Language of document : ECLI:EU:C:2012:180

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

29. März 2012(*)

„Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Aufenthaltsrecht – Familienangehörige eines eingebürgerten türkischen Arbeitnehmers – Beibehaltung der türkischen Staatsangehörigkeit – Datum der Einbürgerung“

In den verbundenen Rechtssachen C‑7/10 und C‑9/10

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidungen vom 31. Dezember 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Januar 2010, in den Verfahren

Staatssecretaris van Justitie

gegen

Tayfun Kahveci (C‑7/10),

Osman Inan (C‑9/10)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Safjan, M. Ilešič und E. Levits (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Februar 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Kahveci, vertreten durch A. Durmuş und E. Köse, advocaten,

–        von Herrn Inan, vertreten durch H. Drenth, advocaat,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und J. Langer als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar, M. Arciszewski und A. Miłkowska als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und G. Rozet als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 20. Oktober 2011

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685, im Folgenden: Assoziierungsabkommen EWG–Türkei) geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Staatssecretaris van Justitie (Staatssekretär für Justiz, im Folgenden: Staatssecretaris) und Herrn Kahveci einerseits sowie Herrn Inan andererseits über die Frage, ob ein Familienangehöriger eines Arbeitnehmers, der nicht nur die türkische Staatsangehörigkeit, sondern auch die des Aufnahmemitgliedstaats besitzt, sich auf Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen kann.

 Rechtlicher Rahmen

 Beschluss Nr. 1/80

3        In Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 heißt es:

„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,

–      haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;

–      haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.

…“

4        Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:

„Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.“

 Nationales Recht

5        Gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. e der Vreemdelingenwet (Ausländergesetz) 2000 (Stb. 2000, Nr. 495, im Folgenden: Vw 2000) kann ein Antrag auf Verlängerung einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt werden, wenn der ausländische Staatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt. Nach Art. 19 der Vw 2000 kann eine befristete Aufenthaltsgenehmigung aus diesen Gründen entzogen werden.

6        Nach Art. 67 Abs. 1 Buchst. b der Vw 2000 kann der Ausländer vom Staatssekretär für unerwünscht erklärt werden, wenn er durch rechtskräftiges Urteil wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht ist. Nach Art. 67 Abs. 3 kann der für unerwünscht erklärte Ausländer sich nicht rechtmäßig in den Niederlanden aufhalten.

7        Nach Art. 3.86 Abs. 1 Buchst. d des Vreemdelingenbesluit (Ausländerverordnung) 2000 (Stb. 2000, Nr. 497) kann der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsgenehmigung aufgrund von Art. 18 Abs. 1 Buchst. e der Vw 2000 wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung u. a. abgelehnt werden, wenn gegen den ausländischen Staatsangehörigen wegen einer Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht ist, durch rechtskräftiges Urteil eine Freiheitsstrafe verhängt worden ist und der unbedingt zu vollstreckende Teil dieser Strafe zumindest dem Richtwert in Art. 3.86 Abs. 2 der Ausländerverordnung entspricht, der eine gleitende Skala auf der Grundlage der Aufenthaltsdauer der betroffenen Person in den Niederlanden vorsieht.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

 Rechtssache C‑7/10

8        Herr Kahveci ist türkischer Staatsangehöriger. Seine Ehefrau, die ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde in den Niederlanden als Kind eines türkischen Arbeitnehmers geboren und gehört dem regulären Arbeitsmarkt der Niederlande an. Im Juni 1999, bevor ihr Ehemann im Lauf desselben Jahres rechtmäßig in die Niederlande einreiste, erhielt sie die niederländische Staatsangehörigkeit, behielt aber die türkische Staatsangehörigkeit bei.

9        Die Aufenthaltsgenehmigung, die Herrn Kahveci erteilt wurde, war mit einer Beschränkung versehen, nämlich „Aufenthalt bei der Ehefrau R. Kahveci“. Die Geltungsdauer dieser Aufenthaltsgenehmigung wurde mehrfach verlängert, letztmalig bis zum 12. März 2009. Bis zu seiner Inhaftierung wohnte Herr Kahveci bei seiner Ehefrau.

