Language of document : ECLI:EU:C:2015:165

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

12. März 2015(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Humanarzneimittel – Verordnung (EG) Nr. 469/2009 – Art. 3 – Ergänzendes Schutzzertifikat – Voraussetzungen für die Erlangung des Zertifikats – Arzneimittel, die teilweise oder insgesamt denselben Wirkstoff enthalten – Sukzessives Inverkehrbringen – Kombination von Wirkstoffen – Vorheriges Inverkehrbringen eines Wirkstoffs in Form eines Monopräparats – Voraussetzungen für die Erlangung mehrerer Zertifikate auf der Grundlage ein und desselben Patents – Änderung der Wirkstoffe eines Grundpatents“

In der Rechtssache C‑577/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Patents Court) (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 31. Oktober 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 14. November 2013, in dem Verfahren

Actavis Group PTC EHF,

Actavis UK Ltd

gegen

Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters C. G. Fernlund,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Dezember 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Actavis Group PTC EHF und der Actavis UK Ltd, vertreten durch R. Meade, QC, I. Jamal, Barrister, und M. Hilton, Solicitor,

–        der Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG, vertreten durch T. Mitcheson, QC, und N. Dagg, Solicitor,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch N. Saunders, Barrister,

–        der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, S. Menez und S. Ghiandoni als Bevollmächtigte,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, A. P. Antunes und I. Vieira Lopes als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. W. Bulst und J. Samnadda als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 13 der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. L 152, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Actavis Group PTC EHF und der Actavis UK Ltd (im Folgenden zusammen: Actavis) auf der einen Seite und der Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG (im Folgenden: Boehringer) auf der anderen Seite über die Gültigkeit des ergänzenden Schutzzertifikats, das Boehringer für das Arzneimittel MicardisPlus erteilt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 4, 5, 9 und 10 der Verordnung Nr. 469/2009 lauten:

„(4)      Derzeit wird durch den Zeitraum zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung für ein neues Arzneimittel und der Genehmigung für das Inverkehrbringen desselben Arzneimittels der tatsächliche Patentschutz auf eine Laufzeit verringert, die für die Amortisierung der in der Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend ist.

(5)      Diese Tatsache führt zu einem unzureichenden Schutz, der nachteilige Auswirkungen auf die pharmazeutische Forschung hat.

(9)      Die Dauer des durch das Zertifikat gewährten Schutzes sollte so festgelegt werden, dass dadurch ein ausreichender tatsächlicher Schutz erreicht wird. Hierzu müssen demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines Zertifikats ist, insgesamt höchstens fünfzehn Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des betreffenden Arzneimittels in der Gemeinschaft eingeräumt werden.

(10)      In einem so komplexen und empfindlichen Bereich wie dem pharmazeutischen Sektor sollten jedoch alle auf dem Spiel stehenden Interessen einschließlich der Volksgesundheit berücksichtigt werden. Deshalb kann das Zertifikat nicht für mehr als fünf Jahre erteilt werden. Der von ihm gewährte Schutz sollte im Übrigen streng auf das Erzeugnis beschränkt sein, für das die Genehmigung für das Inverkehrbringen als Arzneimittel erteilt wurde.“

4        Art. 1 („Definitionen“) dieser Verordnung sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a)      ‚Arzneimittel‘ einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher … Krankheiten bezeichnet wird …;

b)      ‚Erzeugnis‘ den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels;

c)      ‚Grundpatent‘ ein Patent, das ein Erzeugnis als solches, ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses oder eine Verwendung eines Erzeugnisses schützt und das von seinem Inhaber für das Verfahren zur Erteilung eines Zertifikats bestimmt ist;

d)      ‚Zertifikat‘ das ergänzende Schutzzertifikat;

…“

5        Art. 3 („Bedingungen für die Erteilung des Zertifikats“) dieser Verordnung bestimmt:

„Das Zertifikat wird erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung nach Artikel 7 eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung

a)      das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist;

b)      für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß der Richtlinie 2001/83/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67)] … erteilt wurde;

c)      für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde;

d)      die unter Buchstabe b erwähnte Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist.“

6        In Art. 7 („Anmeldung des Zertifikats“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 heißt es:

„Die Anmeldung des Zertifikats muss innerhalb einer Frist von sechs Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt, zu dem für das Erzeugnis als Arzneimittel die Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Artikel 3 Buchstabe b erteilt wurde, eingereicht werden.“

