Language of document : ECLI:EU:C:2011:543

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

6. September 2011(*)

„Mitglied des Europäischen Parlaments – Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen – Art. 8 – Strafverfahren wegen falscher Anschuldigung – Äußerungen außerhalb des Parlaments – Begriff der ‚in Ausübung des Amtes als Mitglied des Parlaments erfolgten Äußerung‘ – Immunität – Voraussetzungen“

In der Rechtssache C‑163/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Isernia (Italien) mit Entscheidung vom 9. März 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 2. April 2010, in dem Strafverfahren gegen

Aldo Patriciello

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot und J.‑J. Kasel, der Richter G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič, J. Malenovský und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters M. Safjan,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Februar 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Patriciello, vertreten durch G. Ranaldi und G. Scalese, avvocati, sowie S. Fortunato, assistente,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis, M. Germani und G. Papagianni als Bevollmächtigte,

–        des Europäischen Parlaments, vertreten durch H. Krück, A. Caiola und N. Lorenz als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral und C. Zadra als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2011

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 des dem EUV, dem AEUV und dem EAG-Vertrag beigefügten Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (im Folgenden: Protokoll).

2        Dieses Ersuchen ergeht in einem Strafverfahren gegen Herrn Patriciello, Mitglied des Europäischen Parlaments, wegen falscher Anschuldigung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 8 des Protokolls lautet:

„Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.“

4        In Art. 9 des Protokolls heißt es:

„Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

a)      steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

…“

5        Art. 18 des Protokolls lautet:

„Bei der Anwendung dieses Protokolls handeln die Organe der Union und die verantwortlichen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen.“

6        Art. 6 („Aufhebung der Immunität“) der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (ABl. 2005, L 44, S. 1, im Folgenden: Geschäftsordnung des Parlaments) bestimmt:

„(1)      Bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse hinsichtlich der Vorrechte und Immunitäten ist es vorrangiges Ziel des Parlaments, seine Integrität als demokratische gesetzgebende Versammlung zu wahren und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherzustellen.

(3)      Jeder an den Präsidenten gerichtete Antrag eines Mitglieds oder eines ehemaligen Mitglieds auf Schutz der Immunität und der Vorrechte wird dem Plenum mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen.

…“

7        Art. 7 Abs. 2, 6 und 7 dieser Geschäftsordnung, der die Vorschriften für die Verfahren bezüglich der Immunität der Europaabgeordneten enthält, lautet:

„(2)      Der Ausschuss unterbreitet einen Vorschlag für einen Beschluss, der sich darauf beschränkt, die Annahme oder Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Immunität oder auf Schutz der Immunität und der Vorrechte zu empfehlen.

(6)      In Fällen des Schutzes eines Vorrechts oder der Immunität prüft der Ausschuss, inwieweit die Umstände eine verwaltungstechnische oder sonstige Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Mitglieder bei der An- oder Abreise zum bzw. vom Tagungsort des Parlaments oder bei der Abgabe einer Meinung oder einer Abstimmung im Rahmen der Ausübung des Mandats darstellen oder unter die Aspekte von Artikel 10 des Protokolls … fallen, die nicht einzelstaatlichem Recht unterliegen, und unterbreitet einen Vorschlag, um die betreffende Behörde zu ersuchen, die erforderlichen Schlussfolgerungen zu ziehen.

(7)      Der Ausschuss kann eine mit Gründen versehene Stellungnahme zur Zuständigkeit der betreffenden Behörde und zur Zulässigkeit des Antrags abgeben, doch äußert er sich in keinem Fall zur Schuld oder Nichtschuld des Mitglieds bzw. zur Zweckmäßigkeit einer Strafverfolgung der dem Mitglied zugeschriebenen Äußerungen oder Tätigkeiten, selbst wenn er durch die Prüfung des Antrags umfassende Kenntnis von dem zugrundeliegenden Sachverhalt erlangt.“

 Nationales Recht

8        Art. 68 Abs. 1 der italienischen Verfassung lautet:

„Die Mitglieder des Parlaments können wegen der in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerungen und Abstimmungen nicht zur Verantwortung gezogen werden.“