10      Am 23. Januar 2007 wurde Herr Kahveci rechtskräftig zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt.

11      Mit Bescheid vom 20. März 2007 erklärte der Staatssecretaris Herrn Kahveci aufgrund seiner Verurteilung für unerwünscht und entzog ihm seine Aufenthaltsgenehmigung.

12      Der Widerspruch, den Herr Kahveci gegen diesen Bescheid einlegte, wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass er sich nicht auf Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen könne, da seine Ehefrau die niederländische Staatsangehörigkeit besitze. Daher könne er nicht als ein Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers angesehen werden, selbst wenn dieser türkische Arbeitnehmer die türkische Staatsangehörigkeit neben der niederländischen Staatsangehörigkeit behalten habe.

13      Da der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter der Rechtbank ’s‑Gravenhage der Klage stattgab, die Herr Kahveci gegen die Zurückweisung der genannten Beschwerde erhoben hatte, legte der Staatssecretaris Rechtsmittel beim Raad van State ein.

14      Der Staatssecretaris macht geltend, dass Herr Kahveci nicht mehr in den Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 1/80 falle und dass seine Ehefrau sich nicht mehr mit Erfolg auf die sozialen Vergünstigungen berufen könne, die durch diesen Beschluss geschaffen worden seien.

 Rechtssache C‑9/10

15      Herr Inan ist türkischer Staatsangehöriger. Sein Vater, Herr H. Inan, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist und dessen Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt der Niederlande nicht in Zweifel gezogen wird, besitzt seit 1993 neben der türkischen auch die niederländische Staatsangehörigkeit.

16      Herr Inan reiste im Lauf des Jahres 1999 rechtmäßig in die Niederlande ein. Die ihm erteilte Aufenthaltsgenehmigung war mit einer Beschränkung versehen, nämlich „Familienzusammenführung mit Elternteil H. Inan“. Die Geltungsdauer dieser Aufenthaltsgenehmigung wurde mehrfach verlängert, letztmalig bis zum 10. Juni 2005. Bis zu seiner Inhaftierung wohnte Herr Inan bei seinem Vater.

17      Am 22. Mai 2007 wurde Herr Inan rechtskräftig zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt.

18      Mit Bescheid vom 13. November 2007 erklärte der Staatssecretaris Herrn Inan aufgrund seiner Verurteilung für unerwünscht und lehnte seinen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung ab.

19      Das Ausgangsverfahren verlief sodann entsprechend dem Ausgangsverfahren, das gegen Herrn Kahveci eingeleitet wurde und oben in den Randnrn. 12 bis 14 des vorliegenden Urteils beschrieben ist.

20      Da der Raad van State unter diesen Umständen der Ansicht war, dass die Entscheidung der beiden bei ihm anhängigen Rechtssachen von der Auslegung des Unionsrechts abhänge, hat er die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen, die in beiden Rechtssachen wörtlich übereinstimmen, zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 so auszulegen, dass ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, sich auf diese Bestimmung nicht berufen kann, nachdem der Arbeitnehmer unter Beibehaltung der türkischen Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erhalten hat?

2.      Ist es für die Beantwortung der ersten Frage erheblich, zu welchem Zeitpunkt der betreffende türkische Arbeitnehmer die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erhält?

21      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. Februar 2010 sind die Rechtssachen C‑7/10 und C‑9/10 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

22      Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, sich weiterhin auf diese Bestimmung berufen können, wenn dieser Arbeitnehmer die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erhalten hat und gleichzeitig die türkische Staatsangehörigkeit beibehält.

23      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 einen integrierenden Bestandteil des Unionsrechts bildet (vgl. Urteil vom 20. September 1990, Sevince, C‑192/89, Slg. 1990, I‑3461, Randnrn. 8 und 9). Die Mitgliedstaaten sind somit gehalten, die Verpflichtungen, die sich aus diesen Bestimmungen ergeben, genauso einzuhalten, wie sie die Rechte zu wahren haben, die sich aus dem Unionsrecht ergeben.