7        Art. 13 („Laufzeit des Zertifikats“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 1:

„Das Zertifikat gilt ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents für eine Dauer, die dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Anmeldung für das Grundpatent und dem Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft entspricht, abzüglich eines Zeitraums von fünf Jahren.“

 Recht des Vereinigten Königreichs

8        In Section 27 des UK Patents Act 1977 (Patentgesetz des Vereinigten Königreichs von 1977) heißt es, dass „[d]ie Änderung einer Patentschrift nach dieser Section … als vom Zeitpunkt der Erteilung des Patents an wirksam [gilt]“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        Am 31. Januar 1992 beantragte Boehringer die Erteilung eines europäischen Patents, das ihr am 20. Mai 1998 als das Patent (UK) Nr. EP 0 502 314 für „Benzimidazolderivate, sie enthaltende Arzneimittel und Verfahren zu ihrer Herstellung“ erteilt wurde (im Folgenden: Boehringer-Grundpatent). Das Patent offenbart und beansprucht zahlreiche Moleküle, darunter den Wirkstoff Telmisartan, der bei der Behandlung von hohem Blutdruck (Hypertonie) und zur Senkung der kardiovaskulären Morbidität bei Erwachsenen verwendet wird.

10      Die Ansprüche 5 und 8 des Boehringer-Grundpatents beziehen sich auf Telmisartan allein und auf eines seiner Salze.

11      Auf der Grundlage dieses Patents und einer Genehmigung für das Inverkehrbringen, die einer Gesellschaft der Boehringer-Gruppe am 16. Dezember 1998 für das – Telmisartan als einzigen Wirkstoff enthaltende – Arzneimittel Micardis erteilt worden war, wurde Boehringer ein erstes ergänzendes Schutzzertifikat für Telmisartan erteilt (im Folgenden: Telmisartan-ESZ). Die Produktbeschreibung des Telmisartan-ESZ lautet „Telmisartan, optional in der Form eines pharmazeutisch verträglichen Salzes“. Das Telmisartan-ESZ wurde am 9. August 1999 erteilt und lief am 10. Dezember 2013 ab.

12      Am 19. April 2002 wurde einer Gesellschaft der Boehringer-Gruppe eine Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Kombinationspräparats erteilt, das die Wirkstoffe Telmisartan und Hydrochlorothiazid enthält. Hydrochlorothiazid ist ein Diuretikum, das eine Hemmung der Fähigkeit der Nieren bewirkt, Wasser zu speichern. Dieser Stoff ist ein seit 1958 bekanntes Molekül, das gemeinfrei geworden ist. Telmisartan und Hydrochlorothiazid sind die einzigen Wirkstoffe dieses Arzneimittels, das Boehringer unter dem Markennamen MicardisPlus verkauft.

13      Am 6. September 2002 stellte Boehringer einen Antrag auf Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats für die Kombination der Wirkstoffe Telmisartan und Hydrochlorothiazid (im Folgenden: Kombinations-ESZ).

14      Mit Schreiben vom 10. Juli 2003 teilte das United Kingdom Intellectual Property Office (Behörde für gewerblichen Rechtsschutz des Vereinigten Königreichs, im Folgenden: UK IPO) der Antragstellerin zu dem Kombinations-ESZ mit, dass im Fall von Zertifikaten für Erzeugnisse, die eine Kombination von Wirkstoffen enthielten, diese Kombination ausdrücklich beansprucht worden sein müsse, um die Kombination als solche als geschützt ansehen zu können. Da das Boehringer-Grundpatent nur Ansprüche enthielt, die sich auf einen der beiden Wirkstoffe des Erzeugnisses bezogen, namentlich Telmisartan, schlug das UK IPO Boehringer vor, eine Änderung des Grundpatents zu beantragen, um dem Grundpatent einen Anspruch auf die Kombination von Telmisartan und Hydrochlorothiazid anzufügen.

15      Am 10. November 2003 beantragte Boehringer, ihre Anmeldung des Kombinations-ESZ auszusetzen.

16      Am 19. November 2003 beantragte Boehringer beim UK IPO weiter, das ursprünglich erteilte Boehringer-Grundpatent dahin zu ändern, dass ihm ein neuer Anspruch angefügt werde, nämlich ein Anspruch 12, der sich insbesondere auf eine pharmazeutische Kombination von Telmisartan mit Hydrochlorothiazid beziehen sollte.

17      Am 22. Dezember 2003 bewilligte das UK IPO eine Aussetzung des Verfahrens der Erteilung des Kombinations-ESZ für die Dauer von vier Monaten, um das Ende des Verfahrens zur Änderung des Boehringer-Grundpatents abzuwarten.

