URTEIL DES GERICHTSHOFES
11. November 1997(1)
[234s„Gleichbehandlung von Männern und Frauen Gleiche Qualifikation von
Bewerbern unterschiedlichen Geschlechts Vorrang der weiblichen Bewerber
Öffnungsklausel“[s
In der Rechtssache C-409/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Hellmut Marschall
gegen
Land Nordrhein-Westfalen
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 2
Absätze 1 und 4 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976
zurVerwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und
Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum
beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm und M. Wathelet sowie der
Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn
(Berichterstatter), J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch,
P. Jann und L. Sevón,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- des Landes Nordrhein-Westfalen, vertreten durch die Bezirksregierung
Arnsberg, diese vertreten durch Professorin Juliane Kokott,
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf,
- der spanischen Regierung, vertreten durch Alberto José Navarro González,
Generaldirektor für die rechtliche und institutionelle Koordinierung in
Gemeinschaftsangelegenheiten, und Abogado del Estado Gloria Calvo Díaz,
Juristischer Dienst des Staates, als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch Catherine de Salins,
Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, und Anne de Bourgoing, Chargé de mission
in dieser Direktion, als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Wolf
Okresek, Bundeskanzleramt, Verfassungsdienst, als Bevollmächtigten,
- der finnischen Regierung, vertreten durch Tuula Pynnä, Rechtsberaterin im
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigte,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch Lotty Nordling, Rättschef in
der Außenhandelsabteilung des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Lindsey Nicoll,
Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte im Beistand von
Barrister Eleanor Sharpston,
- der norwegischen Regierung, vertreten durch Beate B. Ekeberg,
kommissarische Abteilungsleiterin im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Rechtsberater Jürgen Grunwald und durch Marie Wolfcarius, Juristischer
Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Landes Nordrhein-Westfalen,
vertreten durch Juliane Kokott, der niederländischen Regierung, vertreten durch
Hans van den Oosterkamp, Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, der finnischen Regierung, vertreten durch
Holger Rotkirch, Leiter der Abteilung für Rechtsfragen des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, der schwedischen Regierung,
vertreten durch Lotty Nordling, der Regierung des Vereinigten Königreichs,
vertreten durch Lindsey Nicoll, Eleanor Sharpston und Michael Beloff, QC, und
der Kommission, vertreten durch Jürgen Grunwald und Marie Wolfcarius, in der
Sitzung vom 11. März 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Mai
1997,
folgendes
Urteil
- Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat mit Beschluß vom 21. Dezember 1995,
beim Gerichtshof eingegangen am 29. Dezember 1995, gemäß Artikel 177
EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 2 Absätze 1 und 4 der
Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des
Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie
in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40; im folgenden: Richtlinie)
zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Hellmut Marschall (Kläger)
und dem Land Nordrhein-Westfalen (Beklagter) wegen der Bewerbung des Klägers
um eine Beförderungsstelle an der Gesamtschule Schwerte.
- In § 25 Absatz 5 Satz 2 des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen
in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Mai 1981 (Gesetz- und
Verordnungsblatt Nordrhein-Westfalen GVNW , S. 234), zuletzt geändert durch
Artikel 1 des Siebten Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften vom
7. Februar 1995 (GVNW, S. 102; im folgenden: streitige Bestimmung), heißt es:
„Soweit im Bereich der für die Beförderung zuständigen Behörde im jeweiligen
Beförderungsamt der Laufbahn weniger Frauen als Männer sind, sind Frauen bei
gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt zu befördern,
sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen ...“
- Nach den vom Beklagten abgegebenen Erklärungen wird durch die in dieser
Bestimmung vorgesehene Vorrangklausel ein zusätzliches Beförderungskriterium
die Eigenschaft als Frau eingeführt, das die Situation der Ungleichheit
neutralisieren soll, in der sich die weiblichen Bewerber gegenüber ihren männlichen
Konkurrenten befinden. Bei gleicher Qualifikation neige der Arbeitgeber nämlich
dazu, in Anwendung bestimmter traditioneller, die Frauen faktisch
benachteiligender Beförderungskriterien wie des Lebensalters, des Dienstalters und
der Erwägung, daß der Bewerber alleinverdienender Familienvater sei, einen Mann
vorrangig vor einer Frau zu befördern.
