SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ATHANASIOS RANTOS
vom 5. April 2022(1)
Rechtssache C‑694/20
Orde van Vlaamse Balies,
IG,
Belgian Association of Tax Lawyers,
CD,
JU
gegen
Vlaamse Regering
(Vorabentscheidungsersuchen des Grondwettelijk Hof [Verfassungsgerichtshof, Belgien])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 und 47 – Verpflichtender automatischer Informationsaustausch über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen – Anwaltliches Berufsgeheimnis – Befreiung der Intermediäre von der Meldepflicht – Ersuchen um Prüfung der Gültigkeit“
I. Einleitung
1. Die vorliegende Rechtssache wirft die Frage des Umfangs des Schutzes des Berufsgeheimnisses der als „Intermediäre“ an der Konzeption von Steuergestaltungen beteiligten Rechtsanwälte und der ihnen im Rahmen der Anwendung der Richtlinie 2011/16(2) obliegenden Melde- und Unterrichtungspflichten auf.
2. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Beurteilung der Gültigkeit von Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16, wie er durch die Richtlinie 2018/822(3) eingefügt wurde (im Folgenden: streitige Bestimmung), wonach der „Rechtsanwalt‑Intermediär“, dem eine Befreiung von der Meldepflicht aufgrund des Schutzes der Verschwiegenheitspflicht gewährt wird, verpflichtet ist, jeden anderen „Intermediär“ über seine Meldepflichten gegenüber den Steuerbehörden zu unterrichten, im Hinblick auf die Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
3. Dieses Ersuchen des Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) ergeht im Rahmen von Anträgen auf vollständige oder teilweise Aussetzung eines Flämischen Dekrets zur Umsetzung der streitigen Bestimmung und zur Änderung der flämischen Regelung über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung, die vom Orde van Vlaamse Balies (Kammer der flämischen Rechtsanwaltschaften, Belgien) und der nicht rechtsfähigen Vereinigung Belgian Association of Tax Lawyers (im Folgenden: Kläger) gestellt worden waren.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Die Richtlinie 2011/16 führt ein System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Steuerbehörden der Mitgliedstaaten ein und legt die Regeln und Verfahren fest, die beim Informationsaustausch für steuerliche Zwecke anzuwenden sind.
5. Mit der Richtlinie 2018/822 wurde eine Meldepflicht in Bezug auf etwaige grenzüberschreitende Steuergestaltungen(4) mit potenziell aggressivem Charakter bei den zuständigen Behörden eingeführt. In den Erwägungsgründen 2, 6, 8 und 18 dieser Richtlinie heißt es:
„(2) Für die Mitgliedstaaten wird es immer schwieriger, ihre nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, da die Steuerplanungsstrukturen immer ausgefeilter werden und sich häufig die höhere Mobilität von Kapital und Personen im Binnenmarkt zunutze machen. … Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass die Steuerbehörden der Mitgliedstaaten umfassende und relevante Informationen über potenziell aggressive Steuergestaltungen erhalten. Diese Informationen würden die Behörden in die Lage versetzen, zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen. …
…
(6) Die Meldung potenziell aggressiver grenzüberschreitender Steuerplanungsgestaltungen kann die Bemühungen zur Schaffung einer gerechten Besteuerung im Binnenmarkt nachhaltig unterstützen. Hier würde die Verpflichtung der Intermediäre, die Steuerbehörden … zu informieren, … einen Schritt in die richtige Richtung darstellen. …
…
(8) Um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten und Schlupflöcher in den vorgeschlagenen Rahmenvorschriften zu vermeiden, sollten alle Akteure, die normalerweise an der Konzeption, Vermarktung, Organisation oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Transaktion oder einer Reihe solcher Transaktionen beteiligt sind, sowie alle, die Unterstützung oder Beratung leisten, zur Meldung verpflichtet sein. Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass in bestimmten Fällen die Meldepflicht eines Intermediärs aufgrund einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht nicht durchsetzbar ist oder gar kein Intermediär vorhanden ist, weil beispielsweise der Steuerpflichtige eine Steuerplanungsgestaltung selbst konzipiert und umsetzt. Es wäre äußerst wichtig, dass die Steuerbehörden in solchen Fällen weiterhin die Möglichkeit haben, Informationen über Steuergestaltungen zu erhalten, die potenziell mit aggressiver Steuerplanung verbunden sind. Hierfür müsste die Meldepflicht auf den Steuerpflichtigen verlagert werden, der in diesen Fällen von der Gestaltung profitiert.
…
(18) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden.“
6. Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/16 bestimmt in den durch Art. 1 Nr. 1 Buchst. b der Richtlinie 2018/822 eingefügten Nrn. 18 bis 22, 24 und 25:
„18. ‚grenzüberschreitende Gestaltungen‘ eine Gestaltung, die entweder mehr als einen Mitgliedstaat oder einen Mitgliedstaat und ein Drittland betrifft, wobei mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:
…
19. ‚meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, die mindestens eines der in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen aufweist;
20. ‚Kennzeichen‘ ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer grenzüberschreitenden Gestaltung gemäß Anhang IV, das bzw. die auf ein potenzielles Risiko der Steuervermeidung hindeutet;
21. ‚Intermediär‘ jede Person, die eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, vermarktet, organisiert oder zur Umsetzung bereitstellt oder die die Umsetzung einer solchen Gestaltung verwaltet.
Dieser Ausdruck bezeichnet auch jede Person, die – unter Berücksichtigung der relevanten Fakten und Umstände und auf der Grundlage der verfügbaren Informationen sowie des einschlägigen Fachwissens und Verständnisses, die für die Erbringung solcher Dienstleistungen erforderlich sind, – weiß oder vernünftigerweise wissen müsste, dass sie unmittelbar oder über andere Personen Hilfe, Unterstützung oder Beratung im Hinblick auf Konzeption, Vermarktung, Organisation, Bereitstellung zur Umsetzung oder Verwaltung der Umsetzung einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung geleistet hat. Jede Person hat das Recht, Beweise zu erbringen, wonach sie nicht wusste oder vernünftigerweise nicht wissen konnte, dass sie an einer meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war. Die betreffende Person kann zu diesem Zweck alle relevanten Fakten und Umstände sowie verfügbaren Informationen und ihr einschlägiges Fachwissen und Verständnis geltend machen.
Damit eine Person als Intermediär fungieren kann, muss sie mindestens eine der folgenden zusätzlichen Bedingungen erfüllen:
a) Sie ist in einem Mitgliedstaat steuerlich ansässig;
b) sie hat eine Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat, durch die die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Gestaltung erbracht werden;
c) sie ist nach dem Recht eines Mitgliedstaats eingetragen oder unterliegt dem Recht eines Mitgliedstaats;
d) sie ist in einem Mitgliedstaat Mitglied in einer Organisation für juristische, steuerliche oder beratende Dienstleistungen;
22. ‚relevanter Steuerpflichtiger‘ jede Person, der eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird oder die bereit ist, eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umzusetzen, oder die den ersten Schritt einer solchen Gestaltung umgesetzt hat;
…
24. ‚marktfähige Gestaltung‘ eine grenzüberschreitende Gestaltung, die konzipiert wird, vermarktet wird, umsetzungsbereit ist oder zur Umsetzung bereitgestellt wird, ohne dass sie individuell angepasst werden muss;
25. ‚maßgeschneiderte Gestaltung‘ jede grenzüberschreitende Gestaltung, bei der es sich nicht um eine marktfähige Gestaltung handelt.“
7. Zur Meldepflicht und zur Berufung auf die Verschwiegenheitspflicht heißt es in Art. 8ab der Richtlinie 2011/16, der durch Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 eingefügt wurde:
„(1) Jeder Mitgliedstaat ergreift die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zur Vorlage der ihnen bekannten, in ihrem Besitz oder unter ihrer Kontrolle befindlichen Informationen über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen bei den zuständigen Steuerbehörden zu verpflichten, und zwar innerhalb von 30 Tagen beginnend
a) an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zur Umsetzung bereitgestellt wird, oder
b) an dem Tag, nach dem die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umsetzungsbereit ist, oder
c) wenn der erste Schritt der Umsetzung der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung gemacht wurde,
je nachdem, was früher eintritt.
…
5. Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um den Intermediären das Recht auf Befreiung von der Pflicht zu gewähren, Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung vorzulegen, wenn mit der Meldepflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht verstoßen würde. In solchen Fällen ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um die Intermediäre zu verpflichten, andere Intermediäre oder, falls es keine solchen gibt, den relevanten Steuerpflichtigen unverzüglich über ihre Meldepflichten gemäß Absatz 6 zu unterrichten.