18      Am 5. Mai 2004 wurde der Antrag auf Änderung des Grundpatents veröffentlicht. Nachdem das UK IPO am 14. Mai 2004 die Aussetzung des Verfahrens zur Erteilung des Kombinations-ESZ bis zum Ende des Verfahrens zur Änderung des Boehringer-Grundpatents verlängert hatte, gab es dem Antrag zu dessen Änderung am 10. November 2004 statt (im Folgenden: geändertes Patent). Das geänderte Patent lief am 30. Januar 2012 ab.

19      Mit Schreiben vom 18. November 2004 ersuchte Boehringer das UK IPO, einer erneuten Einreichung ihrer Anmeldung für das Kombinations-ESZ zuzustimmen. Diese Neuanmeldung auf der Grundlage des geänderten Patents erfolgte noch am selben Tag oder kurz danach.

20      Das Kombinations-ESZ wurde am 13. Januar 2005 mit einer Laufzeit bis zum 30. Januar 2017 erteilt.

21      Daraufhin erhob Actavis, die Generika herstellt, beim vorlegenden Gericht eine Klage, mit der sie die Ungültigkeit des Kombinations-ESZ geltend machte, weil bei dessen Erstanmeldung am 6. September 2002 das darin bezeichnete Erzeugnis vom Wortlaut der Ansprüche des Boehringer-Grundpatents nicht umfasst gewesen sei. Vielmehr habe das zusammen mit dem Kombinations-ESZ eingereichte Patent seinerzeit nicht den Anspruch 12 enthalten; keiner der im Patent aufgeführten Ansprüche dieses Patents habe das Kombinationspräparat erwähnt.

22      Boehringer hielt dem entgegen, dass sowohl das Unionsrecht als auch die nationalen Rechtsvorschriften Änderungen von Patenten nach ihrer Erteilung zuließen. Deshalb schütze das Boehringer-Grundpatent nach seiner Änderung rückwirkend auch das Erzeugnis, für das das Kombinations-ESZ erstmals vor dieser Änderung beantragt worden sei.

23      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass gemäß Section 27 des Patentgesetzes des Vereinigten Königreichs von 1977 die Änderung des Boehringer-Grundpatents weiterhin als wirksam gelte, und zwar rückwirkend ab der Patenterteilung am 20. Mai 1998.

24      Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Patents Court), das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      a)      Wenn ein Patent bei seiner Erteilung keinen Anspruch enthält, der ausdrücklich zwei Wirkstoffe in Kombination nennt, das Patent jedoch so geändert werden könnte, dass ein solcher Anspruch darin enthalten ist, ist es dann möglich, sich auf dieses Patent als ein „in Kraft befindliches Grundpatent“ gemäß Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 für ein Erzeugnis, das diese Wirkstoffe in Kombination enthält, unabhängig davon zu stützen, ob diese Änderung erfolgt oder nicht?

b)      Ist es möglich, sich auf ein Patent, das nach seiner Erteilung und entweder i) vor oder ii) nach der Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats geändert wurde, als ein „in Kraft befindliches Grundpatent“ zu stützen, um die Voraussetzung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung 469/2009 zu erfüllen?

c)      Wenn ein Anmelder ein ergänzendes Schutzzertifikat für ein Erzeugnis, das die Wirkstoffe A und B enthält, in einem Fall anmeldet, in dem

i)      das in Kraft befindliche Grundpatent, ein europäisches Patent (das im Vereinigten Königreich erteilt wurde), nach dem Zeitpunkt der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats, aber vor dessen Erteilung dahin gehend geändert wurde, dass es einen Anspruch enthält, der die Wirkstoffe A und B ausdrücklich nennt,

      und

ii)      diese Änderung nach nationalem Recht stets als vom Zeitpunkt der Erteilung des Patents an wirksam gilt,

ist dann der Anmelder des ergänzenden Schutzzertifikats berechtigt, sich auf das Patent in seiner geänderten Fassung zu stützen, um die Voraussetzung von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 zu erfüllen?