- Als der Gesetzgeber vorgesehen habe, daß Frauen bevorzugt zu befördern seien,
„sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen“, habe
er bewußt einen unbestimmten Rechtsbegriff gewählt, um eine hinreichende
Flexibilität zu gewährleisten und der Verwaltung insbesondere Spielraum für die
Berücksichtigung von allen in der Person eines Bewerbers liegenden Gründen zu
geben. Folglich könne die Verwaltung trotz der Vorrangklausel immer noch dem
männlichen Bewerber auf der Grundlage traditioneller oder anderer
Beförderungskriterien den Vorzug geben.
- Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß der Kläger als beamteter Lehrer im
Dienst des Beklagten steht und im Eingangsamt aus der Besoldungsgruppe A 12
besoldet wird.
- Am 8. Februar 1994 bewarb er sich um eine der Besoldungsgruppe A 13
zugeordnete Beförderungsstelle („Lehrer mit der Befähigung für das Lehramt der
Sekundarstufe I bei entsprechender Verwendung“) an der Gesamtschule Schwerte.
Die Bezirksregierung Arnsberg teilte ihm jedoch mit, daß beabsichtigt sei, die Stelle
mit einer Konkurrentin zu besetzen.
- Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, den die Bezirksregierung durch Bescheid
vom 29. Juli 1994 mit der Begründung zurückwies, daß aufgrund der streitigen
Bestimmung die ausgewählte Konkurrentin befördert werden müsse, da sie und der
Kläger bei Zugrundelegung der dienstlichen Beurteilungen gleich geeignet und im
Beförderungsamt der Besoldungsgruppe A 13 zum Zeitpunkt der Ausschreibung
der Stelle weniger Frauen als Männer beschäftigt gewesen seien.
- Der Kläger erhob daraufhin beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen Klage und
beantragte, den Beklagten zu verpflichten, ihm die fragliche Stelle zu übertragen.
- Das vorlegende Gericht stellt fest, daß der Kläger und die ausgewählte
Konkurrentin für die zu besetzende Stelle gleich qualifiziert seien, und vertritt die
Ansicht, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Vereinbarkeit der
streitigen Bestimmung mit Artikel 2 Absätze 1 und 4 der Richtlinie abhänge.
- Dazu führt das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen unter Bezugnahme auf das Urteil
des Gerichtshofes vom 17. Oktober 1995 in der Rechtssache C-450/93 (Kalanke,
Slg. 1995, I-3051) aus, die in der streitigen Bestimmung grundsätzlich
vorgeschriebene Bevorzugung von Frauen stelle wohl eine Diskriminierung im
Sinne von Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie dar. Diese Diskriminierung werde durch
die Möglichkeit, dem männlichen Bewerber ausnahmsweise den Vorzug zu geben,
nicht beseitigt.
- Das vorlegende Gericht hält es auch für fraglich, ob die streitige Bestimmung unter
die in Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie vorgesehene Ausnahme für Maßnahmen
zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen fällt. Die Grundlage
für die Beurteilung der Bewerber werde sachwidrig verkürzt, weil nur auf das
zahlenmäßige Verhältnis von Männern und Frauen im Beförderungsamt abgestellt
werde. Außerdem verbessere die streitige Bestimmung nicht die Fähigkeit der
Frauen, auf dem Arbeitsmarkt mit anderen zu konkurrieren und unter den gleichen
Bedingungen wie die Männer eine berufliche Laufbahn zu verwirklichen, sondern
schreibe ein Ergebnis fest, während Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie nur
Maßnahmen gestatte, die auf Chancengleichheit abzielten.
- Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt und
dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Steht Artikel 2 Absätze 1 und 4 der Richtlinie des Rates der Europäischen
Gemeinschaften vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der
Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur
Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf
die Arbeitsbedingungen (76/207/EWG) einer nationalen Regelung entgegen, nach
der in behördlichen Geschäftsbereichen, in denen im jeweiligen Beförderungsamt
einer Laufbahn weniger Frauen als Männer beschäftigt sind, bei gleicher
Qualifikation (Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung) männlicher und
weiblicher Bewerber Frauen bevorzugt befördert werden müssen, sofern nicht in
der Person eines männlichen Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen?
