Language of document : ECLI:EU:C:2014:16

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

16. Januar 2014(*)

„Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der Verwandter in gerader absteigender Linie einer Person mit einem Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat ist, in diesem Mitgliedstaat – Begriff der Person, der ‚Unterhalt gewährt wird‘“

In der Rechtssache C‑423/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammarrätt i Stockholm – Migrationsöverdomstol (Schweden) mit Entscheidung vom 12. September 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 17. September 2012, in dem Verfahren

Flora May Reyes

gegen

Migrationsverket

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richter M. Safjan und J. Malenovský sowie der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. September 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Frau Reyes, vertreten durch S. Hansson, advokat, und T. Fraenkel,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und H. Karlsson als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und C. Wissels als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von G. Facenna, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Tufvesson und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. November 2013,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, mit Berichtigung in ABl. 2004, L 229, S. 35).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der philippinischen Staatsangehörigen Frau Reyes und dem Migrationsverk (Ausländeramt) wegen der Ablehnung des Antrags der Betroffenen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in Schweden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt es:

„Das Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sollte, wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden. …“

4        Der 28. Erwägungsgrund der Richtlinie sieht vor:

„Zum Schutz gegen Rechtsmissbrauch oder Betrug … sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit zum Erlass der erforderlichen Maßnahmen haben.“

5        Art. 2 der Richtlinie („Begriffsbestimmungen“) sieht Folgendes vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;

2.      ‚Familienangehöriger‘

c)      die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners …, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

…“

6        Art. 7 der Richtlinie („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) bestimmt:

„(1)      Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

b)      für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen …

(2)      Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe … b) … erfüllt.

…“

7        Art. 23 der Richtlinie 2004/38 („Verbundene Rechte“) lautet:

„Die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt in einem Mitgliedstaat genießen, sind ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit berechtigt, dort eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger aufzunehmen.“

 Schwedisches Recht

8        Durch Änderungen des Utlänningslag (2005:716) (Ausländergesetz) und der Utlänningsförordning (2006:97) (Ausländerverordnung), die am 30. April 2006 in Kraft traten, wurde die Richtlinie 2004/38 in schwedisches Recht umgesetzt. Die erlassenen Vorschriften stimmen im Wesentlichen mit den Richtlinienbestimmungen überein.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        Frau Reyes ist 1987 geboren und philippinische Staatsangehörige. Im Alter von drei Jahren wurde sie zusammen mit ihren beiden Schwestern in die Obhut ihrer Großmutter mütterlicherseits gegeben, weil ihre Mutter nach Deutschland zog, um dort zu arbeiten und so für ihre Familie auf den Philippinen zu sorgen. Die Mutter von Frau Reyes erlangte die deutsche Staatsangehörigkeit.

10      Während ihrer gesamten Kindheit und Jugend wurde Frau Reyes von ihrer Großmutter mütterlicherseits aufgezogen. Bevor Frau Reyes nach Schweden kam, lebte sie vier Jahre in Manila (Philippinen) bei ihrer inzwischen verstorbenen älteren Schwester. Zwischen ihrem 17. und ihrem 23. Lebensjahr besuchte sie zwei Jahre lang eine Oberschule und studierte anschließend vier Jahre lang. Nach einer mehrere Praktika umfassenden Ausbildung erhielt sie das Diplom zur Pflegeassistentin. Im Anschluss an ihr Examen half Frau Reyes ihrer Schwester bei der Betreuung von deren Kindern. Die Mutter von Frau Reyes hielt während der gesamten Zeit engen Kontakt zu ihren Familienangehörigen auf den Philippinen, schickte ihnen jeden Monat Geld für ihren Unterhalt und für ihr Studium und besuchte sie jedes Jahr. Frau Reyes hat noch nie eine Beschäftigung ausgeübt und hat auch keine Sozialleistungen bei den philippinischen Behörden beantragt.

11      Im Dezember 2009 zog die Mutter von Frau Reyes nach Schweden, um dort in häuslicher Gemeinschaft mit ihrem in diesem Mitgliedstaat wohnenden norwegischen Lebensgefährten zu leben. Im Sommer 2011 heiratete die Mutter von Frau Reyes diesen norwegischen Staatsangehörigen. Seit 2009 schickt der Mann der Mutter von Frau Reyes, der aufgrund seiner Altersrente über entsprechende Mittel verfügt, Frau Reyes und den anderen auf den Philippinen lebenden Familienangehörigen seiner Ehefrau regelmäßig Geld. Seit ihrer Ankunft in Schweden ist die Mutter von Frau Reyes nicht berufstätig und lebt von der Altersrente ihres Ehemanns.

