URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
18. Juni 1998 (1)
„Vertragsverletzungsklage Kartell Festsetzung einer Gebührenordnung
Zollspediteure Rechtsvorschriften, die die Wirkungen des Kartells verstärken“
In der Rechtssache C-35/96
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Enrico Traversa,
Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos
Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
gegen
Italienische Republik, vertreten durch Professor Umberto Leanza, Leiter des
Servizio del contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als Bevollmächtigten,
Beistand: Avvocato dello Stato Pier Giorgio Ferri, Zustellungsanschrift: Italienische
Botschaft, 5, rue Marie-Adélaïde, Luxemburg,
wegen Feststellung, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 85 EG-Vertrag verstoßen hat, daß sie ein
Gesetz erlassen und beibehalten hat, das den Consiglio nazionale dei spedizionieri
doganali (Nationaler Rat der Zollspediteure) durch Übertragung des
entsprechenden Beschlußfassungsrechts dazu verpflichtet, als
Unternehmensvereinigung einen Beschluß zu fassen, der insoweit gegen Artikel 85
dieses Vertrages verstößt, als damit eine für alle Zollspediteure verbindliche
Gebührenordnung festgelegt wird,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Gulmann sowie der Richter
M. Wathelet (Berichterstatter), J. C. Moitinho de Almeida, P. Jann und L. Sevón,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 4. Dezember 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12.
Februar 1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am
9. Februar 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel
169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Italienische Republik
dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 85 EG-Vertrag
verstoßen hat, daß sie ein Gesetz erlassen und beibehalten hat, das den Consiglio
nazionale dei spedizionieri doganali (Nationaler Rat der Zollspediteure; im
folgenden: CNSD) durch Übertragung des entsprechenden Beschlußfassungsrechts
dazu verpflichtet, als Unternehmensvereinigung einen Beschluß zu fassen, der
insoweit gegen Artikel 85 dieses Vertrages verstößt, als damit eine für alle
Zollspediteure verbindliche Gebührenordnung festgelegt wird.
- 2.
- In Italien wird die Tätigkeit der selbständigen Zollspediteure durch das Gesetz Nr.
1612 vom 22. Dezember 1960 über die rechtliche Anerkennung des
Zollspediteurberufs und zur Einrichtung der Berufsregister und der Pensionskasse
für Zollspediteure (GURI Nr. 4 vom 5. Januar 1961; im folgenden: Gesetz Nr.
1612/1960) und durch Durchführungsvorschriften, insbesondere durch Dekrete des
Präsidenten und der Minister, geregelt.
- 3.
- Diese Tätigkeit umfaßt Dienstleistungen im Rahmen des Zollabfertigungsverfahrens
(Artikel 1 des Gesetzes Nr. 1612/1960). Voraussetzung für ihre Ausübung ist der
Besitz einer Zulassung (patente) und die Eintragung in das nationale Register der
Zollspediteure. Dieses setzt sich aus allen Bezirksregistern zusammen, die die in
jedem Zollbezirk eingerichteten Consigli compartimentali (Bezirksräte der
Zollspediteure) führen (Artikel 2 und 4 bis 12 des Gesetzes Nr. 1612/1960).
- 4.
- Die Tätigkeit der Zollspediteure wird von den Bezirksräten der Zollspediteure
überwacht. Die Mitglieder dieser Bezirksräte werden in geheimer Wahl von den in
die Register der verschiedenen Bezirksdirektionen eingetragenen Zollspediteuren
für eine Amtszeit von zwei Jahren gewählt und können wiedergewählt werden; die
Mitglieder wählen aus ihrer Mitte den Vorsitzenden (Artikel 10 des Gesetzes Nr.
1612/1960).
- 5.
- Die Bezirksräte unterliegen der Kontrolle des CNSD, einer Einrichtung des
öffentlichen Rechts, die aus neun von den Mitgliedern der Bezirksräte der
Zollspediteure in geheimer Wahl gewählten Mitgliedern besteht, die aus ihrer Mitte
den Vorsitzenden wählen (Artikel 12 des Gesetzes Nr. 1612/1960). Bis 1992 gehörte
der Generaldirektor für Zölle und indirekte Steuern dem CNSD von Amts wegen
an und hatte den Vorsitz inne. Diese Vorschrift wurde jedoch durch Artikel 32 des
Decreto-legge Nr. 331 vom 30. August 1992 (im folgenden: Decreto-legge Nr.