9        Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 140 vom 20. Juni 2003 mit Durchführungsbestimmungen zu Art. 68 der Verfassung und über Strafverfahren gegen Inhaber hoher Staatsämter (legge n. 140, disposizioni per l’attuazione dell’articolo 68 della Costituzione nonché in materia di processi penali nei confronti delle alte cariche dello Stato) (GURI Nr. 142 vom 21. Juni 2003) bestimmt:

„Art. 68 Abs. 1 der Verfassung gilt in jedem Fall für die Vorlage von Entwürfen oder Vorschlägen eines Gesetzes, Änderungen, Tagesordnungen, Anträge und Entschließungen, große und kleine Anfragen, Ansprachen in den Plenen und anderen Organen der Kammern, alle Äußerungsformen der Stimmabgabe, jede sonstige parlamentarische Handlung sowie alle anderen Tätigkeiten der Untersuchung, Bekanntmachung, Kritik und politischen Erklärung im Zusammenhang mit dem Abgeordnetenmandat, auch soweit sie außerhalb des Parlaments erfolgen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10      Herrn Patriciello wird im Rahmen eines gegen ihn vor dem Tribunale di Isernia eingeleiteten Strafverfahrens zur Last gelegt, eine Beamtin der Polizei der Gemeinde Pozzili bei einer verbalen Auseinandersetzung, die am 1. August 2007 auf einem Parkplatz in der Nähe eines neurologischen Instituts und unweit seines Wohnsitzes stattfand, zu Unrecht einer rechtswidrigen Tat beschuldigt zu haben.

11      Nach der Vorlageentscheidung wird Herr Patriciello insoweit des Vergehens einer falschen Anschuldigung gemäß Art. 368 des italienischen Strafgesetzbuchs beschuldigt, und zwar unter dem erschwerenden Umstand, dieses Vergehen gegenüber einem Dienst tuenden Beamten im Sinne von Art. 61 Abs. 10 des Strafgesetzbuchs begangen zu haben. Ihm wird vorgeworfen, er habe behauptet, dass die fragliche Gemeindepolizistin bei der Verwarnung mehrerer Autofahrer, deren Fahrzeuge unter Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung geparkt gewesen seien, die Zeiten falsch angegeben habe, womit er diese Beamtin einer gemäß Art. 477 des Strafgesetzbuchs strafbaren Urkundenfälschung verdächtigt habe. Außerdem habe Herr Patriciello seine Behauptungen in Gegenwart der Carabinieri wiederholt, die vor Ort erschienen seien, um das Vorliegen der von Herrn Patriciello der Gemeindepolizistin angelasteten Taten zu überprüfen.

12      Mit einer Entschließung vom 5. Mai 2009 wurde durch das Europäische Parlament gemäß dem Antrag von Herrn Patriciello nach Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments und in Übereinstimmung mit dem Bericht seines Rechtsausschusses beschlossen, die Immunität und die Vorrechte von Herrn Patriciello zu verteidigen (im Folgenden: Entschließung über die Verteidigung der Immunität). Diese Entschließung ist wie folgt begründet:

„In der Tat verhält es sich so, dass sich Herr Patriciello mit seinen Bemerkungen lediglich zu allgemein zugänglichen Fakten geäußert hat, nämlich zu dem Recht der Bürger auf uneingeschränkten Zugang zu einem Krankenhaus sowie zu medizinischem Personal, der für den Alltag in seinem Wahlkreis von erheblicher Bedeutung war.

Herr … Patriciello handelte nicht aus eigenem Interesse, er beabsichtigte nicht, die Beamtin zu beleidigen, sondern er handelte im allgemeinen Interesse seiner Wähler im Rahmen seiner politischen Tätigkeit.