- Der Beklagte, die finnische, die norwegische, die österreichische, die schwedische
und die spanische Regierung sowie die Kommission sind der Auffassung, daß eine
nationale Regelung wie die streitige Bestimmung eine unter Artikel 2 Absatz 4 der
Richtlinie fallende Maßnahme zur Förderung der Chancengleichheit für Männer
und Frauen darstelle.
- Der Beklagte führt hierzu aus, der weiblichen Bewerbern eingeräumte Vorrang
solle ein Gegengewicht zu den traditionellen Beförderungskriterien schaffen, ohne
sie jedoch zu verdrängen. Die österreichische Regierung trägt vor, eine nationale
Regelung der in Rede stehenden Art richte sich gegen diskriminierende
Auswahlprozesse bei Personalentscheidungen.
- Die finnische, die norwegische und die schwedische Regierung vertreten die
Ansicht, die fragliche nationale Regelung fördere den Zugang von Frauen zu
verantwortungsvollen Stellen und trage damit zur Herstellung eines Gleichgewichts
auf den Arbeitsmärkten bei, die gegenwärtig noch weitgehend in der Weise
geschlechtsspezifisch abgeschottet seien, daß die weiblichen Arbeitnehmer
vornehmlich die unteren Stufen der beruflichen Hierarchie einnähmen. Nach
Ansicht der finnischen Regierung zeigt die in der Vergangenheit gemachte
Erfahrung u. a., daß Maßnahmen, die nur die Berufswahl und -ausbildung von
Frauen oder die Verteilung der beruflichen und familiären Pflichten beträfen, nicht
ausreichten, um diese Abschottung der Arbeitsmärkte zu beenden.
- Schließlich sind der Beklagte und die oben genannten Regierungen der Meinung,
daß die streitige Bestimmung den Frauen keinen absoluten und unbedingten
Vorrang einräume. Sie bleibe somit innerhalb der vom Gerichtshof im Urteil
Kalanke gezogenen Grenzen.
- Die französische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs
vertreten dagegen die Ansicht, daß die streitige Bestimmung nicht durch die
Ausnahme in Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie gedeckt sei.
- Diese Bestimmung gehe dadurch, daß sie weiblichen Bewerbern den Vorrang
einräume, über eine Förderung der Chancengleichheit hinaus und sei auf die
Herbeiführung einer zahlenmäßigen Gleichstellung von Männern und Frauen
gerichtet. Folglich kämen die im vorerwähnten Urteil Kalanke angestellten
Erwägungen zum Tragen.
- Das Vorhandensein einer Ausnahmeklausel ändere nichts am diskriminierenden
Charakter der streitigen Bestimmung. Diese Klausel komme nur ausnahmsweise zur
Anwendung und habe daher keine Auswirkung auf einen „Normalfall“, in dem kein
Grund speziell in der Person des männlichen Bewerbers liege, der gegenüber dem
Grundsatz, weibliche Bewerber bevorzugt zu befördern, überwiege. Sie verstoße
außerdem gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, da sie sowohl allgemein als
auch unbestimmt formuliert sei.
- Wie sich aus Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie ergibt, hat diese zum Ziel, daß in
den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen
u. a. hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs,
verwirklicht wird. Dieser Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet nach Artikel 2
Absatz 1 der Richtlinie, „daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung
auf Grund des Geschlechts ... erfolgen darf“.
- Nach Artikel 2 Absatz 4 steht die Richtlinie „nicht den Maßnahmen zur Förderung
der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der
tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen in den in
Artikel 1 Absatz 1 genannten Bereichen beeinträchtigen, entgegen“.
- In Randnummer 16 des Urteils Kalanke hat der Gerichtshof festgestellt, daß eine
nationale Regelung, nach der weiblichen Bewerbern, die die gleiche Qualifikation
wie ihre männlichen Mitbewerber besitzen, in Tätigkeitsbereichen, in denen im
jeweiligen Beförderungsamt weniger Frauen als Männer beschäftigt sind, bei einerBeförderung automatisch der Vorrang eingeräumt wird, eine Diskriminierung der
Männer aufgrund des Geschlechts bewirkt.