Intermediäre können die in Unterabsatz 1 genannte Befreiung nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie ihre Tätigkeit im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften ausüben.
(6) Für den Fall, dass kein Intermediär existiert oder der Intermediär den relevanten Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung gemäß Absatz 5 unterrichtet, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Pflicht zur Vorlage von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung dem anderen unterrichteten Intermediär oder, falls kein solcher existiert, dem relevanten Steuerpflichtigen obliegt.
…
(9) Für den Fall, dass mehr als ein Intermediär existiert, ergreift jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Verpflichtung zur Vorlage von Informationen über die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung allen Intermediären, die an derselben meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt sind, obliegt.
Ein Intermediär ist nur soweit von der Vorlage der Informationen befreit, als er im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften nachweisen kann, dass dieselben Informationen gemäß Absatz 14 bereits durch einen anderen Intermediär vorgelegt wurden.
…
(14) Die von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gemäß Absatz 13 [den zuständigen Behörden aller anderen Mitgliedstaaten] zu übermittelnden Informationen umfassen soweit anwendbar Folgendes:
a) die Angaben zu den Intermediären und relevanten Steuerpflichtigen, einschließlich des Namens, des Geburtsdatums und ‑orts (bei natürlichen Personen), der Steueransässigkeit und der STEUERIDENTIFIKATIONSNUMMER sowie gegebenenfalls der Personen, die als verbundene Unternehmen des relevanten Steuerpflichtigen gelten;
b) Einzelheiten zu den in Anhang IV aufgeführten Kennzeichen, die bewirken, dass die grenzüberschreitende Gestaltung meldepflichtig ist;
c) eine Zusammenfassung des Inhalts der meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltung, soweit vorhanden einschließlich eines Verweises auf die Bezeichnung, unter der es allgemein bekannt ist, und einer abstrakt gehaltenen Beschreibung der relevanten Geschäftstätigkeiten oder Gestaltungen, die nicht zur Preisgabe eines Handels‑, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens oder von Informationen führt, deren Preisgabe die öffentliche Ordnung verletzen würde;
…“
B. Belgisches Recht
8. Mit dem Decreet betreffende de administratieve samenwerking op het gebied van belastingen (Dekret über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung) vom 21. Juni 2013 (Belgisch Staatsblad, 26. Juni 2013, S. 40587) (im Folgenden: Dekret vom 21. Juni 2013) wird die Richtlinie 2011/16 in der Flämischen Region (Belgien) umgesetzt.
9. Dieses Dekret wurde durch das Decreet tot wijziging van het decreet van 21 juni 2013, wat betreft de verplichte automatische uitwisseling van inlichtingen op belastinggebied met betrekking tot meldingsplichtige grensoverschrijdende constructies (Dekret zur Änderung des Dekrets vom 21. Juni 2013 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen) vom 26. Juni 2020 (Belgisch Staatsblad, 3. Juli 2020, S. 49170) (im Folgenden: Dekret vom 26. Juni 2020), das die Richtlinie 2018/822 umsetzt, geändert.
10. Kapitel 2 Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 des Dekrets vom 21. Juni 2013 regelt die Pflicht der Intermediäre und relevanten Steuerpflichtigen zur Übermittlung von Informationen über die meldepflichtigen grenzüberschreitenden Gestaltungen.
11. Art. 11/6 dieses Dekrets, der durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020 eingefügt wurde, legt das Verhältnis zwischen der Meldepflicht und dem Berufsgeheimnis fest, das bestimmte Intermediäre zu beachten haben. Er setzt Art. 8ab Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2011/16 um. Art. 11/6 des Dekrets vom 21. Juni 2013 sieht in Abs. 1 vor:
„Ist ein Intermediär durch das Berufsgeheimnis gebunden, hat er
1° einen anderen Intermediär oder andere Intermediäre schriftlich und unter Angabe von Gründen davon zu unterrichten, dass er der Meldepflicht nicht nachkommen kann, so dass diese Meldepflicht automatisch dem anderen Intermediär oder den anderen Intermediären obliegt;
2° – in Ermangelung eines anderen Intermediärs – den oder die betreffenden Steuerpflichtigen schriftlich und unter Angabe von Gründen über seine oder ihre Meldepflicht zu informieren.
Die Befreiung von der Meldepflicht wird erst zu dem Zeitpunkt wirksam, zu dem ein Intermediär der Verpflichtung nach [Unterabs. 1] nachgekommen ist.
…“
12. Art. 11/7 des Dekrets vom 21. Juni 2013, eingefügt durch Art. 15 des Dekrets vom 26. Juni 2020, bestimmt:
„… wenn der Intermediär den betreffenden Steuerpflichtigen oder einen anderen Intermediär über die Anwendung einer Befreiung nach Art. 11/6 [Unterabs. 1] informiert, obliegt die Verpflichtung zur Erteilung von Informationen über eine grenzüberschreitende Gestaltung, die Gegenstand einer Meldung ist, dem anderen Intermediär, der informiert wurde, oder in Ermangelung eines solchen dem betreffenden Steuerpflichtigen.“
III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof
13. Mit Klageschriften, die am 31. August bzw. 1. Oktober 2020 eingereicht wurden, beantragten die Kläger beim vorlegenden Gericht die Aussetzung des Dekrets vom 26. Juni 2020 und seine vollständige oder teilweise Nichtigerklärung.
14. Dieses Gericht ordnete die Aussetzung, bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Urteils über die Nichtigkeitsklagen, erstens von Art. 11/6 Abs. 1 Unterabs. 1 des Dekrets vom 21. Juni 2013, eingefügt durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020, nur insoweit an, als er dem als Intermediär auftretenden Rechtsanwalt eine Informationspflicht gegenüber einem anderen Intermediär auferlegt, der nicht sein Mandant ist, und zweitens von Art. 11/6 Abs. 3 des Dekrets vom 21. Juni 2013, eingefügt durch Art. 14 des Dekrets vom 26. Juni 2020, nur soweit er vorsieht, dass der Rechtsanwalt sich betreffend die regelmäßige Meldepflicht von marktfähigen grenzüberschreitenden Gestaltungen im Sinne von Art. 11/4 des Dekrets vom 21. Juni 2013 nicht auf das Berufsgeheimnis berufen kann.
15. Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Verstößt Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2018/822 gegen das Recht auf ein faires Verfahren, wie es in Art. 47 der Charta garantiert ist, und das Recht auf Achtung des Privatlebens, wie es in Art. 7 der Charta garantiert ist, soweit der neue Art. 8ab Abs. 5, der in die Richtlinie 2011/16 eingefügt wurde, vorsieht, dass, wenn ein Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreift, um Intermediäre von der Verpflichtung zur Bereitstellung von Informationen über eine meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung zu befreien, wenn die Meldepflicht gegen eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats verstoßen würde, dieser Mitgliedstaat gehalten ist, die Intermediäre zu verpflichten, jeden anderen Intermediär oder, falls es keinen gibt, den betreffenden Steuerpflichtigen unverzüglich über seine Meldepflichten zu unterrichten, sofern diese Verpflichtung dazu führt, dass ein Rechtsanwalt, der als Intermediär auftritt, verpflichtet ist, Informationen, die er im Rahmen der Ausübung wesentlicher Tätigkeiten seines Berufs, nämlich der Verteidigung oder Vertretung des Mandanten vor Gericht und der Rechtsberatung, auch außerhalb eines Rechtsstreits erfährt, einem anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, mitzuteilen?
16. Die Klägerinnen, die belgische, die tschechische, die französische und die lettische Regierung, die Europäische Kommission sowie der Rat der Europäischen Union haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der tschechischen und der lettischen Regierung haben diese Beteiligten außerdem in der mündlichen Verhandlung, die am 25. Januar 2022 vor der Großen Kammer des Gerichtshofs stattgefunden hat, Stellung genommen.
IV. Würdigung
A. Vorbemerkungen
17. Die Richtlinie 2011/16 – bekannt unter dem Namen „DAC6“ – fügt sich in den Rahmen der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung ein und entspricht den Maßnahmen, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) weltweit zur Stärkung der Steuertransparenz und zur Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung ergriffen hat.
18. In diesem Kontext sah diese Richtlinie den automatischen Austausch von Informationen über grenzüberschreitende Steuergestaltungen vor und erlegte den steuerlichen Intermediären eine Meldepflicht auf, um die Konzeption oder Nutzung von Gestaltungen aggressiver Steuerplanung zu verhindern.
19. Die grenzüberschreitenden Gestaltungen, die Gegenstand des in dieser Richtlinie vorgesehenen Informationsaustauschs sind, werden unter Bezugnahme auf eine Liste spezifischer Merkmale in Anhang IV der Richtlinie 2018/822, die „Kennzeichen“ genannt werden, bestimmt.