Er ist seiner Pflicht als Abgeordneter des Europäischen Parlaments dadurch nachgekommen, dass er zu einer Frage, die für seine Wähler von öffentlichem Interesse ist, seine Meinung zum Ausdruck gebracht hat.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Rechtsausschuss nach Prüfung der für oder gegen eine Verteidigung der Immunität sprechenden Gründe, die Immunität von Herrn … Patriciello zu verteidigen.“

13      Das Tribunale di Isernia stellt in seiner Vorlageentscheidung jedoch fest, dass für die Vorrechte und Befreiungen gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls, die die Europaabgeordneten für im nationalen Hoheitsgebiet begangene Taten genössen, dieselben formellen und materiellen Voraussetzungen gälten wie für diejenigen, die im nationalen Recht vorgesehen seien. Nach Art. 68 der italienischen Verfassung gelte das Privileg der Verantwortungsfreiheit für außerparlamentarische Tätigkeiten aber nur, wenn diese eng mit den typischen Aufgaben und den mandatsspezifischen Zielen des Amtes zusammenhingen.

14      Das vorlegende Gericht ist insoweit der Auffassung, dass es nach seinem innerstaatlichen Recht den Gründen, die das Europäische Parlament dazu geführt hätten, die Entschließung über die Verteidigung der Immunität zu erlassen, ohne jede Stellungnahme zu der Frage, ob die Vorwürfe zuträfen oder nicht, nicht zustimmen könne. Der Sachverhalt, der dem Ausgangsstrafverfahren zugrunde liege, stehe nämlich nicht im Zusammenhang mit einer in Ausübung des Amtes eines Europaabgeordneten erfolgten Meinungsäußerung.

15      Dazu führt das vorlegende Gericht aus, dass die Staatsanwaltschaft die Auffassung vertrete, dass das Vorbringen von Herrn Patriciello, wonach er sich lediglich zu offenkundigen Tatsachen geäußert habe, nämlich zu dem Recht der Bürger auf leichten Zugang zu Krankenhäusern und zur Krankenbehandlung, ohne einen Beamten beleidigen zu wollen, nicht haltbar erscheine. Herr Patriciello habe nämlich, auch wenn dies noch zu überprüfen sei, einen Beamten ausdrücklich und in Gegenwart der Ordnungskräfte der Urkundenfälschung verdächtigt. Ein solches Verhalten habe aber allem Anschein nach nichts mit Anliegen seiner Wähler von allgemeinem Interesse zu tun und könne als solches offenbar unter keinen Umständen unter die Immunitätsregelung fallen.

16      Das Tribunale di Isernia weist allerdings darauf hin, dass die Entschließung, die Immunität zu verteidigen, unter Hinweis nicht nur auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls, sondern auch auf dessen Art. 8 erlassen worden sei. Der Gerichtshof habe bereits festgestellt, dass der Umfang der Immunität gemäß dieser Vorschrift, da diese nicht auf die nationalen Rechtsordnungen verweise, allein nach dem Unionsrecht zu beurteilen sei. Außerdem sei das vorlegende Gericht – selbst wenn die Entschließung zur Verteidigung der Immunität eine Stellungnahme sei, die keine Bindungswirkung für die nationalen Gerichte entfalte – gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 18 des Protokolls zur loyalen Zusammenarbeit mit den europäischen Organen verpflichtet (Urteil vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, Slg. 2008, I‑7929, Randnrn. 26 und 39 bis 41).

17      Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Isernia das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stellt die dem Europaabgeordneten, [A.] Patriciello abstrakt zur Last gelegte (in der Anklageschrift beschriebene und bereits der Entschließung über die Verteidigung der Immunität zugrunde liegende), als falsche Anschuldigung im Sinne von Art. 368 des Strafgesetzbuchs qualifizierte strafbare Handlung eine in Ausübung seines parlamentarischen Amtes erfolgte Äußerung gemäß Art. 8 des Protokolls dar oder nicht?

 Zur Vorlagefrage

18      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits festgestellt hat, dass die in den Art. 8 und 9 des Protokolls vorgesehene parlamentarische Immunität der Europaabgeordneten die beiden Arten von Schutz umfasst, die den Mitgliedern der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten in der Regel zuerkannt werden, nämlich Immunität in Bezug auf die in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgten Äußerungen und Abstimmungen sowie parlamentarische Unverletzlichkeit, die grundsätzlich Schutz vor gerichtlicher Verfolgung bieten (Urteil Marra, Randnr. 24).

