URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
18. November 1999 (1)
„Öffentliche Dienstleistungs- und Lieferaufträge Richtlinien 92/50/EWG und
93/36/EWG Vergabe eines Auftrags über die Lieferung bestimmter Waren
und die Erbringung bestimmter Dienstleistungen durch eine Gebietskörperschaft
an ein Konsortium, dem sie selbst angehört“
In der Rechtssache C-107/98
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234
EG) vom Tribunale amministrativo regionale Emilia-Romagna (Italien) in dem bei
diesem anhängigen Rechtsstreit
Teckal Srl
gegen
Gemeinde Viano,
Azienda Gas-Acqua Consorziale (AGAC) Reggio Emilia
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 6 der
Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der
Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. A. O. Edward sowie der Richter
L. Sevón, J. -P. Puissochet, P. Jann (Berichterstatter) und M. Wathelet,
Generalanwalt: G. Cosmas
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Teckal Srl, vertreten durch Rechtsanwälte A. Soncini und F. Soncini,
Parma, und P. Adami, Rom,
der Azienda Gas-Acqua Consorziale (AGAC) Reggio Emilia, vertreten
durch Rechtsanwälte E. G. Di Fava, Reggio Emilia, und G. Cugurra, Parma,
der italienischen Regierung, vertreten durch Professor U. Leanza, Leiter des
Servizio del contenzioso diplomatico im Außenministerium, als
Bevollmächtigten, im Beistand von Avvocato dello Stato P. G. Ferri,
der belgischen Regierung, vertreten durch J. Devadder, Hauptberater im
Juristischen Dienst des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten,
Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten,
der österreichischen Regierung, vertreten durch W. Okresek, Sektionschef
im Bundeskanzleramt, als Bevollmächtigten,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
P. Stancanelli, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Teckal Srl, vertreten durch
Rechtsanwälte A. Soncini und P. Adami, der Azienda Gas-Acqua Consorziale
(AGAC) Reggio Emilia, vertreten durch Rechtsanwalt G. Cugurra, der italienischen
Regierung, vertreten durch P. G. Ferri, der französischen Regierung, vertreten
durch A. Bréville-Viéville, Chargé de mission in der Direktion für Rechtsfragen des
Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigte, und der
Kommission, vertreten durch P. Stancanelli, in der Sitzung vom 6. Mai 1999,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Juli
1999,
folgendes
Urteil
- 1.
- Das Tribunale amministrativo regionale Emilia-Romagna hat mit Beschluß vom 10.
März 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 14. April 1998, gemäß Artikel 177
EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) eine Frage nach der Auslegung des Artikels 6
der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der
Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1) zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Teckal Srl (Klägerin) und
der Gemeinde Viano sowie der Azienda Gas-Acqua Consorziale (AGAC) Reggio
Emilia wegen der Vergabe der Betreibung der Heizungsanlagen in bestimmten
öffentlichen Gebäuden durch diese Gemeinde.
Gemeinschaftsrecht
- 3.
- Artikel 1 Buchstaben a und b der Richtlinie 92/50 bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie
a) gelten als .öffentliche Dienstleistungsaufträge' die zwischen einem
Dienstleistungserbringer und einem öffentlichen Auftraggeber geschlossenen
schriftlichen entgeltlichen Verträge ...
b) gelten als .öffentliche Auftraggeber' der Staat, Gebietskörperschaften,
Einrichtungen des öffentlichen Rechts und Verbände, die aus einer oder
mehreren dieser Körperschaften oder Einrichtungen bestehen.
...“
- 4.
- Artikel 2 der Richtlinie 92/50 lautet:
„Bezieht sich ein öffentlicher Auftrag gleichzeitig auf Erzeugnisse im Sinne der
Richtlinie 77/62/EWG und Dienstleistungen gemäß den Anhängen IA und IB dieser
Richtlinie, so fällt er unter diese Richtlinie, wenn der Wert der betreffenden
Dienstleistungen denjenigen der in den Auftrag einbezogenen Erzeugnisse
übersteigt.“
- 5.
- Artikel 6 der Richtlinie 92/50 bestimmt:
„Diese Richtlinie gilt nicht für die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen, die an
eine Stelle vergeben werden, die ihrerseits ein Auftraggeber im Sinne des Artikels
1 Buchstabe b) ist, aufgrund eines ausschließlichen Rechts derselben, das diese
gemäß veröffentlichter, mit dem Vertrag übereinstimmender Rechts- oder
Verwaltungsvorschriften innehat.“
- 6.