- Im Unterschied zu der Regelung, die Gegenstand des Urteils Kalanke war, enthält
die streitige Bestimmung jedoch eine Klausel, nach der Frauen nicht vorrangig
befördert werden müssen, sofern in der Person eines männlichen Mitbewerbers
liegende Gründe überwiegen („Öffnungsklausel“).
- Folglich ist zu prüfen, ob eine nationale Regelung, die eine solche Klausel enthält,
der Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen im Sinne von
Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie dient.
- Die letztgenannte Vorschrift hat den bestimmten und begrenzten Zweck,
Maßnahmen zuzulassen, die zwar dem Anschein nach diskriminierend sind,
tatsächlich aber in der sozialen Wirklichkeit bestehende faktische Ungleichheiten
beseitigen oder verringern sollen (Urteil vom 25. Oktober 1988 in der Rechtssache
312/86, Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 6315, Randnr. 15, und Urteil Kalanke,
a. a. O., Randnr. 18).
- So sind danach nationale Maßnahmen im Bereich des Zugangs zur Beschäftigung
einschließlich des Aufstiegs zulässig, die Frauen spezifisch begünstigen und ihre
Fähigkeit verbessern sollen, auf dem Arbeitsmarkt mit anderen zu konkurrieren
und unter den gleichen Bedingungen wie Männer eine berufliche Laufbahn zu
verwirklichen (Urteil Kalanke, a. a. O., Randnr. 19).
- Wie der Rat in der dritten Begründungserwägung seiner Empfehlung 84/635/EWG
vom 13. Dezember 1984 zur Förderung positiver Maßnahmen für Frauen (ABl.
L 331, S. 34) ausgeführt hat, reichen die „geltenden Rechtsvorschriften über die
Gleichbehandlung, die zur Stärkung der Rechte des einzelnen erlassen wurden,
... nicht aus, um alle faktischen Ungleichheiten zu beseitigen, wenn nicht die
Regierungen, die Sozialpartner und sonstige beteiligte Stellen gleichzeitig tätig
werden, um gegen die Benachteiligung der Frauen in der Arbeitswelt vorzugehen,
die durch Einstellungen, Verhaltensmuster und Strukturen in der Gesellschaft
verursacht wird“ (Urteil Kalanke, a. a. O., Randnr. 20).
- Es zeigt sich jedoch, wie der Beklagte und mehrere beteiligte Regierungen betont
haben, daß selbst bei gleicher Qualifikation die Tendenz besteht, männliche
Bewerber vorrangig vor weiblichen Bewerbern zu befördern; dies hängt vor allem
mit einer Reihe von Vorurteilen und stereotypen Vorstellungen über die Rolle und
die Fähigkeiten der Frau im Erwerbsleben und z. B. mit der Befürchtung
zusammen, daß Frauen ihre Laufbahn häufiger unterbrechen, daß sie ihre
Arbeitszeit aufgrund häuslicher und familiärer Aufgaben weniger flexibel gestalten
oder daß sie durch Schwangerschaften, Geburten und Stillzeiten häufiger ausfallen.
- Aus diesen Gründen bedeutet allein die Tatsache, daß zwei Bewerber
unterschiedlichen Geschlechts gleich qualifiziert sind, nicht, daß sie gleiche Chancen
haben.
- Folglich kann unter Artikel 2 Absatz 4 eine nationale Regelung fallen, nach der
Frauen mit gleicher Qualifikation wie ihre männlichen Mitbewerber bei einer
Beförderung in Bereichen, in denen sie unterrepräsentiert sind, vorbehaltlich der
Öffnungsklausel bevorzugt behandelt werden, denn eine solche Regelung kann dazu
beitragen, ein Gegengewicht zu den nachteiligen Auswirkungen zu schaffen, die sich
für die weiblichen Bewerber aus den oben beschriebenen Einstellungen und
Verhaltensmustern ergeben, und damit in der sozialen Wirklichkeit bestehende
faktische Ungleichheiten zu verringern.
