlinie 82/894/EWG sowie von allen Zoonosen,
Krankheiten und anderen Ursachen, die eine Gefahr für die Tiere oder die
menschliche Gesundheit darstellen können.
...
(4) In allen diesen Fällen prüft die Kommission im Ständigen
Veterinärausschuß so bald wie möglich die Lage. Sie erläßt nach dem in
Artikel 17 genannten Verfahren die notwendigen Maßnahmen für die Tiere
und Erzeugnisse im Sinne des Artikels 1 und, falls es die Umstände
erfordern, für die Folgeerzeugnisse. Sie verfolgt die Entwicklung der Lage
und kann nach dem gleichen Verfahren die getroffenen Entscheidungen
nach Maßgabe dieser Entwicklung ändern oder aufheben.“
- 17.
- Artikel 1 der Richtlinie 90/425 betrifft die lebenden Tiere und Erzeugnisse, die
unter die in Anhang A der Richtlinie aufgeführten Richtlinien fallen oder die von
ihrem Artikel 21 Absatz 1 erfaßt werden, also die in Anhang B der Richtlinie
90/425 angeführten Tiere und Erzeugnisse.
- 18.
- Artikel 9 Absätze 1 Unterabsatz 1 und 4 der Richtlinie 89/662 bestimmt folgendes:
„(1) Jeder Mitgliedstaat unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten und die
Kommission unverzüglich über das Auftreten in seinem Hoheitsgebiet vonKrankheiten gemäß der Richtlinie 82/894/EWG sowie von allen Zoonosen,
Krankheiten und anderen Ursachen, die eine Gefahr für die Tiere oder die
menschliche Gesundheit darstellen können.
...
(4) In allen diesen Fällen prüft die Kommission im Ständigen
Veterinärausschuß so bald wie möglich die Lage. Sie erläßt nach dem
Verfahren des Artikels 17 die notwendigen Maßnahmen für die in Artikel
1 genannten Erzeugnisse und, falls es die Umstände erfordern, für die
Ursprungserzeugnisse und deren Folgeerzeugnisse. Sie verfolgt die
Entwicklung der Lage und kann nach dem gleichen Verfahren die
getroffenen Entscheidungen nach Maßgabe dieser Entwicklung ändern oder
aufheben.“
- 19.
- Artikel 1 der Richtlinie 89/662 betrifft die Erzeugnisse tierischen Ursprungs, die
unter die im Anhang A der Richtlinie aufgeführten Richtlinien fallen oder von
ihrem Artikel 14 erfaßt werden, also die im Anhang B derselben Richtlinie erfaßten
Erzeugnisse.
- 20.
- In der Präambel der angefochtenen Entscheidung wird auf die Veröffentlichung
neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die Mitteilung zusätzlicher von der
Regierung des Vereinigten Königreichs getroffener Maßnahmen (Schlachtkörper
von über 30 Monate alten Rindern sind in zugelassenen und vom Meat Hygiene
Service überwachten Betrieben zu entbeinen; die beim Zuschneiden anfallenden
Abfälle sind als Sonderabfälle vom Rind zu behandeln; die Verfütterung von Mehl
von Fleisch und Knochen, das von Säugetieren stammt, an die in
landwirtschaftlichen Betrieben gehaltenen Tiere ist verboten) sowie auf die von
einigen Mitgliedstaaten verhängten Einfuhrverbote und das Votum des
Wissenschaftlichen Veterinärausschusses Bezug genommen. Die fünfte, die sechste
und die siebte Begründungserwägung lauten wie folgt:
„Angesichts der derzeitigen Lage kann zu der Gefahr einer Übertragbarkeit der
BSE auf den Menschen nicht endgültig Stellung genommen werden. Dieses Risiko
läßt sich nicht ausschließen. Die daraus erwachsende Unsicherheit hat bei den
Verbrauchern erhebliche Besorgnisse zur Folge. Unter diesen Umständen ist es
angezeigt, als Dringlichkeitsmaßnahme vorläufig jeden Versand von lebenden
Tieren, von Rindfleisch oder Rindfleischerzeugnissen aus dem Vereinigten
Königreich nach den anderen Mitgliedstaaten zu untersagen. Zur Verhütung von
Verkehrsverlagerungen muß diese Beschränkung auch für die Ausfuhr nach
Drittländern gelten.
Die Kommission nimmt in den kommenden Wochen zur Beurteilung der
Anwendung der getroffenen Maßnahmen im Vereinigten Königreich eine
Inspektion vor. Es empfiehlt sich außerdem, die wissenschaftliche Begründung der
neuen Informationen zu vertiefen und die getroffenen Maßnahmen zu verstärken.
Die vorliegende Entscheidung sollte nach Prüfung der Gesamtheit der angeführten
Punkte überarbeitet werden.“
- 21.
- Artikel 1 der angefochtenen Entscheidung lautet wie folgt:
„In Erwartung einer Gesamtlageprüfung und unbeschadet der zum Schutz gegen
BSE erlassenen gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften wird der Versand von
lebenden Rindern, Rindersamen und Rinderembryonen,
Rindfleisch, geschlachtet im Vereinigten Königreich,
Erzeugnisse von Rindern, die im Vereinigten Königreich geschlachtet
worden sind und welche geeignet sind, als Lebensmittel oder Tierfutter
verwendet zu werden und Produkte, die bestimmt sind für die Verwendung
bei der Herstellung von Medizinalprodukten, Kosmetika und
pharmazeutischen Erzeugnissen,
Fleisch- und Knochenmehl, das von Säugetieren stammt,
aus dem Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs nach den anderen
Mitgliedstaaten und nach Drittländern untersagt.“
- 22.
- Gemäß Artikel 3 übermittelt das Vereinigte Königreich der Kommission jede
zweite Woche einen Bericht über die Anwendung der zum Schutz gegen BSE
getroffenen Maßnahmen; gemäß Artikel 4 legt es „weitere Vorschläge ... über die
Bekämpfung der bovinen spongiformen Enzephalopathie ... im Vereinigten
Königreich“ vor.
- 23.
- Das Vereinigte Königreich beantragt, die angefochtene Entscheidung der
Kommission für nichtig zu erklären, hilfsweise Artikel 1 für nichtig zu erklären,
soweit er sich bezieht auf a) lebende Rinder, die nach der Entscheidung 94/474 aus
dem Vereinigten Königreich ausgeführt werden dürfen, und/oder b) Rindersamen
und/oder Rinderembryonen und/oder c) Fleisch von weniger als 30 Monate alten
Rindern, geschlachtet im Vereinigten Königreich, oder Fleisch von Rindern mit
bescheinigter Herkunft aus Beständen, in denen kein Fall von BSE aufgetreten ist
und die mit keiner tatsächlich oder potentiell mit dem BSE-Erreger verseuchten
Futterquelle in Berührung gekommen sind, und/oder d) Erzeugnisse von Rindern,
die im Vereinigten Königreich geschlachtet worden sind und die geeignet sind, als
Lebensmittel oder Tierfutter verwendet zu werden, und Produkte, die bestimmt
sind für die Verwendung bei der Herstellung von Medizinalprodukten, Kosmetika
und pharmazeutischen Erzeugnissen, und/oder e) Gelatine und/oder Talg und/oder
f) die Ausfuhr nach Drittländern (soweit keine echte Gefahr einer etwaigen
Verkehrsverlagerung besteht). Es beantragt außerdem, sämtliche anderen
angefochtenen Handlungen für nichtig zu erklären und die Kommission in die
Kosten zu verurteilen.
- 24.
- Die Kommission beantragt, die Klage abzuweisen und das Vereinigte Königreich
in die Kosten zu verurteilen.
Die Zulässigkeit der Klage gegen die „anderen angefochtenen Handlungen“
- 25.
- Das Vereinigte Königreich beantragt nicht nur die Nichtigerklärung der
angefochtenen Entscheidung, sondern auch die Nichtigerklärung bestimmter
Stellungnahmen der Kommission, nämlich der Ankündigung der Kommission vom
10. April 1996, sie beabsichtige keine Aufhebung des Embargos, der Erklärung des
Mitglieds der Kommission Fischler vom 13. April 1996, die Aufhebung des
Ausfuhrverbots hänge davon ab, wie schnell England Maßnahmen durchführe, die
sicherstellten, daß möglicherweise mit BSE verseuchtes Vieh aus der
Nahrungsmittelkette ausgeschlossen werde, sowie der Ankündigung der
Kommission vom 8. Mai 1996, sie werde das Ausfuhrverbot für bestimmte
Erzeugnisse aufheben, womit sie stillschweigend anerkannt habe, daß das Verbot
für die übrigen Erzeugnisse nicht aufgehoben werde. Diese Stellungnahmen
könnten Gegenstand einer Klage nach Artikel 173 EG-Vertrag sein, da sie die
Ausübung von behaupteten oder echten Befugnissen darstellten oder belegten, die
der Kommission nach den Richtlinien 90/425 und 89/662 zustünden. Da die
Kommission im übrigen zur ständigen Überprüfung der Lage verpflichtet sei,
stellten solche Stellungnahmen anfechtbare Handlungen im Sinne des Artikels 173
EG-Vertrag dar, da es sich nicht um schlichte wiederholende Verfügungen handele,
sondern um eigene Akte, die die Kommission kraft ihrer Befugnisse erlasse und die
Rechtswirkungen gegenüber demjenigen zeitigten, der durch die Beibehaltung der
bestehenden Lage betroffen werde.