20. Das neue Element, das mit der Richtlinie 2018/822 zur Erreichung des Ziels der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung eingeführt wurde, ist die Verpflichtung zur Abgabe einer Meldung bei den Steuerbehörden, die nunmehr alle Intermediäre aufgrund ihrer insbesondere von der OECD festgestellten zentralen Rolle bei der Konzeption von aggressiven Steuerplanungsgestaltungen trifft. Nur wenn es keine solchen Intermediäre gibt oder diese an der Meldung gehindert sind, geht diese Verpflichtung auf den Steuerpflichtigen über. Daraus folgt, dass die dem Steuerpflichtigen obliegende Meldepflicht als letztes Mittel eingeführt wurde, da der Unionsgesetzgeber meines Erachtens zu Recht davon ausgegangen ist, dass das Meldesystem wesentlich weniger wirksam gewesen wäre, wenn es dem Steuerpflichtigen selbst obliegen würde, gegenüber den Steuerbehörden seine eigene Entscheidung zu melden, eine „aggressive Gestaltung“ zu verwenden.
21. Folglich stellt die Einbindung des Intermediärs den Eckpfeiler dieses Systems dar, und jede Beschränkung seines Funktionierens könnte den Kern der Ziele der Richtlinie 2011/16 beeinträchtigen. Die Verwirklichung dieser Ziele darf jedoch nicht zur Verletzung der durch die Charta geschützten Grundrechte führen. Es ist daher zu prüfen, ob die mit der Richtlinie 2011/16 eingeführte Regelung sowie die mit der Richtlinie 2018/822 daran vorgenommenen Änderungen zu einer solchen Verletzung führen können.
22. Vor der rechtlichen Würdigung der Vereinbarkeit der streitigen Bestimmung mit den Art. 7 und 47 der Charta halte ich es für wichtig, die Merkmale der den „Rechtsanwälten‑Intermediären“ obliegenden Meldepflicht zu klären.
23. Erstens scheint es die Absicht des Unionsgesetzgebers zu sein, das Berufsgeheimnis der Rechtsanwälte zu schützen, indem er ihnen zum einen eine Befreiung von der Meldung gewährt(5) und zum anderen den Inhalt der Informationen beschränkt, die der Rechtsanwalt‑Intermediär dem Drittintermediär im Fall einer Befreiung zu übermitteln hat(6). Nur Rechtsanwälte, die ihre Tätigkeit „im Rahmen der für ihren Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften“ ausüben, können sich jedoch auf das Berufsgeheimnis berufen und eine Befreiung von der Meldung in Anspruch nehmen(7). Daraus folgt, dass sich ein Rechtsanwalt, der außerhalb des für seinen Beruf geltenden nationalen Rahmens handelt, grundsätzlich nicht auf das Berufsgeheimnis berufen kann und sich in der Situation jedes anderen Intermediärs befindet, für den keine Befreiung von der Meldung gilt.
24. Zweitens muss der Rechtsanwalt‑Intermediär, falls ihm die Befreiung zugutekommt, diese den anderen Intermediären mitteilen und sie über die ihnen obliegenden Meldepflichten unterrichten. Es ist jedoch festzustellen, dass, wenn es keinen anderen von der fraglichen grenzüberschreitenden Gestaltung betroffenen Intermediär gibt, die Meldung des Rechtsanwalts‑Intermediärs betreffend die Befreiung, die ihm gewährt wird, gegenüber dem relevanten Steuerpflichtigen, d. h. seinem Mandanten, definitionsgemäß das Berufsgeheimnis zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten nicht verletzen kann. Daher ist in der nachfolgenden Würdigung nur auf die Meldepflicht des Rechtsanwalts‑Intermediärs gegenüber einem anderen Intermediär, der nicht sein Mandant ist, einzugehen(8).
25. Außerdem ist klarzustellen, dass sich im Fall eines anderen Intermediärs seine Meldepflicht bereits eindeutig aus Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 ergibt. Selbst im Fall mehrerer Intermediäre ist nach Abs. 9 dieses Artikels jeder von ihnen verpflichtet, diese Verpflichtung zu erfüllen, es sei denn, er weist nach, dass diese Verpflichtung bereits von einem anderen Intermediär erfüllt worden ist. Mit anderen Worten begründet das Informieren eines anderen Intermediärs nach der streitigen Bestimmung keine neue Meldepflicht für die informierte Person (Intermediär).
26. Drittens ist festzustellen, dass die streitige Bestimmung weder die Form oder die Art der Erfüllung dieser Meldepflicht noch den genauen Inhalt der zu übermittelnden Informationen definiert. Es würde nämlich genügen, dass die übermittelten Informationen die grenzüberschreitende Gestaltung bezeichnen, auf die sie sich beziehen, und auf die Meldepflicht des anderen betroffenen Intermediärs hinweisen(9).
27. Viertens und letztens ist zu bemerken, dass die unterrichteten Drittintermediäre, die auf diese Weise über die Beteiligung des Rechtsanwalts informiert werden und selbst nicht dem Berufsgeheimnis unterliegen, aufgrund ihrer eigenen Meldepflichten nach Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 die Steuerverwaltung nicht nur über das Bestehen der grenzüberschreitenden Gestaltung und den relevanten Steuerpflichtigen informieren, sondern auch über die Beteiligung des Rechtsanwalts‑Intermediärs. Insoweit ergibt sich aus Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 2 und Abs. 14 dieser Richtlinie, dass die Angaben zu den Intermediären zu den Informationen gehören, die in Erfüllung der Meldepflicht vorzulegen sind.
B. Zur Vereinbarkeit der streitigen Bestimmung mit den Art. 7 und 47 der Charta
28. Ich erinnere daran, dass das vorlegende Gericht die Frage nach der Gültigkeit der streitigen Bestimmung stellt und die Frage aufwirft, ob diese Bestimmung gegen die in den Art. 7 und 47 der Charta verbürgte Regel des Berufsgeheimnisses der Rechtsanwälte verstößt.
29. Die Kläger machen insoweit geltend, dass die Meldepflicht, insbesondere in Bezug auf Drittintermediäre, das Berufsgeheimnis der Anwälte verletze und sowohl gegen Art. 7 als auch gegen Art. 47 der Charta verstoße. So tragen sie vor, das anwaltliche Berufsgeheimnis sei ein wesentlicher Bestandteil der Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf ein faires Verfahren und das erforderliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Mandanten und seinem Anwalt könne nur aufrechterhalten werden, wenn der Mandant die Gewähr dafür habe, dass das, was er dem Rechtsanwalt anvertraue, nicht offengelegt werde. Der bloße Umstand, dass man einen Rechtsanwalt hinzugezogen habe, falle bereits unter den Schutz des Berufsgeheimnisses. Folglich könne ein Rechtsanwalt Dritten oder einer Behörde keinerlei Informationen über eine grenzüberschreitende Gestaltung zur Verfügung stellen, auch wenn sein Tätigwerden auf ein bloßes Gutachten beschränkt sei.
30. Die belgische, die tschechische, die französische und die lettische Regierung, die Kommission sowie der Rat machen geltend, dass die Meldepflicht mit den Art. 7 und 47 der Charta im Einklang stehe und die streitige Bestimmung folglich nicht gegen das Berufsgeheimnis verstoße.
31. Ich weise vorab darauf hin, dass sowohl der Gerichtshof als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) mehrfach Gelegenheit hatten, sich zum Umfang des anwaltlichen Berufsgeheimnisses zu äußern. So hat der Gerichtshof anerkannt, dass dieses Berufsgeheimnis einen der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts darstellt, die sich von den gemeinsamen Werten und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten leiten lassen(10).
32. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Regel des Berufsgeheimnisses zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten nach der Rechtsprechung des EGMR in zweifacher Weise durch Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und durch deren Art. 8 gewährleistet wird(11).
33. Der Gerichtshof hat auch klargestellt, dass der Umfang und die Modalitäten des Schutzes des anwaltlichen Berufsgeheimnisses zwar weiterhin den nationalen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten unterliegen, dass aber der Grundsatz dieses Schutzes nach Art. 52 Abs. 3 der Charta und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs auch als auf der doppelten Grundlage der Art. 7 und 47 der Charta gewährleistet anzusehen ist.
34. Zudem soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung der Art. 7 und 47 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in den Art. 6 und 8 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierte Schutzniveau nicht verletzt(12).
1. Verstößt die streitige Bestimmung gegen Art. 47 der Charta?
35. Erstens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 47 der Charta das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet und das Recht jeder Person umfasst, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen.
36. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst das Recht auf ein faires Verfahren nach der EMRK verschiedene Elemente, zu denen u. a. die Rechte der Verteidigung, der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Zugang zu den Gerichten sowie das Recht auf einen Anwalt sowohl in Zivilsachen als auch in Strafsachen gehören(13).
37. Das Verhältnis zwischen der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten einerseits und dem Recht auf ein faires Verfahren andererseits wurde vom Gerichtshof in einer Rechtssache präzisiert, die große Ähnlichkeit mit der vorliegenden Rechtssache aufweist. So wirft die Rechtssache Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a. die Frage auf, ob das Geheimnis des Schriftverkehrs mit der Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den für die Bekämpfung der Geldwäsche zuständigen nationalen Behörden vereinbar ist(14). Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die Art der Tätigkeiten, die von den Meldepflichten erfasst sind, so ist, dass sie in einem Kontext ausgeübt werden, der keine Verbindung zu den Gerichtsverfahren hat, so dass diese Tätigkeiten folglich nicht in den Anwendungsbereich des Rechts auf ein faires Verfahren fallen(15).
38. Insbesondere zur Vertraulichkeit des Schriftwechsels zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten zum einen und zu den Verteidigungsrechten zum anderen hat der Gerichtshof ausgeführt, dass, „[w]äre ein Rechtsanwalt im Rahmen eines Gerichtsverfahrens oder im Rahmen von dessen Vorbereitung verpflichtet, mit den öffentlichen Stellen zusammenzuarbeiten und ihnen Informationen zu übermitteln, die er anlässlich einer Rechtsberatung erlangt hat, die im Rahmen eines solchen Verfahrens stattfand, … er seinen Aufgaben bei der Beratung, der Verteidigung und der Vertretung seines Mandanten nicht in angemessener Weise gerecht werden [könnte], so dass dem Mandanten die ihm durch Art. 6 EMRK gewährten Rechte genommen wären“(16).
39. Außerdem hat der EGMR anerkannt, dass sich im Fall eines Anwalts eine Verletzung des Berufsgeheimnisses auf die geordnete Rechtspflege und folglich auf die durch Art. 6 EMRK garantierten Rechte auswirken kann(17).
40. Aus dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs und des EGMR ergibt sich erstens, dass das Recht auf ein faires Verfahren definitionsgemäß einen Bezug zu einem Gerichtsverfahren impliziert und dass es untrennbar mit dem Vorhandensein eines gerichtlichen Kontexts verbunden ist.
41. In der vorliegenden Rechtssache ist jedoch festzustellen, dass ein solcher Bezug nicht nachgewiesen worden ist. Somit handelt der Intermediär im Kontext der Richtlinie 2011/16 in einem Rechtsstreit mit der Steuerverwaltung nicht als Verteidiger seines Mandanten. Zwar können seine Ratschläge möglicherweise zu einem Rechtsstreit mit der Steuerverwaltung in einem späteren Stadium führen, doch bedeutet dies nicht, dass diese im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs „im Rahmen und im Interesse des Rechts … auf Verteidigung“ abgegeben wurden.
42. Zweitens ist das Fehlen eines Bezugs zu einem Gerichtsverfahren betreffend die streitige Bestimmung umso deutlicher, als die Meldepflicht naturgemäß in einem frühen Stadium entsteht, bevor die meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltung umgesetzt wird, und somit zu einem Zeitpunkt, zu dem grundsätzlich kein Rechtsstreit mit der Steuerverwaltung über diese Gestaltung hätte entstehen können.
43. Im Übrigen wird das Fehlen eines Bezugs zu einem Gerichtsverfahren auch durch die mit der Richtlinie 2011/16 verfolgten Ziele bestätigt, die hauptsächlich „präventiv“ sind. Insoweit heißt es im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/822 klar, dass der Informationsaustausch die Steuerbehörden in die Lage versetzen soll, „zeitnah gegen schädliche Steuerpraktiken vorzugehen und Schlupflöcher durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder durch die Durchführung geeigneter Risikoabschätzungen sowie durch Steuerprüfungen zu schließen“.
44. Drittens ist darauf hinzuweisen, dass sich die in der Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Informationspflichten auf eine rechtmäßige, also a priori nicht streitige Tätigkeit beziehen, zumindest im Anfangsstadium dieser Meldungen. Daraus folgt, dass das Fehlen eines Bezugs zu einem Gerichtsverfahren noch offensichtlicher ist als im Kontext der Rechtssache Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., da die Meldepflichten hier – anders als Handlungen im Zusammenhang mit Geldwäsche – Tätigkeiten betreffen, die nicht unmittelbar gegen anwendbares Recht verstoßen.
45. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die Unterrichtung der anderen Intermediäre über die Pflicht, einen Drittintermediär zu informieren, die durch Art. 47 der Charta geschützten Rechte nicht beeinträchtigen kann, da diese Pflicht nicht in den Rahmen eines Gerichtsverfahrens und folglich nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt(18).
2. Verstößt die streitige Bestimmung gegen Art. 7 der Charta?
46. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Rechte nach Art. 7 der Charta den Rechten entsprechen, die durch Art. 8 EMRK garantiert sind(19). Nach Art. 7 der Charta hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.
47. Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass das Berufsgeheimnis von Rechtsanwälten von Art. 8 EMRK besonders geschützt wird(20).
48. Für die Anwendung von Art. 7 der Charta ist daher festzustellen, dass der Schutz des Berufsgeheimnisses nach Art. 8 EMRK nicht auf die Tätigkeiten beschränkt ist, die mit der Verteidigung eines Mandanten vor Gericht verbunden sind, sondern dass er eine weiter gehende Dimension (und einen weiteren Anwendungsbereich) in dem Sinne hat, dass er auch die Beziehung eines Rechtsanwalts zu seinem Mandanten außerhalb eines gerichtlichen Kontexts schützt (auch wenn dieser Schutz für die Tätigkeiten in Verbindung mit dieser Aufgabe strenger ist).
49. Daher soll Art. 8 EMRK die Vertraulichkeit jeder Korrespondenz zwischen Privatpersonen schützen, indem er dem Schriftwechsel zwischen den Rechtsanwälten und ihren Mandanten einen verstärkten Schutz zuweist. Es ist außerdem klarzustellen, dass dieser Schutz auch die Rechtsberatung umfasst, indem er die Vertraulichkeit dieser Rechtsberatung nicht nur im Hinblick auf ihren Inhalt (unabhängig von ihrer Form) schützt, sondern auch im Hinblick auf ihre Existenz(21).
50. In seinem Urteil Michaud hat sich der EGMR zur Vereinbarkeit der den Rechtsanwälten auferlegten Verpflichtung, den zuständigen Behörden im Kontext der französischen Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 2005/60/EG verdächtige Tätigkeiten ihrer Mandanten mitzuteilen, mit der EMRK geäußert(22).
51. In diesem Urteil hat der EGMR festgestellt, dass, „da sie sie zwingt, einer Verwaltungsbehörde Informationen über eine andere Person zur Verfügung zu stellen, die sie aufgrund ihrer Kommunikation mit ihr besitzen, die Verpflichtung zur Anzeige eines Verdachts der Rechtsanwälte einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung ihrer Korrespondenz darstellt“ und „auch einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung ihres ‚Privatlebens‘ darstellt, wobei dieser Begriff auch berufliche oder geschäftliche Tätigkeiten einschließt“(23).
52. Nach Ansicht des EGMR war der Eingriff in das Privatleben jedoch dadurch gerechtfertigt, dass die Verpflichtung zur Anzeige eines Verdachts nur „Tätigkeiten [betrifft], die von der Anwälten anvertrauten Aufgabe als Verteidiger weit entfernt und die vergleichbar mit den Aufgaben von anderen Angehörigen der freien Berufe sind, die ebenfalls einer derartigen Verpflichtung unterliegen“, nämlich Finanz- oder Immobilientransaktionen(24), und dass die Anwälte diese Verpflichtung nicht hatten, „wenn die betreffende Tätigkeit ‚sich auf ein Gerichtsverfahren bezieht, unabhängig davon, ob die Informationen, über die sie verfügen, vor, während oder nach diesem Verfahren erhalten oder erlangt wurden, einschließlich im Rahmen der Beratung betreffend die Art, ein solches Verfahren einzuleiten oder zu verhindern, und auch nicht wenn sie Rechtsberatung erteilen, außer diese erfolgt zu Zwecken der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung oder in dem Wissen, dass der Mandant sie zu Zwecken der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung verlangt‘“(25).
53. Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich, dass der Schutz des Berufsgeheimnisses nach Art. 8 EMRK nicht sämtliche Tätigkeiten eines Rechtsanwalts umfasst.