19      Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Vorlagefrage ergibt, geht es im Ausgangsverfahren allein um die Auslegung von Art. 8 des Protokolls.

20      Dazu ist in Übereinstimmung mit der italienischen Regierung festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seiner so formulierten Frage ersucht, Art. 8 des Protokolls auf den Rechtsstreit, mit dem es befasst ist, dadurch selbst anzuwenden, dass er sich zu der Frage äußert, ob die Äußerungen des betroffenen Europaabgeordneten, die im Ausgangsverfahren zur strafrechtlichen Verfolgung geführt haben, eine in Ausübung seines parlamentarischen Amtes erfolgte Äußerung darstellen und somit unter die in dieser Vorschrift vorgesehene Immunität fallen.

21      Es ist hervorzuheben, dass der Gerichtshof in Verfahren nach Art. 267 AEUV nicht befugt ist, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden. Er kann jedoch dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die diesem für seine Entscheidung dienlich sein könnten (vgl. insbesondere Urteil vom 10. Juli 2008, Feryn, C‑54/07, Slg. 2008, I‑5187, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      In einem Verfahren wie dem Ausgangsverfahren ist es daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu entscheiden, ob die fraglichen Äußerungen unter die in Art. 8 des Protokolls vorgesehene Immunität fallen, indem es beurteilt, ob die in dieser Vorschrift für die Gewährung der Immunität vorgesehenen sachlichen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Urteil Marra, Randnr. 33).

23      Es ist dagegen Aufgabe des Gerichtshofs, dem vorlegenden Gericht alle notwendigen Hinweise zu geben, um es bei dieser Beurteilung zu leiten, indem er die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umformuliert (vgl. insbesondere Urteile vom 11. März 2008, Jager, C‑420/06, Slg. 2008, I‑1315, Randnr. 46, und vom 14. Oktober 2010, Fuß, C‑243/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 39).

24      Insoweit ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage in Wirklichkeit um eine nähere Erläuterung der Kriterien ersucht, die für die Feststellung maßgeblich sind, ob eine Äußerung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die ein Europaabgeordneter außerhalb des Europäischen Parlaments abgegeben hat und die in seinem Herkunftsmitgliedstaat zu einer strafrechtlichen Verfolgung wegen falscher Anschuldigung geführt hat, eine in Ausübung seines parlamentarischen Amtes erfolgte Äußerung im Sinne von Art. 8 des Protokolls darstellt.

25      Insoweit ist zu unterstreichen, dass sich im Gegensatz zu der nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls vorgesehenen parlamentarischen Unverletzlichkeit, die vom nationalen Recht abhängt, der Umfang der in Art. 8 des Protokolls vorgesehenen Immunität, da diese Vorschrift keinerlei Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen enthält, allein nach dem Unionsrecht bestimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil Marra, Randnr. 26).

26      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Art. 8 des Protokolls, der eine Sondervorschrift ist, die auf jedes Gerichtsverfahren anzuwenden ist, für das der Europaabgeordnete die Immunität in Bezug auf in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgte Äußerungen und Abstimmungen genießt, die Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Europaabgeordneten schützen soll und daher jedem Gerichtsverfahren wegen in Ausübung des Abgeordnetenamts erfolgter Äußerungen und Abstimmungen entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Marra, Randnrn. 27 und 45).

27      Wenn daher die in Art. 8 des Protokolls festgelegten sachlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der Immunität vorliegen, kann das Europäische Parlament diese, welche Regelung der Immunität oder Grenzen auch immer das nationale Recht vorsieht, nicht aufheben, und das für die Anwendung der Immunität zuständige nationale Gericht muss die Klage gegen den betreffenden Europaabgeordneten abweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil Marra, Randnr. 44).

28      Wie sämtliche am vorliegenden Verfahren Beteiligten geltend gemacht haben, können die Äußerungen eines Europaabgeordneten nicht allein deshalb dieser Immunität entzogen sein, weil sie außerhalb des Europäischen Parlaments erfolgt sind.