331/1992) aufgehoben. Die Mitglieder des CNSD werden für drei Jahre ernannt
und können wiedergewählt werden (Artikel 13 Absatz 2 des Gesetzes Nr.
1612/1960).
- 6.
- In die Bezirksräte oder den CNSD können nur in die Register eingetragene
Zollspediteure gewählt werden (Artikel 8 Absatz 2 und 22 Absatz 2 des Dekrets
des Finanzministers vom 10. März 1964).
- 7.
- Der CNSD hat insbesondere die Aufgabe, auf der Grundlage der Vorschläge der
Bezirksräte die Gebührenordnung für die gewerblichen Leistungen der
Zollspediteure festzulegen (Artikel 14 Buchstabe d des Gesetzes Nr. 1612/1960).
Die Gebührenordnung ist verbindlich (Artikel 11 Absatz 2 des Gesetzes Nr.
1612/1960). Wer sich nicht an sie hält, kann mit Disziplinarstrafen belegt werden,
die vom Tadel bis im Wiederholungsfall zur vorübergehenden Streichung aus
dem Register bzw. im Fall der zweimaligen vorübergehenden Streichung innerhalb
von fünf Jahren durch den Bezirksrat bis zur endgültigen Streichung reichen
können (Artikel 38 bis 40 des Dekrets des Finanzministers vom 10. März 1964 mit
Durchführungsvorschriften zum Gesetz Nr. 1612/1960, GURI Nr. 102, supplemento
ordinario, vom 24. April 1964).
- 8.
- In der Sitzung vom 21. März 1988 erließ der CNSD die Gebührenordnung für die
gewerblichen Leistungen der Zollspediteure (im folgenden: Gebührenordnung), in
der es heißt:
„Diese Gebührenordnung sieht die Mindest- und Höchstbeträge vor, die für die
Zollabfertigung und für Leistungen auf dem Gebiet der Devisen, der Warenkunde
und der Steuern einschließlich Leistungen in steuerrechtlichen Streitigkeiten zu
zahlen sind. Bei der konkreten Festlegung des zwischen dem Mindest- und dem
Höchstbetrag liegenden Entgelts sind Besonderheiten, Eigenart und Bedeutung des
Auftrags zu berücksichtigen“ (Artikel 1).
„Artikel 1 dieser Gebührenordnung ist für den Auftraggeber unabdingbar; jede
andere Vereinbarung ist nichtig ...“ (Artikel 5).
„Der Nationale Rat der Zollspediteure kann besondere und/oder vorübergehende
Abweichungen von den in dieser Gebührenordnung vorgesehenen Mindestbeträgen
zulassen“ (Artikel 6).
„Der Nationale Rat der Zollspediteure paßt diese Gebührenordnung entsprechend
den vom Istat (Istituto centrale di statistica, Zentrales Institut für Statistik)
Bereich Industrie ermittelten Indizes mit Wirkung vom Datum des
entsprechenden Beschlusses an“ (Artikel 7).
- 9.
- Diese Gebührenordnung wurde vom italienischen Finanzminister durch Dekret vom
6. Juli 1988 (GURI Nr. 168 vom 19. Juli 1988, S. 19) genehmigt.
- 10.
- Gemäß Artikel 7 der Gebührenordnung beschloß der CNSD in seiner Sitzung vom
15. Dezember 1989, die in der Gebührenordnung festgesetzten Preise ab 1. Januar
1990 um 8 % zu erhöhen (Bekanntmachung des Finanzministers, veröffentlicht in
GURI Nr. 299 vom 23. Dezember 1989).
- 11.
- Die Kommission leitete drei verschiedene Verfahren ein, in denen sie die
italienischen Rechtsvorschriften beanstandete.
- 12.
- Am 24. März 1992 erhob sie beim Gerichtshof Klage u. a. auf Feststellung, daß die
Italienische Republik durch Genehmigung der Gebührenordnung gegen die Artikel
9 und 12 EG-Vertrag verstoßen hat. Diese Klage wurde insoweit durch Urteil vom
9. Februar 1994 in der Rechtssache C-119/92 (Kommission/Italien, Slg. 1994, I-393)
mit der Begründung abgewiesen, daß der Einführer nicht verpflichtet sei, in jedem
Fall einen gewerbsmäßigen Spediteur einzuschalten (Randnr. 46).