- 26.
- Nach Auffassung der Kommission stellen diese Vorgänge keine anfechtbaren
Handlungen im Sinne des Artikels 173 EG-Vertrag dar, weil sie keine
Rechtswirkungen auf die im Vereinigten Königreich herrschende Lage hätten.
Sollte dieses zu einem bestimmten Zeitpunkt annehmen, die Kommission sei nach
Sachlage zur Handlung verpflichtet, so könne es Klage nach Artikel 175 EG-Vertrag erheben.
- 27.
- Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Handlung des Rates oder der
Kommission nur dann Gegenstand der Nichtigkeitsklage sein, wenn sie
Rechtswirkungen erzeugen soll (Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache
114/86, Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg. 1988, 5289, Randnr. 12).
- 28.
- Das ist weder bei einer Handlung der Kommission, die nur deren Absicht oder die
Absicht einer ihrer Dienststellen kundtut, sich in einer bestimmten Weise zu
verhalten (Urteil Vereinigtes Königreich/Kommission, Randnr. 13), noch bei einer
Handlung gegeben, die eine rein wiederholende Verfügung darstellt, so daß die
Nichtigerklärung der Verfügung sich als solche der früheren Handlung darstellte
(Urteil vom 25. Oktober 1977 in der Rechtssache 26/76, Metro/Kommission, Slg.
1977, 1875, Randnr. 4).
- 29.
- Die Stellungnahmen der Kommission, die das Vereinigte Königreich in seiner Klage
anspricht, stellen schlichte Absichtserklärungen ohne Rechtswirkung dar, die zudem
nur die angefochtene Entscheidung bestätigen sollten.
- 30.
- Die Klage des Vereinigten Königreichs gegen die Stellungnahmen der Kommission
vom 10. April, vom 13. April und vom 8. Mai 1996 ist somit unzulässig.
Die Begründetheit der Klage
- 31.
- Das Vereinigte Königreich stützt seinen Antrag auf Nichtigerklärung der
angefochtenen Entscheidung auf eine große Zahl von Rügen. Die erste betrifft die
Überschreitung der der Kommission in den Richtlinien 90/425 und 89/662
zuerkannten Befugnisse, die zweite einen Verstoß gegen den Grundsatz des freien
Warenverkehrs und die dritte Ermessensmißbrauch. Die vierte Rüge betrifft die
mangelhafte Begründung der angefochtenen Entscheidung. An fünfter Stelle rügt
das Vereinigte Königreich einen Verstoß gegen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, an sechster Stelle einen Verstoß gegen die Artikel 6 und 40
Absatz 3 EG-Vertrag und an siebter Stelle einen Verstoß gegen Artikel 39
Absatz 1 EG-Vertrag. Die achte Rüge betrifft die Rechtswidrigkeit des Artikels 1
dritter Gedankenstrich der angefochtenen Entscheidung, insbesondere einen
Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit. Die neunte Rüge macht die
Rechtswidrigkeit der Richtlinien 90/425 und 89/662 insofern geltend, als sie auf eine
falsche Rechtsgrundlage, nämlich Artikel 43 EG-Vertrag, gestützt seien.
Die drei ersten Rügen: Befugnisüberschreitung der Kommission, Verstoß gegen den
Grundsatz des freien Warenverkehrs und Ermessensmißbrauch
- 32.
- Das Vereinigte Königreich bestreitet das „Auftreten“ von „Zoonosen, Krankheiten
und anderen Ursachen, die eine Gefahr für die Tiere oder die menschliche
Gesundheit darstellen können“, im Sinne der Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie
90/425 und 9 Absatz 1 der Richtlinie 89/662; diese Bestimmungen ermächtigten die
Kommission zum Erlaß der angefochtenen Entscheidung als Schutzmaßnahme nach
dem gemeinsamen Absatz 4 dieser Bestimmungen. BSE habe es bereits mehrere
Jahre vor dem Erlaß der angefochtenen Entscheidung gegeben, das Vereinigte
Königreich und die Kommission hätten bereits einschlägige Maßnahmen getroffen.
Die angefochtene Entscheidung lasse sich auch nicht durch Hinweise rechtfertigen,
die vermuten ließen, daß die gegen BSE bereits getroffenen Maßnahmen
unwirksam seien, oder die auf eine bisher nicht beachtete Gefahr hinwiesen (da die
früheren Maßnahmen bereits auf dem Gedanken beruhten, daß BSE eine Zoonose
sei). Über die Übertragbarkeit von BSE zwischen Tieren gebe es nur
Mutmaßungen. Eine etwaige Gefahr für die menschliche Gesundheit könne die
angefochtene Entscheidung nicht rechtfertigen, da sie angesichts der bereits
getroffenen Maßnahmen vernachlässigt werden könne oder den Zeitraum vor dem
Erlaß der Maßnahmen zur Eindämmung von BSE betreffe.
- 33.
- Da die Kommission die ihr in den Richtlinien 90/425 und 89/662 eingeräumten
Befugnisse insbesondere im Hinblick auf die Errichtung und Aufrechterhaltung des
Binnenmarktes ausüben müsse, sei sie nicht befugt, Ausfuhren in dritte Länder zu
verbieten. Was die Gefahr einer Wiedereinfuhr der Erzeugnisse betreffe, so mache
das Vorliegen von Gemeinschaftsvorschriften über Einfuhren in die Gemeinschaft
die Auslegung von Gemeinschaftsrecht über den Binnenhandel dahin, daß dieses
auch auf Einfuhren in die Gemeinschaft anwendbar sei, überflüssig und sogar
prinzipwidrig. Im übrigen hätten Drittländer ihre eigenen Prioritäten und ihre
eigenen Gesundheitsschutz- und Sicherheitsvorschriften, die häufig auf anerkannten
völkerrechtlichen Regeln beruhten.
- 34.
- Die in den Richtlinien 90/425 und 89/662 übertragenen Befugnisse müßten auch im
Hinblick auf den Schutz der menschlichen und tierischen Gesundheit ausgeübt
werden. Dieser Bezugnahme auf Artikel 36 EG-Vertrag und den in den Richtlinien
90/425 und 89/662 verwendeten Ausdrücken sei zu entnehmen, daß der freie
Warenverkehr nur aus einer beschränkten Anzahl von Gründen beschränkt werden
dürfe. Wirtschaftliche Überlegungen gäben der Kommission keine Befugnis zum
Handeln.
- 35.
- Schließlich habe ein Ermessensmißbrauch vorgelegen, da die Kommission die ihr
in den Richtlinien 90/425 und 89/662 übertragenen Befugnisse zu anderen als den
dort vorgesehenen Zwecken verwendet habe. Insbesondere aus der fünften
Begründungserwägung der angefochtenen Entscheidung sowie aus den Erklärungen
der Kommission zur Zeit des Erlasses dieser Entscheidung ergebe sich, daß diese
als wirtschaftliche Maßnahme dargestellt worden sei, die die Lage habe
stabilisieren, den Verbrauchern Sicherheit habe geben und die Rindfleischwirtschaft
habe retten sollen.
- 36.
- Die Kommission entgegnet, zwar habe es BSE bereits gegeben, jedoch hätten die
Mitteilungen des SEAC eine Neubewertung dieser Krankheit zur Folge gehabt, die
nicht mehr nur als Tierkrankheit, sondern auch als Gefahr für die menschliche
Gesundheit habe angesehen werden müssen. Diese neuen Hinweise hätten die
Risikoeinschätzung geändert und das Eingreifen der Kommission aufgrund der
Richtlinien 90/425 und 89/662 gerechtfertigt. Nichts weise im übrigen darauf hin,daß die neuen Fälle der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auf einer Ansteckung vor
dem Verbot der Sonderschlachtabfälle vom Rind beruhten; vielmehr habe das
SEAC den Erlaß zusätzlicher Maßnahmen empfohlen. Im übrigen seien verseuchte
Futtermittel nicht unbedingt die wesentliche Form der Ansteckung. Schließlich habe
das Futterverbot von 1988 nur zögerlich Wirkungen gezeigt, das Verbot von
Sonderschlachtabfällen vom Rind aus dem Jahre 1989 sei wirkungslos und die
Überwachung der Rinder unzureichend gewesen, da die Herkunftsherde von BSE-befallenen Tieren in mehr als 11 000 Fällen nicht habe festgestellt werden können.
- 37.
- Zu den Maßnahmen, die sie aufgrund der Richtlinien 90/425 und 89/662 habe
ergreifen dürfen, führt die Kommission zunächst aus, der Gemeinschaftsgesetzgeber
habe in Fragen der Gemeinsamen Agrarpolitik ein weites Ermessen. Der Rat
könne der Kommission weite Durchführungsbefugnisse übertragen, da nur sie in
der Lage sei, ständig und aufmerksam der Entwicklung der Agrarmärkte zu folgen
und mit der gebotenen Schnelligkeit zu handeln. Diese Befugnisse seien namentlich
deshalb gerechtfertigt, weil sie in einem Verfahren auszuüben seien, das dem Rat
ein Eingreifen ermögliche. Schließlich seien Artikel 10 Absatz 4 der Richtlinie
90/425 und Artikel 9 Absatz 4 der Richtlinie 89/662 allgemein gehalten; sie
ermächtigten die Kommission, „in allen diesen Fällen ... die notwendigen
Maßnahmen“ zu erlassen. Als Verkehrsverbot für Tiere und Erzeugnisse außerhalb
eines bestimmten Gebietes der Gemeinschaft, also als Eingrenzungsmaßnahme, sei
die angefochtene Entscheidung angemessen.