29      Art. 8 des Protokolls soll zwar in Anbetracht seines Zwecks, die Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Europaabgeordneten zu schützen, und seines Wortlauts, der ausdrücklich neben Äußerungen von Europaabgeordneten deren Abstimmungen nennt, im Wesentlichen auf die Erklärungen der Europaabgeordneten Anwendung finden, die sie im Europäischen Parlament selbst abgeben.

30      Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass eine Erklärung, die Europaabgeordnete außerhalb des Parlaments abgeben, eine in Ausübung ihres Amtes erfolgte Äußerung im Sinne von Art. 8 des Protokolls darstellt, denn das Vorliegen einer derartigen Äußerung hängt nicht vom Ort, an dem sie erfolgt, sondern von ihrer Art und ihrem Inhalt ab.

31      Mit seiner Bezugnahme auf von Europaabgeordneten getätigte Äußerungen ist Art. 8 des Protokolls eng mit der Meinungsfreiheit verknüpft. Diese stellt als wesentliche Grundlage einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft, in der sich die Werte widerspiegeln, auf denen die Union gemäß Art. 2 EUV beruht, ein durch Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – die den Verträgen gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV rechtlich gleichrangig ist – garantiertes Grundrecht dar. Diese Freiheit ist auch in Art. 10 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegt.

32      Deshalb ist davon auszugehen, dass der Begriff „Äußerung“ im Sinne von Art. 8 des Protokolls in einem weiten Sinn dahin aufzufassen ist, dass er Worte und Erklärungen umfasst, die ihrem Inhalt nach Aussagen entsprechen, welche subjektive Beurteilungen bilden.

33      Außerdem ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 8 des Protokolls, dass die Äußerung eines Europaabgeordneten nur dann unter die Immunität fallen kann, wenn sie „in Ausübung [seines] Amtes erfolgt“ ist, womit das Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen der erfolgten Äußerung und der parlamentarischen Tätigkeit impliziert wird.

34      Im Hinblick auf – wie im Ausgangsverfahren – Erklärungen eines Europaabgeordneten, die in seinem Herkunftsmitgliedstaat Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung sind, ist die in Art. 8 des Protokolls vorgesehene Immunität, wie sich bereits aus Randnr. 27 des vorliegenden Urteils ergibt, geeignet, die nationalen Justizbehörden und Gerichte in endgültiger Weise daran zu hindern, zur Wahrung der öffentlichen Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet ihre jeweiligen Befugnisse zur Strafverfolgung und zur Ahndung von Straftaten auszuüben, und dementsprechend den durch diese Äußerungen geschädigten Personen den Zugang zu den Gerichten, einschließlich gegebenenfalls der Zivilgerichte für die Erwirkung von Schadensersatz, vollständig zu verwehren.

35      Angesichts dieser Konsequenzen ist davon auszugehen, dass der Zusammenhang zwischen der erfolgten Äußerung und dem parlamentarischen Amt unmittelbar und in offenkundiger Weise ersichtlich sein muss.

36      Es ist des Weiteren festzustellen, dass in Anbetracht der Darstellungen der Umstände und des Inhalts der im Ausgangsverfahren fraglichen Äußerungen des Europaabgeordneten diese als den Aufgaben eines Mitglieds des Europäischen Parlaments fernstehend erscheinen und daher schwerlich geeignet sein können, mit einem die Bürger beschäftigenden Allgemeininteresse in unmittelbarem Zusammenhang zu stehen. Selbst wenn ein solcher Zusammenhang bewiesen werden könnte, wäre er nicht in offenkundiger Weise ersichtlich.

37      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht dieser Hinweise zu beurteilen – was, wie in den Randnrn. 21 und 22 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufen worden ist, seiner ausschließlichen Zuständigkeit unterliegt –, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erklärung als eine Meinungsäußerung in Ausübung des Abgeordnetenamts aufzufassen ist, so dass die sachlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der in Art. 8 des Protokolls vorgesehenen Immunität vorliegen.