- 13.
- Am 30. Juni 1993 erließ die Kommission die Entscheidung 93/438/EWG in einem
Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag (IV/33.407 CNSD, ABl. L 203, S. 27),
in der sie die Gebührenordnung als Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages ansah. Der CNSD erhob gegen diese Entscheidung Nichtigkeitsklage, die
zur Zeit vor dem Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
anhängig ist (Rechtssache T-513/93); dieses hat beschlossen, die Prüfung bis zum
Erlaß des Urteils des Gerichtshofes in der vorliegenden Rechtssache auszusetzen
(Beschluß des Gerichts erster Instanz vom 6. Mai 1996, nicht in der amtlichen
Sammlung veröffentlicht).
- 14.
- Schließlich leitete die Kommission, da sie die betreffenden nationalen
Rechtsvorschriften als Verstoß gegen die Artikel 5 und 85 des Vertrages ansah, das
Vorverfahren ein, das der vorliegenden Klage zugrunde liegt.
- 15.
- Mit Schreiben vom 18. Oktober 1993 forderte sie die italienische Regierung auf,
sich binnen zwei Monaten hierzu zu äußern.
- 16.
- Da sie keine Antwort erhielt, gab die Kommission am 21. Juni 1995 eine mit
Gründen versehene Stellungnahme ab und forderte die Italienische Republik auf,
die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme binnen zwei
Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen.
- 17.
- Da die italienischen Behörden diese mit Gründen versehene Stellungnahme nicht
beantworteten, hat die Kommission beim Gerichtshof die vorliegende Klage
erhoben.
- 18.
- Mit am 15. Mai 1996 eingegangenem Schriftsatz hat die italienische Regierung
gemäß Artikel 91 § 1 der Verfahrensordnung eine Einrede der Unzulässigkeit
erhoben.
- 19.
- Der Gerichtshof hat beschlossen, die Prüfung der Einrede dem Endurteil
vorzubehalten.
- 20.
- Die italienische Regierung hat keine Klagebeantwortung eingereicht.
Zur Einrede der Unzulässigkeit
- 21.
- Mit ihrer ersten Einrede vertritt die italienische Regierung die Auffassung, daß die
Kommission wegen Rügen, die sich auf die Artikel 5 und 85 des Vertrages stützten,
kein zweites Verfahren auf Feststellung einer Vertragsverletzung habe einleiten
dürfen, ohne die erste, den Verstoß gegen die Artikel 9 und 12 des Vertrages
betreffende Klage zurückzunehmen.
- 22.
- Bei den beanstandeten Praktiken könne es sich nämlich entweder um die Erhebung
einer Steuer oder um den Abschluß einer vom betroffenen Mitgliedstaat
unterstützten Vereinbarung durch eine Unternehmensvereinigung, nicht aber um
beides zugleich handeln.
- 23.
- Außerdem ergebe sich aus der allgemeinen Systematik der Bestimmungen über die
Vertragsverletzungsklage, daß der Gerichtshof, wenn er einmal angerufen worden
sei, zwangsläufig ein Urteil zur Hauptsache erlassen müsse, sofern der Kläger seine
Klage nicht zurücknehme. Wenn die Kommission daher zu der Überzeugung
gelange, daß der Mitgliedstaat gegen die Verpflichtungen, deren Verletzung ihm
in der mit Gründen versehenen Stellungnahme im Rahmen des ersten Verfahrens
vorgeworfen worden sei, nicht verstoßen habe, daß er aber gegen andere, mit
diesen unvereinbare Verpflichtungen verstoßen habe, so könne sie nicht weiter vom
Gerichtshof verlangen, über diese Stellungnahme zu entscheiden, und zugleich ein
neues Verfahren einleiten, das sich auf einen anderen, mit dem ersten
unvereinbaren Vorwurf beziehe.
- 24.
- Schließlich habe die Kommission durch dieses Vorgehen die Verteidigungsrechte
der italienischen Regierung verletzt, da sie diese gezwungen habe, sich gleichzeitig
in zwei Rechtsstreitigkeiten zu verteidigen, die denselben Sachverhalt beträfen, in
denen die Klagen jedoch auf unterschiedliche Bestimmungen gestützt würden.