54. Zum einen gibt es die Tätigkeiten, die herkömmlicherweise zur Aufgabe des Rechtsanwalts gehören und die folglich unter das Berufsgeheimnis fallen. Daher kann sich ein Rechtsanwalt, der seinen Mandanten im Rahmen eines Gerichtsverfahrens oder seiner Vorbereitung berät, selbstverständlich auf das Berufsgeheimnis berufen. Gleiches gilt für einen Anwalt, der von seinem Mandanten wegen eines Ad-hoc-Rechtsgutachtens konsultiert wird.
55. Zum anderen gibt es Fälle, in denen ein Rechtsanwalt außerhalb seiner „gewöhnlichen Rolle“ als Vertreter eines Mandanten oder Rechtsberaters handeln kann, so dass die von diesem Rechtsanwalt ausgeübten Tätigkeiten denen anderer Berufstätiger gleichgestellt sind. In solchen Fällen kann jedoch die Art dieser Tätigkeiten nicht den Schutz des Berufsgeheimnisses rechtfertigen, das, wie oben erläutert, zu einer ganz speziellen Funktion in einer demokratischen Gesellschaft gehört, die darin besteht, es dem Rechtsanwalt zu gestatten, seine grundlegende Aufgabe, nämlich die Verteidigung der Bürger, zu erfüllen.
56. Ich stelle jedoch fest, dass diese Unterscheidung nicht absolut ist und bei der Umsetzung praktische Schwierigkeiten aufwerfen kann – wie die vorliegende Rechtssache zeigt –, insbesondere in bestimmten Fällen, in denen die Rolle des Rechtsanwalts differenzierter ist. Insoweit weise ich auf die unterschiedlichen Standpunkte der Parteien in der vorliegenden Rechtssache zur Rolle des Rechtsanwalts als Intermediär im Rahmen der grenzüberschreitenden Gestaltung hin.
57. Zum einen bringen nämlich die Kläger vor, der Anwalt müsse sich stets, allein aufgrund seiner Stellung als Rechtsanwalt, auf sein Berufsgeheimnis berufen können, ohne dass es auf die Art seiner Tätigkeit als „Intermediär“ ankomme. Der Rechtsanwalt habe somit weder eine Meldepflicht noch eine subsidiäre Pflicht zur Unterrichtung eines Drittintermediärs über seine Befreiung.
58. Im Gegensatz dazu tragen einige Mitgliedstaaten (und insbesondere das Königreich Belgien und die Republik Lettland) vor, dass die Tätigkeit des Intermediärs keine Rechtsanwaltstätigkeit sei, was es rechtfertige, dem Rechtsanwalt die Melde- und Unterrichtungspflicht aufzuerlegen.
59. Der Wortlaut der Richtlinie 2011/16 scheint nämlich darauf hinzudeuten, dass die von einem Rechtsanwalt als Intermediär angebotenen Dienstleistungen grundsätzlich nicht zu den üblichen Tätigkeiten des Rechtsanwaltsberufs gehören, die in der Verteidigung und der rechtlichen Beurteilung bestehen. Daher müsste der Rechtsanwalt als Intermediär auf den ersten Blick mit den anderen „Intermediären“ gleichgesetzt werden, von denen einige das Berufsgeheimnis nicht in Anspruch nehmen können(26).
60. Es erscheint mir nämlich zweifelhaft, ob ein Rechtsanwalt, der – allein oder mit Unterstützung anderer Berufstätiger – eine grenzüberschreitende Gestaltung erarbeitet, um sie sodann Steuerpflichtigen anzubieten, zwangsläufig im Rahmen seines Berufs handelt. Insbesondere der Umstand, dass die Beteiligung des Rechtsanwalts an der Konzeption dieser Gestaltung vor deren Vermarktung an einen Mandanten erfolgen kann, deutet meines Erachtens auf das Fehlen einer notwendigen Verbindung zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten hin, die den Schutz des Berufsgeheimnisses rechtfertigen würde(27).
61. Beispielsweise ist es möglich, dass ein Rechtsanwalt „[den] Rahmen der für [seinen] Beruf relevanten nationalen Rechtsvorschriften“ verlässt und insoweit die Befreiung von der Meldepflicht verliert, wenn er „marktfähige“(28) grenzüberschreitende Gestaltungen konzipiert, deren Merkmal es ist, dass sie im Unterschied zu den „maßgeschneiderten Gestaltungen“(29) umgesetzt werden können, ohne dass sie individuell angepasst werden müssen. Es ist vorstellbar, dass ein Rechtsanwalt, ohne mit einem Mandanten in einem Beratungsverhältnis zu stehen, eine marktfähige grenzüberschreitende Gestaltung konzipiert, die er sodann entweder unmittelbar bei Steuerpflichtigen oder über einen vertreibenden Intermediär verbreitet. In diesem Fall ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Rechtsanwalt außerhalb des Rahmens für seinen Beruf, wie er von seinen nationalen Rechtsvorschriften festgelegt wird, tätig wird, mit der Folge, dass er nach Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 ab der Fertigstellung dieser Gestaltung der Meldepflicht (wie jeder andere Intermediär) unterliegt.
62. Ließe man jedoch nur eine solche Definition des Rechtsanwalts‑Intermediärs zu, liefe dies darauf hinaus, die beratende Rolle zu ignorieren, die dieser im Rahmen der rechtlichen Beurteilung einer grenzüberschreitenden Gestaltung ausüben kann.
63. Im Übrigen würde sich, wenn man davon ausgehen sollte, dass die von einem Rechtsanwalt ausgeübte Tätigkeit als Intermediär nie unter die Rechtsberatung fällt, die Frage stellen, warum die Richtlinie 2011/16 den Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses durch den in der streitigen Bestimmung vorgesehenen Befreiungsmechanismus vorgesehen hat. Diese Entscheidung des Unionsgesetzgebers erklärt sich meines Erachtens hauptsächlich aus zwei Gründen.
64. Zum einen hätte die Richtlinie 2018/822, da das Berufsgeheimnis auf europäischer Ebene nicht harmonisiert ist, darauf abgezielt, jeden Konflikt mit den nationalen Rechtsvorschriften zu vermeiden und gleichzeitig sicherzustellen, dass diese Richtlinie im Einklang mit den in der Charta anerkannten Grundsätzen steht(30).
65. Zum anderen ist die Unterscheidung zwischen den Tätigkeiten eines Rechtsanwalts im Rahmen der „gewöhnlichen Ausübung seiner Aufgaben“ und solchen, die dies nicht sind, in der Praxis keineswegs immer klar. Beispielsweise ist es durchaus denkbar, dass ein Anwalt auch im Rahmen der in Rede stehenden grenzüberschreitenden Gestaltung von seinem Mandanten ersucht wird, diese vorbereitete Gestaltung zu beurteilen und damit rechtliche Beratung zu erteilen. In einem solchen Fall müsste dieser Anwalt das Berufsgeheimnis in vollem Umfang geltend machen können, da er dem für die Gestaltung relevanten Steuerpflichtigen eine rechtliche Beratung erteilt.
66. Ich weise beispielsweise darauf hin, dass bei einer „maßgeschneiderten Gestaltung“ nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Rechtsanwalt, der als „Intermediär“ im Sinne der Richtlinie 2018/822 handelt, im Rahmen seines Berufs tätig wird, indem er eine Rechtsberatung in der gleichen Weise anbietet wie allgemein jede Konzeptions- oder Verwaltungstätigkeit des Rechtsanwalts für seinen Mandanten für jeden beliebigen zivil- oder handelsrechtlichen Vertrag oder eine gesellschaftsrechtliche oder arbeitsrechtliche Gestaltung oder auch jede beliebige rechtliche Strategie.
67. Ich bin daher der Ansicht, dass die Richtlinie 2011/16, gerade weil es schwierig ist, von vornherein auszuschließen, dass der Rechtsanwalt‑Intermediär im oben angeführten Beispiel um rechtliche Beratung ersucht werden kann, den Anwalt gerade deshalb von der Meldepflicht befreit hat, um die Wahrung des Berufsgeheimnisses ihm gegenüber zu gewährleisten.
68. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass, auch wenn es nicht immer offensichtlich ist, zwischen den Tätigkeiten eines Rechtsanwalts zu unterscheiden – da Letztere gelegentlich komplex und unteilbar sind –, es meines Erachtens möglich erscheint, die Fälle, in denen der „in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt“ tätige Rechtsanwalt sich auf das Berufsgeheimnis berufen können muss und folglich eine Befreiung von der Meldung in Anspruch nehmen kann, von den Fällen zu trennen, in denen dieser Schutz nicht zu gelten hat. Somit ist zum einen sicherzustellen, dass die für das Berufsgeheimnis verwendete Definition nicht zu weit ist, so dass Tätigkeiten eines Rechtsanwalts‑Intermediärs erfasst werden, die weit über die spezifischen Vertretungs- und Beratungsaufgaben hinausgehen, indem sie ihn von bestimmten Meldepflichten befreien, obwohl er die gleiche Tätigkeit ausübt wie Intermediäre aus anderen Berufen. Zum anderen bestünde bei einer unverhältnismäßigen Beschränkung dieser Definition die Gefahr eines nicht tragbaren Eingriffs in das Verhältnis zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten.
69. Insoweit hat diese Unterscheidung im Rahmen der Anwendung der Richtlinie 2018/822 eine besonders große Bedeutung, um das Gleichgewicht zwischen dem Erfordernis des Schutzes des anwaltlichen Berufsgeheimnisses, das in jedem Rechtsstaat einen besonderen Platz einnimmt, zum einen, und dem Ziel der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung, das eines der Hauptinstrumente zur Vermeidung der Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlagen darstellt, zum anderen, zu wahren.
70. Auch wenn es somit in erster Linie Sache des nationalen Gerichts ist, diese Unterscheidung vorzunehmen, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass das Berufsgeheimnis auf europäischer Ebene nicht harmonisiert ist, sind bei dieser Beurteilung die genannten Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
a) Zur Vereinbarkeit der in der streitigen Bestimmung vorgesehenen Meldepflicht mit Art. 7 der Charta
71. Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist die Vereinbarkeit der streitigen Bestimmung mit Art. 7 der Charta zu prüfen.
72. In Bezug auf die streitige Bestimmung ist darauf hinzuweisen, dass diese vorschreibt – wenn ein Rechtsanwalt‑Intermediär eine Befreiung betreffend seinen Mandanten in Anspruch nimmt –, dass dieser Anwalt die anderen Intermediäre über die ihnen nach Art. 8ab Abs. 6 der Richtlinie 2011/16 obliegenden Meldepflichten unterrichtet. Die Meldepflicht umfasst daher ipso facto neben der Identifizierung der betreffenden grenzüberschreitenden Gestaltung und dem Hinweis an diese Drittintermediäre auf ihre eigenen Meldepflichten die Identifizierung des unterrichtenden Anwalts.
73. Ich weise erstens darauf hin, dass die streitige Bestimmung nur dann Anwendung finden kann, wenn der Rechtsanwalt‑Intermediär und der Drittintermediär einander aufgrund ihrer gemeinsamen Beteiligung an der grenzüberschreitenden Gestaltung kennen.
74. Die Meldepflicht an die anderen Intermediäre betrifft somit nicht den Fall, dass der Rechtsanwalt‑Intermediär nicht von der Beteiligung eines anderen Intermediärs an der grenzüberschreitenden Gestaltung weiß, z. B. wenn der Steuerpflichtige getrennt um Rat verschiedener Intermediäre ersucht hat. Wenn die Person, die der Informationspflicht nachkommt, überhaupt keine Kenntnis von dem anderen Intermediär hat, könnte sie diese in keinem Fall informieren. Der Rechtsanwalt‑Intermediär, der die Informationspflicht erfüllt, ist daher nicht verpflichtet, nach ihm unbekannten Intermediären der fraglichen Gestaltung zu suchen. In einem solchen Fall muss er dem relevanten Steuerpflichtigen, d. h. seinem Mandanten, auf den die Meldepflicht übertragen wird, eine Mitteilung machen, die unter dem Gesichtspunkt des Berufsgeheimnisses kein Problem aufwirft.
75. Zweitens erinnere ich daran, dass die Richtlinie 2011/16 im Interesse des Schutzes des Berufsgeheimnisses den Inhalt der Informationen, die der Rechtsanwalt‑Intermediär dem anderen Intermediär im Falle einer Befreiung zu übermitteln hat, wesentlich beschränkt. So beschränken sich diese Informationen auf die Mitteilung der Befreiung, die der Rechtsanwalt‑Intermediär in Anspruch nimmt, und der Meldepflicht, die folglich diesem anderen Intermediär obliegt. Die in der streitigen Bestimmung vorgesehene Meldepflicht umfasst nicht die Offenlegung von Informationen über den Inhalt, die rechtliche Würdigung des Rechtsanwalts oder auch dessen Kommunikation mit seinem Mandanten(31).
76. Drittens ist es beispielsweise möglich, dass mit der Zustimmung des relevanten Steuerpflichtigen (oder sogar unter seiner Koordinierung) alle an der Konzeption einer grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligten Intermediäre gemeinsam an allen Stadien der Organisation dieser Gestaltung teilgenommen und auch die Frage der Meldung an die Steuerbehörden und ihre jeweiligen Pflichten erörtert haben(32). Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Intermediär, dem auf jeden Fall eine Meldepflicht obliegt, (bereits) zu dem Schluss gelangt ist, dass die fragliche Gestaltung meldepflichtig ist, bevor der Rechtsanwalt (mit dem er die Gestaltung gemeinsam ausgearbeitet hat) ihm seine Befreiung mitgeteilt hat, und ihn auf seine Meldepflicht hinweist. Schließlich sind die Kriterien, auf deren Grundlage die Meldepflicht ausgelöst wird, in der Richtlinie 2011/16 aufgeführt, so dass es jedem anderen Intermediär und sogar dem Steuerpflichtigen selbst ermöglicht wird, eine meldepflichtige steuerliche Gestaltung zu „erkennen“. In diesen Fällen – und vorbehaltlich der nationalen Vorschriften über das anwaltliche Berufsgeheimnis – könnte man nämlich annehmen, dass das Berufsgeheimnis nicht verletzt worden ist(33). Dafür spricht, dass die Informationen, die der Rechtsanwalt‑Intermediär dem Drittintermediär zu erteilen hat, auf die ihm gewährte Befreiung und die Identifikation der betreffenden Akte beschränkt sind(34).
77. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass die streitige Bestimmung auf den ersten Blick nicht geeignet ist, die nach Art. 7 der Charta geschützten Rechte zu verletzen, da die Informationen, die der Rechtsanwalt an den Drittintermediär übermittelt, einschließlich des Namens des Rechtsanwalts, diesem Drittintermediär bereits zur Kenntnis gebracht wurden.
78. Gleichwohl lässt sich nicht ausschließen, dass – selbst wenn der Rechtsanwalt‑Intermediär und der Drittintermediär einander kennen – sich daraus in bestimmten Fällen ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens ergeben könnte.
79. Erstens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 EMRK die Rechtsberatung nicht nur im Hinblick auf ihren Inhalt, sondern auch im Hinblick auf ihre Existenz schützt(35). Das Berufsgeheimnis des Rechtsanwalts, das auf dem Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinem Mandanten beruht, verpflichtet den Rechtsanwalt, niemanden über das Bestehen dieser Beziehung und erst recht nicht über den Inhalt ihrer Kommunikation zu informieren (es sei denn, sein Mandant stimmt ausdrücklich zu)(36).
80. Daher ergibt sich, wenn der Rechtsanwalt von der den Intermediären obliegenden Meldepflicht befreit ist, selbstverständlich aus dem Vertrauensverhältnis, das er mit seinem Mandanten hat, und aus der Pflicht zur Vertraulichkeit, die er ihm schuldet, dass er in der Lage sein muss, diesen in erster Linie darüber zu informieren. Außerdem stellt die Unterrichtung des Mandanten über die gesetzlichen Pflichten des Rechtsanwalts eine berufliche Verpflichtung des Rechtsanwalts dar, deren Nichterfüllung seine berufliche Haftung beeinträchtigen kann.
81. Zweitens erinnere ich daran, dass das Berufsgeheimnis nicht nur die Kommunikation zwischen einem Mandanten und seinem Anwalt umfasst, sondern auch das von diesem erstellte Rechtsgutachten. Selbst wenn man unterstellt, dass der Rechtsanwalt und der Drittintermediär einander aufgrund ihrer gemeinsamen Beteiligung an der fraglichen Gestaltung kennen, ändert dies nichts daran, dass der Anwalt dadurch, dass er den Drittintermediär über seine Befreiung informiert, diesem seine Beurteilung mitteilt, dass die fragliche Gestaltung die in Anhang IV der Richtlinie 2018/822 aufgeführten Merkmale („Kennzeichen“) enthält und daher als „grenzüberschreitende Gestaltung“ gemeldet werden muss. Diese Beurteilung ist das Ergebnis einer tatsächlichen und rechtlichen Analyse, die den Kern der Beratungstätigkeit eines Rechtsanwalts darstellt. Daraus folgt, dass die Letztere durch das Berufsgeheimnis geschützt ist und vom Anwalt nur seinem Mandanten mitgeteilt werden darf.