- 38.
- Im übrigen bemühe sich der Kläger, eine gekünstelte Trennung zwischen der
Gesundheit und dem guten Funktionieren des Binnenmarktes herzustellen. Auf
lange Sicht seien die getroffenen Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der
Richtlinien 90/425 und 89/662 Schutz der menschlichen und tierischen Gesundheit
im Rahmen des guten Funktionierens des Binnenmarktes erforderlich gewesen.
- 39.
- Betrachte man Artikel 10 Absatz 4 der Richtlinie 90/425 und Artikel 9 Absatz 4 der
Richtlinie 89/662 genau, so verböten sie keine Maßnahmen gegenüber Drittländern,
soweit diese erforderlich seien. Angesichts der Dringlichkeit sowie des Umstands,
daß BSE im wesentlichen im Vereinigten Königreich grassiert habe, sei es
offensichtlich unangebracht und wirkungslos gewesen, sich auf die Regelung für
Tiere und Erzeugnisse aus Drittländern zu stützen, da dies die Änderung der
Richtlinien über Einfuhren in die Gemeinschaft oder Verhandlungen mit
Drittländern erforderlich gemacht hätte.
- 40.
- Die Kommission habe ihr Ermessen nicht mißbraucht. Die Gründe der
angefochtenen Entscheidung ergäben sich klar aus den Begründungserwägungen,
die mit den getroffenen Maßnahmen in einem sinngerechten Zusammenhang
stünden. Die fünfte Begründungserwägung der Entscheidung müsse im
Zusammenhang gesehen werden, nicht unter ausschließlicher Bezugnahme auf den
Satzteil über die Besorgnisse der Verbraucher.
- 41.
- Der Rat legt dar, die Richtlinien 90/425 und 89/662 seien Teil einer stimmigen,
vollständigen Gesamtregelung, die an die Stelle einseitiger Maßnahmen der
Mitgliedstaaten nach Artikel 36 EG-Vertrag habe treten sollen. Nach dem Aufbau
des EG-Vertrags, insbesondere nach den Artikeln 145 und 155 EG-Vertrag sowie
aus praktischen Erwägungen müßten die Durchführungsbefugnisse der Kommission
weit ausgelegt werden, namentlich im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik und
insbesondere in Notfällen. Im vorliegenden Fall behalte der Rat zudem aufgrund
der tatsächlichen Zusammensetzung des Ständigen Veterinärausschusses eine
bestimmte Kontrolle; dank der Anwendung des Verfahrens III, Variante b) des
Beschlusses 87/373/EWG des Rates vom 13. Juli 1987 zur Festlegung der
Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen
Durchführungsbefugnisse (ABl. L 197, S. 33; Komitologiebeschluß) behalte er eine
Eingriffsmöglichkeit.
- 42.
- Im vorliegenden Fall habe die Kommission ihre Entscheidung am Stand der
Wissenschaft und Technik ausgerichtet; sie habe den Ständigen Veterinärausschuß,
wie vorgeschrieben, gehört, daneben aber auch freiwillig den Wissenschaftlichen
Veterinärausschuß. Zudem habe sie die Daten nicht ignorieren können, die das
SEAC veröffentlicht habe. Damit sei ihre ursprüngliche Bewertung der Gefahren
für die tierische oder menschliche Gesundheit nicht offensichtlich irrig gewesen.
- 43.
- Der Wortlaut der Richtlinien 90/425 und 89/662 über die Schutzmaßnahmen
beschränke die Kommission weder hinsichtlich der zu treffenden Maßnahmen noch
hinsichtlich der zu wählenden Methode, noch hinsichtlich der Dauer der
getroffenen Maßnahme. Die Eingrenzung sei in diesen beiden Richtlinien
vorgesehen; sie sei auch bei der Maul- und Klauenseuche und der Pferdepest
bereits angewandt worden. BSE unterscheide sich von diesen ansteckenden
Krankheiten; gleichwohl seien Isolationsmaßnahmen gerechtfertigt, weil die
Krankheit sich über einen großen Teil des Vereinigten Königreichs ausgebreitet
habe und es Schwierigkeiten aufgrund von Mängeln der Identifizierung der Tiere
und der Kontrolle ihrer Bewegungen sowie einer ungenügenden Anzahl von
Fallmeldungen vor dem Jahre 1988 gegeben habe.
- 44.
- Daher seien zu Recht Dringlichkeitsmaßnahmen auf Gemeinschaftsausfuhren in
Drittländer angewandt worden. Artikel 43 EG-Vertrag stelle eine angemessene und
hinreichende Rechtsgrundlage für den Drittlandshandel mit landwirtschaftlichen
Erzeugnissen dar; die Richtlinien 90/425 und 89/662 erlaubten nicht den Schluß, der
Rat hätte die Befugnisse der Kommission aufgrund der Schutzklausel ausdrücklich
dahin beschränkt, daß Ausfuhren in Drittländer ausgeschlossen seien. Im übrigen
seien die Anforderungen der Gesundheit unteilbar und universell, so daß eine
Zweiteilung der Regeln in solche für Erzeugnisse, die für die Gemeinschaft, und
solche, die für Drittländer bestimmt seien, unvorstellbar sei. Schließlich wäre eine
Erstreckung des Verbots auf die Ausfuhr nach Drittländern bereits durch das
Bemühen gerechtfertigt gewesen, Verkehrsverlagerungen zu verhindern.
- 45.
- Die Befugnis der Kommission erfasse nicht nur alle in den Richtlinien 90/425 und
89/662 benannten Erzeugnisse, sondern auch Herkunftserzeugnisse oder
Verarbeitungserzeugnisse, die dort nicht genannt hätten werden können.
- 46.
- Das Vorbringen, es liege ein Ermessensmißbrauch vor, weil die Entscheidung
erlassen worden sei, um den Verbrauchern Sicherheit zu geben, beruhe auf einer
irrigen Unterscheidung; so habe der Generalanwalt in Nummer 4 seiner
Schlußanträge in der Rechtssache C-27/95 (Bakers of Nailsea, Urteil vom 15. April
1997, Slg. 1997, I-1847) ausgeführt, daß „die Einrichtung eines geeigneten Systems
für Untersuchungen und Hygienekontrollen von Fleisch ... darüber hinaus
maßgeblich dazu [beitrage], ... das Vertrauen des Marktes in die Qualität und die
Gesundheit des Erzeugnisses zu stärken“.
- 47.
- Um zu entscheiden, ob die Kommission sich mit dem Erlaß der angefochtenen
Entscheidung im Rahmen ihrer Befugnisse aus den Richtlinien 90/425 und 89/662
hielt, ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt waren, von denen diese beiden
Richtlinien den Erlaß von Schutzmaßnahmen abhängig machten, ob die
Kommission Ausfuhren verbieten konnte, ob ein solches Verbot sich auf
Drittländer erstrecken konnte und schließlich, ob die Kommission zu einem
anderen als dem angegebenen Zweck gehandelt und damit einen
Ermessensmißbrauch begangen hat.
- 48.
- Nach Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie 90/425 und Artikel 9 Absatz 1 der
Richtlinie 89/662 erlaubt das „Auftreten ... von allen Zoonosen, Krankheiten und
anderen Ursachen, die eine Gefahr für die Tiere oder die menschliche Gesundheit
darstellen können“, den Erlaß von Schutzmaßnahmen.
- 49.
- Zu prüfen ist namentlich, ob die Mitteilung des SEAC, BSE sei die
wahrscheinlichste Erklärung (the most likely explanation) für das Auftreten einer
neuen Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, den Erlaß von Schutzmaßnahmen
erlaubte, obwohl es BSE bereits mehrere Jahre gab, sowohl das Vereinigte
Königreich wie die Gemeinschaft Maßnahmen getroffen hatten und die Gefährdung
des Menschen durch diese Krankheit bereits berücksichtigt worden war.
- 50.
- Nach den Richtlinien 90/425 und 89/662 rechtfertigt der Umstand, daß eine
Zoonose, Krankheit oder andere Ursache als erhebliche Gefahr angesehen wird,
die Befugnis der Kommission zum Erlaß von Schutzmaßnahmen.
- 51.
- Die Richtlinien 90/425 und 89/662 sollen nämlich der Kommission ein schnelles
Eingreifen erlauben, um die Ausbreitung einer Krankheit unter den Tieren oder
eine Gefahr für die menschliche Gesundheit zu verhindern. Dem widerspräche es,
der Kommission die Befugnis zum Erlaß der erforderlichen Maßnahmen in der
Folge der Veröffentlichung neuer Hinweise, die die Kenntnisse über eine
Krankheit, insbesondere über ihre Übertragungswege oder ihre Folgen erheblich
ändern, mit der Begründung vorzuenthalten, die Krankheit gebe es schon lange.
- 52.
- Aus den Mitteilungen des SEAC ergab sich, daß ein Zusammenhang zwischen BSE
und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit nicht mehr nur eine theoretische Hypothese,
sondern eine reale Möglichkeit war. Die wahrscheinlichste Erklärung (the most
likely explanation) für die Fälle der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit war nämlich eine
Ansteckung mit BSE vor dem 1989 verfügten Verbot bestimmter
Sonderschlachtabfälle vom Rind.