- 25.
- Im Rahmen ihrer zweiten Einrede verweist die italienische Regierung darauf, daß
das Mahnschreiben und die mit Gründen versehene Stellungnahme lückenhaft
gewesen seien. So seien nur in der Klageschrift die Tatbestandsmerkmale des
angeblichen Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages im einzelnen
erörtert worden. Hingegen habe sich die Kommission sowohl im
Aufforderungsschreiben als auch in der mit Gründen versehenen Stellungnahme
darauf beschränkt, bezüglich des Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 auf die
Entscheidung 93/438 zu verweisen. Nach ständiger Rechtsprechung müsse die mit
Gründen versehene Stellungnahme jedoch eine detaillierte und zusammenhängende
Darlegung der Gründe enthalten, aus denen die Kommission zu der Überzeugung
gelangt sei, daß der betreffende Mitgliedstaat gegen eine ihm nach dem Vertrag
obliegende Verpflichtung verstoßen habe (Urteil vom 11. Juli 1991 in der
Rechtssache C-247/89, Kommission/Portugal, Slg. 1991, I-3659).
- 26.
- Was die erste Einrede angeht, so ist in der vorliegenden Rechtssache nur das
Mahnschreiben zu einem Zeitpunkt ergangen, zu dem der Gerichtshof sein Urteil
in der Rechtssache C-119/92 noch nicht erlassen hatte; im übrigen ist die
Kommission nach den Artikeln 155 und 169 EG-Vertrag die Hüterin des
Gemeinschaftsrechts. In dieser Eigenschaft fällt der Kommission im allgemeinen
Interesse der Gemeinschaft die Aufgabe zu, die Ausführung des Vertrages durch
die Mitgliedstaaten zu überwachen und etwaige Verstöße gegen vertragliche
Verpflichtungen aufzudecken, damit sie abgestellt werden (Urteil vom 4. April 1974
in der Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Randnr. 15).
- 27.
- Es ist somit Sache der Kommission, zu beurteilen, ob ein Einschreiten gegen einen
Mitgliedstaat zweckmäßig ist, die ihrer Ansicht nach verletzten Bestimmungen zu
benennen und den Zeitpunkt für die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens
zu wählen, wobei die Erwägungen, die für diese Wahl bestimmend sind, die
Zulässigkeit der Klage nicht beeinflussen können (Urteil vom 1. Juni 1994 in der
Rechtssache C-317/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1994, I-2039, Randnr. 4).
- 28.
- Da im übrigen der Gegenstand des Rechtsstreits, mit dem der Gerichtshof befaßt
ist, durch die mit Gründen versehene Stellungnahme insoweit eingegrenzt wird, als
die Klage auf die gleichen Gründe und das gleiche Vorbringen gestützt sein muß
(Urteile vom 7. Februar 1984 in der Rechtssache 166/82, Kommission/Italien, Slg.
1984, 459, Randnr. 16, vom 1. Dezember 1993 in der Rechtssache C-234/91,
Kommission/Dänemark, Slg. 1993, I-6273, Randnr. 16, und vom 12. Januar 1994 in
der Rechtssache C-296/92, Kommission/Italien, Slg. 1994, I-1, Randnr. 11), hat die
Kommission, wenn sie die beanstandeten nationalen Rechtsvorschriften als Verstoß
gegen andere gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen ansieht und diese Verstöße
ebenfalls feststellen lassen möchte, keine andere Möglichkeit, als ein neues
Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, um die ihr durch die Artikel 155 und 169
des Vertrages übertragenen Aufgaben in vollem Umfang zu erfüllen.
- 29.
- Demnach kann der Umstand, daß sich ein Mitgliedstaat in zwei verschiedenen
Rechtsstreitigkeiten verteidigen muß, in denen es um denselben Sachverhalt geht,
bei denen die Klagen jedoch auf unterschiedliche Bestimmungen gestützt werden,
für sich allein keine Verletzung der Verteidigungsrechte darstellen. Einen anderen
Anhaltspunkt dafür, daß es im Verlauf der beiden Verfahren, einzeln oder auch
gemeinsam betrachtet, zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte gekommen sei,
hat die italienische Regierung nicht angeführt.
- 30.