- Mit der Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung
der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (ABl. L 199, S. 1) wurde die
Richtlinie 77/62/EWG des Rates vom 21. Dezember 1976 über die Koordinierung
der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lierferaufträge (ABl. 1977, L 13, S. 1)
aufgehoben. Bezugnahmen auf die aufgehobene Richtlinie gelten gemäß Artikel 33
der Richtlinie 93/36 als Bezugnahme auf diese.
- 7.
- Artikel 1 Buchstaben a und b der Richtlinie 93/36 bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie
a) gelten als öffentliche Lieferaufträge die zwischen einem Lieferanten (einer
natürlichen oder juristischen Person) und einem unter Buchstabe b) näher
bezeichneten öffentlichen Auftraggeber geschlossenen schriftlichen
entgeltlichen Verträge über Kauf, Leasing, Miete, Pacht oder Ratenkauf,
mit oder ohne Kaufoption, von Waren. Diese Lieferung kann auch
Nebenarbeiten wie das Verlegen und Anbringen umfassen;
b) gelten als öffentliche Auftraggeber der Staat, Gebietskörperschaften,
Einrichtungen des öffentlichen Rechts und Verbände, die aus einer oder
mehreren dieser Körperschaften oder Einrichtungen bestehen.
...“
Nationales Recht
- 8.
- Artikel 22 Absatz 1 des italienischen Gesetzes Nr. 142 vom 8. Juni 1990 über die
Organisation der Autonomie der Gebietskörperschaften (GURI Nr. 135 vom 12.
Juni 1990; im folgenden: Gesetz Nr. 142/90) bestimmt, daß die Gemeinden für die
Erbringung der öffentlichen Dienstleistungen Sorge tragen, die die Herstellung von
Gütern und die Tätigkeiten zum Gegenstand haben, die sozialen Zwecken sowie
der Förderung der wirtschaftlichen und zivilen Entwicklung der örtlichen
Gemeinschaften dienen.
- 9.
- Nach Artikel 22 Absatz 3 des Gesetzes Nr. 142/90 können die Gemeinden diese
Dienstleistungen in eigener Regie, durch Erteilung von Konzessionen an Dritte
oder durch Beauftragung von besonderen Betrieben, von Einrichtungen ohne
Gewinnzweck oder von Aktiengesellschaften, an denen sie eine Kapitalbeteiligung
besitzen, erbringen.
- 10.
- In Artikel 23 des Gesetzes Nr. 142/90, der die besonderen Betriebe und die
Einrichtungen ohne Gewinnzweck definiert, heißt es:
„1. Der besondere Betrieb (azienda speciale) ist ein Unternehmen zur
Durchführung der Politik der Gebietskörperschaft, das Rechtspersönlichkeit,
unternehmerische Selbständigkeit und eine eigene Satzung besitzt, die vom
Gemeinde- oder Provinzialrat genehmigt wird.
...
3. Die Organe des Betriebes und der Einrichtung sind der Verwaltungsrat, der
Präsident und der geschäftsführende Direktor. Die Modalitäten der
Ernennung und Entlassung der Mitglieder des Verwaltungsrats sind in der
Satzung der Gebietskörperschaft geregelt.
4. Der Betrieb und die Einrichtung beachten bei der Ausübung ihrer
Tätigkeiten die Kriterien der Wirksamkeit, der Leistungsfähigkeit und der
Rentabilität. Sie sind verpflichtet, durch den Ausgleich der Ausgaben und
der Einnahmen einschließlich der Übertragungen zu einem ausgeglichenen
Haushalt zu gelangen;
...
6. Die Gebietskörperschaft steuert das Dotationskapital bei, legt die Ziele und
die Orientationen fest, genehmigt die Gründungsakte, übt eine Kontrolle
aus, prüft die Ergebnisse der Verwaltung und deckt die eventuellen
Sozialkosten.
...“
- 11.
- Nach Artikel 25 des Gesetzes Nr. 142/90 können die Gemeinden und Provinzen für
die gemeinsame Erbringung einer oder mehrerer Dienstleistungen nach den
Vorschriften über die besonderen Betriebe im Sinne des Artikels 23 ein
Konsortium bilden. Zu diesem Zweck genehmigt jeder Gemeinderat mit der
Mehrheit seiner Mitglieder eine Vereinbarung und zugleich die Satzung des
Konsortiums. Die Versammlung des Konsortiums besteht aus den Vertretern der
zusammengeschlossenen Gemeinden oder Provinzen in der Person des
Bürgermeisters bzw. des Vorsitzenden oder ihrer Vertreter. Die Versammlung
wählt den Verwaltungsrat und genehmigt seine in der Satzung vorgesehenen
Gründungsakte.