- 53.
- Auch wenn es BSE bereits gab, enthielten die Mitteilungen des SEAC neue
Erkenntnisse über die Gefährdung der menschlichen Gesundheit durch diese
Krankheit; damit war die Kommission befugt, Schutzmaßnahmen im Sinne der
Richtlinien 90/425 und 89/662 zu ergreifen.
- 54.
- Die Richtlinien 90/425 und 89/662 bestimmen die Befugnisse der Kommission sehr
umfassend; sie ermächtigen diese zum Erlaß der „notwendigen Maßnahmen“ für
lebende Tiere und Erzeugnisse von diesen Tieren, Erzeugnisse tierischen Ursprungs
und Folgeerzeugnisse, ohne daß zeitliche oder räumliche Grenzen für den
Anwendungsbereich dieser Maßnahmen vorgesehen wären.
- 55.
- Nach den Richtlinien 90/425 und 89/662 kommen für den Handel nur Tiere und
Erzeugnisse tierischen Ursprungs in Betracht, die den dort festgesetzten
Bedingungen entsprechen. Die Behörden des Versendemitgliedstaats müssen
überprüfen, ob diese Bedingungen erfüllt sind, bevor sie die Ausfuhrgenehmigungen
erteilen (Artikel 3 und 4 der Richtlinie 90/425 und Artikel 3 und 4 der Richtlinie
89/662).
- 56.
- Stellen die zuständigen Behörden bei einer Kontrolle am Bestimmungsort oder
während der Beförderung fest, daß eine Zoonose, eine Krankheit oder eine andere
Ursache, die eine schwere Gefahr für die Tiere oder die menschliche Gesundheit
darstellen kann, vorhanden ist, so können die zuständigen Behörden des
Bestimmungsmitgliedstaats die Verbringung des Tieres bzw. der Tierpartie in die
nächstgelegene Quarantänestation bzw. deren Tötung und/oder unschädliche
Beseitigung (Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a Unterabsatz 1 der Richtlinie 90/425)
oder die unschädliche Beseitigung der Partie der Erzeugnisse tierischen Ursprungs
oder jede andere in der Gemeinschaftsregelung vorgesehene Verwendung (Artikel
7 Absatz 1 Buchstabe a Unterabsatz 1 der Richtlinie 89/662) anordnen.
- 57.
- Diese Bestimmungen belegen hinreichend, daß im Falle einer Zoonose, einer
Krankheit oder einer anderen Ursache, die eine schwere Gefahr für die Tiere oder
die menschliche Gesundheit darstellen kann, ein Versendungsverbot der Tiere und
der Erzeugnisse und ihre Eingrenzung auf ein bestimmtes Gebiet eine angemessene
Maßnahme ist, die sowohl auf Entscheidungen des Versendemitgliedstaats wie auf
solche des Einfuhrmitgliedstaats beruhen kann.
- 58.
- Gegebenenfalls erfordert die Wirksamkeit einer solchen Eingrenzung ein völliges
Verkehrsverbot der Tiere und der Erzeugnisse über die Grenzen des betroffenen
Mitgliedstaats, die auch die Ausfuhr in Drittländer betrifft.
- 59.
- Die Richtlinien 90/425 und 89/662 schließen eine Befugnis der Kommission, die
Ausfuhr in Drittländer zu verbieten, nicht ausdrücklich aus. Wie der Generalanwalt
in Nummer 23 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, läßt sich eine solche
Beschränkung auch nicht aus dem Umstand ableiten, daß diese Richtlinien auf
Kontrollen im Binnenhandel der Gemeinschaft Bezug nehmen, da die Befugnisse
der Kommission nur davon abhängen, daß die getroffenen Maßnahmen zum Schutz
der Gesundheit in einem einheitlichen Markt erforderlich sind.
- 60.
- Schließlich ist von Belang, daß die Kontrolle des Gemeinschaftsrichters in Fällen,
in denen die Kommission über einen weiten Entscheidungsspielraum insbesondere
hinsichtlich der Art und des Umfangs der zu treffenden Maßnahme verfügt, sich
auf die Prüfung beschränkt, ob ihr beim Treffen einer solchen Entscheidung ein
offensichtlicher Irrtum oder Ermessensmißbrauch unterlaufen ist oder ob sie die
Grenzen ihres Spielraums offensichtlich überschritten hat (siehe Urteil vom 25.
Januar 1979 in der Rechtssache 98/78, Racke, Slg. 1979, 69, Randnr. 5).
- 61.
- Hier hatten neue wissenschaftliche Veröffentlichungen einen Zusammenhangzwischen einer Krankheit, die den Rinderbestand des Vereinigten Königreichs
befiel, und einer Krankheit wahrscheinlich gemacht, die für den Menschen tödlich
und für die derzeit kein Heilmittel bekannt ist.
- 62.
- Angesichts der Ungewißheit darüber, ob die früher vom Vereinigten Königreich
und der Gemeinschaft ergriffenen Maßnahmen ausreichend und wirksam seien, und
angesichts der als schwerwiegend angesehenen Gefahren für die Gesundheit (siehe
Beschluß vom 12. Juli 1996, Vereinigtes Königreich/Kommission, Randnr. 63) hat
die Kommission ihren Entscheidungsspielraum nicht offenkundig überschritten, als
sie sich bemühte, die Krankheit durch das Verbot der Ausfuhr von Rindern, von
Rindfleisch und von Folgeerzeugnissen aus dem Vereinigten Königreich sowohl in
andere Mitgliedstaaten wie in Drittländer auf das Gebiet des Vereinigten
Königreichs einzugrenzen.
- 63.
- Wenn eine solche Maßnahme sich auch auf den freien Warenverkehr auswirkt, so
widerspricht sie doch nicht dem Gemeinschaftsrecht, da sie in Gemäßheit von
Richtlinien ergangen ist, die den freien Verkehr landwirtschaftlicher Erzeugnisse
gerade sichern wollen (siehe dazu Urteil vom 29. Februar 1984 in der Rechtssache
37/83, Rewe-Zentrale, Slg. 1984, 1229, Randnr. 19), soweit die allgemeinen
Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, beachtet sind, was im Rahmen der fünften Rüge zu prüfen ist.
- 64.
- Einen Ermessensmißbrauch stellt es nach ständiger Rechtsprechung dar, wenn ein
Organ einen Rechtsakt ausschließlich oder zumindest überwiegend zu anderen als
den angegebenen Zwecken oder mit dem Ziel erläßt, ein Verfahren zu umgehen,
das der EG-Vertrag speziell vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen
(siehe Urteil vom 12. November 1996 in der Rechtssache C-84/94, Vereinigtes
Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755, Randnr. 69).
- 65.
- Wie der Generalanwalt in Nummer 21 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, ist es
nicht möglich, aus dem Gesamtzusammenhang der Begründungserwägungen der
angefochtenen Entscheidung den Satzteil über die Besorgnisse der Verbraucher
herauszugreifen, um das Ziel der Entscheidung zu beschreiben.
- 66.
- Sicherlich ergibt sich das Ziel einer Entscheidung aus der Untersuchung ihrer
Begründungserwägungen. Diese Untersuchung muß aber die gesamte Begründung
erfassen, nicht nur einen isolierten Bestandteil. Aus der gesamten Begründung der
angefochtenen Entscheidung ergibt sich, daß die Kommission die
Schutzmaßnahmen angesichts der Gefahren der Übertragung von BSE auf den
Menschen nach Prüfung der vom Vereinigten Königreich getroffenen Maßnahmen
und nach Anhörung des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses und des Ständigen
Veterinärausschusses erlassen hat.
- 67.
- Im übrigen enthalten die Akten keinen Hinweis darauf, daß das ausschließliche
oder überwiegende Ziel der Kommission nicht der Schutz der Gesundheit, sondern
wirtschaftlicher Art gewesen wäre.
- 68.
- Somit sind die ersten drei Rügen Befugnisüberschreitung der Kommission,
Verstoß gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs und Ermessensmißbrauch
zurückzuweisen.
Die vierte Rüge: Begründungsmangel
- 69.
- Das Vereinigte Königreich trägt vor, die angefochtene Entscheidung verstoße
dadurch gegen Artikel 190 EG-Vertrag, daß sie die Gründe, die das Ausfuhrverbot
rechtfertigten, und insbesondere die Gründe nicht anführe, aus denen die
Kommission die bisher zum Schutz der menschlichen und tierischen Gesundheit
gegen BSE ergriffenen Maßnahmen für ungenügend oder ungeeignet erachtete
habe.
- 70.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes muß die nach Artikel 190 EG-Vertrag
notwendige Begründung die Überlegungen der Gemeinschaftsbehörde, die den
angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, so klar und unzweideutig wiedergeben, daß
die Betroffenen die tragenden Gründe für die Maßnahme erkennen und so ihre
Rechte wahrnehmen können, und der Gerichtshof seine Kontrolle ausüben kann.