24      Sodann ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 unmittelbare Wirkung hat, so dass türkische Staatsangehörige, für die diese Vorschrift gilt, sich vor den Gerichten der Mitgliedstaaten auf diese Vorschrift unmittelbar berufen können, um die Anwendung entgegenstehender inländischer Rechtsvorschriften auszuschließen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 17. April 1997, Kadiman, C‑351/95, Slg. 1997, I‑2133, Randnr. 28, vom 22. Dezember 2010, Bozkurt, C‑303/08, Slg. 2010, I‑13445, Randnr. 31, und vom 16. Juni 2011, Pehlivan, C‑484/07, Slg. 2011, I‑5203, Randnr. 39).

25      Nachdem dies klargestellt worden ist, ist zur Beantwortung der gestellten Fragen die genannte Vorschrift mit Blick auf ihren Wortlaut, auf das von ihr verfolgte Ziel und auf das mit ihr eingeführte System auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2006, Honyvem Informazioni Commerciali, C‑465/04, Slg. 2006, I‑2879, Randnr. 17).

26      Wie sich bereits aus dem Wortlaut des genannten Art. 7 Abs. 1 ergibt, hängt der Erwerb der in dieser Vorschrift vorgesehenen Rechte von zwei kumulativen Voraussetzungen ab: Zum einen muss die betreffende Person Familienangehöriger eines bereits dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers sein und zum anderen muss sie von den zuständigen Behörden dieses Staates die Genehmigung erhalten haben, zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen (vgl. Urteil Bozkurt, Randnr. 26).

27      Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist für die Anwendung von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 noch zu prüfen, ob der betroffene türkische Staatsangehörige seit einer bestimmten Zeit im Aufnahmemitgliedstaat seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz bei dem Arbeitnehmer hat, von dem er seine Rechte ableitet (vgl. u. a. Urteil vom 7. Juli 2005, Aydinli, C‑373/03, Slg. 2005, I‑6181, Randnr. 29).

28      Daher hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der nur die türkische Staatsangehörigkeit besitzt und die beiden in den Randnrn. 26 und 27 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt, im genannten Staat zwangsläufig ein unmittelbar auf Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 beruhendes Aufenthaltsrecht besitzt (vgl. Urteil Pehlivan, Randnr. 43).

29      In Bezug auf die Ausgangsverfahren steht fest, dass – wie in den Randnrn. 8 bis 10 und 15 bis 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt – die in dessen Randnrn. 26 und 27 genannten Voraussetzungen von Herrn Kahveci und Herrn Inan erfüllt werden.

30      Es bleibt deshalb mit Blick auf das von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verfolgte Ziel und auf das mit diesem Beschluss eingeführte System zu prüfen, ob der Umstand, dass der türkische Arbeitnehmer, der bereits dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört, zusätzlich zur türkischen Staatsangehörigkeit noch die des Aufnahmemitgliedstaats erhalten hat, für die Angehörigen seiner Familie zur Folge hat, dass sie nicht mehr berechtigt sind, sich auf diese Bestimmung zu berufen.

31      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das System des schrittweisen Erwerbs von Rechten nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 einem doppelten Zweck dient.

32      Erstens sollen nach der genannten Vorschrift bis zum Ablauf des ersten Zeitraums von drei Jahren Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um so durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen (vgl. u. a. Urteile vom 22. Juni 2000, Eyüp, C‑65/98, Slg. 2000, I‑4747, Randnr. 26, vom 11. November 2004, Cetinkaya, C‑467/02, Slg. 2004, I‑10895, Randnr. 25, und Bozkurt, Randnr. 33).

33      Zweitens soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Hauptzweck ist also, die Stellung des Familienangehörigen, der sich in dieser Phase bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, dadurch zu festigen, dass er die Mittel erhält, um dort selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sich folglich eine gegenüber der Stellung des Wanderarbeitnehmers selbständige Stellung aufzubauen (vgl. u. a. Urteile Eyüp, Randnr. 26, Cetinkaya, Randnr. 25, Aydinli, Randnr. 23, vom 18. Juli 2007, Derin, C‑325/05, Slg. 2007, I‑6495, Randnrn. 50 und 71, und Bozkurt, Randnr. 34)