- 12.
- Die AGAC ist ein aus mehreren Gemeinden darunter der Gemeinde Viano
bestehendes Konsortium zur Erbringung von Energie- und Umweltdienstleistungen
im Sinne des Artikels 25 des Gesetzes Nr. 142/90. Nach Artikel 1 ihrer Satzung (im
folgenden: Satzung) besitzt sie Rechtspersönlichkeit und unternehmerische
Selbständigkeit. Nach Artikel 3 Absatz 1 ihrer Satzung besteht ihr Zweck in der
direkten Übernahme und der Erbringung bestimmter dort aufgeführter
Dienstleistungen, darunter der Lieferung von „Methangas für private und
Produktionszwecke, von Wärme für private und Produktionszwecke und in der
Ausübung der damit zusammenhängenden und akzessorischen Tätigkeiten“.
- 13.
- Nach Artikel 3 Absätze 2 bis 4 der Satzung kann die AGAC ihre Tätigkeiten auf
andere mit ihrem Satzungszweck zusammenhängende Dienstleistungen erstrecken,
sich für die Ausübung der mit den Dienstleistungen zusammenhängenden und
akzessorischen Tätigkeiten an Einrichtungen und/oder Gesellschaften mit
öffentlichem oder privatem Kapital beteiligen und schließlich Privatpersonen und
anderen öffentlichen Körperschaften als den im Konsortium
zusammengeschlossenen Gemeinden Dienstleistungen erbringen oder Waren
liefern.
- 14.
- Nach den Artikeln 12 und 13 der Satzung werden die wichtigsten
Verwaltungshandlungen wie die Aufstellung der Haushaltspläne und der
Abschlußbilanzen von der Versammlung der AGAC genehmigt, die aus den
Vertretern der Gemeinden besteht. Die anderen Leitungsorgane sind der Rat, der
Präsident des Rates und der Generaldirektor. Die letztgenannten schulden den
Gemeinden keine Rechenschaft über ihre Verwaltungstätigkeit. Die natürlichen
Personen, die diese Organe bilden, bekleiden keine Dienstposten in den
zusammengeschlossenen Gemeinden.
- 15.
- Nach Artikel 25 der Satzung muß der Haushalt der AGAC ausgeglichen und die
Geschäftsführung rentabel sein. Nach Artikel 27 der Satzung bringen die
Gemeinden Geld oder Sachmittel in die AGAC ein, die ihnen Jahreszinsen zahlt.
Artikel 28 der Satzung bestimmt, daß in einem Haushaltsjahr eventuell erzielte
Überschüsse zwischen den beteiligten Gemeinden aufgeteilt, von der AGAC für die
Erhöhung des Reservefonds einbehalten oder in andere Aktivitäten der AGAC
reinvestiert werden. Nach Artikel 29 der Satzung kann die Finanzlage im Fall von
Verlusten dadurch bereinigt werden, daß die zusammengeschlossenen Gemeinden
frisches Kapital einbringen.
- 16.
- Artikel 35 der Satzung sieht für die Regelung von Streitigkeiten zwischen den
zusammengeschlossenen Gemeinden oder zwischen diesen und der AGAC ein
Schiedsverfahren vor.
Der Ausgangsrechtsstreit
- 17.
- Der Gemeinderat von Viano übertrug der AGAC durch Beschluß Nr. 18 vom 24.
Mai 1997 (im folgenden: Beschluß) die Betreibung der Heizungsanlagen in
bestimmten Gebäuden der Gemeinde. Diesem Beschluß war kein
Ausschreibungsverfahren vorausgegangen.
- 18.
- Aufgabe der AGAC ist insbesondere die Sicherstellung des Funktionierens und die
Wartung der Heizungsanlagen in den betreffenden Gemeindegebäuden
einschließlich der erforderlichen Maßnahmen zur Verbesserung dieser Anlagen
sowie die Lieferung von Brennstoffen.
- 19.
- Die Vergütung der AGAC wurde für den Zeitraum vom 1. Juni 1997 bis 31. Mai
1998 auf 122 Millionen ITL festgesetzt. Davon entfallen 86 Millionen ITL auf die
Lieferung von Brennstoffen und 36 Millionen ITL auf die Betriebs- und
Wartungskosten der Anlagen.