- Zur zweiten Einrede ist lediglich festzustellen, daß die mit Gründen versehene
Stellungnahme eine detaillierte und zusammenhängende Darlegung der Gründe
enthält, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, daß der
betreffende Mitgliedstaat gegen eine ihm nach dem Vertrag obliegende
Verpflichtung verstoßen hat.
- 31.
- Im Mahnschreiben und in der mit Gründen versehenen Stellungnahme wird
nämlich der Gegenstand des Rechtsstreits, wenn auch in knapper Form, eindeutig
eingegrenzt. Außerdem wird in beiden ausdrücklich auf die Entscheidung 93/438
verwiesen, in der die Kommission den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der
Tätigkeit der Zollspediteure und des CNSD detailliert beschrieben (Teil I,
„Sachverhalt“, S. 27 bis 31) und dann ebenso detailliert rechtlich gewürdigt hat
(Teil II, „Rechtliche Würdigung“, S. 31 bis 33). Schließlich wird im Mahnschreiben
und in der mit Gründen versehenen Stellungnahme eingehend die einzige in der
Entscheidung 93/428 nicht angesprochene Frage erörtert, ob die vom CNSD
begangene Verletzung des Gemeinschaftsrechts der Italienischen Republik
zugerechnet werden kann.
- 32.
- Die Klage ist somit zulässig.
Zur Begründetheit
- 33.
- Erstens ist zu prüfen, ob die Gebührenordnung einen Beschluß einer
Unternehmensvereinigung im Sinne von Artikel 85 des Vertrages darstellt.
- 34.
- In der mündlichen Verhandlung hat die italienische Regierung die Auffassung
vertreten, ein Zollspediteur sei zwar als freiberuflich Tätiger ebenso wie ein
Rechtsanwalt, ein Geometer oder ein Dolmetscher ein Selbständiger, doch könne
er nicht als Unternehmen im Sinne von Artikel 85 des Vertrages angesehen
werden, da die von ihm erbrachten Dienstleistungen geistiger Art seien und da für
die Ausübung seines Berufes eine Genehmigung erforderlich sei und er dabei
bestimmte Bedingungen einhalten müsse. Der Vertrag unterscheide im übrigen
zwischen Selbständigen und Unternehmen, so daß nicht jede selbständige
Erwerbstätigkeit unbedingt im Rahmen eines Unternehmens ausgeübt werden
müsse. Darüber hinaus fehle die notwendige Organisation, d. h. die
Zusammenfassung personeller, materieller und immaterieller Elemente, die
dauerhaft der Verfolgung eines bestimmten wirtschaftlichen Zweckes dienten.
- 35.
- Da die selbständigen Zollspediteure keine Unternehmen seien, könne der CNSD
erst recht keine Unternehmensvereinigung im Sinne von Artikel 85 des Vertrages
sein.
- 36.
- Nach ständiger Rechtsprechung umfaßt der Begriff des Unternehmens jede eine
wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und
der Art ihrer Finanzierung (Urteile vom 23. April 1991 in der Rechtssache C-41/90,
Höfner und Elser, Slg. 1991, I-1979, Randnr. 21, vom 16. November 1995 in der
Rechtssache C-244/94, Fédération française des sociétés d'assurances u. a., Slg.
1995, I-4013, Randnr. 14, und vom 11. Dezember 1997 in der Rechtssache C-55/96,
Job Centre, Slg. 1997, I-7119, Randnr. 21); eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede
Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten
Markt anzubieten (Urteil vom 16. Juni 1987 in der Rechtssache 118/85,
Kommission/Italien, Slg. 1987, 2599, Randnr. 7).
- 37.
- Die Tätigkeit der Zollspediteure ist eine wirtschaftliche Tätigkeit. Sie bieten
nämlich gegen Entgelt Dienstleistungen an, die darin bestehen, Zollformalitäten,
die vor allem die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Waren betreffen, vorzunehmen,
sowie andere ergänzende Dienstleistungen, so auf dem Gebiet der Devisen, der
Warenkunde und der Steuern. Außerdem übernehmen sie die mit der Ausübung
dieser Tätigkeit verbundenen finanziellen Risiken (Urteil vom 16. Dezember 1975
in den verbundenen Rechtssachen 40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73 bis 56/73, 111/73,
113/73 und 114/73, Suiker Unie u. a./Kommission, Slg. 1975, 1663, Randnr. 541).