82. Drittens weise ich darauf hin, dass der in Nr. 76 der vorliegenden Schlussanträge geprüfte Fall selbst dann nicht auf alle Fälle übertragbar sein könnte, wenn man unterstellt, dass der Rechtsanwalt und der (die) Drittintermediär(e) einander aufgrund ihrer Beteiligung an der Konzeption derselben grenzüberschreitenden Gestaltung kennen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn zahlreiche Intermediäre in verschiedenen Stadien der Konzeption der fraglichen Gestaltung involviert sind und die Beteiligung dieser verschiedenen Intermediäre an der grenzüberschreitenden Gestaltung je nach ihren jeweiligen Rollen unterschiedlich ausfällt(37).
83. Daraus folgt, dass die Richtlinie 2011/16 zwar versucht, den Eingriff in das Berufsgeheimnis zu begrenzen, dass aber in bestimmten Fällen ein solcher Eingriff festgestellt werden kann.
b) Zur Rechtfertigung der streitigen Bestimmung
84. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Grundrechte nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet(38).
85. Daher ist zu prüfen, ob die in Rede stehende Meldepflicht gesetzlich vorgesehen ist, ein von der Union anerkanntes, dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgt, zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
86. Erstens ist die Unterrichtung eines anderen Intermediärs, der an derselben grenzüberschreitenden Gestaltung beteiligt war, über die Befreiung von der Meldung durch den Rechtsanwalt‑Intermediär ausdrücklich im Gesetz vorgesehen, nämlich im vorliegenden Fall in der streitigen Bestimmung.
87. Insoweit bin ich der Ansicht, dass die Meldepflicht in einer hinreichend klaren und genauen Bestimmung vorgesehen ist(39).
88. Zweitens besteht das allgemeine Interesse, das das Unionsrecht im vorliegenden Fall verfolgt, in der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung, die Gegenstand einer internationalen steuerlichen Zusammenarbeit ist, die sich in einem Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten zeigt.
89. Insoweit weise ich darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung die Verhinderung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellt(40). Es verhält sich ebenso bei der Bekämpfung missbräuchlicher Konstruktionen, wenn mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll(41).
90. Außerdem hat der Gerichtshof anerkannt, dass „die Notwendigkeit, eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten … zu wahren“, Beschränkungen insbesondere dann rechtfertigen kann, wenn mit den fraglichen nationalen Maßnahmen „Verhaltensweisen verhindert werden sollen, die geeignet sind, das Recht eines Mitgliedstaats auf Ausübung seiner Steuerhoheit für die in seinem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten zu gefährden“(42).
91. Insoweit verfolgt die Richtlinie 2018/822 zwar nicht ausdrücklich das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung als „rechtswidrige Handlung“, doch geht aus ihren Erwägungsgründen 2, 4, 8 und 9 klar hervor, dass die Verpflichtungen, die sie den Intermediären auferlegt, darauf abzielen, die nationalen Steuerbemessungsgrundlagen gegen Aushöhlung zu schützen, indem die „potenziell aggressiven Steuerplanungsgestaltungen“ überwacht werden. So zielt die darin vorgesehene Meldepflicht zum einen darauf ab, die rasche Anpassung der Steuerregelungen an steuerrechtliche Praktiken zu erleichtern, die zwar legal, aber aggressiv sind, und zum anderen in Verbindung mit dem Vorstehenden darauf, letztlich von der Konzeption solcher Gestaltungen abzuschrecken(43).
92. Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens kann zwar meines Erachtens im Hinblick auf das mit der Richtlinie 2018/822 verfolgte Ziel gerechtfertigt sein, doch muss dieser Eingriff erforderlich und verhältnismäßig sein.
93. Daher ist drittens zu prüfen, ob die in Rede stehende Meldepflicht erforderlich ist, um das Ziel der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung zu erreichen, und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
94. Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber davon ausgegangen ist, dass der Umfang der Meldepflicht durch die Einführung von Garantien in Bezug auf das Berufsgeheimnis auf das Mindestmaß beschränkt werden muss.
95. So findet zum einen die streitige Bestimmung nur in bestimmten, genau bezeichneten Fällen Anwendung, nämlich in denen, in denen die Drittintermediäre mit dem Rechtsanwalt‑Intermediär tatsächlich zusammenarbeiten, und zwar mit der Zustimmung des steuerpflichtigen Mandanten(44). Zum anderen wird die Verletzung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses weiter durch den Umfang und Inhalt der Informationen begrenzt, über die der Rechtsanwalt‑Intermediär den Drittintermediär zu unterrichten hat, die diesem – zum großen Teil – bereits bekannt sind(45).
96. Zweitens ermöglicht es die streitige Bestimmung meines Erachtens, die Wirksamkeit des Systems der Meldung grenzüberschreitender Gestaltungen an die Steuerbehörden zu gewährleisten. Ungeachtet dessen, dass die Drittintermediäre, unabhängig von jeder Unterrichtung durch den Rechtsanwalt‑Intermediär, nach Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 gegenüber den Steuerbehörden einer Meldepflicht unterliegen, gestattet es die in der streitigen Bestimmung vorgesehene Meldepflicht, sicherzustellen, dass die Steuerbehörden die für die Bewertung der grenzüberschreitenden Gestaltung erforderlichen Informationen erhalten. Mit anderen Worten ermöglicht es dieser Mechanismus zum einen, die anderen Intermediäre für ihre Verpflichtung, der ihnen obliegenden Meldepflicht nachzukommen, zu „sensibilisieren“, und zum anderen, sicherzustellen, dass die grenzüberschreitenden Gestaltungen, bei denen die Gefahr bestünde, dass sie nicht gemeldet werden, tatsächlich gemeldet werden.
97. Ich bin jedoch der Ansicht, dass, um die Vereinbarkeit der streitigen Bestimmung mit Art. 7 der Charta umfassend beurteilen zu können, auch die subsidiäre Verpflichtung des Drittintermediärs zu berücksichtigen ist, den Steuerbehörden den Namen des Rechtsanwalts‑Intermediärs mitzuteilen.
3. Verstößt es gegen Art. 7 der Charta, wenn der Name des Rechtsanwalts‑Intermediärs, der durch das Berufsgeheimnis geschützt ist, den Steuerbehörden im Rahmen der Meldepflicht der Intermediäre und des Steuerpflichtigen offengelegt wird?
98. Es ist darauf hinzuweisen, dass die vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel an der Vereinbarkeit der Richtlinie 2011/16 mit der Charta nur die streitige Bestimmung und nicht das Verfahren betreffen, in dem die Informationen über die Gestaltung den Steuerbehörden (in einem späteren Stadium) mitgeteilt werden. Ich bin jedoch der Ansicht, dass unter dem Blickwinkel von Art. 7 der Charta die Frage der Offenlegung des Namens eines Rechtsanwalts‑Intermediärs, der sich auf das Berufsgeheimnis beruft, gleichermaßen relevant ist.
99. Ich erinnere nämlich daran, dass der EGMR festgestellt hat, dass der Umstand, einen Rechtsanwalt zu zwingen, einer Verwaltungsbehörde Informationen über eine andere Person zur Verfügung zu stellen, die er aufgrund seiner Kommunikation mit ihr besitzt, einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens darstellt(46).
100. Im vorliegenden Fall wird aber selbst dann, wenn der Rechtsanwalt von der Pflicht zur Meldung an die Steuerbehörden befreit ist, das Vorliegen einer Kommunikation mit seinem steuerpflichtigen Mandanten (und folglich der Name des Rechtsanwalts) den Steuerbehörden entweder vom Steuerpflichtigen selbst oder von einem Drittintermediär offengelegt.
101. Ich weise darauf hin, dass die unterrichteten Drittintermediäre, die auf diese Weise über die Beteiligung des Rechtsanwalts informiert werden und selbst nicht dem Berufsgeheimnis unterliegen, aufgrund ihrer eigenen Meldepflichten nach Art. 8ab Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 die Steuerverwaltung nicht nur über das Bestehen der grenzüberschreitenden Gestaltung und den relevanten Steuerpflichtigen informieren, sondern auch über die Beteiligung des Rechtsanwalts‑Intermediärs. Insoweit ergibt sich aus Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 2 und Abs. 14 dieser Richtlinie, dass die Angaben zu den Intermediären zu den Informationen gehören, die in Erfüllung der Meldepflicht vorzulegen sind.