- 20.
- Nach Artikel 2 des Beschlusses verpflichtet sich die AGAC bei Ablauf der
ursprünglichen Vertragsdauer von einem Jahr, die Dienstleistung auf Ersuchen der
Gemeinde Viano nach Anpassung der im Beschluß vorgesehenen Bedingungen für
einen weiteren Zeitraum von drei Jahren fortzusetzen. Auch eine weitere
Verlängerung ist vorgesehen.
- 21.
- Die Klägerin ist ein privates Unternehmen, das Dienstleistungen im Heizungssektor
erbringt. Sie beliefert insbesondere Privatpersonen und öffentliche Einrichtungen
mit Heizöl, das sie von den Herstellern bezieht. Außerdem wartet sie Öl- und
Gasheizungen.
- 22.
- Die Klägerin erhob gegen den Beschluß Klage beim Tribunale amministrativo
regionale Emilia-Romagna und machte geltend, die Gemeinde Viano hätte die im
Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge
einhalten müssen.
- 23.
- Das vorlegende Gericht ist im Zweifel, ob die Richtlinie 92/50 oder die Richtlinie
93/36 anwendbar ist; jedenfalls sei der in beiden Richtlinien auf 200 000 ECU
festgesetzte Mindestbetrag für deren Anwendung überschritten.
- 24.
- Da es sich bei der der AGAC übertragenen Aufgabe, die in der Erbringung
verschiedener Dienstleistungen und in der Lieferung von Brennstoffen besteht, um
eine gemischte Aufgabe handelt, meint das vorlegende Gericht, es sei nicht
auszuschließen, daß Artikel 6 der Richtlinie 92/50 anwendbar sei.
- 25.
- Deshalb hat es das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof ersucht, Artikel 6 der
Richtlinie 92/50 „unter den in der Begründung angegebenen Gesichtspunkten“
auszulegen.
Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
- 26.
- Die AGAC und die österreichische Regierung halten das
Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig. Die AGAC macht erstens geltend, der
Wert des Auftrags, um den es im Ausgangsverfahren gehe, liege unter dem in den
Richtlinien 92/50 und 93/36 festgesetzten Mindestbetrag, denn zum einen müsse der
Preis des Brennstoffes von dem geschätzten Auftragswert abgezogen werden, da
sich die AGAC, die selbst öffentlicher Auftraggeber sei, Brennstoffe über
öffentliche Ausschreibungsverfahren beschaffe, und zum anderen handele es sich
nicht um einen Vertrag mit unbestimmter Laufzeit.
- 27.
- Zweitens vertritt die AGAC die Auffassung, daß das Vorabentscheidungsersuchen
in Wirklichkeit die Auslegung des nationalen Rechts betreffe. Das vorlegende
Gericht ersuche den Gerichtshof nämlich, bestimmte Vorschriften des nationalen
Rechts auszulegen, um entscheiden zu können, ob der Ausnahmetatbestand des
Artikels 6 der Richtlinie 92/50 eingreife.
- 28.
- Die österreichische Regierung führt aus, das Vorabentscheidungsersuchen sei
unzulässig, da es keine Vorlagefrage enthalte. Im Bereich des Rechts der
öffentlichen Aufträge sei eine genaue Formulierung der Fragen besonders wichtig.
- 29.
- Hinsichtlich der Frage, ob der Wert des Auftrags, um den es im Ausgangsverfahren
geht, den in den Richtlinien 92/50 und 93/36 festgesetzten Mindestbetrag übersteigt,
ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof gemäß Artikel 177 EG-Vertrag, der auf
einer klaren Trennung der Aufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem
Gerichtshof beruht, nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen
Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer
Gemeinschaftsvorschrift zu äußern (vgl. u. a. Urteil vom 2. Juni 1994 in der
Rechtssache C-30/93, AC-ATEL Electronics Vertriebs GmbH, Slg. 1994, I-2305,
Randnr. 16).
- 30.
- In diesem Rahmen ist es nicht Sache des Gerichtshofes, sondern des nationalen
Gerichts, die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen festzustellen und
daraus die Schlußfolgerungen für die von ihm zu erlassende Entscheidung zu ziehen
(vgl. Urteil AC-ATEL Electronics Vertriebs GmbH, Randnr. 17).
- 31.