Gleichen sich die Ausgaben und Einnahmen nicht aus, so muß der Zollspediteur
das Defizit selbst tragen.
- 38.
- Selbst wenn es sich also bei der Tätigkeit eines Zollspediteurs um eine geistige
Tätigkeit handeln sollte, für die eine Genehmigung erforderlich wäre und die ohne
eine Zusammenfassung personeller, materieller und immaterieller Elemente
ausgeübt werden könnte, wäre sie nicht dem Anwendungsbereich der Artikel 85
und 86 EG-Vertrag entzogen.
- 39.
- Sodann ist zu prüfen, inwiefern sich ein Berufsverband wie der CNSD bei der
Erstellung der Gebührenordnung wie eine Unternehmensvereinigung im Sinne von
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages verhält.
- 40.
- Der Anwendung von Artikel 85 des Vertrages steht nicht entgegen, daß eine
nationale Einrichtung wie der CNSD eine öffentlich-rechtliche Einrichtung ist. Nach
ihrem Wortlaut gilt diese Bestimmung für Vereinbarungen zwischen Unternehmen
und Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen. Daher ist der rechtliche Rahmen,
in dem solche Vereinbarungen geschlossen und solche Beschlüsse gefaßt werden,
für die Anwendbarkeit der gemeinschaftlichen Wettbewerbsbestimmungen,
insbesondere des Artikels 85 des Vertrages, ebensowenig erheblich wie die
rechtliche Einordnung dieses Rahmens durch die nationalen Rechtsordnungen
(Urteil vom 30. Januar 1985 in der Rechtssache 123/83, Clair, Slg. 1985, 391,
Randnr. 17).
- 41.
- Darüber hinaus sind die Mitglieder des CNSD Vertreter der Zollspediteure, die
durch die betreffende nationale Regelung in keiner Weise daran gehindert werden,
im ausschließlichen Interesse ihres Berufsstandes zu handeln.
- 42.
- Zum einen können Mitglieder des CNSD nämlich nur in die Register eingetragene
Zollspediteure sein, da sie von den Mitgliedern der Bezirksräte, in denen nur
Zollspediteure vertreten sind, aus ihrer Mitte gewählt werden (Artikel 13 des
Gesetzes Nr. 1612/1960 und Artikel 8 Absatz 2 und 22 Absatz 2 des Dekrets des
Finanzministers vom 10. März 1964). Zu beachten ist hierbei, daß der
Generaldirektor für Zölle seit der Änderung durch das Decreto-legge Nr. 331/1992
dem CNSD nicht mehr als Vorsitzender angehört. Schließlich wirkt der italienische
Finanzminister, der mit der Aufsicht über den betreffenden Berufsverband betraut
ist, bei der Benennung der Mitglieder der Bezirksräte und des CNSD nicht mit.
- 43.
- Zum anderen hat der CNSD die Gebührenordnung für die gewerblichen
Leistungen der Zollspediteure auf der Grundlage der Vorschläge der Bezirksräte
zu erstellen (Artikel 14 Buchstabe d des Gesetzes Nr. 1612/1960). Dabei werden
die Mitglieder des CNSD wie auch der Bezirksräte durch keine nationale
Rechtsvorschrift dazu verpflichtet oder auch nur angeregt, Kriterien des
öffentlichen Interesses zu berücksichtigen.
- 44.
- Daraus folgt, daß die Mitglieder des CNSD nicht als unabhängige Sachverständige
qualifiziert werden können (vgl. in diesem Sinne die Urteile vom 17. November
1993 in der Rechtssache C-185/91, Reiff, Slg. 1993, I-5801, Randnrn. 17 und 19,
vom 9. Juni 1994 in der Rechtssache C-153/93, Delta Schiffahrts- und
Speditionsgesellschaft, Slg. 1994, I-2517, Randnrn. 16 und 18, und vom 17. Oktober
1995 in den verbundenen Rechtssachen C-140/94 bis C-142/94, DIP u. a., Slg. 1995,
I-3257, Randnrn. 18 und 19) und daß sie nicht gesetzlich verpflichtet sind, bei der
Gebührenfestsetzung nicht nur die Interessen der Unternehmen oder der
Unternehmensvereinigungen des Sektors, den sie vertreten, sondern auch das
Interesse der Allgemeinheit und das Interesse der Unternehmen anderer Sektoren
oder derjenigen, die die betreffenden Dienstleistungen in Anspruch nehmen, zu
berücksichtigen (Urteile Reiff, Randnrn. 18 und 24, Delta Schiffahrts- und
Speditionsgesellschaft, Randnr. 17, und DIP u. a., Randnr. 18).