12      Am 13. März 2011 reiste Frau Reyes in den Schengen-Raum ein. Am 29. März 2011 beantragte sie in ihrer Eigenschaft als Familienangehörige der Mutter und deren norwegischen Lebenspartners eine Aufenthaltskarte in Schweden; dabei gab sie an, dass ihr von diesen beiden Unterhalt gewährt werde.

13      Das Migrationsverk lehnte diesen Antrag am 11. Mai 2011 mit der Begründung ab, dass Frau Reyes nicht nachgewiesen habe, dass das ihr von ihrer Mutter und deren Lebenspartner unstreitig überwiesene Geld der Deckung ihrer Grundbedürfnisse in Form von Kost und Unterbringung sowie dem Zugang zur Krankheitsfürsorge auf den Philippinen gedient habe. Weiter habe sie nicht dargetan, in welcher Art und Weise die Systeme der Sozialversicherung und der sozialen Sicherheit in ihrem Heimatland Personen in ihrer Lage versorgen könnten. Dagegen habe sie nachgewiesen, dass sie in ihrem Herkunftsland ein Diplom gemacht und Praktika absolviert habe. Außerdem sei ihr während ihrer Kindheit und Jugend von ihrer Großmutter mütterlicherseits Unterhalt gewährt worden. Sie habe daher nicht nachgewiesen, dass ihr von ihren Familienangehörigen in Schweden Unterhalt gewährt werde.

14      Frau Reyes erhob gegen diese ablehnende Entscheidung des Migrationsverk Klage beim Förvaltningsrätt i Göteborg – Migrationsdomstol (Verwaltungsgericht Göteborg – Gericht für Einwanderungsfragen), das die Klage abwies. Das Gericht zog nicht in Zweifel, dass für die Deckung der Grundbedürfnisse von Frau Reyes durch ihre Mutter und ihren Stiefvater gesorgt wurde. Es schätzte ihre soziale Lage jedoch nicht so ein, dass sie ohne die materielle Unterstützung durch ihre Mutter und ihren Stiefvater in ihrem Herkunftsland nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen könnte. Das Gericht berücksichtigte bei seiner Würdigung, dass Frau Reyes jung ist, studiert hat und in Manila gelebt hat, über eine Hochschulausbildung verfügt und auf den Philippinen Verwandte hat. Allein der Umstand, dass die Mutter und der Stiefvater von Frau Reyes sich verpflichtet hätten, für sie zu sorgen, bedeute nicht, dass ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe, aufgrund dessen der Betroffenen ein Aufenthaltsrecht in Schweden verliehen werden könne.

15      Frau Reyes legte beim Kammarrätt i Stockholm – Migrationsöverdomstol (Berufungsverwaltungsgericht Stockholm – Berufungsgericht für Einwanderungsfragen) Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Förvaltningsrätt i Göteborg – Migrationsdomstol ein. Sie macht geltend, sie habe trotz ihres Studiums auf den Philippinen, wo die Arbeitslosigkeit hoch sei, keine Arbeit gefunden. Wenn es nicht weiterhin unerlässlich für das Überleben der Familie in ihrem Herkunftsland wäre, würden ihre Mutter und ihr Stiefvater nicht mit dieser Regelmäßigkeit Geldbeträge in dieser Höhe schicken.

16      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens unterschiedlicher Auffassung hinsichtlich der Auslegung des Erfordernisses „denen … Unterhalt gewährt wird“ in Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 seien. Insoweit fragt es unter Bezugnahme auf die Urteile vom 18. Juni 1987, Lebon (316/85, Slg. 1987, 2811), und vom 9. Januar 2007, Jia (C‑1/05, Slg. 2007, I‑1), ob bei der Beurteilung der Fähigkeit einer Person, ihre Grundbedürfnisse selbst zu decken, auch die Möglichkeit berücksichtigt werden darf, dies durch Ausübung einer entgeltlichen Tätigkeit zu tun.

17      Außerdem möchte das vorlegende Gericht wissen, wie sich die Absicht von Frau Reyes, im Aufnahmemitgliedstaat eine Arbeit aufzunehmen, auf die Beurteilung des Begriffs „Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird“ im Sinne dieser Richtlinie auswirkt. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hätte die Ausübung einer bezahlten Tätigkeit nämlich zur Folge, dass ein Aufenthaltsrecht aus dem angegebenen Grund entfiele, da aufgrund des Arbeitseinkommens kein Abhängigkeitsverhältnis mehr bestünde.