- Zwar ist die Methode der Berechnung des Auftragswerts in den
Gemeinschaftsvorschriften festgelegt, nämlich in Artikel 7 der Richtlinie 92/50 und
Artikel 5 der Richtlinie 93/36, zu deren Auslegung das nationale Gericht
gegebenenfalls Vorabentscheidungsfragen vorlegen kann; im Rahmen der in Artikel
177 EG-Vertrag festgelegten Aufgabenverteilung ist es jedoch Sache des nationalen
Gerichts, die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften auf einen konkreten Fall
anzuwenden. Eine solche Anwendung kann nämlich nicht ohne eine Würdigung des
gesamten Sachverhalts der Rechtssache erfolgen (vgl. Urteil vom 8. Februar 1990
in der Rechtssache C-320/88, Shipping and Forwarding Enterprise Safe, Slg. 1990,
I-285, Randnr. 11).
- 32.
- Somit kann der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen nicht als unzulässig
zurückweisen, indem er seine Auffassung von der Berechnung des Auftragswerts
an die Stelle derjenigen des vorlegenden Gerichts setzt.
- 33.
- Auch ist der Gerichtshof im Rahmen von Artikel 177 EG-Vertrag weder zur
Auslegung innerstaatlicher Rechts- oder Verwaltungsvorschriften noch zu
Äußerungen über deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht befugt. Er
kann indessen dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Auslegung des
Gemeinschaftsrechts geben, die es diesem ermöglichen, die ihm vorliegende
Rechtsfrage zu beantworten (Urteil vom 4. Mai 1993 in der Rechtssache C-17/92,
Distribuidores Cinematográficos, Slg. 1993, I-2239, Randnr. 8).
- 34.
- Schließlich kann der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Fall ungenau
formulierter Fragen aus den vom vorlegenden Gericht gemachten Angaben und aus
den Akten des Ausgangsverfahrens diejenigen gemeinschaftsrechtlichen
Vorschriften ermitteln, die unter Berücksichtigung des Streitgegenstands einer
Auslegung bedürfen (vgl. Urteile vom 13. Dezember 1984 in der Rechtssache
251/83, Haug-Adrion, Slg. 1984, 4277, Randnr. 9, und vom 26. September 1996 in
der Rechtssache C-168/95, Arcaro, Slg. 1996, I-4705, Randnr. 21).
- 35.
- Aufgrund der im Vorlagebeschluß enthaltenen Angaben ist davon auszugehen, daß
das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Vorschriften des
Gemeinschaftsrechts über die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbar sind, wenn
eine Gebietskörperschaft die Lieferung von Waren und die Erbringung von
Dienstleistungen einem Konsortium überträgt, dem sie wie im Ausgangsverfahren
selbst angehört.
- 36.
- Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig.
Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens
- 37.
- Dem Vorlagebeschluß zufolge übertrug die Gemeinde Viano der AGAC durch ein
und denselben Rechtsakt sowohl die Erbringung bestimmter Dienstleistungen als
auch die Lieferung bestimmter Waren. Dabei übersteigt der Wert der Waren
unstreitig den der Dienstleistungen.
- 38.
- Aus Artikel 2 der Richtlinie 92/50 ergibt sich e contrario, daß ein öffentlicher
Auftrag unter die Richtlinie 93/36 fällt, wenn er sich gleichzeitig auf Waren im
Sinne der Richtlinie 93/36 und auf Dienstleistungen im Sinne der Richtlinie 92/50
bezieht und der Wert der betreffenden Waren denjenigen der in den Auftrag
einbezogenen Dienstleistungen übersteigt.
- 39.
- Um dem Gericht, das ihm eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, eine
sachdienliche Antwort zu geben, kann der Gerichtshof auf gemeinschaftsrechtliche
Vorschriften eingehen, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht angeführt
hat (Urteile vom 20. März 1986 in der Rechtssache 35/85, Tissier, Slg. 1986, 1207,
Randnr. 9, und vom 27. März 1990 in der Rechtssache C-315/88, Bagli
Pennacchiotti, Slg. 1990, I-1323, Randnr. 10).
- 40.
- Sachdienlich ist nach dem Gesagten eine Auslegung nicht des Artikels 6 der
Richtlinie 92/50, sondern der Richtlinie 93/36.
- 41.
- Ob die Richtlinie 93/36 ein Ausschreibungsverfahren für den Fall vorschreibt, daß
eine Gebietskörperschaft die Lieferung von Waren einem Konsortium überträgt,
dem sie selbst angehört, richtet sich danach, ob diese Übertragung einen
öffentlichen Lieferauftrag darstellt.