- 45.
- Zweitens ist festzustellen, daß die Beschlüsse, mit denen der CNSD eine für alle
Zollspediteure einheitliche und verbindliche Gebührenordnung festgelegt hat, den
Wettbewerb im Sinne von Artikel 85 des Vertrages einschränken und daß sie
geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel zu beeinträchtigen.
- 46.
- Durch die Gebührenordnung werden nämlich unmittelbar die Preise für die
Dienstleistungen der Zollspediteure festgelegt. Sie sieht für die verschiedenen
Leistungsarten Höchst- und Mindestpreise vor, die von den Kunden verlangt
werden können. Zudem sieht die Gebührenordnung je nach Wert oder Gewicht der
zu verzollenden Ware oder der konkreten Warenart bzw. der Art der gewerblichen
Leistung verschiedene Preisstufen vor (Artikel 1).
- 47.
- Schließlich ist die Gebührenordnung verbindlich (Artikel 5), so daß ein
Zollspediteur nicht von sich aus von ihr abweichen kann. Nur der CNSD kann
Abweichungen zulassen (Artikel 6).
- 48.
- Was die Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels angeht, so hat ein
Kartell, das sich auf das gesamte Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erstreckt, schon
seinem Wesen nach die Wirkung, die Abschottung der Märkte auf nationaler
Ebene zu verfestigen, indem es die vom Vertrag gewollte wirtschaftliche
Verflechtung behindert (Urteile vom 17. Oktober 1972 in der Rechtssache 8/72,
Vereeniging van Cementhandelaren/Kommission, Slg. 1972, 977, Randnr. 29, und
vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 42/84, Remia u. a./Kommission, Slg. 1985,
2545, Randnr. 22).
- 49.
- Diese Wirkung ist umso spürbarer, als im vorliegenden Fall verschiedenartige
Vorgänge der Warenein- oder -ausfuhr innerhalb der Gemeinschaft sowie
Vorgänge zwischen Wirtschaftsteilnehmern der Gemeinschaft die Erfüllung von
Zollformalitäten erfordern und daher die Einschaltung eines in das Register
eingetragenen selbständigen Zollspediteurs notwendig machen können.
- 50.
- Dies gilt z. B. für die Vorgänge im sogenannten „internen Versandverfahren“, die
die Versendung von Waren aus Italien in einen Mitgliedstaat, d. h. zwischen Orten
im Zollgebiet der Gemeinschaft im Wege der Durchfuhr durch ein Drittland (z. B.
die Schweiz), umfassen. Derartige Vorgänge sind für Italien von besonderer
Bedeutung, da ein großer Teil der Waren, die aus den nordwestlichen Regionen
des Landes nach Deutschland und in die Niederlande versandt werden, durch die
Schweiz durchgeführt wird.
- 51.
- Aus alledem folgt, daß der CNSD durch den Erlaß der Gebührenordnung gegen
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages verstoßen hat.
- 52.
- Drittens ist zu prüfen, inwieweit dieser Verstoß der Italienischen Republik
zugerechnet werden kann.
- 53.
- Artikel 85 des Vertrages betrifft an sich nur das Verhalten von Unternehmen, nicht
aber durch Gesetz oder Verordnung getroffene Maßnahmen der Mitgliedstaaten;das ändert jedoch nichts daran, daß die Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 85 in
Verbindung mit Artikel 5 des Vertrages keine Maßnahmen, und zwar auch nicht
in Form von Gesetzen oder Verordnungen, treffen oder beibehalten dürfen, die die
praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln
aufheben könnten (vgl. zu Artikel 85 des Vertrages Urteile vom 21. September
1988 in der Rechtssache 267/86, Van Eycke, Slg. 1988, 4769, Randnr. 16, Reiff,
Randnr. 14, und Delta Schiffahrts- und Speditionsgesellschaft, Randnr. 14, und zu
Artikel 86 des Vertrages Urteil vom 16. November 1977 in der Rechtssache 13/77,
GB-Inno-BM, Slg. 1977, 2115, Randnr. 31).