18      Unter diesen Umständen hat das Kammarrätt i Stockholm – Migrationsöverdomstol das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Lässt sich Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auslegen, dass ein Mitgliedstaat unter bestimmten Umständen verlangen darf, dass ein Verwandter in gerader absteigender Linie, der 21 Jahre oder älter ist – um als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird, und somit als von der Definition des Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 erfasst angesehen zu werden – den Versuch unternommen haben muss, Arbeit zu finden, von den Behörden des Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, dies aber nicht möglich war?

2.      Welche Bedeutung hat es für die Auslegung des Erfordernisses „denen … Unterhalt gewährt wird“ in Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38, dass ein Verwandter – aufgrund persönlicher Umstände wie Alter, Ausbildung und Gesundheit – gute Voraussetzungen dafür mitbringt, eine Arbeit zu finden, und darüber hinaus beabsichtigt, in dem Mitgliedstaat eine Arbeit aufzunehmen, was bedeuten würde, dass die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind, um ihn im Sinne dieser Bestimmung als einen Angehörigen zu betrachten, dem Unterhalt gewährt wird?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

19      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat danach unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verlangen darf, dass ein Verwandter in gerader absteigender Linie, der 21 Jahre oder älter ist – um als Person, der Unterhalt gewährt wird, und somit als von der Definition des „Familienangehörigen“ im Sinne dieser Vorschrift erfasst angesehen zu werden – nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

20      Insoweit ist festzustellen, dass das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses nachgewiesen werden muss, damit ein 21 Jahre alter oder älterer Verwandter in gerader absteigender Linie eines Unionsbürgers als Person angesehen werden kann, der von dem Unionsbürger im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 „Unterhalt gewährt wird“ (vgl. in diesem Sinne Urteil Jia, Rn. 42).

21      Diese Abhängigkeit ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle Unterhalt des Familienangehörigen durch den Unionsbürger, der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, oder durch dessen Ehegatten sichergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Jia, Rn. 35).

22      Um zu ermitteln, ob eine solche Abhängigkeit vorliegt, muss der Aufnahmemitgliedstaat prüfen, ob der 21 Jahre alte oder ältere Verwandte in gerader absteigender Linie eines Unionsbürgers in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt. Der Unterhaltsbedarf muss im Herkunfts- oder Heimatland eines solchen Verwandten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem er beantragt, dem Unionsbürger nachzuziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Jia, Rn. 37).

23      Dagegen ist es nicht erforderlich, die Gründe für diese Abhängigkeit und damit für die Inanspruchnahme der entsprechenden Unterstützung zu ermitteln. Diese Auslegung ist insbesondere durch den Grundsatz geboten, dass Vorschriften über die zu den Grundlagen der Union gehörende Freizügigkeit der Unionsbürger, etwa die Richtlinie 2004/38, weit auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Jia, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Die Tatsache, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Unionsbürger dem Verwandten in absteigender Linie regelmäßig während eines beachtlichen Zeitraums einen Geldbetrag zahlt, den Letzterer zur Deckung seiner Grundbedürfnisse im Herkunftsland benötigt, ist geeignet, ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Verwandten in absteigender Linie und dem Unionsbürger nachzuweisen.

25      Unter diesen Umständen kann von dem Verwandten in absteigender Linie nicht verlangt werden, dass er darüber hinaus nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

26      Durch das Erfordernis eines solchen zusätzlichen Nachweises, der – worauf der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge hingewiesen hat – in der Praxis nicht einfach zu erbringen ist, kann die Möglichkeit dieses Verwandten in absteigender Linie, von seinem Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat Gebrauch zu machen, übermäßig erschwert werden, während bereits die in Rn. 24 des vorliegenden Urteils beschriebenen Umstände geeignet sind, das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses nachzuweisen. Daher besteht die Gefahr, dass durch ein solches Erfordernis Art. 2 Nr. 2 Buchst. c und Art. 7 der Richtlinie 2004/38 ihre praktische Wirksamkeit genommen wird.

