Language of document : ECLI:EU:C:2004:584

Verbundene Rechtssachen C-397/01 bis C-403/01

Bernhard Pfeiffer u. a.

gegen

Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V.

(Vorabentscheidungsersuchen des Arbeitsgerichts Lörrach)

„Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Richtlinie 93/104/EG – Anwendungsbereich – Rettungsassistenten, die im Rahmen eines vom Deutschen Roten Kreuz betriebenen Rettungsdienstes in Rettungsfahrzeugen mitfahren – Bedeutung des Begriffes ‚Straßenverkehr‘ – Wöchentliche Höchstarbeitszeit – Grundsatz – Unmittelbare Wirkung – Ausnahme – Voraussetzungen“

Leitsätze des Urteils

1.        Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Richtlinie 89/391 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit – Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung – Geltungsbereich – Tätigkeit von Rettungsassistenten – Einbeziehung – Tätigkeit, die nicht unter die von diesem Geltungsbereich ausgeschlossenen Dienste des Katastrophenschutzes und des Straßenverkehrs fällt

(Richtlinie 89/391 des Rates, Artikel 2, und Richtlinie 93/104 des Rates, Artikel 1 Absatz 3)

2.        Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung – Wöchentliche Höchstarbeitszeit – Ausnahme – Zustimmung des Arbeitnehmers – Arbeitsvertrag, der auf einen Tarifvertrag verweist, der die Überschreitung dieser Arbeitszeit zulässt – Nicht ausreichend

(Richtlinie 93/104 des Rates, Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i)

3.        Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung – Tätigkeit von Rettungsassistenten – Nationale Regelung, die die Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit über einen Tarifvertrag oder eine Betriebsvereinbarung zulässt – Unzulässigkeit

(Richtlinie 93/104 des Rates, Artikel 6 Nummer 2)

4.        Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung – Artikel 6 Nummer 2 – Unmittelbare Wirkung – Pflichten und Befugnisse des nationalen Gerichts – Nichtanwendung nationaler Bestimmungen, die die Überschreitung der in diesem Artikel festgelegten wöchentlichen Höchstarbeitszeit zulassen

(Richtlinie 93/104 des Rates, Artikel 6 Nummer 2)

1.        Artikel 2 der Richtlinie 89/391 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit und Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass die im Rahmen eines Rettungsdienstes ausgeübte Tätigkeit von Rettungsassistenten in den Anwendungsbereich dieser Richtlinien fällt.

Diese Tätigkeit fällt nicht unter die Ausnahme des Artikels 2 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Richtlinie 89/391 für bestimmte spezifische Tätigkeiten im öffentlichen Dienst. Denn diese Ausnahme ist allein zu dem Zweck erlassen worden, das ordnungsgemäße Funktionieren der Dienste zu gewährleisten, die in Situationen von besonderer Schwere und besonderem Ausmaß, die dadurch gekennzeichnet sind, dass eine Arbeitszeitplanung für die Einsatz- und Rettungsteams nicht möglich ist, für den Schutz der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit und Ordnung unerlässlich sind.

Die Tätigkeit von Rettungsassistenten kann ebenso wenig, auch wenn sie zumindest zum Teil darin besteht, ein Fahrzeug zu benutzen und den Patienten auf der Fahrt ins Krankenhaus zu begleiten, als Tätigkeit im Straßenverkehr qualifiziert werden; sie fällt daher nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 1 Absatz 3 der Richtlinie 93/104.

(vgl. Randnrn. 55, 63, 72, 74, Tenor 1)

2.        Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i erster Gedankenstrich der Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, der die Möglichkeit vorsieht, Artikel 6 der Richtlinie, der die wöchentliche Höchstarbeitszeit regelt, nicht anzuwenden, ist dahin auszulegen, dass die Überschreitung der in Artikel 6 der Richtlinie vorgesehenen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden nur bei ausdrücklicher und freier Zustimmung des einzelnen Arbeitnehmers rechtswirksam ist. Es genügt insoweit nicht, dass der Arbeitsvertrag des Betroffenen auf einen Tarifvertrag verweist, der eine solche Überschreitung erlaubt, da es keineswegs sicher ist, dass der betroffene Arbeitnehmer beim Abschluss eines solchen Vertrages von der Beschränkung der ihm durch die Richtlinie 93/104 eingeräumten Rechte wusste.

(vgl. Randnrn. 85, 86, Tenor 2)

3.        Artikel 6 Nummer 2 der Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die bei der von Rettungsassistenten im Rahmen eines Rettungsdienstes geleisteten Arbeitsbereitschaft – gegebenenfalls über einen Tarifvertrag oder eine aufgrund eines Tarifvertrags getroffene Betriebsvereinbarung – eine Überschreitung der in dieser Bestimmung festgelegten wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden zulässt.

Zum einen ergibt sich nämlich sowohl aus dem Wortlaut des Artikels 6 Nummer 2 der Richtlinie 93/104 als auch aus dem Ziel und der Systematik dieser Richtlinie, dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden eine besonders wichtige Regel des Sozialrechts der Gemeinschaft ist, die jedem Arbeitnehmer als ein zum Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit bestimmter Mindestanspruch zugute kommen muss, so dass eine nationale Regelung, die wöchentliche Arbeitszeiten von mehr als 48 Stunden einschließlich der Arbeitsbereitschaft erlaubt, mit den Anforderungen dieser Bestimmung nicht vereinbar ist. Zum anderen sind die Arbeitsbereitschaftszeiten der Rettungsassistenten bei der Bestimmung der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeit in vollem Umfang zu berücksichtigen, unabhängig davon, dass es dabei zwischen den Notfalleinsätzen zwangsläufig zu mehr oder weniger langen Phasen der Untätigkeit kommt.

(vgl. Randnrn. 94, 95, 100, 101, 120, Tenor 3)

4.        Artikel 6 Nummer 2 der Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung erfüllt alle Voraussetzungen, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, da er den Mitgliedstaaten unmissverständlich eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der dort aufgestellten Regel durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist und die dahin geht, für die durchschnittliche Wochenarbeitszeit eine Höchstgrenze von 48 Stunden vorzusehen. Dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass der Vorschriften zur Durchführung des Artikels 6 lässt und ihnen zudem erlaubt, von diesem Artikel abzuweichen, nimmt der Nummer 2 dieses Artikels doch nichts von ihrer Genauigkeit und Unbedingtheit.

Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privaten anhängig ist und das bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht zu berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auszulegen hat, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist, muss somit alles tun, was in seiner Zuständigkeit liegt, um die Überschreitung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu verhindern, die in Artikel 6 Nummer 2 auf 48 Stunden festgesetzt ist.

(vgl. Randnrn. 104 bis 106, 119, 120, Tenor 3)