38      Sollte das vorlegende Gericht als Ergebnis dieser Beurteilung feststellen, dass dies der Fall ist, müsste es, wie in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Konsequenzen aus dieser Immunität ziehen, indem es die Klage gegen den betreffenden Europaabgeordneten abweist (vgl. Urteil Marra, Randnrn. 33 und 44). Sollten die sachlichen Voraussetzungen für die Immunität hingegen nicht erfüllt sein, müsste das vorlegende Gericht die Prüfung der Anklage fortführen.

39      In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass es sich, auch wenn das Europäische Parlament, wie im vorliegenden Fall, auf Antrag des betroffenen Europaabgeordneten hin eine Entschließung über die Verteidigung seiner Immunität erlassen hat, bei dieser nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments gefassten Entschließung lediglich um eine Stellungnahme handelt, die für die nationalen Gerichte nicht bindend ist, da das Protokoll keine Vorschrift enthält, die diese Gerichte verpflichtete, die Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 8 des Protokolls dem Parlament zu überlassen. So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Umstand, dass das Recht eines Mitgliedstaats wie das im Ausgangsverfahren betroffene ein Verfahren zum Schutz der Mitglieder des nationalen Parlaments vorsieht, das diesem ein Eingreifen erlaubt, wenn das nationale Gericht die Immunität nicht anerkennt, nicht bedeutet, dass das Europäische Parlament in Bezug auf die Europaabgeordneten dieses Staates dieselben Befugnisse hat, da Art. 8 des Protokolls eine solche Zuständigkeit nicht ausdrücklich vorsieht und nicht auf die Vorschriften des nationalen Rechts verweist (vgl. in diesem Sinne Urteil Marra, Randnrn. 35 bis 40).

40      Entgegen dem Vorbringen des Angeschuldigten des Ausgangsverfahrens in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof erlegt daher das Unionsrecht, auch wenn das Europäische Parlament und die nationalen Gerichte gemäß der in Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 18 des Protokolls vorgesehenen Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit zwischen den europäischen Organen und den nationalen Behörden zusammenarbeiten müssen, um Konflikte bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des Protokolls zu vermeiden (Urteil Marra, Randnr. 42), dem vorlegenden Gericht, wenn es unter Berücksichtigung der Auslegung, die mit dem vorliegenden Urteil nach Art. 267 AEUV gegeben worden ist, entscheiden sollte, dass von der ihm zur Kenntnis gebrachten Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Anwendung von Art. 8 des Protokolls auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens abzuweichen ist, hinsichtlich der Begründung seiner Entscheidungen keine besondere Verpflichtung auf.

41      Nach alledem ist auf die gestellte Frage zu antworten, dass Art. 8 des Protokolls dahin auszulegen ist, dass eine von einem Europaabgeordneten außerhalb des Europäischen Parlaments abgegebene Erklärung, die in seinem Herkunftsmitgliedstaat zu einer strafrechtlichen Verfolgung wegen falscher Anschuldigung geführt hat, nur dann eine in Ausübung seines parlamentarischen Amtes erfolgte Äußerung darstellt, die unter die in dieser Vorschrift vorgesehene Immunität fällt, wenn sie einer subjektiven Beurteilung entspricht, die in einem unmittelbaren und offenkundigen Zusammenhang mit der Ausübung dieses Amtes steht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren vorliegen.

 Kosten

42      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 8 des dem EUV, dem AEUV und dem EAG-Vertrag beigefügten Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine von einem Europaabgeordneten außerhalb des Europäischen Parlaments abgegebene Erklärung, die in seinem Herkunftsmitgliedstaat zu einer strafrechtlichen Verfolgung wegen falscher Anschuldigung geführt hat, nur dann eine in Ausübung seines parlamentarischen Amtes erfolgte Äußerung darstellt, die unter die in dieser Vorschrift vorgesehene Immunität fällt, wenn sie einer subjektiven Beurteilung entspricht, die in einem unmittelbaren und offensichtlichen Zusammenhang mit der Ausübung dieses Amtes steht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren vorliegen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.