34      Im Hinblick auf den mit dem Beschluss Nr. 1/80 verfolgten allgemeinen Zweck, der im Gegensatz zu einem Kooperationsabkommen wie dem am 27. April 1976 in Rabat unterzeichneten und vom Rat mit der Verordnung (EWG) Nr. 2211/78 vom 26. September 1978 (ABl. L 264, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigten Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko darin besteht, die im sozialen Bereich bestehende Regelung für die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen zu verbessern, um schrittweise die Freizügigkeit herzustellen (vgl. u. a. Urteil vom 11. November 1999, Mesbah, C‑179/98, Slg. 1999, I‑7955, Randnr. 36, und vom 16. März 2000, Ergat, C‑329/97, Slg. 2000, I‑1487, Randnr. 43), soll das insbesondere durch Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 eingeführte System also für Voraussetzungen sorgen, die die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat erleichtern (vgl. Urteil Pehlivan, Randnr. 45).

35      Dieser mit dem Beschluss Nr. 1/80 verfolgte Zweck würde aber vereitelt, wenn der Umstand, die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats zu erhalten, einen türkischen Arbeitnehmer, der weiterhin die türkische Staatsangehörigkeit hat, zwingen würde, auf die günstigen Voraussetzungen für die Familienzusammenführung in dem genannten Aufnahmemitgliedstaat zu verzichten.

36      Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass die türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen einer der Bestimmungen des Beschlusses Nr. 1/80 erfüllen, damit in den Genuss der darin vorgesehenen Rechte kommen (vgl. u. a. Urteile vom 18. Dezember 2008, Altun, C‑337/07, Slg. 2008, I‑10323, Randnrn. 28 und 29, und Bozkurt, Randnr. 39) und dass ein Mitgliedstaat keine andere Regelung erlassen oder andere Bedingungen aufstellen darf als die, die im Beschluss Nr. 1/80 vorgesehen sind (vgl. Urteil Pehlivan, Randnr. 56).

37      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt nämlich sowohl aus dem Vorrang des Unionsrechts als auch aus der unmittelbaren Wirkung einer Bestimmung wie Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, den Inhalt des Systems zur schrittweisen Integration türkischer Staatsangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat einseitig zu verändern, so dass sie keine Maßnahmen ergreifen können, die den Rechtsstatus beeinträchtigen könnten, der solchen Staatsangehörigen nach dem Recht des Assoziierungsabkommens EWG–Türkei ausdrücklich zuerkannt wird (vgl. Urteil Pehlivan, Randnr. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Eine Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende, die vorsieht, dass die nach Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte nicht mehr geltend gemacht werden können, sobald der türkische Arbeitnehmer, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, die niederländische Staatsangehörigkeit erhalten hat, hätte jedoch gerade die Wirkung, den Rechtsstatus zu beeinträchtigen, der den türkischen Staatsangehörigen nach dem Recht des Assoziierungsabkommens EWG–Türkei ausdrücklich zuerkannt wird.

39      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass in Bezug auf türkische Staatsangehörige wie Herrn Kahveci und Herrn Inan Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 der angemessene Rechtsrahmen für die Beurteilung ist, inwieweit einem wegen Straftaten verurteilten türkischen Staatsangehörigen durch Ausweisung aus dem Aufnahmemitgliedstaat die Rechte, die ihm unmittelbar aus diesem Beschluss erwachsen, genommen werden können (vgl. u. a. Urteile Derin, Randnr. 74, und Bozkurt, Randnr. 54).

40      Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass es den betreffenden nationalen Stellen obliegt, in jedem Einzelfall das persönliche Verhalten des Straftäters sowie die gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt, zu prüfen und außerdem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie die Grundrechte des Betroffenen zu wahren. Insbesondere kann eine auf Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gestützte Ausweisung nur dann beschlossen werden, wenn das individuelle Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet (vgl. Urteile Derin, Randnr. 74, und Bozkurt, Randnr. 60).

41      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, sich weiterhin auf diese Bestimmung berufen können, wenn dieser Arbeitnehmer die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erhalten hat und gleichzeitig die türkische Staatsangehörigkeit beibehält.

 Kosten

42      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem aufgrund des Abkommens über eine Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei eingesetzten Assoziationsrat erlassen wurde, ist dahin auszulegen, dass die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, sich weiterhin auf diese Bestimmung berufen können, wenn dieser Arbeitnehmer die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erhalten hat und gleichzeitig die türkische Staatsangehörigkeit beibehält.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.