- Da Artikel 2 Absatz 4 eine Ausnahme von einem in der Richtlinie verankerten
individuellen Recht darstellt, kann diese nationale Maßnahme zur spezifischen
Begünstigung weiblicher Bewerber jedoch den Frauen bei einer Beförderung keinen
absoluten und unbedingten Vorrang einräumen, sollen die Grenzen der in dieser
Bestimmung vorgesehenen Ausnahme nicht überschritten werden (Urteil Kalanke,
a. a. O., Randnrn. 21 und 22).
- Im Gegensatz zu der Regelung, die Gegenstand des Urteils Kalanke war,
überschreitet eine nationale Regelung, die wie im vorliegenden Fall eine
Öffnungsklausel enthält, diese Grenzen nicht, wenn sie den männlichen Bewerbern,
die die gleiche Qualifikation wie die weiblichen Bewerber besitzen, in jedem
Einzelfall garantiert, daß die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven
Beurteilung sind, bei der alle die Person der Bewerber betreffenden Kriterien
berücksichtigt werden und der den weiblichen Bewerbern eingeräumte Vorrang
entfällt, wenn eines oder mehrere dieser Kriterien zugunsten des männlichen
Bewerbers überwiegen. Solche Kriterien dürfen allerdings gegenüber den
weiblichen Bewerbern keine diskriminierende Wirkung haben.
- Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage einer Prüfung der
Tragweite der streitigen Bestimmung in ihrer Anwendung durch den Beklagten
festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.
- Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß Artikel 2 Absätze 1 und 4
der Richtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der bei gleicher
Qualifikation von Bewerbern unterschiedlichen Geschlechts in bezug auf Eignung,
Befähigung und fachliche Leistung weibliche Bewerber in behördlichen
Geschäftsbereichen, in denen im jeweiligen Beförderungsamt einer Laufbahn
weniger Frauen als Männer beschäftigt sind, bevorzugt zu befördern sind, sofern
nicht in der Person eines männlichen Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen,
vorausgesetzt,
- diese Regelung garantiert den männlichen Bewerbern, die die gleiche
Qualifikation wie die weiblichen Bewerber besitzen, in jedem Einzelfall, daß
die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der alle
die Person der Bewerber betreffenden Kriterien berücksichtigt werden und
der den weiblichen Bewerbern eingeräumte Vorrang entfällt, wenn eines
oder mehrere dieser Kriterien zugunsten des männlichen Bewerbers
überwiegen, und
- solche Kriterien haben gegenüber den weiblichen Bewerbern keine
diskriminierende Wirkung.
Kosten
- Die Auslagen der spanischen, der französischen, der niederländischen, der
österreichischen, der finnischen und der schwedischen Regierung, der Regierung
des Vereinigten Königreichs, der norwegischen Regierung sowie der Kommission
der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen
abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hatDER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mit Beschluß vom 21.
Dezember 1995 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Artikel 2 Absätze 1 und 4 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar
1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und
Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum
beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen steht einer
nationalen Regelung nicht entgegen, nach der bei gleicher Qualifikation von
Bewerbern unterschiedlichen Geschlechts in bezug auf Eignung, Befähigung und
fachliche Leistung weibliche Bewerber in behördlichen Geschäftsbereichen, in
denen im jeweiligen Beförderungsamt einer Laufbahn weniger Frauen als Männer
beschäftigt sind, bevorzugt zu befördern sind, sofern nicht in der Person eines
männlichen Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen, vorausgesetzt,
diese Regelung garantiert den männlichen Bewerbern, die die gleiche
Qualifikation wie die weiblichen Bewerber besitzen, in jedem Einzelfall, daß
die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der alle
die Person der Bewerber betreffenden Kriterien berücksichtigt werden und
der den weiblichen Bewerbern eingeräumte Vorrang entfällt, wenn eines
oder mehrere dieser Kriterien zugunsten des männlichen Bewerbers
überwiegen, und
solche Kriterien haben gegenüber den weiblichen Bewerbern keine
diskriminierende Wirkung.
Rodríguez Iglesias Gulmann Ragnemalm Wathelet
Mancini Moitinho de Almeida Kapteyn Murray
Edward Puissochet Hirsch Jann Sevón
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 11. November 1997.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
1: Verfahrenssprache: Deutsch.