2.      Ist es, um festzustellen, ob die Voraussetzungen von Art. 3 zum Zeitpunkt der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats für ein Erzeugnis erfüllt sind, das die Wirkstoffe A und B in Kombination enthält, wenn

a)      das in Kraft befindliche Grundpatent einen Anspruch auf ein Erzeugnis umfasst, in dem Wirkstoff A enthalten ist, und einen weiteren Anspruch auf ein Erzeugnis, in dem die Wirkstoffe A und B in Kombination enthalten sind, und

b)      für ein Erzeugnis, das Wirkstoff A enthält (Erzeugnis X), bereits ein ergänzendes Schutzzertifikat vorliegt, erforderlich, zu prüfen, ob die Kombination der Wirkstoffe A und B eine vom einzelnen Wirkstoff A getrennte Erfindung darstellt?

3.      Wenn das in Kraft befindliche Grundpatent gemäß Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009

a)      ein Erzeugnis, das Wirkstoff A enthält (Erzeugnis X), und

b)      ein Erzeugnis, das eine Kombination aus den Wirkstoffen A und B enthält (Erzeugnis Y),

„schützt“ und

c)      eine Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses X als Arzneimittel erteilt wurde,

d)      ein ergänzendes Schutzzertifikat für das Erzeugnis X erteilt wurde und

e)      danach eine gesonderte Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses Y als Arzneimittel erteilt wurde,

wird dann durch die Verordnung Nr. 469/2009, insbesondere ihren Art. 3 Buchst. c und d und/oder ihren Art. 13 Abs. 1, ausgeschlossen, dass dem Inhaber des Patents ein ergänzendes Schutzzertifikat für das Erzeugnis Y erteilt wird? Für den Fall, dass ein ergänzendes Schutzzertifikat für das Erzeugnis Y erteilt werden darf: Ist seine Laufzeit unter Bezugnahme auf die Erteilung der Genehmigung für das Erzeugnis X oder der Genehmigung für das Erzeugnis Y zu bemessen?

4.      Falls Frage 1 a zu verneinen, Frage 1 b i zu bejahen und Frage l b ii zu verneinen ist, ist es dann in einem Fall, in dem

a)      gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats für ein Erzeugnis innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt eingereicht wird, zu dem eine wirksame Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses als Arzneimittel im Einklang mit der Richtlinie 2001/83 oder der Richtlinie 2001/82/EG des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Tierarzneimittel (ABl. L 311, S. 1) erteilt wurde,

b)      nach Einreichung der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats die für den gewerblichen Rechtsschutz zuständige Behörde einen möglichen Einwand gegen die Erteilung des ergänzenden Schutzzertifikats nach Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 erhebt;

c)      daraufhin und um den vorgenannten möglichen Einwand der für den gewerblichen Rechtsschutz zuständigen Behörde auszuräumen, eine Änderung des in Kraft befindlichen Grundpatents, auf das sich der Anmelder des ergänzenden Schutzzertifikats stützt, beantragt und genehmigt wird;

d)      nach Änderung des in Kraft befindlichen Grundpatents dieses geänderte Patent die Voraussetzungen von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 erfüllt,

der für den gewerblichen Rechtsschutz zuständigen Behörde durch die Verordnung Nr. 469/2009 verwehrt, nationale Verfahrensvorschriften anzuwenden, um zu ermöglichen, dass a) die Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats ausgesetzt wird, damit dessen Anmelder eine Änderung des Grundpatents beantragen kann, und b) die genannte Anmeldung zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen wird, nachdem die Änderung genehmigt wurde, wobei der Zeitpunkt der Wiederaufnahme

–        mehr als sechs Monate ab dem Zeitpunkt liegt, zu dem eine wirksame Genehmigung für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses als Arzneimittel erteilt wurde, aber

–        höchstens sechs Monate ab dem Zeitpunkt, zu dem dem Antrag auf Änderung des in Kraft befindlichen Grundpatents stattgegeben wurde?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur zweiten und zur dritten Frage

25      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen und zuerst zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Buchst. a und c der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass es nach dieser Bestimmung in einem Fall, in dem ein Grundpatent einen Anspruch auf ein Erzeugnis mit einem Wirkstoff umfasst, für das dem Patentinhaber bereits ein ergänzendes Schutzzertifikat erteilt worden ist, sowie einen weiteren Anspruch auf ein Erzeugnis, das diesen Wirkstoff mit einem anderen Stoff kombiniert, unzulässig ist, dem Patentinhaber für diese Kombination ein zweites ergänzendes Schutzzertifikat zu erteilen. Falls diese Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht weiter wissen, wie die Laufzeit des „Kombinations-ESZ“ im Sinne von Art. 13 Abs. 1 dieser Verordnung zu bestimmen ist.