102. Ich bin daher der Ansicht, dass die streitige Bestimmung den durch Art. 8 EMRK gewährleisteten verstärkten Schutz des Schriftwechsels zwischen den Rechtsanwälten und ihren Mandanten beeinträchtigt. Daher ist zu prüfen, ob die in Rede stehende Pflicht tatsächlich gesetzlich vorgesehen ist, ein von der Union anerkanntes dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgt, zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
103. Hinsichtlich der ersten beiden zu berücksichtigenden Kriterien verweise ich auf die vorstehende Analyse in Bezug auf die streitige Bestimmung, die für Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 2 und Abs. 14 der Richtlinie 2011/16 entsprechend gilt(47).
104. Die folgende Prüfung bezieht sich daher ausschließlich auf die Frage, ob die Übermittlung des Namens des Rechtsanwalts an die Steuerbehörden durch einen Drittintermediär oder den Steuerpflichtigen erforderlich ist, um das Ziel der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung zu erreichen, und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
105. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Steuerbehörden unter Berücksichtigung der erhaltenen Informationen über alle Angaben verfügen, die erforderlich sind, um die fraglichen grenzüberschreitenden Gestaltungen zu beurteilen. Daher liefert ihnen die Bekanntgabe des Namens des Anwalts keine wesentlichen Informationen über die fragliche Gestaltung.
106. Außerdem können die Steuerbehörden aufgrund ihrer Prüfungs- und Kontrollbefugnisse vom Steuerpflichtigen selbst oder von den Intermediären, die nicht dem Berufsgeheimnis unterliegen, alle zusätzlichen Informationen (und ergänzende Informationen zu den bereits in der Meldung erhaltenen) anfordern.
107. Die Kenntnis der Identität des Rechtsanwalts‑Intermediärs ist für sie im Übrigen nutzlos, da, wie im Übrigen in der Richtlinie 2011/16 selbst erwähnt wird, ihn das Berufsgeheimnis von jeder Meldepflicht hinsichtlich der grenzüberschreitenden Gestaltung befreit. Mit anderen Worten würde jedem Auskunftsersuchen der Steuerverwaltung an den Rechtsanwalt‑Intermediär das Berufsgeheimnis entgegengehalten (außer bei einem Auftrag des Mandanten an den Rechtsanwalt, darauf zu antworten) und könnte nur wirksam an den Steuerpflichtigen oder gegebenenfalls an andere Intermediäre gerichtet werden, die nicht unter das Berufsgeheimnis fallen.
108. In der mündlichen Verhandlung haben einige Mitgliedstaaten und die Kommission vorgetragen, dass die Mitteilung des Namens des Rechtsanwalts an die Steuerbehörden durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, die Wirksamkeit der Kontrolle der an den grenzüberschreitenden Gestaltungen beteiligten Intermediäre sicherzustellen. In Bezug auf Rechtsanwälte diene diese Maßnahme der Prüfung, ob ein Rechtsanwalt seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie 2018/822 nachgekommen sei und ob er sich zu Recht auf das Berufsgeheimnis berufen habe.
109. Zwar soll mit der Richtlinie 2018/822 sichergestellt werden, dass die Intermediäre aufgrund ihrer zentralen Rolle bei der Organisation von grenzüberschreitenden Gestaltungen verpflichtet sind, den Steuerbehörden die erforderlichen Informationen zu übermitteln, doch besteht ihr Hauptziel in der Abschreckung aggressiver Steuerplanungspraktiken.
110. Dieses Ziel beruht auf der Möglichkeit, die die Steuerbehörden nunmehr haben, die notwendigen Informationen zu erhalten, die es ihnen gestatten, die grenzüberschreitenden Gestaltungen zu beurteilen, diese Daten zwischen Mitgliedstaaten auszutauschen und ihre Steuervorschriften entsprechend anzupassen. Dieses Ziel, das ab dem Zeitpunkt der Erlangung dieser Informationen erfüllt wird – unabhängig davon, ob diese von einem Intermediär oder einem Steuerpflichtigen übermittelt wurden –, macht es jedoch weder erforderlich, den Namen des beteiligten Rechtsanwalts zu kennen, wenn dieser sich auf das Berufsgeheimnis beruft, noch zu kontrollieren, ob sich dieser zu Recht auf sein Berufsgeheimnis berufen hat.
111. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2018/822 auch das Berufsgeheimnis der Rechtsanwälte und die in der Charta niedergelegten allgemeinen Grundsätze schützen soll(48). Wenn jedoch den Drittintermediären und dem Steuerpflichtigen eine Verpflichtung zur Angabe des Namens des Rechtsanwalts auferlegt wird, liefe diese Maßnahme diesem Ziel zuwider.
112. Es wäre daher widersinnig, das Berufsgeheimnis des Rechtsanwalts anzuerkennen und ihm insoweit eine Befreiung von der Meldung zu gewähren, um sodann dieses Recht dadurch zu verletzen, dass die Mitteilung seines Namens, als mittelbare Folge der dem Drittintermediär (und dem Steuerpflichtigen) obliegenden Meldepflicht, an die Steuerbehörden vorgesehen wird. Im Übrigen geht aus keiner Bestimmung der Richtlinie 2018/822 ausdrücklich hervor, dass mit ihr überprüft werden soll, ob der Rechtsanwalt Anspruch auf das Berufsgeheimnis hatte.
113. Ich bin daher der Ansicht, dass zwar nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Mitgliedstaat nach dem nationalen Recht (und den für Rechtsanwälte geltenden Standesregeln) tatsächlich eine solche Prüfung vornehmen kann – z. B. im Fall des Verdachts der Beteiligung eines Rechtsanwalts an einer betrügerischen Tätigkeit –, dass diese Prüfung jedoch in der Richtlinie 2018/822 keine Rechtsgrundlage findet.
114. Daher bin ich der Ansicht, dass der Drittintermediär und der Steuerpflichtige im Rahmen der Anwendung von Art. 8ab Abs. 9 der Richtlinie 2011/16 in der Lage sein müssen, ihre Meldepflichten mittels eines abstrakten Schemas zu erfüllen, das die Identität des Rechtsanwalts nicht angeben muss(49).
115. Eine solche Lösung würde außerdem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten, indem sie sich auf das beschränken würde, was zur Erreichung der mit der Richtlinie 2018/822 verfolgten Ziele unbedingt erforderlich ist.
116. Die Verwendung eines abstrakten Schemas, das den Namen des Rechtsanwalts nicht enthält, würde es nämlich ermöglichen, das Ziel der Bekämpfung der aggressiven Steuerplanung zu erreichen und gleichzeitig für die Wahrung des Berufsgeheimnisses und die Achtung des Privatlebens, die in Art. 7 der Charta garantiert wird, zu sorgen. Im Übrigen würde die vorgeschlagene Lösung es meines Erachtens gestatten, die Wirksamkeit des Systems der Meldung grenzüberschreitender Gestaltungen an die Steuerbehörden zu gewährleisten, ohne den Steuerbehörden zu verwehren, alle erforderlichen Informationen über die in Rede stehenden steuerlichen Gestaltungen zu erhalten (der Name des Rechtsanwalts gehört aus den in den Nrn. 105 bis 107 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Gründen nicht zu diesen Informationen).
117. Nach alledem bin ich zum einen der Ansicht, dass die Identifizierung eines Rechtsanwalts unter den Informationen, die in Erfüllung der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 2 und Abs. 14 der Richtlinie 2011/16 vorzulegen sind, einen Verstoß gegen Art. 7 der Charta darstellt, wenn dieser Rechtsanwalt aufgrund des Berufsgeheimnisses von der Meldung befreit ist. Zum anderen bin ich der Ansicht, dass die Beeinträchtigung des Schutzes des Privatlebens, die sich aus der streitigen Bestimmung ergibt, im Hinblick auf den verfolgten Zweck keinen unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellt, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet, vorausgesetzt, dass den Steuerbehörden der Name des Rechtsanwalts‑Intermediärs nicht offengelegt wird.
V. Ergebnis
118. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) wie folgt zu antworten:
Art. 8ab Abs. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG in der durch die Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25. Mai 2018 geänderten Fassung, der einen als Intermediär auftretenden Rechtsanwalt, der sich auf sein Berufsgeheimnis beruft und dadurch von der Meldung befreit ist, verpflichtet, einen anderen Intermediär unverzüglich über die Meldepflichten zu unterrichten, die ihm nach Abs. 6 dieses Artikels obliegen, verstößt nicht gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens, wie es in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert ist, sofern der Name dieses Rechtsanwalts den Steuerbehörden im Rahmen der Erfüllung der Meldepflicht nach Art. 8ab Abs. 9 Unterabs. 2 und Abs. 14 dieser Richtlinie nicht offengelegt wird.