Jedoch brauchen danach nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen
Gesichtspunkte genannt zu werden. Ob nämlich die Begründung einer
Entscheidung den Erfordernissen des Artikels 190 genügt, ist nicht nur im Hinblick
auf ihren Wortlaut zu beurteilen, sondern auch aufgrund ihres Zusammenhangs
sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Außerdem muß
die Ausführlichkeit der Begründung einer Entscheidung den tatsächlichen
Möglichkeiten sowie den technischen und zeitlichen Bedingungen entsprechen,
unter denen die Entscheidung ergeht (siehe Urteil vom 14. Februar 1990 in der
Rechtssache C-350/88, Delacre u. a./Kommission, Slg. 1990, I-395, Randnrn. 15 und
16).
- 71.
- Nach der zweiten Begründungserwägung der angefochtenen Entscheidung, die
dringlich zu erlassen war, stützt die Kommission diese u. a. auf die Feststellung, daß
das Vereinigte Königreich im Anschluß an die Mitteilungen des SEAC zusätzliche
Maßnahmen zum besseren Schutz der Verbraucher vor BSE erlassen hat. Diese
Bezugnahme auf Maßnahmen desjenigen Mitgliedstaats, der am meisten Erfahrung
mit BSE hatte, genügte bereits in sich zur Begründung der Entscheidung der
Kommission, ebenfalls zusätzliche Maßnahmen zu erlassen.
- 72.
- Die fünfte Begründungserwägung der angefochtenen Entscheidung läßt jedoch noch
klarer erkennen, daß Dringlichkeitsmaßnahmen erforderlich waren, da sie die
Gefahr der Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen ausdrücklich anführt.
- 73.
- Was die Begründung des Verbots von Ausfuhren aus dem Vereinigten Königreich
betrifft, ist die Entscheidung im Zusammenhang der BSE-Problematik ergangen;
es war daher nicht mehr erforderlich, die Gründe zu benennen, aus denen das
Vereinigte Königreich besonders betroffen war. Das Ausfuhrverbot war im übrigen
hinreichend mit der Unsicherheit über die Gefahr, der Dringlichkeit und dem
provisorischen Charakter der Maßnahme gerechtfertigt, wobei die Erstreckung
dieses Verbots auf Ausfuhren in Drittländer zusätzlich noch mit der Gefahr der
Verkehrsverlagerung begründet war (fünfte Begründungserwägung).
- 74.
- Diese Begründung erlaubte es dem Vereinigten Königreich mit Sicherheit, zu
erkennen, auf welchen Gründen die angefochtenen Maßnahmen beruhten, und dem
Gerichtshof, die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen zu beurteilen.
- 75.
- Daher ist die Rüge des Begründungsmangels zurückzuweisen.
Die fünfte Rüge: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
- 76.
- Im Rahmen der Rüge des Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
macht das Vereinigte Königreich geltend, die angefochtene Entscheidung
entspreche nicht dem Ziel des Schutzes der menschlichen oder tierischen
Gesundheit, da es bereits die geeigneten Maßnahmen erlassen habe, die auch auf
Gemeinschaftsebene getroffen worden seien und deren Wirksamkeit der schnelle
Rückgang der BSE-Fälle im Vereinigten Königreich belege.
- 77.
- Auch das Verbot der Ausfuhr lebender Tiere sei nicht erforderlich gewesen. Seit
dem Erlaß der Entscheidung 94/474 hätten nämlich nur noch Kälber mit einem
Alter von weniger als sechs Monaten ausgeführt werden dürfen, die von Kühen
stammten, bei denen BSE weder vermutet noch festgestellt sei, also von Tieren, die
niemals mit Fleischmehl gefüttert worden und niemals mit BSE-Herden in
Berührung gekommen seien.
- 78.
- Der Wissenschaftliche Veterinärausschuß sei bereits zu dem Ergebnis gekommen,
daß bei Samen keine Gefahr der Übertragung von BSE bestehe. Eine Entscheidung
über das Exportverbot von Embryonen, die von vor dem 18. Juli 1988 geborenen
oder von solchen Kühen abstammten, bei denen BSE vermutet oder festgestellt
worden sei, habe bereits bestanden.
- 79.
- Die Ausfuhr von frischem Fleisch in andere Mitgliedstaaten sei dem Vereinigten
Königreich bereits in Artikel 4 der Entscheidung 94/474, geändert durch die
Entscheidung 95/287, verboten worden, soweit es sich nicht gehandelt habe um:
i) frisches Fleisch von Rindern, die zum Zeitpunkt der Schlachtung weniger als
zweieinhalb Jahre seien, oder ii) frisches Fleisch von Rindern, die im Vereinigten
Königreich nur in Betrieben gehalten worden seien, in denen in den letzten sechs
Jahren kein BSE-Fall bestätigt worden sei, oder iii) entbeintes Fleisch von Rindern,
die zum Zeitpunkt der Schlachtung mehr als zweieinhalb Jahre alt seien und
irgendwann in einem Betrieb gehalten worden seien, in dem in den letzten Jahren
ein oder mehrere BSE-Fälle bestätigt worden seien, von dem aber die
angrenzenden Gewebe, einschließlich der erkennbaren Nerven- und Lymphgewebe,
entfernt worden seien. Nichts weise darauf hin, daß diese Maßnahmen nicht
geeignet gewesen seien und daß es erforderlich gewesen sei, zusätzliche
Maßnahmen zu treffen. Im übrigen hätten unabhängige Forschungsarbeiten
bestätigt, daß Muskelfleisch, selbst wenn es von klinisch kranken Tieren stamme,
keine feststellbare Infektionsgefahr darstelle.
- 80.
- Bei Folgeerzeugnissen von im Vereinigten Königreich geschlachteten Rindern, die
in die Lebens- und Futtermittel gelangen könnten, und bei Stoffen, die zu einer
ärztlichen, kosmetischen oder pharmazeutischen Verwendung bestimmt seien, sei
ein Exportverbot nicht gerechtfertigt, wenn gewährleistet sei, daß sie von Herden
stammten, bei denen keine BSE-Fälle aufgetreten seien und die nicht mit dem
BSE-Erreger in Berührung gekommen seien.
- 81.
- Was das Ausfuhrverbot in Drittländer betreffe, so gebe es aus einer Reihe von
praktischen Gründe keine Gefahr der Wiedereinfuhr in die Mitgliedstaaten, und
zwar aufgrund der beschränkten Anzahl von Drittländern, denen die Ausfuhr von
Rindern, von frischem Rindfleisch oder von Folgeerzeugnissen in die
Mitgliedstaaten der Gemeinschaft gestattet sei, wegen der strikten
Ausfuhrbedingungen, wegen der Anwendung der Bestimmungen über die
Ausfuhrerstattungen und wegen der Einfuhrzölle. Die Bestimmungen für Samen
und für Rinderembryonen machten jede Einfuhr von Erzeugnissen aus dem
Vereinigten Königreich über ein Drittland in einen Mitgliedstaat unmöglich.
- 82.
- Im übrigen stelle die angefochtene Entscheidung eine Diskriminierung dar, weil sie
ein solches Ausfuhrverbot nur für Rindfleisch aus dem Vereinigten Königreich
verhänge, aber bei den anderen Mitgliedstaaten, in denen es BSE-Fälle gegeben
habe und in denen im übrigen die Maßnahmen betreffend die Trennung der
Schlachtabfälle nicht so weit entwickelt seien wie im Vereinigten Königreich, nicht
die geringste Schutzmaßnahme vorsehe. Eine Diskriminierung liege auch darin, daß
sie das Verbrauchervertrauen nur in den anderen Mitgliedstaaten, nicht aber im
Vereinigten Königreich wieder herstellen könne, und das auch nur auf Kosten des
Vertrauens des britischen Verbrauchers.
- 83.
- Schließlich sei das beschlossene Verbot übermäßig; der Kommission hätten
zahlreiche andere Lösungen zur Verfügung gestanden, namentlich ein
gemeinschaftsweites allgemeines Verbot der Verwendung derjenigen Gewebe vom
Rind, die am meisten im Verdacht stünden, den BSE-Erreger zu enthalten, ein
gemeinschaftsweites Verbot (wie es im Vereinigten Königreich bereits bestehe) des
Verkaufs von Rindfleisch von britischem Vieh mit einem Alter von mehr als
30 Monaten zum menschlichen Verzehr oder auch die Ergänzung dieser
Maßnahme durch strengere Bedingungen für die Ausfuhr von Rindfleisch von
jüngeren Tieren in andere Mitgliedstaaten.
- 84.
- Die Kommission stellt ihre Entscheidung als Eingrenzungsmaßnahme dar, die der
Ausrottung der Krankheit dienen solle, verbunden mit Markt- und anderen
Stützungsmaßnahmen. Die Eingrenzung sei allgemein als legitime Antwort auf ein
Problem der vorliegenden Art anerkannt, um die Ausbreitung der Krankheit zu
vermeiden. Das Vereinigte Königreich sei als Eingrenzungszone bestimmt worden,
weil es aus verschiedenen Gründen nicht angebracht gewesen wäre, örtliche
Isolationszonen zu schaffen, und weil 99,7 % der bestätigten BSE-Fälle im
Vereinigten Königreich aufgetreten seien. Im übrigen sähen die Richtlinien über
bestimmte Krankheiten vor, daß Eingrenzungszonen nach Maßgabe natürlicher
Hindernisse und von Verwaltungsgrenzen zu bestimmen seien.
- 85.