- 42.
- Ist dies der Fall und beträgt der geschätzte Auftragswert ohne Mehrwertsteuer
mindestens 200 000 ECU, so ist die Richtlinie 93/36 anwendbar. Unerheblich ist
insoweit, ob auch der Lieferant öffentlicher Auftraggeber ist.
- 43.
- Die Richtlinie 93/36 ist nämlich nur in den Fällen unanwendbar, die in ihr selbst
ausdrücklich und abschließend aufgeführt sind (vgl. zur Richtlinie 77/62 das Urteil
vom 17. November 1993 in der Rechtssache C-71/92, Kommission/Spanien, Slg.
1993, I-5923, Randnr. 10).
- 44.
- Die Richtlinie 93/36 enthält aber keine Bestimmung, die Artikel 6 der Richtlinie
92/50 entspräche, der öffentliche Aufträge, die unter bestimmten Umständen an
öffentliche Auftraggeber vergeben werden, von der Anwendung der Richtlinie
ausschließt.
- 45.
- Diese Feststellung berührt allerdings nicht die Verpflichtung der letztgenannten
öffentlichen Auftraggeber, ihrerseits die in der Richtlinie 93/36 vorgesehenen
Ausschreibungsverfahren einzuhalten.
- 46.
- Die Gemeinde Viano ist als Gebietskörperschaft ein öffentlicher Auftraggeber im
Sinne von Artikel 1 Buchstabe b der Richtlinie 93/36. Das vorlegende Gericht hat
somit zu prüfen, ob das Verhältnis zwischen ihr und der AGAC die übrigen
Voraussetzungen erfüllt, die diese Richtlinie für das Vorliegen eines öffentlichen
Lieferauftrags aufstellt.
- 47.
- Dies ist nach Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 93/36 der Fall, wenn es sich um
einen schriftlichen entgeltlichen Vertrag u. a. über den Kauf von Waren handelt.
- 48.
- Im vorliegenden Fall liefert die AGAC der Gemeinde Viano gegen Zahlung eines
Entgelts Waren, nämlich Brennstoffe.
- 49.
- Zur Beantwortung der Frage, ob ein Vertrag vorliegt, muß das vorlegende Gericht
prüfen, ob eine Vereinbarung zwischen zwei verschiedenen Personen getroffen
wurde.
- 50.
- Dazu genügt es nach Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 93/36 grundsätzlich, daß
der Vertrag zwischen einer Gebietskörperschaft und einer rechtlich von dieser
verschiedenen Person geschlossen wurde. Etwas anderes kann nur dann gelten,
wenn die Gebietskörperschaft über die fragliche Person eine Kontrolle ausübt wie
über ihre eigenen Dienststellen und wenn diese Person zugleich ihre Tätigkeit im
wesentlichen für die Gebietskörperschaft oder die Gebietskörperschaften verrichtet,
die ihre Anteile innehaben.
- 51.
- Deshalb ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß die Richtlinie 93/36 anwendbar
ist, wenn ein öffentlicher Auftraggeber wie etwa eine Gebietskörperschaft
beabsichtigt, mit einer Einrichtung, die sich formal von ihm unterscheidet und die
ihm gegenüber eigene Entscheidungsgewalt besitzt, einen schriftlichen entgeltlichen
Vertrag über die Lieferung von Waren zu schließen, wobei unerheblich ist, ob diese
Einrichtung selbst ein öffentlicher Auftraggeber ist.
Kosten
- 52.
- Die Auslagen der italienischen, der belgischen, der französischen und der
österreichischen Regierung sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher
Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Tribunale amministrativo regionale Emilia-Romagna mit Beschluß
vom 10. März 1998 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Die Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung der
Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge ist anwendbar, wenn ein
öffentlicher Auftraggeber wie etwa eine Gebietskörperschaft beabsichtigt, mit einer
Einrichtung, die sich formal von ihm unterscheidet und die ihm gegenüber eigene
Entscheidungsgewalt besitzt, einen schriftlichen entgeltlichen Vertrag über die
Lieferung von Waren zu schließen, wobei unerheblich ist, ob diese Einrichtung
selbst ein öffentlicher Auftraggeber ist.
EdwardSevón
Puissochet
Jann Wathelet
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. November 1999.
Der Kanzler
Der Präsident der Fünften Kammer
R. Grass
D. A. O. Edward