26      Diese Frage wird im Hinblick auf den Antrag gestellt, ein zweites ergänzendes Schutzzertifikat für ein Erzeugnis zu erteilen, das eine Kombination der Wirkstoffe Telmisartan und Hydrochlorothiazid enthält. Hierbei ist im Ausgangsverfahren unstreitig, dass in dieser Zusammensetzung Telmisartan, das der neuartige Wirkstoff des Boehringer-Grundpatents ist, allein den Gegenstand der Erfindung bildet. Hydrochlorothiazid ist ein Molekül, zu dessen Entdeckung Boehringer jedenfalls nicht beigetragen hat und das gemeinfrei ist, da der Anspruch, der sich auf diesen Stoff bezieht, nicht Gegenstand der Erfindung ist.

27      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 3 Buchst. a bis d der Verordnung Nr. 469/2009 ein ergänzendes Schutzzertifikat erteilt wird, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist, für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde, ferner für es als Arzneimittel eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt wurde und diese Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen ist. Was das in den Buchst. a und b dieses Artikels genannte Erzeugnis betrifft, so geht aus dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 1 Buchst. c der Verordnung hervor, dass ein ergänzendes Schutzzertifikat nur erteilt werden darf, wenn das Erzeugnis als solches durch das Grundpatent geschützt ist.

28      Was die Frage anbelangt, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Erzeugnisse geschützt sind oder nicht, ist zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens streitig, wie der Ausdruck „als solches“ in Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 469/2009 auszulegen ist.

29      Während nach Ansicht Boehringers und der portugiesischen Regierung die einfache Nennung der beiden Wirkstoffe im Wortlaut der Ansprüche genügt, um sie für geschützt zu erachten, legt Actavis diesen Ausdruck dahin aus, dass dem Patentinhaber ein umfassendes Monopol nur für die Entwicklung eines Erzeugnisses zustehen könne, das den wahren Gegenstand der durch das Patent geschützten Erfindung bilde, d. h. seinen technischen Beitrag oder den Kern der erfinderischen Tätigkeit.

30      Die Kommission schlägt vor, die Wörter „als solches“ so auszulegen, dass sie einen „isolierten“ Wirkstoff bezeichnen, d. h. einen Wirkstoff, der nicht in Kombination mit einem anderen Wirkstoff auftritt.

31      Die französische Regierung weist darauf hin, dass im Ausgangsverfahren nur Telmisartan den Kern der Erfindung oder den neuartigen Wirkstoff des Boehringer-Grundpatents ausmache und dass sich keiner der Ansprüche dieses Patents auf Hydrochlorothiazid isoliert beziehe.

32      Um auf die zweite und die dritte Frage eine sachdienliche Antwort geben zu können, ist der Ausdruck „als solches“ in Art. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 469/2009 autonom im Licht der mit dieser Verordnung verfolgten Ziele und der Systematik auszulegen, in die sich dieser Ausdruck einfügt.

33      Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass auf der Grundlage eines Patents, das mehrere verschiedene „Erzeugnisse“ schützt, grundsätzlich mehrere ergänzende Schutzzertifikate für jedes dieser verschiedenen Erzeugnisse erteilt werden können, sofern insbesondere jedes dieser Erzeugnisse durch dieses „Grundpatent“ im Sinne von Art. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 in Verbindung mit Art. 1 Buchst. b und c dieser Verordnung als solches „geschützt“ wird (vgl. in diesem Sinne Urteile Actavis Group PTC und Actavis UK, C‑443/12, EU:C:2013:833, Rn. 29, und Georgetown University, C‑484/12, EU:C:2013:828, Rn. 30).

34      Zweitens ist festzustellen, dass nach den Erwägungsgründen 4, 5 und 9 der Verordnung Nr. 469/2009 mit dem ergänzenden Schutzzertifikat die Wiederherstellung einer ausreichenden Dauer des wirksamen Schutzes des Grundpatents angestrebt wird, indem dem Inhaber nach Ablauf seines Patents eine zusätzliche Ausschließlichkeitsfrist eingeräumt wird, die zumindest zum Teil den Rückstand in der wirtschaftlichen Verwertung seiner Erfindung ausgleichen soll, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Europäischen Union eingetreten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Actavis Group PTC und Actavis UK, EU:C:2013:833, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Jedoch hat der Gerichtshof auch entschieden, dass die Verordnung Nr. 469/2009 den Ausgleich der Rückstände in der wirtschaftlichen Verwertung weder in vollem Umfang noch in Bezug auf alle möglichen Formen dieser Verwertung einer Erfindung, auch diejenige verschiedener Zusammensetzungen mit demselben Wirkstoff, bezweckt (vgl. in diesem Sinne Urteil Actavis Group PTC und Actavis UK, EU:C:2013:833, Rn. 40).