- Die angefochtene Entscheidung sei rechtmäßig, soweit sie lebende Tiere betreffe,
weil fortbestehende Zweifel insbesondere im Hinblick auf das Vorhandensein des
BSE-Erregers in jungen Tieren, auf das System, das es erlaube, den Weg der
Rinder zu verfolgen und diejenigen festzustellen, die der Gefahr ausgesetzt gewesen
seien, auf das Schlachtalter der Rinder oder auch auf die Gefahr einer vertikalen
oder horizontalen Übertragung neu bewertet worden seien.
- 86.
- Bei Samen sei das Verbot infolge eines Gutachtens des Wissenschaftlichen
Veterinärausschusses aufgehoben worden. Das berühre die Gültigkeit der
angefochtenen Entscheidung jedoch nicht, die als Dringlichkeitsmaßnahme durch
die Gefahr einer vertikalen Übertragung, durch laufende Forschungen über die
Übertragung durch den Transfer von Embryonen bei Kühen, die mit Samen von
BSE-kranken Stieren besamt worden seien oder auch durch das Fehlen einesjüngeren einschlägigen Gutachtens des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses
gerechtfertigt gewesen sei.
- 87.
- Dasselbe gelte für Embryonen; hier komme noch das Gutachten des
Wissenschaftlichen Veterinärausschusses hinzu, das von Belegen für eine
Übertragung der Traberkrankheit durch den Embryonentransfer ausgehe.
- 88.
- Im übrigen bestünden Zweifel bei Fleisch, namentlich im Hinblick auf das
Funktionieren der Regelung über die Identifizierung und die Verfolgung des Weges
der Tiere im Vereinigten Königreich und die Wirksamkeit der Durchführung der
Maßnahmen zu Überprüfung der Beseitigung von Sonderschlachtabfällen vom
Rind. Auch enthielten alle Fleischstücke kleine Mengen von Lymphgewebe; ein
Mitglied des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses habe nicht ausgeschlossen,
daß auch Muskelfleisch eine Gefahr darstelle.
- 89.
- Ähnliches gelte für Folgeprodukte wie Talg und Gelatine. Fleisch- und
Knochenmehl von Säugetieren seien die Hauptursache für die BSE-Epidemie.
- 90.
- Die Entscheidung sei auch insoweit erforderlich gewesen, als sie die Ausfuhr in
Drittländer betreffe. Diese Ausfuhren machten nur ungefähr 5 % der britischen
Rindfleischerzeugung aus, was belege, daß der Preis für eine absolute Wirksamkeit
der Eingrenzungsmaßnahme recht gering sei. Im übrigen bestehe die Gefahr der
Wiedereinfuhr von Tieren, Fleisch oder Folgeprodukten, möglicherweise auch in
anderer Form und gegebenenfalls mit einer anderen Ursprungsangabe. Schließlich
bestehe eine echte Betrugsgefahr, wenn man die Daten über die Betrügereien bei
den Ausfuhrerstattungen in Rechnung stelle. Die Wirksamkeit der getroffenen
Maßnahmen wäre gefährdet, wenn sie die Ausfuhren in Drittländer nicht
einschlössen; daher sei das Verbot der Ausfuhren in Drittländer ein unverzichtbarer
Bestandteil der angefochtenen Entscheidung und entspreche damit dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit. Im übrigen wäre eine Untätigkeit im Hinblick auf die
Ausfuhren in Drittländer zweifelsfrei weder mit den Verpflichtungen vereinbar, die
Rat und Kommission nach dem EG-Vertrag oblägen, namentlich der
Berücksichtigung der Stellung der gemeinschaftlichen Agrarerzeugung auf den
Weltmärkten, noch mit den bilateralen und multilateralen völkerrechtlichen
Verpflichtungen der Gemeinschaft.
- 91.
- Die Entscheidung diskriminiere auch nicht. 99,7 % der BSE-Fälle seien im
Vereinigten Königreich aufgetreten; die anderen Mitgliedstaaten, bei denen es
einige Fälle gegeben habe, hätten dann die ganze Herde geschlachtet.
- 92.
- Eine andere Lösung komme nicht in Betracht. Ein Verbot bestimmter
Sonderschlachtabfälle vom Rind auf Gemeinschaftsebene hätte zum Ausrotten von
BSE nichts beigetragen und wäre nur von sehr beschränktem Nutzen, da in den
anderen Mitgliedstaaten kaum BSE-Fälle aufgetreten seien. Im übrigen hätte es
erhebliche Zeit in Anspruch genommen, eine solche Maßnahme wirksam zu
machen, was angesichts der gegebenen Dringlichkeit nicht angemessen gewesen
wäre. Eine Verbesserung der Kontrollen und der Zertifizierung bestimmter
Fleischarten wäre angesichts der Dringlichkeit und der Zweifel an der Wirksamkeit
der britischen Kontrollregelungen ungeeignet gewesen.
- 93.
- Im übrigen lasse sich die Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Entscheidung nur
im Hinblick auf die gesamten, für ungefähr 2,5 Milliarden ECU getroffenen
Maßnahmen erörtern (u. a. Änderung der Interventionsschwellen, außerordentliche
Stützungsmaßnahmen im Vereinigten Königreich und in anderen Mitgliedstaaten,
Kälberverarbeitungsprämien, Einkommensstützen für die Rindfleischerzeuger,
Maßnahmen zugunsten der Exporteure, Beihilfen für die private Lagerhaltung von
Kalbfleisch, Ausfuhrerstattungen, Werbemaßnahmen für Qualitätsrindfleisch,
Forschungshilfe).
- 94.
- In seiner Erwiderung führt das Vereinigte Königreich aus,
Eingrenzungsmaßnahmen seien bei sehr ansteckenden Krankheiten wie der Maul-
und Klauenseuche geeignet, die durch die Luft übertragen werde und eine kurze
Inkubationszeit habe. Sie seien jedoch nicht geeignet, um eine nicht ansteckende
Krankheit auszurotten, die durch die Ernährung übertragen werde und eine lange
Inkubationszeit habe. Im übrigen trage die Eingrenzung zur Ausrottung von BSE
nicht mehr bei als die vom Vereinigten Königreich vorgeschlagenen
Alternativlösungen.
- 95.
- In ihrer Gegenerwiderung hält die Kommission daran fest, daß die angefochtene
Entscheidung nur die erste Stufe einer globalen Strategie sei. Es handele sich um
eine Übergangsmaßnahme (fünfte Begründungserwägung) und eine
Dringlichkeitsmaßnahme (Titel), die überprüft werden (sechste und siebte
Begründungserwägung, Artikel 1 und 3) und von anderen Maßnahmen gefolgt
werden müsse, die der Kontrolle und Ausrottung der Krankheit dienen sollten
(Artikel 4).
- 96.
- Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen
des Gemeinschaftsrecht gehört, dürfen die Handlungen der Gemeinschaftsorgane
nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen
Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. Dabei ist,
wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten
belastende zu wählen; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem
Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteile vom 13. November 1990 in
der Rechtssache C-331/88, Fedesa u. a., Slg. 1990, I-4023, Randnr. 13, und vom
5. Oktober 1994 in den Rechtssachen C-133/93, C-300/93 und C-362/93, Crispoltoni
u. a., Slg. 1994, I-4863, Randnr. 41).
- 97.
- Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit dieser Voraussetzungen betrifft, so verfügt
der Gemeinschaftsgesetzgeber im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik über
einen Spielraum, der seiner politischen Verantwortung, die ihm die Artikel 40 und
43 EG-Vertrag übertragen, entspricht. Folglich ist eine in diesem Bereich erlassene
Maßnahme nur dann rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des Ziels, das das
zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist (Urteile Fedesa, Randnr. 14,
und Crispoltoni u. a., Randnr. 42).
- 98.
- Bei Erlaß der angefochtenen Entscheidung war völlig ungewiß, welche Gefahren
von den lebenden Tieren, dem Rindfleisch oder den Folgeerzeugnissen ausgehen
könnten.
- 99.
- Wenn das Vorliegen und der Umfang von Gefahren für die menschliche
Gesundheit ungewiß ist, können die Organe Schutzmaßnahmen treffen, ohne
abwarten zu müssen, daß das Vorliegen und die Größe dieser Gefahren klar
dargelegt sind.
- 100.
- Das bestätigt auch Artikel 130r Absatz 1 EG-Vertrag, wonach der Schutz der
menschlichen Gesundheit zu den umweltschutzpolitischen Zielen der Gemeinschaft
gehört. Nach Artikel 130r Absatz 2 zielt die Umweltpolitik der Gemeinschaft auf
ein hohes Schutzniveau ab; sie beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge und
Vorbeugung; die Erfordernisse des Umweltschutzes müssen bei der Festlegung und
Durchführung anderer Gemeinschaftspolitiken einbezogen werden.
- 101.
- Die angefochtene Entscheidung wurde als „Dringlichkeitsmaßnahme“ verhängt, die
„vorläufig“ (fünfte Begründungserwägung) ein Ausfuhrverbot erließ. Im übrigen
erkennt die Kommission dort an, daß es erforderlich sei, die wissenschaftliche
Begründung der neuen Informationen zu vertiefen und die getroffenen Maßnahmen
zu verstärken; daher sollte die angefochtene Entscheidung nach Prüfung der
Gesamtheit der angeführten Punkte überarbeitet werden (siebte
Begründungserwägung).
- 102.