27      Im Übrigen ist nicht ausgeschlossen, dass der betreffende Verwandte in absteigender Linie durch eine solche Voraussetzung gezwungen wird, Schritte zu unternehmen, beispielsweise den Versuch, verschiedene Bescheinigungen darüber zu bekommen, dass er keine Arbeit finden und keine Sozialleistungen erhalten konnte, die aufwändiger sind als der Schritt, sich von der zuständigen Behörde des Herkunfts- oder Heimatlands ein Dokument ausstellen zu lassen, mit dem das Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses bestätigt wird. Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass ein solches Dokument keine Voraussetzung für die Ausstellung des Aufenthaltstitels sein kann (Urteil Jia, Rn. 42).

28      Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat danach unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht verlangen darf, dass ein Verwandter in gerader absteigender Linie, der 21 Jahre oder älter ist – um als Person, der Unterhalt gewährt wird, und somit als von der Definition des „Familienangehörigen“ im Sinne dieser Vorschrift erfasst angesehen zu werden – nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

 Zur zweiten Frage

29      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass sich die Tatsache, dass ein Familienangehöriger aufgrund persönlicher Umstände wie Alter, Ausbildung und Gesundheit gute Voraussetzungen dafür mitbringt, eine Arbeit zu finden, und darüber hinaus beabsichtigt, im Aufnahmemitgliedstaat einer Arbeit nachzugehen, auf die Auslegung des in dieser Vorschrift enthaltenen Erfordernisses „denen … Unterhalt gewährt wird“ auswirkt.

30      Insoweit ist festzustellen, dass das Abhängigkeitsverhältnis zu dem Zeitpunkt, zu dem der betreffende Familienangehörige den Nachzug zu dem Unionsbürger beantragt, der ihm Unterhalt gewährt, im Herkunftsland dieses Familienangehörigen bestehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile Jia, Rn. 37, und vom 5. September 2012, Rahman u. a., C‑83/11, Rn. 33).

31      Daraus folgt, dass etwaige Aussichten darauf, im Aufnahmemitgliedstaat einen Arbeitsplatz zu bekommen, der es dem 21 Jahre alten oder älteren Verwandten in gerader absteigender Linie eines Unionsbürgers gegebenenfalls ermöglichen würde, keinen Unterhalt von dem Unionsbürger mehr zu beziehen, wenn er erst einmal ein Aufenthaltsrecht hat, sich – wie im Wesentlichen alle Beteiligten, die Erklärungen beim Gerichtshof abgegeben haben, geltend machen – nicht auf die Auslegung des Erfordernisses „denen … Unterhalt gewährt wird“ im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 auswirken.

32      Außerdem würde eine gegenteilige Lösung, wie die Europäische Kommission zutreffend ausgeführt hat, es dem Verwandten in gerader absteigender Linie in der Praxis verbieten, im Aufnahmemitgliedstaat Arbeit zu suchen, und damit gegen Art. 23 der Richtlinie verstoßen, der es einem Verwandten in gerader absteigender Linie, wenn er das Recht auf Aufenthalt genießt, ausdrücklich erlaubt, eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger aufzunehmen (vgl. entsprechend Urteil Lebon, Rn. 20).

33      Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass sich die Tatsache, dass ein Familienangehöriger aufgrund persönlicher Umstände wie Alter, Ausbildung und Gesundheit gute Voraussetzungen dafür mitbringt, eine Arbeit zu finden, und darüber hinaus beabsichtigt, im Aufnahmemitgliedstaat einer Arbeit nachzugehen, nicht auf die Auslegung des in dieser Vorschrift enthaltenen Erfordernisses „denen … Unterhalt gewährt wird“ auswirkt.

 Kosten

34      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat danach unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht verlangen darf, dass ein Verwandter in gerader absteigender Linie, der 21 Jahre oder älter ist – um als Person, der Unterhalt gewährt wird, und somit als von der Definition des „Familienangehörigen“ im Sinne dieser Vorschrift erfasst angesehen zu werden – nachweist, dass er vergeblich versucht hat, Arbeit zu finden, von den Behörden seines Herkunftslands Hilfe zum Lebensunterhalt zu erlangen und/oder auf andere Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

2.      Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass sich die Tatsache, dass ein Familienangehöriger aufgrund persönlicher Umstände wie Alter, Ausbildung und Gesundheit gute Voraussetzungen dafür mitbringt, eine Arbeit zu finden, und darüber hinaus beabsichtigt, im Aufnahmemitgliedstaat einer Arbeit nachzugehen, nicht auf die Auslegung des in dieser Vorschrift enthaltenen Erfordernisses „denen … Unterhalt gewährt wird“ auswirkt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Schwedisch.