- 54.
- Ein solcher Fall ist insbesondere dann gegeben, wenn ein Mitgliedstaat gegen
Artikel 85 verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt, erleichtert oder deren
Auswirkungen verstärkt oder wenn er seiner eigenen Regelung dadurch ihren
staatlichen Charakter nimmt, daß er die Verantwortung für in die Wirtschaft
eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt (Urteile
Van Eycke, Randnr. 16, Reiff, Randnr. 14, und Delta Schiffahrts- und
Speditionsgesellschaft, Randnr. 14).
- 55.
- Durch den Erlaß der betreffenden nationalen Regelung hat die Italienische
Republik nicht nur den Abschluß einer gegen Artikel 85 des Vertrages
verstoßenden Vereinbarung vorgeschrieben und darauf verzichtet, diese inhaltlich
zu beeinflussen, sondern sie trägt auch zur Gewährleistung ihrer Einhaltung bei.
- 56.
- Erstens wird der CNSD durch Artikel 14 Buchstabe d des Gesetzes Nr. 1612/1960
gezwungen, eine verbindliche und einheitliche Gebührenordnung für die Leistungen
der Zollspediteure zu erstellen.
- 57.
- Zweitens ist, wie sich aus den Randnummern 41 bis 44 des vorliegenden Urteils
ergibt, durch die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften die Befugnis der
öffentlichen Behörden zur Gebührenfestsetzung in vollem Umfang privaten
Wirtschaftsteilnehmern überlassen worden.
- 58.
- Drittens ist es den in das Register eingetragenen Zollspediteuren nach den
italienischen Rechtsvorschriften ausdrücklich untersagt, von der Gebührenordnung
abzuweichen (Artikel 11 des Gesetzes Nr. 1612/1960), da ihnen sonst ein
Berufsverbot bzw. die vorübergehende oder endgültige Streichung aus dem Register
(Artikel 38 bis 40 des Dekrets des Finanzministers vom 10. März 1964) droht.
- 59.
- Viertens überträgt zwar keine Rechtsvorschrift dem Finanzminister die Befugnis,
die Gebührenordnung zu genehmigen, doch wird durch das Dekret des
Finanzministers vom 6. Juli 1988 der Anschein erweckt, als handele es sich bei der
Gebührenordnung um eine öffentlich-rechtliche Regelung. Zunächst begründet die
Veröffentlichung in der „Serie generale“ der Gazzetta ufficiale della Repubblica
italiana eine Vermutung dafür, daß die Gebührenordnung Dritten bekannt ist; eine
solche Vermutung hätte ein Beschluß des CNSD niemals begründen können.
Zudem erleichtert der der Gebührenordnung auf diese Weise verliehene amtliche
Charakter den Zollspediteuren die Anwendung der darin festgesetzten Preise.
Schließlich ist dieser amtliche Charakter geeignet, Kunden von einer Beanstandung
der von den Zollspediteuren angewandten Preise abzuhalten.
- 60.
- Nach alledem ist festzustellen, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 85 des Vertrages verstoßen hat, daß sie ein
Gesetz erlassen und beibehalten hat, das den CNSD durch Übertragung des
entsprechenden Beschlußfassungsrechts dazu verpflichtet, als
Unternehmensvereinigung einen gegen Artikel 85 des Vertrages verstoßenden
Beschluß zu fassen, mit dem eine für alle Zollspediteure verbindliche
Gebührenordnung festgelegt wird.
Kosten
- 61.
- Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Italienische Republik mit
ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den
Artikeln 5 und 85 EG-Vertrag verstoßen, daß sie ein Gesetz erlassen und
beibehalten hat, das den Nationalen Rat der Zollspediteure (Consiglio
nazionale degli spedizionieri doganali CNSD) durch Übertragung des
entsprechenden Beschlußfassungsrechts dazu verpflichtet, als
Unternehmensvereinigung einen gegen Artikel 85 dieses Vertrages
verstoßenden Beschluß zu fassen, mit dem eine für alle Zollspediteure
verbindliche Gebührenordnung festgelegt wird.
2. Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
GulmannWathelet
Moitinho de Almeida
Jann Sevón
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. Juni 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
C. Gulmann