- Angesichts des Ausfuhrverbots der Entscheidung 94/474 betrifft das Ausfuhrverbot
der angefochtenen Entscheidung nur lebende Rinder mit einem Alter von weniger
als sechs Monaten, die von Kühen stammen, bei denen BSE weder vermutet noch
festgestellt wurde. Die wissenschaftliche Ungewißheit über die Übertragungswege
von BSE, insbesondere, was die Übertragung durch das Muttertier anbelangt, in
Verbindung mit der mangelnden Kennzeichnung der Tiere und der mangelnden
Überwachung ihrer Wege führt jedoch dazu, daß keine Sicherheit darüber zu
erlangen ist, ob ein Kalb von einer völlig BSE-freien Kuh stammt oder ob es, selbst
wenn dies der Fall ist, selbst völlig BSE-frei ist.
- 103.
- Daher ist das Verbot der Ausfuhr lebender Rinder keine offensichtlich ungeeignete
Maßnahme.
- 104.
- Was Rindfleisch betrifft, muß wegen der langen Inkubationszeit der Krankheit bei
jedem Tier, das mindestens sechs Monate alt ist, davon ausgegangen werden, daß
es möglicherweise BSE-infiziert ist, selbst wenn es keine Symptome zeigt. Im
Vereinigten Königreich waren Sondermaßnahmen für die Schlachtung von Rindern
und das Zerteilen des Fleisches getroffen worden. Jedoch wurden erst ab Mai 1995
in den Betrieben des Vereinigten Königreichs Überraschungskontrollen
durchgeführt, um die Anwendung dieser Maßnahmen zu überprüfen (Bovine
Spongiform Encephalopathy in Great Britain, A Progress Report, November 1995,
Nr. 16). Diese Kontrollen zeigten, daß sich ein erheblicher Teil der Schlachthöfe
nicht an die gesetzlichen Vorschriften hielt.
- 105.
- Im übrigen ergibt sich aus dem Bericht des Wissenschaftlichen
Veterinärausschusses vom 11. Juli 1994, daß Fleisch immer Reste von Nerven- und
Lymphgewebe enthält. Nach der Erklärung eines Ausschußmitglieds, das dem
Gutachten des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses vom 22. März 1996
beigefügt war, ist die Gefahr einer Übertragung der Krankheit durch Muskelfleisch
wissenschaftlich nicht ausgeschlossen (siehe oben, Randnr. 13).
- 106.
- Damit kann auch das Ausfuhrverbot für Rindfleisch nicht als offensichtlich
ungeeignete Maßnahme betrachtet werden.
- 107.
- Was Samen und Embryonen betrifft, war die Gefahr einer vertikalen Übertragung
bei Erlaß der angefochtenen Entscheidung nicht abschließend ausgeschlossen.
- 108.
- Das Verbot der Ausfuhr anderer Erzeugnisse wie Talg und Gelatine belegt eine
angemessene Vorsicht der Kommission bis zu einer Gesamtüberprüfung der Lage.
- 109.
- Das Verbot einer Ausfuhr in Drittländer ist eine geeignete Maßnahme, da es die
Wirksamkeit der Maßnahme gewährleistet, indem es alle möglicherweise mit BSE
infizierten Einheiten im Vereinigten Königreich festhält. Daß Einfuhren nur aus
einer beschränkten Zahl von Drittländern erlaubt sind und daß es
Einfuhrkontrollen gibt, schließt nicht jede Wiedereinfuhr von Fleisch in einer
anderen Form und nicht jede Verkehrsverlagerung aus.
- 110.
- Das Vereinigte Königreich hat mögliche Alternativmaßnahmen angeführt.
Angesichts der erheblichen Gefahr und der Dringlichkeit war das Vorgehen der
Kommission, vorläufig bis zum Erlangen umfangreicherer wissenschaftlicher
Erkenntnisse ein globales Ausfuhrverbot für Rinder, Rindfleisch und
Folgeerzeugnisse zu verhängen, jedoch nicht offensichtlich ungeeignet.
- 111.
- Deshalb ist die Rüge des Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
nicht begründet.
Die sechste Rüge: Verstoß gegen die Artikel 6 und 40 Absatz 3 EG-Vertrag
- 112.
- Das Vereinigte Königreich trägt vor, die Kommission habe gegen die Artikel 6 und
40 Absatz 3 EG-Vertrag verstoßen, da es die britischen Erzeuger, aber auch die
britischen Verbraucher gegenüber denjenigen anderer Mitgliedstaaten diskriminiert
habe, ohne daß es einen objektiven Grund für diese Ungleichbehandlung gegeben
hätte.
- 113.
- Die Kommission erwidert, die erlassenen Maßnahmen stellten nicht auf die
Staatsangehörigkeit ab, sondern auf die geographische Lage. Im übrigen habe die
angefochtene Entscheidung Bürger und Unternehmer anderer Mitgliedstaaten und
in anderen Mitgliedstaaten berührt. Selbst wenn es eine Ungleichbehandlung
gegeben habe, so sei diese angesichts der gegebenen Lage unbestreitbar objektiv
gerechtfertigt.
- 114.
- Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes untersagt das in Artikel 40
Absatz 3 Unterabsatz 2 niedergelegte Verbot der Diskriminierung zwischen
Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft, vergleichbare
Sachverhalte unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln,
es sei denn, daß eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt wäre (siehe u. a.
Urteil vom 20. September 1988 in der Rechtssache 203/86, Spanien/Rat, Slg. 1988,
4563, Randnr. 25).
- 115.
- Völlig unbestritten waren bei Erlaß der angefochtenen Entscheidung nahezu
sämtliche BSE-Fälle in Europa im Vereinigten Königreich gemeldet.
- 116.
- Nach dem objektiven Kriterium des Auftretens von BSE war daher die Lage im
Vereinigten Königreich mit derjenigen in anderen Mitgliedstaaten nicht
vergleichbar, so daß die Kommission mit dem Erlaß einer Entscheidung, die Tiere
und Erzeugnisse auf das Vereinigte Königreich eingrenzte, Artikel 40 Absatz 3
Unterabsatz 2 EG-Vertrag nicht verletzt hat.
- 117.
- Daher ist die Rüge des Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot nicht
begründet.
Die siebte Rüge: Verstoß gegen Artikel 39 Absatz 1 EG-Vertrag
- 118.
- Nach Auffassung des Vereinigten Königreichs ist die Entscheidung durch keines der
Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik nach Artikel 39 Absatz 1 gerechtfertigt. Sie
trage nicht dazu bei, die Produktivität der Landwirtschaft zu steigern oder der
landwirtschaftlichen Bevölkerung eine angemessene Lebenshaltung zu
gewährleisten, sondern habe vielmehr die auf dem Rindfleischsektor und
verwandten Sektoren im Vereinigten Königreich tätigen Wirtschaftsteilnehmer
geschädigt, den Gemeinschaftsmarkt destabilisiert und angemessene Preise für die
Verbraucher verhindert, da die fraglichen Erzeugnisse nicht in andere
Mitgliedstaaten hätten geliefert werden können.
- 119.
- Die Kommission führt aus, der Schutz der menschlichen und tierischen Gesundheit
sei Teil der gemeinsamen Agrarpolitik; die Gesundheit sei eine Frage erheblicher
Bedeutung. Zudem lasse sich keines der Ziele des Artikels 39 Absatz 1 ohne das
erforderliche Vertrauen des Verbrauchers und ohne die erforderlichen Kontrollen
der Gesundheit erreichen.
- 120.
- Nach Artikel 129 Absatz 1 Unterabsatz 3 EG-Vertrag sind die Erfordernisse im
Bereich des Gesundheitsschutzes Bestandteil der übrigen Politiken der
Gemeinschaft. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes darf bei der Verfolgung
der Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik von Erfordernissen des
Allgemeininteresses wie etwa des Verbraucherschutzes oder des Schutzes der
Gesundheit und des Lebens von Menschen und Tieren, denen die
Gemeinschaftsorgane bei der Ausübung ihrer Befugnisse Rechnung zu tragen
haben, nicht abgesehen werden (Urteil vom 23. Februar 1988 in der Rechtssache
68/86, Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1988, 855, Randnr. 12).
- 121.
- Im übrigen trägt der Schutz der Gesundheit zur Verwirklichung der Ziele der
gemeinsamen Agrarpolitik in Artikel 39 Absatz 1 EG-Vertrag bei, da die
landwirtschaftliche Erzeugung insbesondere auf den Absatz beim Verbraucher
unmittelbar angewiesen ist, dem seine Gesundheit zunehmend wichtiger wird.
- 122.
- Mit dem Erlaß der angefochtenen Entscheidung hat die Kommission daher nicht
gegen Artikel 39 Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen.
Die achte Rüge: Rechtswidrigkeit des Artikels 1 dritter Gedankenstrich der
angefochtenen Entscheidung insbesondere wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der
Rechtssicherheit
- 123.