36      Könnte jedes sukzessive Inverkehrbringen eines Wirkstoffs zusammen mit anderen Wirkstoffen, deren Zahl nicht begrenzt ist und die nicht Gegenstand der von einem Grundpatent geschützten Erfindung sind, ein Recht auf Erteilung einer Vielzahl ergänzender Schutzzertifikate begründen, wäre dies unvereinbar mit der Abwägung zwischen den Interessen der Pharmaindustrie und denen der Volksgesundheit, die bei der Förderung der Forschung in der Union durch ergänzende Schutzzertifikate in Anbetracht der im zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 469/2009 erwähnten Notwendigkeit, alle auf dem Spiel stehenden Interessen einschließlich der Volksgesundheit zu berücksichtigen, vorzunehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Actavis Group PTC und Actavis UK, EU:C:2013:833, Rn. 41).

37      Somit kann unter Berücksichtigung der in den Erwägungsgründen 4, 5, 9 und 10 der Verordnung Nr. 469/2009 genannten Interessen nicht angenommen werden, dass dem Inhaber eines in Kraft befindlichen Grundpatents jedes Mal ein neues ergänzendes Schutzzertifikat erteilt werden kann, gegebenenfalls mit einer längeren Laufzeit, wenn er in einem Mitgliedstaat ein Arzneimittel in den Verkehr bringt, das einen Wirkstoff, der als solcher durch sein Grundpatent geschützt ist und der Gegenstand der von diesem Patent geschützten Erfindung ist, und einen weiteren Stoff enthält, der nicht Gegenstand der von diesem Grundpatent geschützten Erfindung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Actavis Group PTC und Actavis UK, EU:C:2013:833, Rn. 30).

38      Daraus folgt, dass ein Grundpatent einen Wirkstoff im Sinne der Art. 1 Buchst. c und 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 469/2009 nur dann „als solche[n]“ schützt, wenn er den Gegenstand der von dem Patent geschützten Erfindung bildet.

39      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 3 Buchst. a und c der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass es nach dieser Bestimmung in einem Fall, in dem ein Grundpatent einen Anspruch auf ein Erzeugnis mit einem den alleinigen Gegenstand der Erfindung bildenden Wirkstoff umfasst, für das dem Patentinhaber bereits ein ergänzendes Schutzzertifikat erteilt wurde, sowie einen weiteren Anspruch auf ein Erzeugnis, das diesen Wirkstoff mit einem anderen Stoff kombiniert, unzulässig ist, dem Patentinhaber für diese Kombination ein zweites ergänzendes Schutzzertifikat zu erteilen.

40      Da im Ausgangsverfahren das Kombinations-ESZ nicht als ein ergänzendes Schutzzertifikat angesehen werden kann, das im Einklang mit der Verordnung Nr. 469/2009 erteilt wurde, braucht der letzte Teil der dritten Frage, der die Auslegung von Art. 13 der Verordnung im Hinblick auf die Laufzeit des ergänzenden Schutzzertifikats betrifft, nicht mehr beantwortet zu werden.

 Zur ersten und zur vierten Frage

41      Angesichts der Antwort auf die zweite und die dritte Frage, aus der hervorgeht, dass Boehringer ein zweites ergänzendes Schutzzertifikat wie das im Ausgangsverfahren fragliche für die Kombination Telmisartan-Hydrochlorothiazid nicht hätte erteilt werden dürfen, und zwar unabhängig davon, ob dem Grundpatent nach seiner Erteilung auf eine Empfehlung des UK IPO hin ein neuer Anspruch in Bezug auf Hydrochlorothiazid angefügt wurde, sind die erste und die vierte Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

42      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 3 Buchst. a und c der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel ist dahin auszulegen, dass es nach dieser Bestimmung in einem Fall, in dem ein Grundpatent einen Anspruch auf ein Erzeugnis mit einem den alleinigen Gegenstand der Erfindung bildenden Wirkstoff umfasst, für das dem Patentinhaber bereits ein ergänzendes Schutzzertifikat erteilt wurde, sowie einen weiteren Anspruch auf ein Erzeugnis, das diesen Wirkstoff mit einem anderen Stoff kombiniert, unzulässig ist, dem Patentinhaber für diese Kombination ein zweites ergänzendes Schutzzertifikat zu erteilen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.