- Das Vereinigte Königreich trägt vor, die angefochtene Entscheidung verstoße gegen
den Grundsatz der Rechtssicherheit, da die Grenzen des Verbots nicht hinreichend
klar umschrieben seien. Der Geltungsbereich des Artikels 1 dritter Gedankenstrich
der Entscheidung (Verbot der Ausfuhr von „Erzeugnissen von Rindern, die im
Vereinigten Königreich geschlachtet worden sind und welche geeignet sind, als
Lebensmittel oder Tierfutter verwendet zu werden und Produkten, die bestimmt
sind für die Verwendung bei der Herstellung von Medizinalprodukten, Kosmetika,
pharmazeutischen Erzeugnissen“) ließen sich nur durch Bezugnahme auf die
Erzeugnisse bestimmen, die unter die Richtlinien 90/425 und 89/662 fielen. Die
Artikel 1 dieser beiden Richtlinien verwiesen auf Anhänge A und B, die nach dem
Erlaß dieser beiden Richtlinien durch die Richtlinie 92/118 geändert worden seien.
Im übrigen verwiesen die Artikel 10 Absatz 4 der Richtlinie 90/425 und 9 Absatz
4 der Richtlinie 89/662, „falls es die Umstände erfordern“, auf „Folgeerzeugnisse“
von Tieren bzw. auf „Ursprungserzeugnisse und deren Folgeerzeugnisse“. Weiter
werde der Anwendungsbereich dieser beiden Richtlinien durch Bezugnahme auf
Artikel 43 EG-Vertrag bestimmt, was die Berücksichtigung der im Anhang II zum
EG-Vertrag aufgeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse bedinge.
- 124.
- Die mangelnde Bestimmtheit des Anwendungsbereichs des Artikels 1 dritter
Gedankenstrich der angefochtenen Entscheidung erlaube dem Gerichtshof zudem
praktisch nicht, die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung zu überprüfen, da ein
Zusammenhang zwischen dem dritten Gedankenstrich und dem Gedankengang der
Begründungserwägungen nicht hergestellt werden könne; das verstoße gegen die
Begründungspflicht.
- 125.
- Schließlich sei die Kommission nicht dafür zuständig gewesen, ein Ausfuhrverbot
für bestimmte Erzeugnisse zu verhängen, die nicht unter den Anhang II des EG-Vertrags und damit auch nicht unter die Richtlinien 90/425 und 89/662 fielen, auf
die die angefochtene Entscheidung gestützt sei. So verhalte es sich im Fall von
Gelatine, Aminosäuren, Dikalziumphosphat, aus Peptonen gewonnenen Peptiden,
Glyzerin, Stearinsäure und ihren Salzen.
- 126.
- Nach Auffassung der Kommission wird Artikel 1 dritter Gedankenstrich angesichts
der Dringlichkeit und der Erforderlichkeit, die Lage wirksam und vollständig zu
kontrollieren, dem Grundsatz der Rechtssicherheit gerecht. Angesichts der
erheblichen Gefahr für die menschliche Gesundheit, der Natur des BSE-Erregers
und der Ziele der angefochtenen Entscheidung erfasse diese unbestreitbar
Erzeugnisse wie Talg und Gelatine, die Folgeerzeugnisse von Rindern seien. Im
übrigen sei die angefochtene Entscheidung ordnungsgemäß begründet, soweit sie
den BSE-Erreger und alle möglicherweise mit ihm verseuchten Erzeugnisse, also
die Folgeerzeugnisse, betreffe. Schließlich bezögen sich die Richtlinien 90/425 und
89/662 ausdrücklich auf alle Erzeugnisse, die unter die angefochtene Entscheidung
fielen.
- 127.
- Artikel 1 dritter Gedankenstrich der angefochtenen Entscheidung bestimmt seinen
Anwendungsbereich deutlich als „Erzeugnisse von Rindern, die im Vereinigten
Königreich geschlachtet worden sind und welche geeignet sind, als Lebensmittel
oder Tierfutter verwendet zu werden und Produkte, die bestimmt sind für die
Verwendung bei der Herstellung von Medizinalprodukten, Kosmetika und
pharmazeutischen Erzeugnissen“.
- 128.
- Für die Beachtung der Begründungspflicht ist von Belang, wie der Generalanwalt
in Nummer 38 seiner Schlußanträge ausführt, daß das Vereinigte Königreich als
Adressat der angefochtenen Entscheidung eine genaue Kenntnis der Lage hatte
und über die Erzeugnisse nicht im Unklaren sein konnte, die unter die
Entscheidung fielen.
- 129.
- Schließlich können die von der Kommission erlassenen Schutzmaßnahmen nach
den Richtlinien 90/425 und 89/662 „Erzeugnisse tierischen Ursprungs“ und deren
„Folgeerzeugnisse“ erfassen. Die Kommission hat daher nicht gegen diese
Richtlinien verstoßen, als sie die angefochtene Entscheidung für „Erzeugnisse von
Rindern“ erließ.
- 130.
- Die Rüge der Rechtswidrigkeit des Artikel 1 dritter Gedankenstrich der
angefochtenen Entscheidung ist daher zurückzuweisen.
Die neunte Rüge: Rechtswidrigkeit der Richtlinien 90/425 und 89/662
- 131.
- Für den Fall, daß der Gerichtshof entscheiden sollte, daß die Richtlinie 90/425 oder
die Richtlinie 89/662 auf Erzeugnisse Anwendung finde oder finden müsse, die
nicht im Anhang II zum EG-Vertrag aufgeführt seien, macht das Vereinigte
Königreich geltend, Artikel 43 EG-Vertrag ermächtige den Rat insoweit nicht, diese
Richtlinien zu erlassen. Daher seien die beiden Richtlinien insoweit unanwendbar
und keine Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung.
- 132.
- Kommission und Rat halten dem entgegen, die Richtlinien 90/425 und 89/662
stützten sich zu Recht auf Artikel 43 EG-Vertrag, da sie den Zielen des Artikels
39 dienen sollten und die in diesen Richtlinien genannten Folgeerzeugnisse
zumindest unter die Auffangposition des Anhangs II Waren tierischen Ursprungs,
anderweit weder genannt noch inbegriffen fielen. Zudem ändere es an ihrer
Gültigkeit nichts, wenn sie sich sekundär auf andere Erzeugnisse beziehen sollten,
die nicht unter den Anhang II fielen.
- 133.
- Nach ständiger Rechtsprechung ist Artikel 43 EG-Vertrag die geeignete
Rechtsgrundlage für jede Regelung über die Produktion und den Verkauf der im
Anhang II des EG-Vertrags aufgeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die zur
Verwirklichung eines oder mehrerer der in Artikel 39 EG-Vertrag genannten Ziele
der gemeinsamen Agrarpolitik beiträgt (siehe Urteile vom 23. Februar 1988,
Vereinigtes Königreich/Rat, Randnr. 14, und in der Rechtssache C-131/86,
Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1988, 905, Randnr. 19; vom 16. November 1989
in der Rechtssache C-131/87, Kommission/Rat, Slg. 1989, 3743, Randnr. 28, und
Fedesa u. a., a. a. O., Randnr. 23).
- 134.
- Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes darf weiter eine Richtlinie, die einen
wesentlichen Faktor zur Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft im Sinne
von Artikel 39 Absatz 1 Buchstabe a EG-Vertrag darstellt, auf der Grundlage des
Artikels 43 EG-Vertrag erlassen werden, selbst wenn sie sekundär einige nicht in
Anhang II enthaltenen Erzeugnisse erfaßt, aber im wesentlichen auf Erzeugnisse
Anwendung findet, die unter diesen Anhang fallen (Urteil vom 16. November 1989
in der Rechtssache C-11/88, Slg. 1989, 3799, Randnr. 15, abgekürzte
Veröffentlichung).
- 135.
- Angesichts der Bedeutung des freien Warenverkehrs mit Tieren, mit Erzeugnissen
von Tieren und Erzeugnissen tierischen Ursprungs für die Verwirklichung der Ziele
des Artikels 39 Absatz 1 EG-Vertrag stellte Artikel 43 EG-Vertrag die geeignete
Rechtsgrundlage für den Erlaß der Richtlinien 90/425 und 89/662 selbst dann dar,
wenn diese Richtlinien die Kommission sekundär dazu ermächtigten,
Schutzmaßnahmen für „Erzeugnisse tierischen Ursprungs“, „deren
Folgeerzeugnisse“ und „Folgeerzeugnisse von Tieren“ zu erlassen, die nicht unter
den Anhang II des EG-Vertrags fielen.
- 136.
- Folglich ist die Rüge der Rechtswidrigkeit der Richtlinien 90/425 und 89/662
zurückzuweisen.
- 137.
- Damit ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
- 138.
- Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
in die Kosten zu verurteilen. Das Vereinigte Königreich ist mit seinem Vorbringen
unterlegen; die Kommission hat seine Verurteilung in die Kosten beantragt; dem
ist zu entsprechen. Nach Artikel 69 § 4 der Verfahrensordnung tragen die
Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten
sind, ihre eigenen Kosten. Daher trägt der Rat seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirlands ist
unzulässig, soweit sie die Stellungnahmen der Kommission vom 10. April,
vom 13. April und vom 8. Mai 1996 betrifft.
2. Die Klage des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirlands auf
Nichtigerklärung der Entscheidung 96/239/EG der Kommission vom 27.
März 1996 mit dem zum Schutz gegen die bovine spongiforme
Enzyphalopathie (BSE) zu treffenden Dringlichkeitsmaßnahmen wird
abgewiesen.
3. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland trägt die Kosten
des Verfahrens.
4. Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen Kosten.
Rodríguez Iglesias Gulmann
Ragnemalm
Wathelet Schintgen Mancini Moitinho de Almeida
Murray Edward
Puissochet
Hirsch Jann
Sevón
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. Mai 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias