Language of document : ECLI:EU:C:2011:788

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

VERICA TRSTENJAK

vom 29. November 2011(1)

Rechtssache C‑453/10

Jana Pereničová,

Vladislav Perenič

gegen

S.O.S. financ, spol. sro

(Vorabentscheidungsersuchen des Okresný súd Prešov [Slowakei])

„Verbraucherschutz – Richtlinie 93/13/EWG – Art. 4 Abs. 1 und 6 Abs. 1 – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Richtlinie 2005/29/EG – Unlautere Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern – Verbraucherkreditvertrag, in dem Wucherzinsen vorgesehen sind – Auswirkung der unlauteren Handelspraktiken und der missbräuchlichen Klauseln auf die Wirksamkeit des Vertrags insgesamt“





Inhaltsverzeichnis

I – Einleitung

II – Normativer Rahmen

A – Unionsrecht

1. Die Richtlinie 93/13

2. Die Richtlinie 87/102

3. Die Richtlinie 2005/29

B – Nationales Recht

III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

V – Wesentliche Argumente der Parteien

A – Zur ersten Vorlagefrage

B – Zur zweiten Vorlagefrage

1. Fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses als unlautere Handelspraktik

2. Die Folgen unlauterer Handelspraktiken für die Wirksamkeit des Vertrags

VI – Rechtliche Würdigung

A – Einleitende Bemerkungen

B – Zur ersten Vorlagefrage

1. Unionsrechtlich vorgegebenes Mindestschutzniveau

a) Grundsätzlich nur Unwirksamkeit der einzelnen Vertragsklausel

b) Ausnahmsweise Unwirksamkeit des Vertrags als Ganzes

2. Mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielraum zur Erhöhung des Schutzniveaus

C – Zur zweiten Vorlagefrage

1. Teilfrage: fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses als unlautere Handelspraktik

a) Zur Richtlinie 2005/29

b) Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29

i) Vorliegen einer Geschäftspraktik

ii) Bedeutung der Abgrenzungsregelung in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie

iii) Zwischenergebnis

c) Vorliegen einer unlauteren Geschäftspraktik

i) Notwendigkeit einer kohärenten Auslegung des Verbraucherschutzrechts

ii) Prüfung des unlauteren Charakters der Geschäftspraktik

– Vorliegen einer irreführenden Handlung im Sinne von Art. 5 Abs. 4 Buchst. a in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2005/29

– Hilfsweise Feststellung eines Verstoßes gegen die Erfordernisse der beruflichen Sorgfaltspflicht

d) Ergebnis

2. Teilfrage: die Folgen unlauterer Handelspraktiken für die Wirksamkeit des Vertrags

a) Relevanz der Richtlinie 87/102

b) Relevanz der Richtlinie 2005/29

c) Relevanz der Richtlinie 93/13

i) Anwendungsbereich der Richtlinie

ii) Umfang der Inhaltskontrolle

iii) Missbräuchlicher Charakter der Vertragsklausel

d) Ergebnis

3. Zusammenfassende Schlussfolgerungen

VII – Ergebnis


I –    Einleitung

1.        Die vorliegende Rechtssache geht auf ein Vorabentscheidungsersuchen des slowakischen Okresný súd Prešov (im Folgenden: vorlegendes Gericht) gemäß Art. 267 AEUV zurück, mit dem dieses dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen zur Auslegung der Richtlinie 93/13 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen(2) sowie der Richtlinie 2005/29 über unlautere Geschäftspraktiken im Binnenmarkt(3) vorgelegt hat.

2.        Anlass des Vorabentscheidungsersuchens ist eine Klage der Eheleute Perenič (im Folgenden: Kläger des Ausgangsverfahrens) auf Feststellung der Nichtigkeit des zwischen ihnen und der Gesellschaft SOS, s.r.o. (im Folgenden: SOS) abgeschlossenen Verbraucherkreditvertrags. Sie machen geltend, der fragliche Vertrag enthalte zahlreiche Klauseln, die zu ihren Ungunsten formuliert seien und sie in ihrer Eigenschaft als Verbraucher schädigten. Vor diesem Hintergrund müssten diese Klauseln als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie 93/13 bzw. als Ausdruck unlauterer Geschäftspraktiken im Sinne der Richtlinie 2005/29 angesehen werden. Aus diesem Umstand schließen sie, dass der fragliche Vertrag für nichtig erklärt werden müsse, wobei es im Interesse des Verbraucherschutzes nicht ausreiche, wenn lediglich die teilweise Nichtigkeit festgestellt werde. Vielmehr müsse die Nichtigkeit des Vertrags als Ganzes vorgesehen werden.

3.        Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, seine Rechtsprechung zum Verbraucherschutz weiterzuentwickeln und dabei insbesondere zu klären, wie im Fall des Vorliegens missbräuchlicher Klauseln die vom Unionsgesetzgeber angeordnete Unverbindlichkeit solcher Klauseln so umgesetzt werden kann, dass den Erfordernissen der Rechtssicherheit und des Verbraucherschutzes angemessen Rechnung getragen werden kann. In diesem Zusammenhang wird zu untersuchen sein, ob es dabei auf ein etwaiges Interesse des Verbrauchers daran, nicht länger an einen Vertrag gebunden sein zu wollen, ankommt oder ob vielmehr im Interesse der Beständigkeit der Rechtsverhältnisse und der Vertragsautonomie dem Verbraucher ein Festhalten an einem teilweise nichtigen Vertrag zugemutet werden kann. Zugleich gilt es zu untersuchen, wie der Schutz, den beide Richtlinien dem Verbraucher gewähren, in einer Konstellation wie der des Ausgangsverfahrens wirkt und ob sich aus der Feststellung einer unlauteren Geschäftspraktik im Sinne der Richtlinie 2005/29 eventuell Schlussfolgerungen für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel nach den Bestimmungen der Richtlinie 93/13 ziehen lassen.

II – Normativer Rahmen

A –    Unionsrecht

1.      Die Richtlinie 93/13

4.        Nach ihrem Art. 1 Abs. 1 ist Zweck der Richtlinie 93/13 die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über missbräuchliche Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern.

5.        Art. 3 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.

(3)      Der Anhang enthält eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können.“

6.        Art. 4 der Richtlinie lautet wie folgt:

„(1)      Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.

(2)      Die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln betrifft weder den Hauptgegenstand des Vertrages noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.“

7.        Art. 6 Abs. 1 derselben Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

8.        Art. 8 der Richtlinie 93/13 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen erlassen, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten.“

9.        Punkt 1 Buchst. g im Anhang zur Richtlinie 93/13 bezeichnet als missbräuchlich jene Klauseln, „die darauf abzielen oder zur Folge haben, dass es dem Gewerbetreibenden – außer bei Vorliegen schwerwiegender Gründe – gestattet ist, einen unbefristeten Vertrag ohne angemessene Frist zu kündigen“.

2.      Die Richtlinie 87/102

10.      Die Richtlinie 87/102(4) bezweckt die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit. Sie ist durch die Richtlinie 2008/48(5), die am 11. Juni 2008 in Kraft getreten ist, mit Wirkung vom 12. Mai 2010 aufgehoben worden. Vor dem Hintergrund, dass der streitgegenständliche Kreditvertrag zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens am 12. März 2008 abgeschlossen worden ist, findet allein die Richtlinie 87/102 auf den Ausgangsfall Anwendung.

11.      Art. 1 der Richtlinie 87/102 bestimmt Folgendes:

„(1)      Diese Richtlinie findet auf Kreditverträge Anwendung.

(2)      Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

e)      ‚effektiver Jahreszins‘: die Gesamtkosten des Kredits für den Verbraucher, die als jährlicher Vomhundertsatz des gewährten Kredits ausgedrückt sind und nach den in den Mitgliedstaaten angewandten Methoden ermittelt werden.“

12.      Art. 4 der Richtlinie lautet wie folgt:

„(1)      Kreditverträge bedürfen der Schriftform. Der Verbraucher erhält eine Ausfertigung des schriftlichen Vertrages.

(2)      In der Vertragsurkunde ist folgendes anzugeben:

a)      der effektive Jahreszins;

b)      die Bedingungen, unter denen der effektive Jahreszins geändert werden kann.

Falls die Angabe des effektiven Jahreszinses nicht möglich ist, sind dem Verbraucher in der Vertragsurkunde angemessene Informationen zu geben. Diese Angaben müssen mindestens die in Artikel 6 Absatz 1 zweiter Gedankenstrich vorgesehenen Informationen umfassen.“

13.      Art. 14 der Richtlinie lautet wie folgt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Kreditverträge von den zur Anwendung dieser Richtlinie ergangenen oder dieser Richtlinie entsprechenden innerstaatlichen Vorschriften nicht zum Nachteil des Verbrauchers abweichen.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen ferner sicher, dass die Vorschriften, die sie gemäß dieser Richtlinie verabschieden, nicht durch eine besondere Gestaltung der Verträge, insbesondere eine Aufteilung des Kreditbetrags auf mehrere Verträge, umgangen werden.“

3.      Die Richtlinie 2005/29

14.      Art. 3 der Richtlinie 2005/29 legt den Anwendungsbereich dieser Richtlinie wie folgt fest:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktiken im Sinne des Artikels 5 zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.

(2)      Diese Richtlinie lässt das Vertragsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags unberührt.“

B –    Nationales Recht

15.      Das slowakische Zivilgesetzbuch enthält folgende Bestimmungen, die das Recht der Verbraucherverträge regeln:

„§ 52

1.      Als ‚Verbrauchervertrag‘ ist jeder zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher abgeschlossene Vertrag zu verstehen, unabhängig von seiner Rechtsform.

2.      Die Klauseln jedes Verbrauchervertrags sowie jede andere Bestimmung, welche die Rechtsbeziehungen regelt, die ein Verbraucher eingegangen ist, werden zugunsten des Verbrauchers angewandt. Etwaige Vereinbarungen, deren Inhalt und Zweck darauf abzielen, diese Bestimmungen zu umgehen, sind ungültig.

4.      Als ‚Verbraucher‘ ist jede physische Person zu verstehen, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zwecke abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann.

§ 53

1.      Ein Verbrauchervertrag darf keine Bestimmung enthalten, die zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht (im Folgenden: ‚missbräuchliche Klausel‘). Nicht als missbräuchlich beurteilt werden darf eine Vertragsklausel, die den Hauptgegenstand eines Vertrags oder die Angemessenheit des Preises beschreibt, sofern diese Klausel klar und verständlich abgefasst ist.

4.      Als missbräuchliche Klauseln werden solche Bestimmungen eines Verbrauchervertrags beurteilt, die

k)      dem Verbraucher, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, einen unverhältnismäßig hohen Entschädigungsbetrag auferlegen;

5.      Die missbräuchlichen Klauseln eines Verbrauchervertrags sind ungültig.“

16.      Das Gesetz Nr. 258/2001 über Verbraucherkreditverträge in seiner zuletzt geänderten Fassung bestimmt Folgendes:

„§ 4

Verbraucherkreditverträge

1.      Ein Verbraucherkreditvertrag bedarf zur Wirksamkeit der Schriftform, wobei dem Verbraucher ein Exemplar des Vertrags ausgehändigt werden muss.

2.      Ein Verbraucherkreditvertrag muss neben den allgemeinen Bestandteilen des Vertrags

j)      den effektiven Jahreszins sowie die Gesamtkosten des Kredits beinhalten, so wie sie auf Grundlage der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses verfügbaren Daten berechnet werden.

Sofern der Verbraucherkreditvertrag die in Abs. 2 Buchst. … j) angeführten Bestandteile nicht enthalten sollte, ist davon auszugehen, dass der gewährte Kredit von Zinsen und Kosten befreit ist.“

17.      Anhang 2 zum Gesetz Nr. 258/2001 legt die Berechnungsmethode des effektiven Jahreszinses fest.

III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18.      Die Gesellschaft SOS gewährt als Institut, das kein Bankinstitut ist, auf der Grundlage von Standardformularverträgen Kredite auch an Verbraucher.

19.      Am 12. März 2008 bewilligte SOS den Klägern des Ausgangsverfahrens einen Kredit von 150 000 SKK (4 979 Euro), den sie in 32 Monatsraten in Höhe von 6 000 SKK (199 Euro) zurückzahlen sollten. Die 33. und letzte Monatsrate sollte so hoch wie der Kredit selbst sein, also 150 000 SKK (4 979 Euro). Die Eheleute Perenič sollten 342 000 SKK (11 352 Euro) zurückzahlen. SOS hatte einen effektiven Jahreszins von 48,63 % angegeben. Nach der Berechnung des vorlegenden Gerichts beläuft sich der effektive Jahreszins jedoch auf 58,76 %. SOS bezog in die Berechnung der Gesamtkosten des Kredits einen zusätzlichen Betrag in Höhe von 2 500 SKK (83 Euro) für die Gewährung des Kredits nicht ein.

20.      Der Vertrag enthält eine Reihe von Klauseln, die aus der Sicht der Kläger für sie ungünstig sind. Ihr genauer Inhalt ist in der Vorlageentscheidung wiedergegeben. Für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens genügt ein Verweis auf dieses Dokument.

21.      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens mit der Zahlung der Raten in Verzug gerieten, was zur Folge hatte, dass die Gesellschaft SOS ihnen eine Vertragsstrafe in Höhe von 209 Euro in Rechnung stellte. Am 23. Dezember 2009 erhoben sie Klage auf Feststellung der Nichtigkeit des Kreditvertrags vor dem vorlegenden Gericht.

22.      Das vorlegende Gericht hegt Zweifel, ob der streitgegenständliche Vertrag eine missbräuchliche Klausel im Sinne der Richtlinie 93/13 enthält und welche Folgen dies für die Wirksamkeit des Vertrags hat. Vor allem fragt sich das vorlegende Gericht aber, inwiefern den Belangen des Verbraucherschutzes – etwa durch eine Feststellung der Ungültigkeit des Vertrags als Ganzes – genügt werden muss und ob diesem Ansinnen möglicherweise die Bestimmungen der Richtlinie 2005/29 entgegenstehen. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts bedarf es einer Auslegung des Unionsrechts. Aus diesem Grund hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist der Umfang des Schutzes des Verbrauchers nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen derart, dass er bei Feststellung missbräuchlicher Klauseln in einem Verbrauchervertrag die Schlussfolgerung erlaubt, dass der Vertrag als Ganzes den Verbraucher nicht bindet, wenn dies für den Verbraucher günstiger ist?

2.      Sind die Kriterien, die eine unlautere Geschäftspraktik im Sinne der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates charakterisieren derart, dass die Schlussfolgerung zulässig ist, dass das Verhalten eines Gewerbetreibenden, der im Vertrag einen geringeren effektiven Jahreszins als den realen angibt, gegenüber dem Verbraucher als unlautere Geschäftspraktik angesehen werden kann? Lässt die Richtlinie 2005/29 es bei Feststellung einer unlauteren Geschäftspraktik zu, dass sich dies auf die Wirksamkeit des Kreditvertrags und auf die Erreichung der Ziele des Art. 4 Abs. 1 und des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 auswirkt, wenn die Unwirksamkeit des Vertrags für den Verbraucher günstiger ist?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

23.      Die Vorlageentscheidung mit Datum vom 31. August 2010 ist am 16. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

24.      Schriftliche Erklärungen haben die Kläger des Ausgangsverfahrens, die slowakische, die deutsche, die österreichische und die spanische Regierung sowie die Europäische Kommission innerhalb der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs genannten Frist eingereicht.

25.      In der mündlichen Verhandlung vom 15. September 2011 sind die Prozessbevollmächtigten der Kläger des Ausgangsverfahrens und der slowakischen Regierung sowie der Kommission erschienen, um Ausführungen zu machen.

V –    Wesentliche Argumente der Parteien

A –    Zur ersten Vorlagefrage

26.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens bringen vor, dass Art. 6 der Richtlinie 93/13, wonach missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher unverbindlich sind, dahin ausgelegt werden sollte, dass der Vertrag, der solche Klauseln enthalte, als Ganzes für unwirksam erklärt werden müsse, wenn dies für den Verbraucher günstiger sei und er die Unwirksamkeit des Vertrags geltend mache.

27.      Die deutsche Regierung macht geltend, Art. 6 der Richtlinie 93/13 schreibe ein Prinzip fest, wonach ein Vertrag, der missbräuchliche Klauseln enthalte, seine Wirksamkeit behalten müsse. Nur ausnahmsweise dürfe ein Vertrag als Ganzes für unwirksam erklärt werden, und zwar dann, wenn er ohne die betreffenden Klauseln nicht weiter bestehen könne. Gleichwohl sehe die Richtlinie 93/13 eine Mindestharmonisierung der nationalen Rechtsordnungen auf dem Gebiet der missbräuchlichen Klauseln vor, so dass es den Mitgliedstaaten freistehe, die Gesamtnichtigkeit der Verträge vorzusehen, die missbräuchliche Klauseln enthielten, sofern dies für den Verbraucher vorteilhafter sei.

28.      Die spanische Regierung weist darauf hin, dass das mit der Richtlinie 93/13 verfolgte Ziel eher darin bestehe, den Schutz des Verbrauchers vor einem Gewerbetreibenden zu gewährleisten, als die Privatautonomie der Vertragsparteien zu sichern. Angesichts des Verbraucherschutzziels könnte dem Vertrag seine gesamte Wirkung gegenüber dem Verbraucher genommen werden, wenn dieser Vertrag auch nach Beseitigung der missbräuchlichen Klauseln zu einem Missverhältnis zulasten des Verbrauchers führe.

29.      Die slowakische Regierung trägt unter Verweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs vor, dass es dem nationalen Gericht obliege, zu prüfen, ob der fragliche Vertrag ohne die missbräuchliche Klausel fortbestehen könne. Das nationale Gericht sei verpflichtet, alle Schlussfolgerungen aus dem nationalen Recht zu ziehen, die sich aus einer solchen Situation ergeben, um sicherzustellen, dass der Verbraucher nicht an die missbräuchliche Klausel gebunden sei.

30.      Die Kommission erinnert daran, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs den nationalen Gerichten obliege, die allgemeinen, in der Richtlinie 93/13 festgelegten Kriterien zur Beurteilung des missbräuchlichen Charakters auf eine bestimmte Vertragsklausel anzuwenden. Sofern es nicht möglich sei, vorherzusehen, welche Vertragsklauseln im Einzelnen als missbräuchlich eingestuft würden, sei es auch nicht möglich, vorab zu beurteilen, inwiefern eine solche Beurteilung zu einer Feststellung der Unwirksamkeit des Kreditvertrags führen werde.

31.      In Bezug auf jene Situationen, in denen der Vertrag gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 für die Vertragsparteien nicht verbindlich sei, weist die Kommission darauf hin, dass dies der Fall sei, wenn es sich als objektiv unmöglich herausstelle, den Vertrag ohne die missbräuchliche Klauseln weiter anzuwenden. Die Behauptung einer der Vertragsparteien, wonach im Fall des Fehlens solcher Klauseln dem Abschluss des Vertrags nicht zugestimmt worden wäre, sei für sich allein kein Grund, den Vertrag als Ganzes für unwirksam zu erklären. Dennoch könne das nationale Recht vorsehen, dass der missbräuchliche Klauseln enthaltende Vertrag insgesamt den Verbraucher nicht binde, da die Richtlinie 93/13 nur eine Mindestharmonisierung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bewirke und den Mitgliedstaaten somit gestatte, ein höheres Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

1.      Fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses als unlautere Handelspraktik

32.      Sowohl die deutsche als auch die spanische Regierung sind der Ansicht, dass die Angabe eines geringeren als des realen effektiven Jahreszinses eine unlautere Geschäftspraktik im Sinne der Richtlinie 2005/29 darstelle.

33.      Obwohl die Richtlinie 87/102 die Verpflichtung aufstelle, den effektiven Jahreszins anzugeben, lege dieser Rechtsakt nicht fest, welche Rechtsfolgen sich aus einer solchen fehlerhaften Angabe ergäben. Darüber hinaus lasse der Verweis in Anhang II der Richtlinie 2005/29 auf Art. 3 der Richtlinie 87/102 darauf schließen, dass die Angabe des effektiven Jahreszinses eine wesentliche Angabe im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2005/29 darstellt. Dementsprechend stelle das Unterlassen einer solchen Angabe eine durch Art. 7 der Richtlinie 2005/29 verbotene Täuschung durch Unterlassen dar.

34.      Die Kommission und die österreichische Regierung weisen darauf hin, dass die fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses als eine unlautere Handelspraxis eingestuft werden könne, wobei Letztere betont, dass es sich um eine durch Art. 6 der Richtlinie 2005/29 verbotene Praktik handele. Diese Beurteilung obliege jedoch dem nationalen Gericht, das, so die Kommission, insbesondere überprüfen müsse, inwiefern die fragliche Praktik geeignet sei, das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers zu beeinflussen.

35.      Nach Ansicht der slowakischen Regierung ist der Verweis auf die Richtlinie 2005/29 unerheblich für das vorliegende Verfahren. Was die Anwendbarkeit dieser Richtlinie anbelange, gehe aus dem Vorlagebeschluss nicht hervor, dass es im Ausgangsfall um eine Handelsstrategie eines Gewerbetreibenden zum Zweck des Absatzes von Produkten gehe. Die Angabe eines effektiven Jahreszinses lasse sich jedenfalls nicht als Handelspraktik einstufen.

2.      Die Folgen unlauterer Handelspraktiken für die Wirksamkeit des Vertrags

36.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind der Ansicht, dass die Richtlinie 2005/29, die den Schutz des Verbrauchers vor unlauteren Handelspraktiken zum Zweck habe, nicht isoliert vom Schutzmechanismus der Richtlinie 93/13 angewandt werden könne. Dementsprechend müsse sie dahin ausgelegt werden, dass, wenn eine unlautere Handelspraktik dem Verbraucher einen Nachteil zufüge, dieser Umstand auch bei der Auslegung des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 berücksichtigt werden müsse, und zwar als für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel relevanter Umstand. Daher müsse dieser Umstand sich auch auf die Gültigkeit eines Vertrags auswirken.

37.      Die deutsche Regierung vertritt dagegen die Auffassung, dass mangels gegenseitiger Verweise in den fraglichen Richtlinien die Feststellung einer unlauteren Handelspraktik die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel nicht unmittelbar beeinflusse. Sie dürfte sich auch nicht auf die Frage der Gültigkeit eines missbräuchliche Klauseln enthaltenden Vertrags auswirken, da die Richtlinie 2005/29 die Bestimmungen über die Wirksamkeit eines Vertrags unberührt lasse, wie aus Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie hervorgehe. Gleichwohl könne die Feststellung einer unlauteren Geschäftspraktik als ein den Vertragsabschluss begleitender Umstand im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 berücksichtigt werden.

38.      Nach Auffassung der spanischen Regierung hat das Bestehen einer unlauteren Geschäftspraktik wie die fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses gemäß Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 Folgen für die Wirksamkeit eines Verbraucherkreditvertrags als Ganzes, sofern dies für den Verbraucher günstiger sei.

39.      Die österreichische Regierung bringt vor, die Richtlinie 2005/29 schließe aus, dass unlautere Handelspraktiken Folgen für die Wirksamkeit eines Verbraucherkreditvertrags haben könnten. Im Hinblick auf Art. 13 dieser Richtlinie erscheine die Rechtsfolge der Nichtigkeit des betreffenden Vertrags unverhältnismäßig. Des Weiteren könne aus deren Art. 3 Abs. 2, wonach diese Richtlinie das Vertragsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags unberührt lässt, nicht gefolgert werden, dass die Feststellung einer unlauteren Handelspraktik sich auf die Wirksamkeit des Vertrags auswirke.

40.      Die slowakische Regierung schließt aus Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29, dass die Frage hinsichtlich der fehlerhaften Angabe des effektiven Jahreszinses im Licht der Richtlinien 87/102 und 93/13 untersucht werden müsse. Bezugnehmend auf den Beschluss Pohotovosť(6) weist sie darauf hin, dass die fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses einen Umstand darstellen könne, den das nationale Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob eine Vertragsklausel klar und verständlich im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 93/13 abgefasst ist, berücksichtigen könne. Deshalb könne eine solche Beurteilung dazu führen, auf den missbräuchlichen Charakter einer Klausel zu schließen, auch wenn sie sich auf den Hauptgegenstand des Vertrags beziehe.

41.      Die Kommission weist darauf hin, dass die Richtlinie 2005/29 gemäß Art. 3 Abs. 2 die Frage der Wirksamkeit eines Vertrags ausklammere, während sie zugleich eine vollständige Harmonisierung der Regelungen bezüglich der unlauteren Handelspraktiken bewirke. Daher sei eine nationale Regelung, die einen eventuellen Verstoß gegen diese Richtlinie mit der Unwirksamkeit des Verbraucherkreditvertrags als Ganzes sanktioniere, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Da aber die Richtlinie 87/102 keine bestimmte Sanktion im Fall einer fehlerhaften Angabe des effektiven Jahreszinses vorsehe und zudem nur eine minimale Harmonisierung der nationalen Bestimmungen auf dem Gebiet der Kreditverträge bewirke, sei es jedem Mitgliedstaat freigestellt, die geeigneten Bestimmungen zu erlassen. Bei der Ausübung dieser Regelungskompetenz seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität einzuhalten.

VI – Rechtliche Würdigung

A –    Einleitende Bemerkungen

42.      Die Vorlagefragen beziehen sich auf diverse Aspekte im Zusammenhang mit dem Schutzsystem, das der Unionsgesetzgeber geschaffen hat, um Verbraucher vor der Verwendung von missbräuchlichen Klauseln im Geschäftsverkehr mit Gewerbetreibenden zu schützen. Um sie in den richtigen sachlichen Kontext zu stellen, erscheint es mir sinnvoll, vor ihrer Untersuchung kurz die wesentlichen Eckpunkte dieses Schutzsystems darzustellen, wie es vom Unionsgesetzgeber ursprünglich festgelegt und von der Rechtsprechung des Gerichtshofs nachhaltig geprägt worden ist.

43.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs geht das mit der Richtlinie 93/13 geschaffene Schutzsystem davon aus, dass der Verbraucher sich gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt, was dazu führt, dass er den vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen zustimmt, ohne auf deren Inhalt Einfluss nehmen zu können(7). In Anbetracht dieser Unterlegenheit sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vor, dass missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher nicht verbindlich sind. Wie aus der Rechtsprechung hervorgeht, handelt es sich dabei um eine zwingende Vorschrift, die darauf abzielt, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen(8).

44.      Um den von der Richtlinie 93/13 gewollten Schutz zu gewährleisten, hat der Gerichtshof mehrfach erklärt, dass die bestehende Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem nur durch ein positives Eingreifen von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite ausgeglichen werden kann(9). Im Licht dieser Grundsätze hat der Gerichtshof entschieden, dass das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel prüfen muss(10). Die Befugnis der Gerichte, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel zu prüfen, ist nach Auffassung des Gerichtshofs „ein geeignetes Mittel, um das in Art. 6 der Richtlinie 93/13 festgelegte Ziel zu erreichen, das darin besteht, zu verhindern, dass der einzelne Verbraucher an eine missbräuchliche Klausel gebunden ist, und um die Verwirklichung des Ziels des Art. 7 der Richtlinie zu fördern, da eine solche Prüfung abschreckend wirken kann und damit dazu beiträgt, dass der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch Gewerbetreibende in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird“(11). Diese Befugnis der Gerichte hat der Gerichtshof zudem als notwendig angesehen, um „den wirksamen Schutz des Verbrauchers insbesondere angesichts der nicht zu unterschätzenden Gefahr zu gewährleisten, dass dieser seine Rechte nicht kennt oder Schwierigkeiten hat, sie auszuüben“(12).

45.      Die Fragen, die das vorlegende Gericht in seinem Ersuchen um Vorabentscheidung aufwirft, stehen zwar im Zusammenhang mit dem hier in seinen wesentlichen Zügen beschriebenen Schutzsystem, dennoch haben sie unterschiedliche rechtliche Aspekte zum Gegenstand. Mit seiner ersten Vorlagefrage begehrt das vorlegende Gericht zunächst Auskunft über den Umfang des Schutzes, den Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dem Verbraucher gewährt. Es möchte letztlich wissen, ob diese Richtlinienbestimmung den Mitgliedstaaten gestattet, bei Vorliegen einer missbräuchlichen Klausel die Rechtsfolge der Unwirksamkeit des gesamten Vertrags in ihrer nationalen Rechtsordnung vorzusehen, für den Fall, dass dies für den Verbraucher günstiger wäre als die Fortgeltung des Vertrags ohne die missbräuchliche Klausel. Die Beantwortung dieser Frage wird eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Teilunwirksamkeit von Verbraucherverträgen sowie der Voraussetzungen für deren Fortbestand erfordern. Die zweite Vorlagefrage betrifft ihrerseits eine etwas andere Thematik, nämlich das Zusammenwirken jener Rechtsinstrumente, mit denen der Unionsgesetzgeber den Schutz des Verbrauchers im Umgang mit bestimmten, als unlauter einzustufenden Geschäftspraktiken gewährleisten will. Hierbei geht es in erster Linie um die Richtlinien 93/13 und 2005/29, auf die das vorlegende Gericht ausdrücklich Bezug nimmt. Angesichts der Tatsache, dass diese Vorlagefrage im besonderen Kontext des Abschlusses eines Verbraucherkreditvertrags gestellt worden ist, werden bei ihrer Untersuchung ebenfalls die Vorgaben der Richtlinie 87/102 zusätzlich zu berücksichtigen sein.

46.      In Anbetracht der thematischen Verschiedenheit der Fragestellungen sind beide Vorlagefragen im Folgenden einzeln und in der vorgegebenen Reihenfolge zu behandeln.

B –     Zur ersten Vorlagefrage

47.      Um die erste Vorlagefrage beantworten zu können, muss zunächst geklärt werden, welche Regelungen die Richtlinie 93/13 im Hinblick auf einen eventuellen Fortbestand von Verträgen bei Vorliegen von missbräuchlichen Klauseln im Einzelnen trifft. Dazu bedarf es einer Auslegung ihrer maßgeblichen Bestimmungen unter Berücksichtigung des in den Erwägungsgründen zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Ziels.

1.      Unionsrechtlich vorgegebenes Mindestschutzniveau

48.      In Anbetracht der Tatsache, dass die Richtlinie 93/13 zum einen nur Mindestvorschriften festlegt, zum anderen vereinzelt abweichende Regelungen auf mitgliedstaatlicher Ebene erlaubt, bedarf es zur Ermittlung des unionsrechtlich vorgegebenen Schutzumfangs in erster Linie einer Klärung der Frage, zu welchen Maßnahmen die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 93/13 zum Schutz des Verbrauchers verpflichtet sind. Bei der Auslegung müssen daher in erster Linie die verbindlichen rechtlichen Vorgaben, die der Richtliniengeber den Mitgliedstaaten gesetzt hat und die letztlich das unionsrechtlich vorgegebene Mindestschutzniveau darstellen, ermittelt werden. Diese Vorgaben müssen gegenüber jenen Bestimmungen abgegrenzt werden, die den Mitgliedstaaten Spielräume bei der Ausgestaltung ihrer Rechtsordnungen gewähren.

a)      Grundsätzlich nur Unwirksamkeit der einzelnen Vertragsklausel

49.      Den Ausgangspunkt der Auslegung bildet die zentrale Bestimmung in Art. 6 Abs. 1, erster Halbsatz, der Richtlinie 93/13, da sie die Rechtsfolgen festlegt, die nach dem Willen des Richtliniengebers bei Verwendung missbräuchlicher Klauseln eintreten müssen. Danach müssen die Mitgliedstaaten in ihren Rechtsordnungen zwingend vorsehen, dass diese Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, „für den Verbraucher unverbindlich sind“. Bereits am Wortlaut dieser Bestimmung wird erkennbar, dass die vom Richtliniengeber angeordnete Rechtsfolge der Unwirksamkeit nur zugunsten des Verbrauchers wirkt, während die als missbräuchlich eingestufte Vertragsklausel ihre Verbindlichkeit nicht für den Gewerbetreibenden einbüßt.

50.      Diese Bestimmung wird um eine weitere Regelung in Art. 6 Abs. 1, zweiter Halbsatz, ergänzt, die in gewisser Hinsicht eine Präzisierung der ersten Regelung enthält. Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass „der Vertrag für beide Parteien fortbesteht, wenn er ohne die missbräuchliche Klausel bestehen kann“. Nach dieser Vorschrift hat eine missbräuchliche Vertragsklausel in der Regel die Unwirksamkeit allein dieser Klausel und das Fortbestehen des Vertrags im Übrigen zur Folge, der, wenn das Missverhältnis zum Nachteil des Verbrauchers beseitigt ist, die Parteien weiter bindet. Dies entspricht auch der Auslegung, die Generalanwalt Tizzano bereits in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Ynos(13) vertreten hat. Wie er überzeugend dargelegt hat, ist diese Regelung vor dem Hintergrund ihres gesetzgeberischen Zwecks zu verstehen. Sie zielt nämlich darauf ab, die Vertragsposition des Verbrauchers zu verbessern, indem sie verhindert, dass er durch eine missbräuchliche Klausel gebunden wird. Nicht durch sie geschützt werden soll hingegen der Gewerbetreibende, für den der Wegfall einer oder mehrerer Klauseln sich möglicherweise als weniger vorteilhaft erweisen könnte und der infolgedessen jedes Interesse daran haben könnte, sich der Pflichten aus dem Vertrag zu entledigen(14). Art. 6 Abs. 1 wäre, was seine Schutzfunktion angeht, in sein Gegenteil verkehrt, wenn die Unwirksamkeit einer oder mehrerer Klauseln stets und unabhängig von sonstigen Faktoren die Unwirksamkeit des Vertrags als Ganzes zur Folge hätte.

51.      Demnach kann die in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 enthaltene Regelung dahin verstanden werden, dass die Mitgliedstaaten bei Vorliegen einer missbräuchlichen Klausel grundsätzlich nicht verpflichtet sind, die Unwirksamkeit des gesamten Vertrags anzuordnen. Vielmehr kann die Unwirksamkeitsfolge für den Verbraucher grundsätzlich auf die betreffende Klausel beschränkt werden, während der Vertrag als solcher weiterhin Bestand hat(15).

b)      Ausnahmsweise Unwirksamkeit des Vertrags als Ganzes

52.      Allerdings gilt die Rechtsfolge des Fortbestehens des Vertrags, wie dem in Art. 6 Abs. 1, zweier Halbsatz, der Richtlinie enthaltenen Bedingungssatz („wenn“) deutlich zu entnehmen ist, nicht ausnahmslos. Der Vertrag soll ohne die missbräuchliche Klausel für beide Parteien weiterhin gelten, sofern dies überhaupt möglich ist. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass keine Bindung an den Vertrag in den Fällen besteht, in denen er ohne die missbräuchliche Klausel nicht fortbestehen kann.

53.      Diese Feststellung führt zu der weiteren Frage, nach welchen Kriterien zu beurteilen ist, ob ein Vertrag ohne die missbräuchliche Klausel nach dieser Bestimmung überhaupt „bestehen kann“. Die Klärung dieser Frage erweist sich gerade vor dem Hintergrund als erheblich, dass das vorlegende Gericht um Auskunft darüber ersucht, welche Bedeutung dem tatsächlichen bzw. mutmaßlichen Interesse des Verbrauchers an einer fehlenden Bindung an den Vertrag zukommt.

54.       Wie mehrere Verfahrensbeteiligte zutreffend erklärt haben, käme theoretisch eine Beurteilung entweder anhand subjektiver oder anhand objektiver Kriterien in Betracht. Bei einer Beurteilung anhand subjektiver Kriterien, bei der es maßgeblich auf das tatsächliche bzw. mutmaßliche Interesse des Verbrauchers als Vertragspartei ankäme, wäre der nationale Richter dazu berufen, im Einzelfall zu prüfen, ob eine vollständige Unwirksamkeit des Vertrags für den Verbraucher günstiger wäre. Denkbar wäre aber auch eine Beurteilung anhand objektiver Kriterien, wobei als maßgebliches Kriterium beispielsweise die Durchführbarkeit des Vertrags trotz der Unwirksamkeit einzelner missbräuchlicher Klauseln herangezogen werden könnte.

55.      Grundsätzlich legt das vorlegende Gericht mit seiner Vorlagefrage den Gegenstand der vorzunehmenden rechtlichen Untersuchung fest. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der Vorlagefrage allein die eventuelle Relevanz subjektiver Kriterien – und zwar die eventuelle Günstigkeit eines Vertrags für den Verbraucher – für die Beurteilung eines eventuellen Fortbestehens eines Vertrags ist. Insofern könnte sich die vom Gerichtshof vorzunehmende Untersuchung im Prinzip auf diesen Aspekt beschränken, ohne dass es zwingend erforderlich wäre, den Gegenstand der Untersuchung auszudehnen und auf die mögliche Relevanz anderer Kriterien einzugehen. Deswegen werde ich zuallererst prüfen, ob die Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 93/13 verpflichtet sind, in ihren nationalen Bestimmungen vorzusehen, dass bei der Frage eines eventuellen Fortbestehens eines teilunwirksamen Vertrags dem tatsächlichen bzw. mutmaßlichen Interesse des Verbrauchers an einer weiteren Bindung an ebenjenen Vertrag Rechnung getragen werden muss.

56.      Diese Frage ist meines Erachtens eindeutig zu verneinen. Es sprechen gewichtige Argumente gegen eine Auslegung, wonach die Beurteilung der Frage, ob ein Vertrag ohne die missbräuchliche Klausel gemäß Art. 6 Abs. 1, zweiter Halbsatz, fortbestehen kann, nach subjektiven Kriterien zu erfolgen hat.

57.      Als Argument gegen eine solche Auslegung lässt sich bereits der Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 anführen.

58.      Einen sprachlichen Hinweis darauf, dass die Unwirksamkeit des gesamten Vertrags für den Fall erfolgen soll, dass dies für den Verbraucher günstiger ist, enthält die Richtlinie nämlich nicht. Die Art, wie diese Bestimmung abgefasst ist, lässt vielmehr darauf schließen, dass der Richtliniengeber bestrebt war, die Unwirksamkeit des Vertrags als Ganzes nur für begrenzte Ausnahmefälle anzuordnen. Dies lässt sich aus der Tatsache ersehen, dass er diese Rechtsfolge nur in einem Nebensatz andeutet und sie wohl nur auf klar bestimmbare Fälle eingrenzt. Ein Vergleich der unterschiedlichen Sprachfassungen dieser Richtlinienbestimmung unterstützt die hier vertretene Auslegung, wonach der Fortbestand des Vertrags die Regel sein soll und nicht etwa von einer möglicherweise günstigeren Situation für den Verbraucher abhängig sein darf.

59.      Bestätigt wird diese Auslegung durch den 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13, der insofern noch deutlicher formuliert ist als die Regelung selbst. Daraus geht hervor, dass ungeachtet der in Art. 6 Abs. 1 angeordneten Unverbindlichkeit einzelner missbräuchlicher Klauseln „die verbleibenden Klauseln weiterhin gelten [müssen] und der Vertrag im Übrigen auf der Grundlage dieser Klauseln für beide Teile verbindlich sein [muss], sofern ein solches Fortbestehen ohne die missbräuchlichen Klauseln möglich ist“. Diese Formulierung deutet auf die objektive Möglichkeit eines Fortbestehens des fraglichen Vertrags hin. Die Entscheidung darüber, ob der Vertrag weiterhin Bestand haben darf, wird jedenfalls nicht allein einer der Vertragsparteien überlassen, sondern allem Anschein nach einer objektiven, von neutraler Seite vorzunehmenden Beurteilung unterzogen. An keiner Stelle legt der Richtliniengeber fest, dass der Umstand, dass eine Nichtbindung an den Vertrag für den Verbraucher günstiger ist, ein maßgebliches Kriterium sein soll. Hätte der Richtliniengeber diesem Aspekt Bedeutung beigemessen, so hätte er ein subjektives Kriterium wie etwa die Zumutbarkeit für den Verbraucher, an einen teilunwirksamen Vertrag weiterhin gebunden zu sein, mit in die Regelung aufnehmen können. Der Verzicht darauf ist als Indiz für eine bewusste Entscheidung gegen eine entsprechende Regelung zu verstehen.

60.      Folglich lässt sich jedenfalls weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik der Richtlinie 93/13 ableiten, dass es im Rahmen der Beurteilung, ob der Vertrag ohne die missbräuchliche Klausel im Sinne von Art. 6 Abs. 1 fortbestehen kann, auf die Lage des Verbrauchers und eine für ihn möglicherweise günstigere Situation durch eine Vertragsauflösung ankommen soll.

61.      Zu derselben Schlussfolgerung kommt man, wenn man sich bei der Auslegung den Sinn und Zweck der Richtlinie 93/13 vergegenwärtigt.

62.      Wie bereits in der Einleitung zu diesen Schlussanträgen erläutert, beruht das mit der Richtlinie 93/13 geschaffene Schutzsystem auf der Annahme, dass der Verbraucher, sowohl was seine Verhandlungsposition als auch was seinen Informationsstand angeht, die schwächere Vertragspartei ist, was zur Folge hat, dass er den vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen in der Regel zustimmen wird, ohne auf deren Inhalt Einfluss nehmen zu können. Dem sich daraus eventuell ergebenden Missverhältnis von vertraglichen Rechten und Pflichten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie ist nach dem Willen des Unionsgesetzgebers dadurch entgegenzuwirken, dass die als missbräuchlich anzusehenden Klauseln gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 für nicht verbindlich für den Verbraucher zu erklären sind. Der Gerichtshof hat diese Bestimmung zutreffend im Sinne einer zwingenden Vorschrift verstanden, die im Ergebnis darauf abzielt, die formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so deren Gleichheit wiederherzustellen.

63.      Wie ihrem sechsten Erwägungsgrund zu entnehmen ist, will die Richtlinie 93/13 zu diesem Zweck „missbräuchliche Klauseln aus diesen Verträgen entfernen“. Sie zielt jedoch, wie bereits festgestellt, nicht darauf ab, Verträge aufgrund einer darin enthaltenen missbräuchlichen Klausel insgesamt für unwirksam zu erklären. Das vom Richtliniengeber verfolgte Ziel besteht ausschließlich in der Herstellung der Ausgewogenheit, nicht aber in der Beseitigung des Vertrags als Ganzes. Durch die Unwirksamkeitserklärung ganzer Verträge in Abhängigkeit vom Interesse des Verbrauchers wäre keine Gleichheit zwischen den Vertragsparteien hergestellt. Durch das korrigierende Eingreifen zur Herstellung der Ausgewogenheit des in Ausübung der Vertragsautonomie beider Partner geschlossenen Vertrags soll dieser gerade geheilt und keineswegs vernichtet werden.

64.      Darüber hinaus wäre die Grundlage für ein eigenverantwortliches geschäftliches Handeln der Wirtschaftsteilnehmer zerstört. Opfer eines Regelungssystems, das die Unwirksamkeit ganzer Verträge kategorisch und ohne Ausnahme anordnet, wenn sie nur einem der Vertragsparteien dienlich ist, wäre die Vertragsautonomie. Der einseitig begünstigte Verbraucher wäre nämlich von der Verantwortung entbunden, vor Eingehung einer vertraglichen Verpflichtung Vor- und Nachteile gründlich gegeneinander abzuwägen und entsprechend vernünftig zu handeln. Der vom Richtliniengeber verfolgte Ansatz trägt diesem Grundsatz, der einen hohen Stellenwert innerhalb der Unionsrechtsordnung hat(16), insofern angemessen Rechnung, als er sich auf das Notwendige beschränkt, um die Gleichheit zwischen den Vertragsparteien herzustellen, während er im Übrigen die Bindung der Vertragsparteien an bestehende, freiwillig eingegangene Vereinbarungen anordnet.

65.      Ganz anders würde sich daher die Rechtslage gestalten, wenn die Beurteilung der Frage, ob ein missbräuchliche Klauseln enthaltender Vertrag fortbestehen darf, sich ausschließlich danach richten würde, welches die für den Verbraucher jeweils günstigste Situation ist. Denn hier bestünde die Gefahr, dass das Verhältnis zwischen Verbraucher und Gewerbetreibenden erneut in eine Schieflage geriete, und zwar diesmal allein zugunsten des Verbrauchers. Zwar wäre das Gefälle an vertraglichen Rechten und Pflichten zugunsten des Gewerbetreibenden beseitigt, was wohl den Zielsetzungen der Richtlinien entsprechen würde, doch wäre die vom Richtliniengeber angestrebte Ausgewogenheit nicht gewährleistet. Der Richtliniengeber hatte den Ausgleich für den Verbraucher bestehender Nachteile im Blick. Es kann jedoch nicht unterstellt werden, dass er dem Verbraucher zu einer Rechtsposition verhelfen wollte, die über die Stellung hinausgeht, die zwei gleichrangige Vertragspartner üblicherweise im Geschäftsverkehr innehaben. Es gibt streng genommen auch keinen sachlich zu rechtfertigenden Grund dafür, den Verbraucher von den Verpflichtungen zu befreien, die ihm ein Vertrag mit einem gleichrangigen Partner auferlegt, sofern er diese Verpflichtungen freiwillig und in Kenntnis ihrer Tragweite eingegangen ist.

66.      Dies entspricht auch der Auffassung von Generalanwalt Tizzano, wie er sie in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Ynos zum Ausdruck gebracht hat. Darin hat er erklärt, dass von der in der Richtlinie 93/13 enthaltenen Regel, wonach ein Vertrag trotz Vorliegens einer missbräuchlichen Klausel fortbestehen müsse, nur dann abgewichen werden könne, wenn der betreffende Vertrag objektiv nicht ohne die missbräuchliche Klausel bestehen könne, nicht aber bereits dann, wenn eine Ex-post-Würdigung ergebe, dass eine der Parteien den Vertrag ohne die Klausel nicht geschlossen hätte(17).

67.      Die Argumente, die im Zusammenhang mit der Notwendigkeit vorgebracht worden sind, den Grundsatz der Vertragsautonomie zu wahren sowie die Ausgeglichenheit der vertraglichen Beziehungen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern zu gewährleisten, müssen schließlich im Licht eines weiteren Richtlinienziels gewürdigt werden. Erinnert sei nämlich daran, dass die Richtlinie 93/13 ausweislich ihres ersten Erwägungsgrundes mit Blick auf die schrittweise Errichtung des Binnenmarkts erlassen wurde(18). Wie ihrem zweiten und ihrem dritten Erwägungsgrund zu entnehmen ist, zielt sie darauf ab, die beträchtlichen Unterschiede in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über missbräuchliche Klauseln in Verträgen mit Verbrauchern zu beseitigen. Neben einem besseren Schutz des Verbrauchers beabsichtigte der Richtliniengeber gemäß dem siebten Erwägungsgrund, die geschäftliche Tätigkeit im Anwendungsgebiet der Richtlinie zu fördern („Den Verkäufern von Waren und Dienstleistungserbringern wird dadurch ihre Verkaufstätigkeit sowohl im eigenen Land auch im gesamten Binnenmarkt erleichtert“). Allerdings kann sich eine geschäftliche Tätigkeit nur dort entfalten, wo Wirtschaftsteilnehmern Rechtssicherheit gewährleistet ist. Dazu gehört der Schutz des Vertrauens von Wirtschaftsteilnehmern auf den Bestand von Vertragsbeziehungen. Eine Regelung, wonach die Wirksamkeit eines Vertrags als Ganzes vom Interesse lediglich einer Vertragspartei abhängt, vermag dieses Vertrauen nicht nur nicht zu fördern, sie könnte es sogar langfristig erschüttern. In demselben Maße, wie die Bereitschaft von Gewerbetreibenden, Verträge mit Verbrauchern abzuschließen, dadurch abnehmen dürfte, könnte das Ziel der Errichtung des Binnenmarkts unter Umständen vereitelt werden. Dem trägt die Regelung in Art. 6 der Richtlinie 93/13 auch Rechnung, indem sie sich darauf beschränkt, für Ausgewogenheit in den Vertragsbeziehungen zu sorgen.

68.      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die subjektive Haltung des Verbrauchers zu dem im Übrigen nicht als missbräuchlich einzustufenden Restvertrag nicht als das entscheidende Kriterium angesehen werden kann, das über dessen weiteres Schicksal entscheidet. Entscheidend dürften meines Erachtens vielmehr andere Faktoren sein, wie etwa die objektiv zu beurteilende tatsächliche Möglichkeit der weiteren Durchführung des Vertrags(19). Letzteres könnte unter Umständen dann zu verneinen sein, wenn infolge der Unwirksamkeit einer oder mehrerer Klauseln die Grundlage für den Abschluss des Vertrags aus der Sicht beider Vertragspartner entfallen ist(20). Eine Gesamtunwirksamkeit des Vertrags könnte z. B. ausnahmsweise dann in Betracht kommen, wenn angenommen werden könnte, dass das Geschäft ohne den unwirksamen Teil nach dem übereinstimmenden tatsächlichen oder hypothetischen Willen beider Parteien nicht vorgenommen worden wäre, weil der Zweck oder die Rechtsnatur des Vertrags nicht mehr dieselben sind. Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, obliegt dem mit der Anwendung der Richtlinie 93/13 bzw. ihres Umsetzungsrechts betrauten nationalen Richter.

69.      Diesem kommt bei der Beurteilung der Frage, ob ein Vertrag ungeachtet des Vorliegens einer missbräuchlichen Klausel fortbestehen kann(21), nicht zuletzt aufgrund seiner Kenntnis des nationalen Rechts, aber auch der tatsächlichen Rahmenbedingungen des zu entscheidenden Falles eine besondere Rolle zu. In diesem Zusammenhang sei nur das Urteil Freiburger Kommunalbauten(22) genannt, in dem der Gerichtshof darauf hingewiesen hat, dass sich die Missbräuchlichkeit einer bestimmten Vertragsklausel nach Art. 4 der Richtlinie 93/13 „unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrags sind, und aller den Vertragsschluss begleitenden Umstände [beurteilt]“(23). In jenem Urteil hat Gerichtshof insbesondere auf die Notwendigkeit hingewiesen, die fragliche Vertragsklausel im Gesamtkontext des einschlägigen nationalen Rechts zu betrachten. Er ist nämlich zu der Schlussfolgerung gelangt, dass bei der vorzunehmenden Beurteilung „auch die Folgen zu würdigen sind, die die Klausel im Rahmen des auf den Vertrag anwendbaren Rechts haben kann, was eine Prüfung des nationalen Rechtssystems impliziert“(24). Festzuhalten ist somit, dass dem nationalen Recht mitunter auch Bedeutung bei der Frage zukommt, ob ein Vertrag trotz Teilunwirksamkeit fortbestehen kann(25).

70.      Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten unionsrechtlich nicht verpflichtet sind, in ihren nationalen Bestimmungen vorzuschreiben, dass bei der Feststellung missbräuchlicher Klauseln in einem Verbrauchervertrag dieser als Ganzes den Verbraucher nicht bindet, wenn dies für den Verbraucher günstiger ist. Folglich wird das durch die Richtlinie 93/13 festgelegte Schutzniveau auch nicht unterschritten, wenn im Recht der Mitgliedstaaten dem tatsächlichen bzw. mutmaßlichen Willen des Verbrauchers, nicht weiter an einen solchen Vertrag gebunden zu sein, bei der Beurteilung der Wirksamkeit eines Vertrags keine Bedeutung beigemessen wird.

2.      Mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielraum zur Erhöhung des Schutzniveaus

71.      Indes ist in Erinnerung zu rufen, dass die Richtlinie 93/13, wie ihrem zwölften Erwägungsgrund deutlich zu entnehmen ist, nur eine teilweise und minimale Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften in Bezug auf missbräuchliche Klauseln vornimmt(26). Wesentlicher normativer Ausdruck des dieser Richtlinie zugrunde liegenden Mindestharmonisierungsansatzes ist die Ermächtigung in Art. 8, die ausdrücklich das Recht der Mitgliedstaaten vorsieht, auf dem durch diese Richtlinie geregelten Gebiet mit dem Vertrag vereinbare strengere Bestimmungen zu erlassen, um ein höheres Schutzniveau für die Verbraucher zu gewährleisten. Dieser Bestimmung ist im Umkehrschluss zugleich zu entnehmen, dass eine Abweichung nach unten, d. h. ein hinter den Zielen der Richtlinie zurückbleibendes Verbraucherschutzniveau, mit den Geboten der Richtlinie nicht vereinbar wäre. Wie ich bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid erklärt habe, räumt dieser Mindestharmonisierungsansatz den Mitgliedstaaten ein erhebliches Gestaltungsermessen ein(27), das nur durch die allgemeinen Grenzen des Unionsrechts, vor allem das Primärrecht, eingeschränkt wird(28).

72.      Deshalb dürfen die Mitgliedstaaten auch die Unwirksamkeitsfolgen zum Schutz der Verbraucher strenger regeln, als in Art. 6 der Richtlinie 93/13 vorgesehen. Der Erlass von strengeren, auf Art. 8 gestützten nationalen Rechtsvorschriften, die die Unwirksamkeit eines Vertrags als Ganzes bei Vorliegen einer oder mehrerer missbräuchlicher Klauseln vorsehen, sofern Letzteres sich als für den Verbraucher günstiger erweist(29), ist Ausdruck einer rechtmäßigen Wahrnehmung einer vom Unionsgesetzgeber erteilten Ermächtigung zur Erzielung eines höheren Verbraucherschutzniveaus.

73.      Bedenken im Hinblick auf eine Vereinbarkeit einer solchen, dem Verbraucherschutz dienenden nationalen Regelung mit dem oben genannten Ziel der Errichtung des Binnenmarkts(30) bestehen nicht, solange die Grundfreiheiten nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt werden(31). Die Beurteilung dieser Frage hängt aber letztlich vom Inhalt der jeweiligen nationalen Regelung ab.

74.      Aus alledem folgt, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die Rechtsfolge der Unwirksamkeit des gesamten Vertrags in ihren nationalen Rechtsordnungen für diejenigen Fälle vorzusehen, in denen dies für den Verbraucher günstiger ist als das Fortbestehen des Vertrags. Eine Beschränkung der Rechtsfolge der Unwirksamkeit auf die betreffende Vertragsklausel ist unionsrechtlich nicht geboten.

C –    Zur zweiten Vorlagefrage

75.      Die zweite Vorlagefrage setzt sich aus zwei Teilfragen zusammen. Mit seiner ersten Teilfrage begehrt das vorlegende Gericht Aufschluss darüber, ob die fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses in einem Verbraucherkreditvertrag eine unlautere Handelspraktik gemäß der Richtlinie 2005/29 darstellt. Mit seiner zweiten Teilfrage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Folgen eine solche Einordnung als unlautere Geschäftspraktik für die Wirksamkeit des betreffenden Vertrags hat.

1.      Teilfrage: fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses als unlautere Handelspraktik

a)      Zur Richtlinie 2005/29

76.      Was die erste Frage anbelangt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2005/29 die Regeln über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern vollständig harmonisiert. Dies hat zur Folge, dass die Mitgliedstaaten – anders als bei der Umsetzung der Richtlinie 93/13 – keine strengeren als die in der Richtlinie festgelegten Maßnahmen erlassen dürfen, und zwar auch nicht, um ein höheres Verbraucherschutzniveau zu erreichen(32).

77.      Eine der zentralen Vorschriften der Richtlinie 2005/29 ist Art. 5, der unlautere Geschäftspraktiken verbietet und darüber hinaus die Kriterien anführt, anhand deren die Unlauterkeit bestimmt werden kann. So ist nach Art. 5 Abs. 2 eine Geschäftspraktik unlauter, wenn sie den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht widerspricht und in Bezug auf das jeweilige Produkt das wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers wesentlich beeinflusst oder dazu geeignet ist, es wesentlich zu beeinflussen. Zudem definiert Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie zwei präzise Kategorien von unlauteren Geschäftspraktiken, nämlich die „irreführenden Geschäftspraktiken“ und die „aggressiven Geschäftspraktiken“, die den in den Art. 6 und 7 bzw. 8 und 9 angeführten Kriterien entsprechen. Schließlich stellt die Richtlinie in Anhang I eine abschließende Liste von 31 Geschäftspraktiken auf, die nach ihrem Art. 5 Abs. 5 „unter allen Umständen“ als unlauter anzusehen sind. Folglich können, wie es im 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausdrücklich heißt, nur diese Geschäftspraktiken ohne eine Beurteilung des Einzelfalls anhand der Bestimmungen der Art. 5 bis 9 der Richtlinie als unlauter gelten.

78.      Für die Rechtsanwendung durch die nationalen Gerichte und Verwaltungsbehörden folgt daraus, dass zunächst an die in Anhang I enthaltene Liste der 31 Fälle unlauterer Geschäftspraktiken anzuknüpfen ist. Ist eine Geschäftspraktik unter einen der Tatbestände subsumierbar, muss sie verboten werden; auf eine weitere Prüfung, z. B. der Auswirkungen, kommt es nicht an. Fällt der konkrete Sachverhalt nicht unter diese Verbotsliste, ist zu prüfen, ob einer der geregelten Beispielsfälle der Generalklausel – irreführende und aggressive Geschäftspraktiken – vorliegt. Nur wenn dies nicht der Fall ist, kommt unmittelbar die Generalklausel in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie zur Anwendung(33).

b)      Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29

i)      Vorliegen einer Geschäftspraktik

79.      Bevor wir aber zu einer Prüfung der Unlauterkeit einer Geschäftspraktik anhand der Gesamtumstände des Einzelfalls kommen, muss festgestellt werden, ob der Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29 im Ausgangsfall überhaupt eröffnet ist. Dazu müsste die geschäftliche Tätigkeit, um die es im Ausgangsverfahren geht, nämlich der Abschluss eines Verbraucherkreditvertrags, der in Art. 2 Buchst. d enthaltenen Legaldefinition des Begriffs „Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern“ entsprechen.

80.      Dazu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Buchst. d der Richtlinie den Begriff „Geschäftspraktiken“ mit einer besonders weiten Formulierung definiert als „jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt“(34). Mit dieser Definition sind daher auch alle Handlungen eines Geschäftstreibenden erfasst, die darauf gerichtet sind, den Verbraucher zum Abschluss eines Vertrags zu bewegen(35). Nach dieser weiten Definition kann auch das im Ausgangsfall in Rede stehende gewerbsmäßige Anbieten von Kreditgeschäften an Verbraucher als eine Handlung angesehen werden, die mit dem Verkauf eines Produkts, nämlich einer finanziellen Dienstleistung, zusammenhängt. Demnach liegt im Ausgangsverfahren, entgegen der Auffassung der slowakischen Regierung(36), ein Fall von „Geschäftspraktiken“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29 vor.

ii)    Bedeutung der Abgrenzungsregelung in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie

81.      Da die im Ausgangsfall in Rede stehende Tätigkeit der Definition von „Geschäftspraktiken“ im weitesten Sinne entspricht, ist der Anwendungsbereich gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29 zugleich als eröffnet anzusehen.

82.      Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Richtlinie 2005/29 für die Behandlung der Problematik des Ausgangsfalls überhaupt relevant ist. Unter Umständen könnte ihre Anwendbarkeit auf der Rechtsfolgenebene ausscheiden. Dazu müsste aber zunächst der Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens ermittelt werden. Letzteres ist bei verständiger Würdigung der Vorlagefragen und der im Vorlagebeschluss enthaltenen Ausführungen im Wesentlichen auf eine Beantwortung der Frage gerichtet, ob das Unionsrecht den Umstand, dass ein Gewerbetreibender beim Abschluss eines Verbrauchervertrags falsche Angaben macht – wobei es im Ausgangsfall um die Angabe eines geringeren als des realen effektiven Jahreszinses geht –, missbilligt und durch die Anordnung der Unwirksamkeit der betreffenden Vertragsklausel sanktioniert.

83.      Die Frage nach der Relevanz der Richtlinie 2005/29 drängt sich gerade deshalb auf, weil dieser Rechtsakt keinerlei Bestimmungen enthält, die als Rechtsfolge die Unwirksamkeit einer solchen Klausel vorsehen würden. Stattdessen sieht Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29 vor, dass „die Richtlinie das Vertragsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags unberührt lässt“. Diese Regelung ist sowohl nach ihrem Wortlaut („unberührt lässt“) als auch nach ihrer systematischen Stellung in Art. 3, der den Anwendungsbereich der Richtlinie sowie ihr Verhältnis zu anderen Unionsrechtsakten festlegt, im Sinne einer Abgrenzungsregelung zu verstehen, die nach dem ausdrücklichen Willen des Unionsgesetzgebers einen Rückgriff auf jene spezifischen unionsrechtlichen Vorschriften gestatten soll, und zwar ungeachtet einer eventuellen Anwendbarkeit der Richtlinie 2005/29. Auf diese Weise soll der Einsatz von spezifischen, in den betreffenden Rechtsakten vorgesehenen Instrumenten zum Schutz des Verbrauchers weiterhin möglich sein. Der Umstand, dass die Richtlinie 2005/29 auf einen bestimmten Sachverhalt anwendbar ist, darf nach dem Konzept, das der Regelung in Art. 3 Abs. 2 zugrunde liegt, die Rechtsschutzmöglichkeiten, die dem Verbraucher kraft Vertragsrecht zustehen – etwa eine Kündigung des Vertrags oder eine Minderung der Gegenleistung –, keineswegs schmälern.

84.      Zu den in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29 genannten, das Vertragsrecht und insbesondere die Wirksamkeit eines Vertrags regelnden Vorschriften gehören zweifellos die Bestimmungen der Richtlinie 93/13. Das eingangs beschriebene, mit dieser Richtlinie geschaffene Schutzsystem, dessen wesentlicher Bestandteil die Regelung in Art. 6 ist, betrifft nämlich Aspekte des Vertragsrechts, zumal es die Rechtswirksamkeit einzelner vom Gewerbetreibenden im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern verwendeter Vertragsklauseln behandelt. Es findet darin eine Regelung der einzelvertraglichen Rechtsverhältnisse zwischen zwei verschiedenen Kategorien von Privaten dahin gehend statt, dass missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher unverbindlich sein müssen, wobei die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen haben, dass ihre Zivilrechtsordnungen diese Rechtsfolge auch vorsehen(37). In konsequenter Anwendung der Abgrenzungsregelung des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29 müssten die Bestimmungen der Richtlinie 93/13 entsprechend als nicht verdrängt angesehen werden.

85.      Da nicht die Richtlinie 2005/29, sondern die Richtlinie 93/13 unter bestimmten Bedingungen die Rechtsfolge der Unwirksamkeit einzelner Vertragsklauseln vorsieht, ist Erstere im Endeffekt als irrelevant für die Behandlung der Problematik des Ausgangsfalls anzusehen. Keine ihrer Bestimmungen lässt sich als Rechtsgrundlage für eine Unwirksamkeitserklärung der streitgegenständlichen Vertragsklausel heranziehen(38). Von dieser Annahme scheint übrigens auch das vorlegende Gericht implizit auszugehen, da es in der noch zu untersuchenden zweiten Teilfrage um Aufschluss über die rechtlichen Folgen bittet, die eine Einordnung als unlautere Geschäftspraktik nach der Richtlinie 2005/29 eventuell für eine Anwendung von Art. 6 der Richtlinie 93/13 hätte. Es wird also nach den Wechselwirkungen zwischen Art. 5 ff. der Richtlinie 2005/29 und Art. 6 der Richtlinie 93/13 gefragt, was eine Auslegung auch der letztgenannten Richtlinienbestimmung erfordern wird.

iii) Zwischenergebnis

86.      Zusammenfassend ist also festzustellen, dass die Richtlinie 2005/29 jedenfalls auf der Rechtsfolgenebene auf einen Gegenstand wie den des Ausgangsfalls nicht anwendbar ist.

c)      Vorliegen einer unlauteren Geschäftspraktik

i)      Notwendigkeit einer kohärenten Auslegung des Verbraucherschutzrechts

87.      Damit erübrigen sich im Prinzip weitere Ausführungen dazu, ob die streitgegenständliche Tätigkeit die Merkmale des Begriffs „unlautere Geschäftspraktiken“ im Sinne von Art. 5 ff. dieser Richtlinie erfüllt.

88.      Allerdings bedeutet die Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die Richtlinie 2005/29 in den einzeln festgelegten Fällen auf der Rechtsfolgenebene nicht zur Anwendung kommen zu lassen, nicht zwingend, dass die Wertungen, die er darin getroffen hat und die auch den Vorschriften dieser Richtlinie zugrunde liegen, keine Auswirkungen auf die Auslegung anderer, das Verhältnis zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern regelnder Rechtsakte haben sollen. Eine gesamtsystematische Betrachtung der zum Schutz des Verbrauchers erlassenen Rechtsakte offenbart, dass zwischen diesen Rechtsakten vielfältige Verknüpfungen bestehen, denen auch im Rahmen der Auslegung Rechnung getragen werden muss(39). Die Unionsrechtsakte auf dem Gebiet des Verbraucherschutzrechts müssen deshalb als Teil eines einheitlichen Gesamtregelungswerks aufgefasst werden, die einander ergänzen. Die im Verbraucherschutzrecht der Union bis heute bestehende Rechtszersplitterung(40) ist die Folge einer historischen Entwicklung, in deren Verlauf der Unionsgesetzgeber im Hinblick auf die Verwirklichung eines echten Binnenmarkts für Geschäfte zwischen Unternehmen und Verbrauchern nach und nach und in Abstimmung mit dem erreichten Besitzstand einzelne Lebensbereiche geregelt hat. Die Richtlinie 2005/29 verzichtet auf eine Regelung des Vertragsrechts auch nur deshalb, weil diese Aspekte vom Unionsgesetzgeber bereits u. a. in der Richtlinie 93/13 geregelt wurden. Beide Richtlinien regeln jeweils einen eigenen, ganz bestimmten Lebensbereich: Die Richtlinie 2005/29 unterbindet die Verwendung unlauterer Geschäftspraktiken, die das wirtschaftliche Verhalten von Verbrauchern wesentlich beeinflussen können, während die Richtlinie 93/13 wiederum die Verwendung von missbräuchlichen Klauseln im Geschäftsverkehr mit Verbrauchern verbietet.

89.      Trotz des Bestehens eigenständiger Regelungsakte ist eine klare Abgrenzung des jeweiligen Anwendungsbereichs der Richtlinien nicht immer einfach. Dies liegt zum einen daran, dass die von den Richtlinien erfassten Handlungen in der Lebenswirklichkeit oft ineinander übergehen. Zum anderen liegt es daran, dass der Begriff „Geschäftspraktiken“ sehr weit formuliert ist und letztlich eine Vielzahl an Geschäftshandlungen erfasst. Dieser Umstand macht aus der Richtlinie 2005/29 gewissermaßen ein allgemeines Regelungswerk gegenüber speziellen Regelungen, wie etwa der Richtlinie 93/13(41). Sinn und Zweck der Abgrenzungsregelung in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29 ist es, sicherzustellen, dass es zwischen den beiden Richtlinien nicht zu unerwünschten Überschneidungen auf der Rechtsfolgenebene kommt.

90.      Diese Abgrenzung ist jedoch kein Selbstzweck, sondern folgt einem bestimmten, vom Unionsgesetzgeber entworfenen Regelungskonzept. Insbesondere kann sie nicht dazu führen, dass ein einheitlicher Sachverhalt, auf den beide Richtlinien grundsätzlich anwendbar wären, rechtlich unterschiedlich bewertet wird. Vielmehr bedarf es einer kohärenten Auslegung der jeweils einschlägigen Rechtsnormen, um widersprüchliche Wertungsergebnisse zu vermeiden. Dies ist umso notwendiger, als beide Richtlinien insofern eine Konvergenz in ihrer Schutzrichtung aufweisen, als beide darauf abzielen, die Beurteilungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit im Geschäftsverkehr zu schützen(42).

91.      Der enge Zusammenhang zwischen beiden Richtlinien lässt sich anhand einiger Fallkonstellationen veranschaulichen: So ist beispielsweise mit Blick auf den Ausgangssachverhalt denkbar, dass die Unlauterkeit einer Geschäftspraktik gerade in der Verwendung von missbräuchlichen Klauseln im Sinne der Richtlinie 93/13 in Verbraucherverträgen besteht(43). Bedient sich der Gewerbetreibende derartiger Klauseln, so dürfte darin eine irreführende Handlung zu erkennen sein, da eine falsche Information vermittelt wird bzw. der Verbraucher über den tatsächlichen Umfang der vertraglichen Rechte und Pflichten – vor allem in Bezug auf jene Rechte und Pflichten aus den missbräuchlichen und damit für den Verbraucher unwirksamen Klauseln – im Unklaren bleibt. Ähnlich dürfte eine Fallkonstellation zu bewerten sein, in der der Gewerbetreibende zentrale Klauseln des Vertrags unklar und missverständlich abfasst, um dem Verbraucher wesentliche Informationen vorzuenthalten. Umgekehrt ist es aber auch denkbar, dass falsche und damit irreführende Angaben in einer Vertragsklausel im Sinne der Richtlinie 2005/29 gerade deren missbräuchlichen Charakter begründen. Letzteres ist auch die Fallkonstellation, die das vorlegende Gericht offenbar im Ausgangsfall vermutet und die im Folgenden näher zu beleuchten ist.

92.      Im Interesse einer kohärenten Auslegung des Verbraucherschutzrechts der Union erscheint es daher geboten, zu prüfen, ob die Angabe eines geringeren als des realen effektiven Jahreszinses als eine „unlautere Geschäftspraktik“ im Sinne von Art. 5 ff. der Richtlinie 2005/29 eingestuft werden kann. Welche Schlussfolgerungen aus dieser Bewertung für die Auslegung der Richtlinie 93/13 zu ziehen sind, soll im Rahmen der zweiten Teilfrage untersucht werden.

ii)    Prüfung des unlauteren Charakters der Geschäftspraktik

93.      Das Vorliegen einer „unlauteren Geschäftspraktik“ ist nach dem in Nr. 78 der vorliegenden Schlussanträge beschriebenen Prüfungsschema zu untersuchen.

–       Vorliegen einer irreführenden Handlung im Sinne von Art. 5 Abs. 4 Buchst. a in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2005/29

94.      Zunächst ist festzustellen, dass die fehlerhafte Angabe eines Betrags wie des effektiven Jahreszinses in einem Verbraucherkreditvertrag keinem der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Fälle unlauterer Geschäftspraktiken entspricht. Da derartige Angaben nicht zu den in Anhang I genannten Geschäftspraktiken gezählt werden, die unter allen Umständen als unlauter anzusehen sind, könnten sie im Prinzip nur verboten werden, wenn sie unlautere Geschäftspraktiken darstellen, etwa weil sie irreführend oder aggressiv im Sinne der Richtlinie sind.

Positive Handlung des Gewerbetreibenden

95.      Angesichts der Tatsache, dass eine aggressive Geschäftspraktik mangels etwaiger Anhaltspunkte für einen Rückgriff auf Mittel wie Belästigung, Nötigung, Gewalt oder eine sonstige unzulässige Beeinflussung im Ausgangsfall von vornherein ausgeschlossen werden kann, bleibt im Folgenden zu prüfen, ob die Merkmale einer irreführenden Geschäftspraktik gemäß Art. 5 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2005/29 gegeben sind. Dazu ist festzustellen, dass die Richtlinie zwischen irreführenden Handlungen (Art. 6) und Unterlassungen (Art. 7) unterscheidet, wobei beide Kategorien im Einzelnen gesondert geregelt sind. Es kommt somit im Hinblick auf eine sachgerechte rechtliche Würdigung des Ausgangsfalls auf eine Identifizierung der einschlägigen Handlungsart an.

96.      Eine Geschäftspraktik wie die des Ausgangsfalls, bestehend in der Angabe eines geringeren als des realen effektiven Jahreszinses in einem Kreditvertrag, lässt sich aus meiner Sicht eher der erstgenannten Kategorie zuordnen, da die Einwirkung auf die Geschäftsentscheidung des Verbrauchers maßgeblich durch ein positives Tun seitens des Gewerbetreibenden, und zwar mittels falscher Angaben in Bezug auf einen als wesentlich anzusehenden Punkt des Vertrags gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie, erfolgte. In einem solchen Verhalten kann nicht bloß ein Unterlassen resultierend aus dem Vorenthalten von Auskünften gesehen werden. Ausgeschlossen ist damit, anders als von der deutschen Regierung vertreten(44), eine Anwendbarkeit der in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie enthaltenen Regelung, die den speziellen Fall des Vorenthaltens von sachbezogenen Informationen behandelt.

Beeinflussung der geschäftlichen Entscheidung des Verbrauchers

97.      Die vom Richtliniengeber als wesentlich anzusehenden Punkte des Vertrags sind in Art. 6 Abs. 1 aufgelistet. Ausgehend von einer weiten und damit verbraucherfreundlichen Auslegung der Richtlinienbestimmungen lässt sich der effektive Jahreszins in einem Verbraucherkreditvertrag grundsätzlich unter den Begriff des „Preises“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. d subsumieren, zumal der effektive Jahreszins gemäß der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 87/102 enthaltenden Legaldefinition als Teil der Gesamtkosten anzusehen ist, die der Verbraucher für die Gewährung eines Kredits aufbringen muss. Zinsen stellen, rechtlich gesehen, das Entgelt für ein über einen bestimmten Zeitraum gewährtes Darlehen dar. Dementsprechend lässt sich eine fehlerhafte Berechnung des effektiven Jahreszinses, wie im Ausgangsfall gemäß den Angaben des vorlegenden Gerichts geschehen, auch als eine „Preisberechnung“ im Sinne dieser Vorschrift einordnen.

98.      Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Beurteilung der Preisberechnung als fehlerhaft seitens des vorlegenden Gerichts für den Gerichtshof verbindlich ist, erstens, weil die Berechnung des effektiven Jahreszinses sich gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 87/102 nach den in den Mitgliedstaaten angewandten Methoden richtet, deren richtige Anwendung das nationale Gericht auch selbst überprüfen kann, und zweitens, weil das nationale Gericht im Vorabentscheidungsverfahren für die Tatsachenfeststellung zuständig ist.

99.      Was die weiteren Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29 anbelangt, ist festzustellen, dass falsche Angaben in Bezug auf den effektiven Jahreszins – gerade wenn dieser wesentlich niedriger angegeben wird, als er tatsächlich ist – auch geeignet sind, den Durchschnittsverbraucher zu täuschen und ihn zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er sonst nicht getroffen hätte. Es ist nämlich bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass ein Durchschnittsverbraucher in der Regel die Angebote mehrerer potenzieller Kreditgeber einholen und seine Entscheidung zur Aufnahme eines Kredits auf der Basis eines Vergleichs dieser Angebote, einschließlich der voraussichtlich anfallenden Kosten, treffen wird. Mit anderen Worten, vergleichsweise günstige Kreditbedingungen haben in der Regel entscheidenden Einfluss auf die Willensbildung des Verbrauchers.

100. Das Unionsrecht trägt dem Informationsinteresse des Verbrauchers Rechnung, indem es in der Richtlinie 87/102, die mit dem zweifachen Ziel erlassen worden ist, zum einen einen gemeinsamen Markt für Verbraucherkredite zu errichten (Erwägungsgründe 3 bis 5) und zum anderen Verbraucher, die solche Kredite aufnehmen, zu schützen (Erwägungsgründe 6, 7 und 9), ausdrücklich verlangt, dass der Verbraucher über die Kreditbedingungen und ‑kosten sowie über seine Verpflichtungen angemessen unterrichtet wird. Dies geht zum einen aus dem achten Erwägungsgrund, zum anderen aus der in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 87/102 enthaltenen Vorgabe hervor, in jeder Vertragsurkunde den effektiven Jahreszins anzugeben. Die Vorgabe, dem Kreditnehmer bei Vertragsschluss alle Angaben zur Verfügung zu stellen, die Auswirkungen auf den Umfang seiner Verpflichtung haben können, hat, wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt erklärt hat, den Zweck, den Verbraucher gegen unbillige Kreditbedingungen zu schützen, und soll ihn umfassend über die Einzelheiten der Vertragserfüllung ins Bild setzen(45).

101. Die oben genannten Bestimmungen der Richtlinie 87/102 belegen, dass es sich bei dem effektiven Jahreszins um eine wesentliche Angabe im Rahmen des Abschlusses von Kreditverträgen handelt(46), ohne die der Verbraucher in der Regel keine verständige Entscheidung treffen kann. Der Verbraucher ist daher von der Richtigkeit dieser Angaben in erheblichem Maße abhängig. Eine Irreführung in Bezug gerade auf diese Information, sei es absichtlich oder fahrlässig, wirkt sich zwangsläufig zu seinem Nachteil aus. Nicht zuletzt aufgrund der Bedeutung dieser Angabe für die Fähigkeit des Verbrauchers zur Entscheidungsfindung und der weitreichenden Konsequenzen einer Fehlentscheidung fordert Art. 3 der Richtlinie 87/102 dessen Unterrichtung bereits weit im Vorfeld des Vertragsabschlusses, nämlich im Rahmen der Werbung.

102. Gestützt wird die hier vertretene Auffassung, wonach falsche Angaben beim Abschluss von Kreditverträgen grundsätzlich geeignet sind, die geschäftliche Entscheidung eines Verbrauchers im Sinne der Richtlinie 2005/29 zu beeinflussen, ferner durch den zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie, der, wie die slowakische Regierung zutreffend erklärt(47), gewissermaßen eine Verknüpfung zur hier relevanten Richtlinie 87/102 herstellt. Daraus geht hervor, dass die Richtlinie 2005/29 „den Verbrauchern in den Fällen Schutz bietet, in denen es keine spezifischen sektoralen Vorschriften auf Gemeinschaftsebene gibt, und es Gewerbetreibenden untersagt, eine Fehlvorstellung von der Art ihrer Produkte zu wecken“. Der Richtliniengeber weist ferner darauf hin, dass „dies besonders wichtig bei komplexen Produkten mit einem hohen Risikograd für die Verbraucher [ist], wie etwa bestimmten Finanzdienstleistungen(48)“. Diese Aussagen belegen, dass dem Unionsgesetzgeber durchaus bewusst war, welches Risiko für den Verbraucher in diesem spezifischen Geschäftsbereich besteht. Im Ausgangsfall hat sich dieses Risiko gerade im Abschluss des Kreditvertrags verwirklicht.

103. Demnach liegt objektiv gesehen eine irreführende Handlung im Sinne von Art. 5 Abs. 4 Buchst. a in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2005/29 vor. Somit stellt die fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses in einem Verbraucherkreditvertrag im Endeffekt eine „unlautere Geschäftspraktik“ im Sinne dieser Richtlinie dar.

–       Hilfsweise Feststellung eines Verstoßes gegen die Erfordernisse der beruflichen Sorgfaltspflicht

104. Schließlich ist noch kurz auf den Aspekt hinsichtlich der eventuellen Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Verletzung einer beruflichen Sorgfaltspflicht nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2005/29 einzugehen, auf den sowohl das vorlegende Gericht in seinem Vorlagebeschluss(49) als auch mehrere Verfahrensbeteiligte in ihren schriftlichen Ausführungen hingewiesen haben.

105. Wie dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 4 („insbesondere“) der Richtlinie 2005/29 zu entnehmen ist, stellen irreführende und aggressive Geschäftspraktiken lediglich besondere Formen von unlauteren Geschäftspraktiken dar. Diese Bestimmung enthält auch keinen eigenen Verweis auf das Konzept der beruflichen Sorgfalt, da ein irreführender oder gar aggressiver Umgang mit Verbrauchern für sich allein vom Richtliniengeber als im Widerspruch zu den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht stehend angesehen wird. Deshalb braucht im Rahmen der Anwendung dieser Richtlinie eine irreführende bzw. aggressive Geschäftspraktik auch nicht daraufhin untersucht zu werden, ob sie auch der beruflichen Sorgfaltspflicht eines Gewerbetreibenden entspricht. Eine entsprechende rechtliche Untersuchung erweist sich erst dann als notwendig, wenn eine Anwendbarkeit der Generalklausel in Art. 5 Abs. 1 in Frage kommt(50). Entsprechendes gilt übrigens auch für das in Art. 5 Abs. 2 Buchst. b angeführte Tatbestandsmerkmal der „wesentlichen Beeinflussung des wirtschaftlichen Verhaltens des Durchschnittsverbrauchers“, das im Wesentlichen der in Art. 6 Abs. 1 aufgestellten Anforderung entspricht, wonach die Geschäftspraktik geeignet sein muss, die geschäftliche Entscheidung des Verbrauchers zu beeinflussen.

106. In Anbetracht der Tatsache, dass eine irreführende Handlung im Sinne von Art. 5 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie bereits nach der hier vorgenommenen rechtlichen Sachverhaltswürdigung vorliegt, erübrigt sich meines Erachtens eine gesonderte Prüfung dieser Tatbestandsmerkmale. Lediglich vorsorglich weise ich darauf hin, dass falsche Angaben in Bezug auf den effektiven Jahreszins durch dessen fehlerhafte Berechnung kaum den Anforderungen der beruflichen Sorgfalt genügen dürften. Von einem Gewerbetreibenden ist nämlich zu erwarten, dass er seine geschäftliche Tätigkeit im Einklang mit der relevanten Gesetzgebung ausübt und besondere Sorgfalt im Umgang mit einem Verbraucher an den Tag legt, zumal Letzterer auf das fachmännische Können des Gewerbetreibenden angewiesen ist. Wie eingangs im Rahmen meiner Erörterungen des Regelungszwecks des Art. 6 der Richtlinie 93/13 dargelegt(51), rührt die besondere Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers daher, dass dieser sich in der Regel in einer schwächeren Verhandlungsposition gegenüber dem Gewerbetreibenden befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt. Dieser Umstand macht ihn besonders anfällig dafür, vom Gewerbetreibenden vorformulierten Bedingungen zustimmen zu müssen, ohne auf deren Inhalt Einfluss nehmen zu können. Dieser Umstand lässt sich nur korrigieren, wenn vom Gewerbetreibenden die strikte Einhaltung bestimmter Informationspflichten verlangt wird.

107. Somit führt auch eine hilfsweise Prüfung anhand der Kriterien der Generalklausel in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29 zu der Schlussfolgerung, dass im Ausgangsfall eine „unlautere Geschäftspraktik“ vorliegt.

d)      Ergebnis

108. Nach alledem ist auf die erste Teilfrage zu antworten, dass die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen ist, dass das Verhalten eines Gewerbetreibenden, der im Vertrag einen geringeren als den realen effektiven Jahreszins angibt, die Kriterien für eine Einordnung als unlautere Geschäftspraktik erfüllt.

2.      Teilfrage: die Folgen unlauterer Handelspraktiken für die Wirksamkeit des Vertrags

109. Die zweite Teilfrage betrifft die eventuellen Folgen, die eine Einordnung der hier in Rede stehenden Geschäftspraktik als unlauter im Sinne der Richtlinie 2005/29 für die Wirksamkeit des betreffenden Vertrags im Kontext der Richtlinie 93/13 haben kann. Hierzu müssen sowohl die Relevanz der einzelnen auf den Ausgangsfall grundsätzlich anwendbaren Rechtsakte als auch die Art und Weise, in der sie zusammenwirken, untersucht werden.

a)      Relevanz der Richtlinie 87/102

110. Dazu ist festzustellen, dass sich aus einer Verletzung der in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 87/102 verankerten Informationspflicht jedenfalls keine unmittelbaren Schlüsse auf eine eventuelle teilweise oder gar vollständige Unwirksamkeit des Kreditvertrags ziehen lassen, zumal Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie sich darauf beschränkt, festzulegen, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass Kreditverträge von den zur Anwendung dieser Richtlinie ergangenen oder dieser Richtlinie entsprechenden innerstaatlichen Vorschriften nicht zum Nachteil des Verbrauchers abweichen. Zwar liegt im Ausgangsfall angesichts der fehlerhaften Angabe des effektiven Jahreszinses objektiv gesehen ein Verstoß gegen diese Informationspflicht vor. Genauere Regelungen, die beispielsweise die nationalen Gerichte dazu verpflichten würden, die Unwirksamkeit des Kreditvertrags anzuordnen, sind darin indes nicht enthalten. Vor dem Hintergrund, dass die Richtlinie 87/102 keine entsprechende Rechtsfolge im Fall der Verletzung dieser Informationspflicht vorsieht, ist sie für die Beantwortung der zweiten Teilfrage nicht relevant.

b)      Relevanz der Richtlinie 2005/29

111. Eindeutiger sind hingegen die Bestimmungen der Richtlinie 2005/29 insofern, als sie, wie bereits dargelegt(52), gemäß Art. 3 Abs. 2 das Vertragsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags unberührt lassen. Zwar sieht Art. 13 die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, im Fall von Verstößen gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie Sanktionen festzulegen. Allerdings stünde eine Auslegung dahin gehend, dass als Sanktion auch die Unwirksamkeit einer Vertragsklausel vorgesehen werden kann, in klarem Widerspruch zur erstgenannten Vorschrift. Eine solche Auslegung wäre angesichts der ausdrücklichen Entscheidung des Richtliniengebers, das Vertragsrecht nicht durch die Richtlinie 2005/29 zu regeln, nicht haltbar. Deshalb besitzt diese Richtlinie auch keine unmittelbare Relevanz für die Beantwortung der zweiten Teilfrage.

c)      Relevanz der Richtlinie 93/13

112. Die fehlende Relevanz der Richtlinie 2005/29 steht indes einer Anwendung sonstiger Unionsrechtsakte und der in ihnen vorgesehenen Rechtsbehelfe zum Schutz des Verbrauchers keineswegs entgegen(53). In Betracht kommt deshalb eine Anwendung der Richtlinie 93/13, zumal deren Regelungsgegenstand, wie bereits erwähnt, das Vertragsrecht und insbesondere die Wirksamkeit von Verträgen betrifft.

i)      Anwendungsbereich der Richtlinie

113. Dazu müsste die streitgegenständliche Vertragsklausel zunächst in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fallen. Dieser Anwendungsbereich ist in Art. 1 festgelegt. Eine Einschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs erfolgt dadurch, dass gemäß Art. 1 Abs. 1 die Richtlinie nur Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern betrifft. Daraus folgt, dass sowohl Verträge zwischen Verbrauchern als auch solche zwischen Gewerbetreibenden von ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen sind. Der sachliche Anwendungsbereich wird wiederum so definiert, dass gemäß Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 Gegenstand der von der Richtlinie vorgesehenen Kontrolle nur die „nicht im einzelnen ausgehandelten Klauseln in Verbraucherverträgen“ sind.

114. Im Ausgangsfall wird nicht in Abrede gestellt, dass es sich bei dem Kreditvertrag, den die Beklagte des Ausgangsverfahrens mit ihren Kunden abgeschlossen hat, um einen Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und Verbrauchern handelt. Aus dem im Vorlagebeschluss hervorgehobenen Umstand, dass Kredite auf der Grundlage von Standardformularverträgen gewährt werden, kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der streitgegenständige Kreditvertrag nicht individuell mit dem Verbraucher ausgehandelt wurde. Daraus folgt, dass dieser Vertrag sowohl in den persönlichen als auch in den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie fällt.

ii)    Umfang der Inhaltskontrolle

115. Des Weiteren müsste die Klausel, die eine fehlerhafte Angabe des effektiven Jahreszinses enthält, einer Inhaltskontrolle gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 zugänglich sein.

116. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf das Urteil Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid, in dem der Gerichtshof klargestellt hat, dass diese Regelung nicht etwa den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 definiert, sondern vielmehr darauf abzielt, „die Modalitäten und den Umfang der Inhaltskontrolle der nicht einzeln ausgehandelten Vertragsklauseln festzulegen, die die Hauptleistungen von Verträgen zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher bezeichnen“(54). Danach betrifft die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln „weder den Hauptgegenstand des Vertrags noch die Angemessenheit zwischen dem Preis bzw. dem Entgelt und den Dienstleistungen bzw. den Gütern, die die Gegenleistung darstellen, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind“.

117. In Hinblick auf eine Zuordnung zu den in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 angeführten Gegenständen ist darauf hinzuweisen, dass die Angabe des effektiven Jahreszinses vom Unionsgesetzgeber deshalb für wichtig erachtet wird, weil sie schließlich einen Hauptgegenstand des Kreditvertrags betrifft. Sie gibt nämlich Auskunft über die Kosten, die der Kreditnehmer dem Kreditgeber für die Gewährung des Darlehens erstatten muss. Der effektive Jahreszins steht somit für eine dem Kreditgeber zustehende Hauptleistung im Gesamtgefüge der kreditvertraglichen Rechte und Pflichten der Parteien. Dementsprechend ist auch eine Klausel, die fehlerhafte Angaben über die Kosten enthält, etwa weil der effektive Jahreszins falsch berechnet worden ist, einer Inhaltskontrolle gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 zugänglich, sofern sie nicht klar und verständlich abgefasst ist.

118. Anhaltspunkte für eine entsprechende Schlussfolgerung lassen sich der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Pohotovosť entnehmen, die gewisse Parallelen zu der vorliegenden Rechtssache aufweist. In jener Rechtssache hat sich der Gerichtshof u. a. mit der Frage befasst, ob das Fehlen der Angabe des effektiven Jahreszinses in einem Kreditvertrag ein maßgeblicher Faktor im Rahmen der von einem nationalen Gericht vorzunehmenden Prüfung der Frage sein kann, ob eine Klausel eines Kreditvertrags über dessen Kosten, in der eine solche Angabe nicht enthalten ist, im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 93/13 klar und verständlich abgefasst ist. Der Gerichtshof hat diese Frage bejaht(55), wobei er dem nationalen Richter die Aufgabe zugewiesen hat, im Rahmen einer Einzelfallbeurteilung zu prüfen, ob die fragliche Klausel die oben genannten Voraussetzungen der Klarheit und der Verständlichkeit erfüllt.

119. Als von größerer Relevanz im Kontext der streitgegenständlichen Frage erweist sich jedoch die Tatsache, dass der Gerichtshof in jener Entscheidung in seinen Ausführungen zugleich die Kontrollmöglichkeit einer solchen Klausel implizit bejaht hat(56). Der Umstand, dass es in der Rechtssache Pohotovosť um eine fehlende und nicht wie im Ausgangsfall um eine falsche Angabe ging, ist wertungsmäßig gesehen irrelevant für die Frage einer eventuellen Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung auf die vorliegende Rechtssache, zumal es sich in beiden Fällen um maßgebliche Informationen handelt, die, entgegen einer ausdrücklichen unionsrechtlichen Vorgabe, nicht in den Kreditvertrag integriert worden sind. In beiden Fallgestaltungen geht es um denselben Vertragsgegenstand, so dass eine Inhaltskontrolle grundsätzlich möglich ist. Dies hängt letztlich aber davon ab, ob die Voraussetzungen der Klarheit und der Verständlichkeit erfüllt sind, was nach der Rechtsprechung vom zuständigen nationalen Gericht selbst zu prüfen ist(57).

iii) Missbräuchlicher Charakter der Vertragsklausel

120. Zu den Kompetenzen des nationalen Gerichts gehört ferner, die Missbräuchlichkeit der fraglichen Klausel im Einzelfall zu beurteilen. Diese Beurteilung muss anhand der allgemeinen Kriterien erfolgen, die der Unionsgesetzgeber in den Art. 3 Abs. 1 und 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 festgelegt hat(58). Wie der Gerichtshof im Urteil Pannon GSM(59) festgestellt hat, definiert Art. 3 der Richtlinie abstrakt die Faktoren, die einer nicht im Einzelnen ausgehandelten Vertragsklausel missbräuchlichen Charakter verleihen, während der Anhang, auf den Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie verweist, eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste von Klauseln enthält, die für missbräuchlich erklärt werden können.

121. Ob die Einordnung einer Geschäftspraktik als „unlauter“ im Sinne der Richtlinie 2005/29 letztlich Einfluss auf die Einstufung einer Klausel als „missbräuchlich“ im Sinne der Richtlinie 93/13 haben kann, wie vom vorlegenden Gericht im Rahmen seiner zweiten Teilfrage vermutet, kann meines Erachtens erst im Wege einer Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 beantwortet werden. Wie zuletzt im Urteil Pénzügyi Lízing(60) klargestellt, unterliegen die oben angesprochenen allgemeinen Kriterien in der Richtlinie nämlich auch der Auslegungskompetenz des Gerichtshofs.

122. Diese Bestimmung sieht im Einzelnen vor, dass die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel „unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrages sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrages oder eines anderen Vertrages, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses“ zu beurteilen ist. Durch die weite Formulierung dieser Bestimmung wird das nationale Gericht angehalten, nicht nur den eigentlichen Vertragsinhalt, sondern auch eine Vielzahl von anderen relevanten Faktoren zu berücksichtigen(61).

123. Erst recht müssen aber auch solche Faktoren berücksichtigt werden, mit denen bestimmte rechtliche Wertungen des Gesetzgebers verbunden sind. Für diese Auslegung spricht, dass nach dieser Bestimmung ausdrücklich „alle den Vertragsabschluss begleitenden Umstände“ berücksichtigt werden müssen. Sowohl Wortsinn und Regelungszweck von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 als auch das Verhältnis beider Richtlinien zueinander innerhalb des Verbraucherschutzrechts der Union legen den Schluss nahe, dass darunter auch solche Verhaltensweisen verstanden werden müssen, die gemäß der in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29 enthaltenen Definition von „Geschäftspraktiken“ darauf gerichtet sind, Kundschaft zum Zweck des Abschlusses von Verbraucherverträgen anzulocken. Ein deutlicher Anhaltspunkt für diese Auslegung findet sich im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13, wonach bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit von Klauseln „besonders zu berücksichtigen [ist], ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde“(62).

124. An dieser Stelle muss meines Erachtens die eventuelle Bewertung einer Geschäftspraktik als „unlauter“ nach den in der Richtlinie 2005/29 festgelegten Kriterien in die Beurteilung des missbräuchlichen Charakters einer Vertragsklausel einfließen. Die Bezeichnung als „unlauter“ im Sinne der Richtlinie 2005/29 umschreibt nämlich nichts anderes als eine vom Unionsgesetzgeber missbilligte Einwirkung auf die Beurteilungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass der in einer solchen Einwirkung zum Ausdruck kommende unlautere Charakter einer Geschäftspraktik letztlich auch Aufschluss über einen wesentlichen Faktor geben wird, der im Rahmen der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel berücksichtigt werden muss, und zwar, ob der Gewerbetreibende gegebenenfalls unter Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 verankerte Gebot von Treu und Glauben gehandelt hat. Dies ergibt sich ausdrücklich aus dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13. Vor diesem Hintergrund kann Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 gewissermaßen als Einfallstor für Wertungen aus dem Lauterkeitsrecht angesehen werden.

125. Die Konvergenz in der Schutzrichtung beider Richtlinien, auf die ich bereits hingewiesen habe(63), wird daran erkannt werden, dass eine unzulässige Beeinflussung der Willensbildung des Verbrauchers seitens des Gewerbetreibenden infolge einer unlauteren Geschäftspraktik nicht selten in eine Unausgewogenheit in den vertraglichen Beziehungen zulasten des Verbrauchers münden wird(64). Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die Unlauterkeit einer Geschäftspraktik die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel automatisch indizieren wird. Vielmehr wird die Beurteilung des missbräuchlichen Charakters einer Vertragsklausel in erster Linie auf der Basis der Bestimmungen der Richtlinie 93/13 als das unmittelbar heranzuziehende Recht erfolgen müssen. Dem Umstand, dass die Geschäftspraktik, die zum Abschluss des Kreditvertrags geführt hat, als „unlauter“ zu bezeichnen ist, kann höchstens Bedeutung als ein Anhaltspunkt unter mehreren zukommen, auf den der zuständige Richter seine Beurteilung gemäß Art. 4 der Richtlinie 93/13 stützen wird(65). Insofern ist der deutschen Regierung(66) darin zuzustimmen, dass die Feststellung einer unlauteren Geschäftspraktik lediglich mittelbare Auswirkungen auf die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel haben kann.

d)      Ergebnis

126. Demnach ist auf die zweite Teilfrage zu antworten, dass die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen ist, dass die Feststellung der Unlauterkeit einer Geschäftspraktik keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Frage hat, ob der im Rahmen dieser Geschäftspraktik abgeschlossene Kreditvertrag wirksam ist.

3.      Zusammenfassende Schlussfolgerungen

127. Die vorstehende Untersuchung hat ergeben, dass das Verhalten eines Gewerbetreibenden, der im Vertrag einen geringeren als den realen effektiven Jahreszins angibt, die Kriterien für eine Einordnung als unlautere Geschäftspraktik, wie sie in der Richtlinie 2005/29 festgelegt sind, erfüllt(67). Wenngleich diese Richtlinie die Wirksamkeit einzelner Verträge grundsätzlich nicht berührt(68), ist festzustellen, dass sie bestimmte Wertungen enthält, die der Unionsgesetzgeber getroffen hat und der nationale Richter bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel auch berücksichtigen sollte. Dazu ist er gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 gehalten, zumal diese Beurteilung auch „unter Berücksichtigung aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände“ zu erfolgen hat. Zu den genannten Wertungen gehört auch die Missbilligung einer bestimmten Geschäftspraktik, etwa in Form einer unzulässigen Einwirkung seitens des Gewerbetreibenden auf die Urteilsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers. Das Vorliegen einer unlauteren Geschäftspraktik kann als Anhaltspunkt für den missbräuchlichen Charakter einer Vertragsklausel herangezogen werden, es entbindet den nationalen Richter jedoch nicht von seiner Pflicht, diese Beurteilung anhand aller Umstände des Einzelfalls zu treffen(69).

VII – Ergebnis

128. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Okresný súd Prešov gestellten Vorlagefragen wie folgt zu antworten:

1.         Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen ist dahin auszulegen, dass es für die Frage des Fortbestehens eines Verbrauchervertrags, der missbräuchliche Klauseln enthält, nicht darauf ankommt, ob dies für den Verbraucher günstiger wäre. Diese Bestimmung hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, in ihren nationalen Rechtsordnungen in einem solchen Fall die Rechtsfolge der Unwirksamkeit für den gesamten Vertrag vorzusehen.

2.         Die Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) ist dahin auszulegen, dass das Verhalten eines Gewerbetreibenden, der im Vertrag einen geringeren als den realen effektiven Jahreszins angibt, die Kriterien für eine Einordnung als unlautere Geschäftspraktik erfüllt.

Die Feststellung dieser unlauteren Geschäftspraktik hat zwar keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Beurteilung des missbräuchlichen Charakters sowie der Wirksamkeit einer Klausel bzw. des gesamten Kreditvertrags nach der Richtlinie 93/13. Sie kann jedoch als ein den Vertragsabschluss begleitender Umstand angesehen werden, den der zuständige nationale Richter bei seiner Beurteilung gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 berücksichtigen wird.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29).


3 – Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. L 149, S. 22).


4 – Richtlinie 87/102/EWG des Rates vom 22. Dezember 1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (ABl. 1987, L 42, S. 48).


5 – Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. L 133, S. 66).


6 – Beschluss vom 16. November 2010 (C‑76/10, Slg. 2010, I‑11557).


7 – Vgl. Urteile vom 27. Juni 2000, Océano Grupo Editorial und Salvat Editores (C‑240/98 bis C‑244/98, Slg. 2000, I‑4941, Randnr. 25), und vom 26. Oktober 2006, Mostaza Claro (C‑168/05, Slg. 2006, I‑10421, Randnr. 25).


8 – Vgl. Urteile Mostaza Claro (oben in Fn. 7 angeführt, Randnr. 36) und vom 4. Juni 2009, Pannon GSM (C‑243/08, Slg. 2009, I‑4713, Randnr. 25).


9 – Vgl. Urteile Océano Grupo Editorial und Salvat Editores (oben in Fn. 7 angeführt, Randnr. 27) und Mostaza Claro (oben in Fn. 7 angeführt, Randnr. 26) sowie vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones (C‑40/08, Slg. 2009, I‑9579, Randnr. 31).


10 – Urteil Asturcom Telecomunicaciones (oben in Fn. 9 angeführt, Randnr. 32).


11 – Urteile vom 21. November 2002, Cofidis (C‑473/00, Slg. 2002, I‑10875, Randnr. 32), und Mostaza Claro (oben in Fn. 7 angeführt, Randnr. 27).


12 – Urteile Cofidis (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 33) und Mostaza Claro (oben in Fn. 7 angeführt, Randnr. 28).


13 – Schlussanträge von Generalanwalt Tizzano vom 22. September 2005, Ynos (C‑302/04, Urteil vom 10. Januar 2006, Slg. 2006, I‑371).


14 – Ebd. (Nr. 80).


15 – In diesem Sinne Pfeiffer, T., in Das Recht der Europäischen Union (hrsg. von E. Grabitz/M. Hilf), Band IV, A5, Art. 6, Randnr. 10, S. 3, der aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1, zweiter Halbsatz, der Richtlinie schließt, dass die Rechtsfolgen der Missbräuchlichkeit einer Klausel (je nach nationalem Recht Inexistenz, absolute oder relative Unwirksamkeit oder Unverbindlichkeit der Klausel) sich im Regelfall auf die missbräuchlichen Klauseln beschränken müssten, was gleichzeitig bedeute, dass der Vertrag im Übrigen wirksam weiter bestehe.


16 – Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung oft auf den Grundsatz der Privatautonomie in seinen jeweiligen Ausdrucksformen Bezug genommen. Vgl. Urteile vom 9. März 2006, Werhof (C‑499/04, Slg. 2006, I‑2397, Randnr. 23), vom 5. Oktober 1999, Spanien/Kommission (C‑240/97, Slg. 1999, I‑6571, Randnr. 99), vom 30. April 1998, Bellone/Yokohama (C‑215/97, Slg. 1998, I‑2191, Randnr. 14), und vom 10. Juli 1991, Neu u. a. (C‑90/90 und 91/90, Slg. 1991, I‑3617, Randnr. 13).


17 – Schlussanträge Ynos (oben in Fn. 13 angeführt, Nr. 79).


18 – In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass mit dem Ziel des Gemeinsamen Marktes der Unionsgesetzgeber zugleich das Prinzip der Privatautonomie, das sich in der bereits erwähnten Vertragsfreiheit äußert, vorausgesetzt hat. Privatautonomie, Marktwirtschaft und Wettbewerb bedingen sich gegenseitig (vgl. Riesenhuber, K., Privatrechtsgesellschaft: Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, Tübingen 2007, S. 13 f.). Privatautonomie setzt das Bestehen eines Marktes voraus und führt zum Wettbewerb; der Schutz des Wettbewerbs vor Verfälschungen sichert den Bestand des Marktes und damit der Wahlfreiheit der Interessenten. Das Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach seinem Willen ist der gemeinsame Kern der Grundfreiheiten, die die Möglichkeit privatautonomen Handelns über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg erstrecken.


19 – Kapnopoulou, E., Das Recht der missbräuchlichen Klausel in der Europäischen Union, Tübingen 1997, S. 152, sieht jedenfalls keine Möglichkeit der weiteren Durchführung des Vertrags, wenn die Lücken, die ein solcher Vertrag nach Feststellung der Missbräuchlichkeit einzelner Klauseln hinterlassen habe, sich letztlich als zu umfangreich erwiesen.


20 – Voraussetzung für das Fortbestehen des Vertrags ist, dass der Vertrag – nach der deutschen Textfassung – „auf derselben Grundlage“ bestehen kann. Mit dieser etwas unklaren Formulierung ist ein Fortbestehen zu im Übrigen denselben Bedingungen gemeint. Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit anderen Textfassungen, die übereinstimmend die Vertragsbedingungen (Französisch: „selon les mêmes termes“; Englisch: „upon these terms“; Italienisch: „secondo i medesimi termini“; Spanisch: „en los mismos términos“) nennen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Vertrag nach seinem Zweck und seiner Rechtsnatur auch ohne die missbräuchlichen Klauseln weiter bestehen kann (vgl. Pfeiffer, T., a. a. O. [Fn. 15], Randnr. 11, S. 3).


21 – Vgl. Beschluss Pohotovosť (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 61).


22 – Urteil vom 1. April 2004, Freiburger Kommunalbauten (C‑237/02, Slg. 2004, I‑3403).


23 – Ebd., Randnr. 21.


24 – Ebd. Die Folgen einer Feststellung des missbräuchlichen Charakters einer Vertragsklausel können von einer Rechtsordnung zur anderen unterschiedlich sein. Nicht zuletzt deshalb legt Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in neutraler Weise fest, dass missbräuchliche Klauseln für den Verbraucher „unverbindlich“ sein müssen. Diese Bestimmung beschränkt sich darauf, ein gewisses Ergebnis vorzuschreiben, dessen Erreichung die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie gewährleisten müssen, ohne jedoch im Einzelnen zu bestimmen, ob die betreffende Klausel als ungültig bzw. unwirksam zu erklären ist. Dies wird vielmehr dem nationalen Recht überlassen, das die genaue Rechtsfolge regelt. Die Verwendung neutraler Begriffe durch den Unionsgesetzgeber beruht letztlich auf der Erkenntnis der Vielfalt von Zivilrechtsordnungen und ‑traditionen innerhalb der Union (vgl. zum Ursprung des europäischen Zivilrechts Rainer, M., Introduction to Comparative Law, Wien 2010, S. 27 f.).


25 – Vgl. Kapnopoulou, E., a. a. O. (Fn. 19), S. 151, die darauf hinweist, dass die Richtlinie 93/13 kein abschließend geregeltes Rechtsfolgenkonzept enthalte. Sie stelle nur Leitlinien auf und verweise für die genauen Bestimmungen der einzelnen Rechtsfolgen auf die nationalen Rechte der Mitgliedstaaten. Es sei Sache der nationalen Rechtsordnungen, zu bestimmen, was mit dem lückenhaften Vertragswerk geschehen solle. Je nach Fallgestaltung kämen dabei der Rückgriff auf dispositives Recht, ergänzende Vertragsauslegung, die Umdeutung des Vertrags oder die Gesamtunwirksamkeit in Frage.


26 – Vgl. Urteil vom 3. Juni 2010, Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid (C‑484/08, Slg. 2010, I‑4785, Randnrn. 28 und 29).


27 – Ebd. (Randnrn. 28 und 29).


28 – Die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausübung der Ermächtigung in Art. 8 der Richtlinie die allgemeinen Grenzen des Unionsrechts beachten. Darunter ist das Primärrecht, einschließlich der Grundfreiheiten, sowie das sonstige Sekundärrecht zu verstehen (vgl. Kapnopoulou, E., a. a. O. [Fn. 19], S. 163).


29 – Wie Kapnopoulou, E., a. a. O. (Fn. 19), S. 162, zutreffend erklärt, dürfen die Mitgliedstaaten nämlich nur Regeln vorsehen, die gegenüber dem Schutzniveau der Richtlinie 93/13 ein „Plus“ darstellen, nicht etwa ein „Aliud“ oder gar ein „Minus“.


30 – Siehe Nr. 67 der vorliegenden Schlussanträge.


31 – Wobei im Zusammenhang mit der spezifischen Tätigkeit der gewerbsmäßigen Kreditvergabe vor allem an die Dienstleistungsfreiheit und in geringerem Maße auch an die Kapitalverkehrsfreiheit zu denken ist (vgl. Urteil vom 3. Oktober 2006, Fidium Finanz, C‑452/04, Slg. 2006, I‑9521, Randnr. 43; vgl. zum freien Dienstleistungsverkehr Weiss, F./Wooldridge, F., Free Movement of Persons within the European Community, 2. Aufl., Alphen aan den Rijn 2007, S. 123 f.). Bei Verträgen über den Kauf von beweglichen Gütern wäre hingegen die Warenverkehrsfreiheit einschlägig.


32 – Vgl. Urteile vom 9. November 2010, Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag (C‑540/08, Slg. 2010, I‑10909, Randnr. 27 und 30), vom 14. Januar 2010, Plus Warenhandelsgesellschaft (C‑304/08, Slg. 2010, Randnr. 41), und vom 23. April 2009, VTB-VAB und Galatea (C‑261/07 und C‑299/07, Slg. 2009, I‑2949, Randnr. 52).


33 – Vgl. meine Schlussanträge vom 3. September 2009, Plus Warenhandelsgesellschaft (Urteil oben in Fn. 32 angeführt, Nr. 74).


34 – Vgl. Urteil Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag (oben in Fn. 32 angeführt, Randnr. 17).


35 – Vgl. Orlando, S., „The Use of Unfair Contractual Terms as an Unfair Commercial Practice“, European Review of Contract Law, Band 7, 2007, Nr. 1, S. 40, nach dessen Ansicht Geschäftspraktiken alle Handlungen eines Gewerbetreibenden einschließen, welche die Entscheidung des Verbrauchers über den Abschluss eines Vertrags beeinflussen können.


36 – Vgl. Randnr. 13 des Schriftsatzes der slowakischen Regierung.


37 – In diesem Sinne Orlando, S., a. a. O. (Fn. 35), S. 35, unter Verweis darauf, dass Art. 6 der Richtlinie 93/13 die rechtliche Behandlung missbräuchlicher Klauseln, d. h. einen Aspekt individualvertraglicher Rechtsverhältnisse zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern regelt. Ähnlich auch Tilmann, I., Die Klauselrichtlinie 93/13/EWG auf der Schnittstelle zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht, S. 10, wonach der Richtlinie 93/13 unter dem Blickwinkel der Privatrechtsvereinheitlichung in der EU unter den europäischen Verbraucherschutzrichtlinien ein besonderes Gewicht zukomme, da sie das Vertragsrecht und somit einen zentralen Bereich des Privatrechts betreffe. Das nationale Vertragsrecht der Mitgliedstaaten habe durch die Umsetzung der Richtlinie erhebliche Veränderungen erfahren. Die Richtlinie führe zu einer allmählichen Rechtsangleichung der verschiedenen Vertragsrechtsordnungen, die den Weg zu einer Herausbildung eines europäischen Privatrechts ebne. Ähnlich auch Basedow, J., „Grundlagen des europäischen Privatrechts“, Juristische Schulung, 2004, S. 94, der die Umsetzung der Richtlinie 93/13 als Teil der Privatrechtsvereinheitlichung betrachtet und darauf hinweist, dass die Richtlinie 93/13 in verschiedenen Formen umgesetzt wurde, so etwa in den nationalen Zivilgesetzbüchern (Deutschland, Italien, Niederlande), in einem gesonderten Verbrauchergesetz (Österreich, Frankreich, Griechenland und teilweise auch in Finnland und Spanien), in Sondergesetzen über Handelspraktiken (Belgien), über Verbraucherverträge (Schweden) und über allgemeine Geschäftsbedingungen (Spanien, Portugal) sowie letztlich durch ein Rechtsinstrument, das fast wörtlich die Richtlinie übernahm (Vereinigtes Königreich, Irland). Nach Ansicht von Micklitz, H.-W., „AGB-Gesetz und die EG-Richtlinie über missbräuchliche Vertragsklauseln in Verbraucherverträgen“, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht, 1993, S. 533, griff die Union mit der Richtlinie 93/13 erstmalig in den Kernbereich des Zivilrechts ein.


38 – Wie Abbamonte, G., „The Unfair Commercial Practices Directive and its General Prohibition“, The regulation of unfair commercial practices under EC Directive 2005/29 – New rules and new techniques, Norfolk 2007, S. 16, zutreffend erklärt, ist der Umstand, dass ein Verbraucher einen Vertrag geschlossen hat, weil er Opfer einer unlauteren Geschäftspraktik geworden ist, aus der Sicht der Richtlinie 2005/29 als irrelevant zu bewerten, da diese Richtlinie keine rechtlichen Mittel vorsieht, um die Unwirksamkeit des Vertrags zu erreichen. Gleichwohl wird die Richtlinie 2005/29 die Rechtsschutzmöglichkeiten, die dem Verbraucher kraft Vertragsrecht zustehen, nicht einschränken. Der Verbraucher wird daher um Rechtsschutz vor einem Zivilgericht ersuchen müssen, wobei der Umstand, dass der Vertrag unter Anwendung unlauterer Geschäftspraktiken abgeschlossen wurde, ein wichtiger Aspekt sein wird, den der Zivilrichter wird berücksichtigen müssen.


39 – Vgl. Orlando, S., a. a. O. (Fn. 35), S. 38, der von der Notwendigkeit einer „normativen Koordinierung“ zwischen den Richtlinien 2005/29 und 93/13 spricht, um Konfliktpotenziale zu entschärfen. Der Autor weist zutreffend darauf hin, dass die Schwierigkeit einer Koordinierung der Richtlinien im Wege der Auslegung auf die besondere strukturelle Komplexität des Unionsrechts zurückgehe. Das Zusammenspiel zwischen einzelnen Richtlinien ergebe sich nicht immer auf den ersten Blick. Deshalb sei eine kohärente, sich auf alle Rechtsakte erstreckende Auslegung nicht immer einfach.


40 – Defizite der Mindestharmonisierung und der sektorenspezifischen Vorgehensweise haben zur Notwendigkeit einer stärkeren Konvergenz und Analyse entstandener Uneinheitlichkeiten im Verbraucherrecht der Union geführt (vgl. Alpa, G./Conte, G./Carleo, „La costruzione del diritto dei cosumatori“, I diritti dei consumatori, hrsg. von Guido Alpa, Band 1, S. 5). Die Diskussion über die Weiterentwicklung des europäischen Verbraucherrechts geht auf das Jahr 1999 zurück, als der Europäische Rat in der Abschlusserklärung von Tampere die eventuelle Notwendigkeit einer stärkeren Abstimmung der zivilrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten erkannte (vgl. dazu Čikara, E., Gegenwart und Zukunft der Verbraucherkreditverträge in der EU und in Kroatien, Wien 2010, S. 47; vgl. zu den punktuellen Harmonisierungsansätzen im Lauterkeitsrecht Wunderle, T., Verbraucherschutz im Europäischen Lauterkeitsrecht, Tübingen 2010, S. 97 f.). Zu diesem Zeitpunkt begann die Intensivierung der Bemühungen der Kommission um eine Konsolidierung des Vertragsrechts. Die im Jahre 2003 vorgelegte Kommissionsmitteilung „Ein kohärentes europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan“ schlug die Erarbeitung eines „Gemeinsamen Referenzrahmens“ als Opt-in-Instrument vor, der gemeinsame Regeln und eine gemeinsame Terminologie des europäischen Vertragsrechts enthalten sollte. In der Folgezeit hat die Study Group on a European Civil Code als internationales Forschernetzwerk einen akademischen Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens ausgearbeitet. Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten hat die Europäische Kommission im April 2010 eine Expertengruppe zum Gemeinsamen Referenzrahmen des europäischen Vertragsrechts eingesetzt, die am 3. Mai 2011 eine Machbarkeitsstudie vorgelegt hat. Diese Studie stellt ein kohärentes System von Vertragsrechtsregeln dar, das in der Zukunft als optionales europäisches Vertragsrechtsinstrument zum Einsatz kommen könnte (vgl. dazu auch das Grünbuch der Kommission über politische Optionen für die Einführung eines europäischen Vertragsrechts für Verbraucher und Unternehmen KOM[2010] 348 endg., insbesondere Option Nr. 4). Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang die geplante Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher, deren Ziel es ist, die Rechtszersplitterung im Verbraucherrecht zu überwinden. Der Standpunkt des Europäischen Parlaments, festgelegt in erster Lesung am 23. Juni 2011 in Hinblick auf den Erlass dieser Richtlinie, sieht eine Abänderung der Richtlinie 93/13 und der Richtlinie 1999/44/EG über den Verbrauchsgüterkauf und Garantien für Verbrauchsgüter sowie eine Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG über außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge und der Richtlinie 97/7/EG über Vertragsabschlüsse im Fernabsatz vor, wobei die letzten beiden Richtlinien durch eine einzige Richtlinie ersetzt werden sollen.


41 – So auch Orlando, S., a. a. O. (Fn. 35), S. 38, 40, unter Verweis auf die weite Definition des Begriffs der „Geschäftspraktiken“. Seiner Ansicht nach hat der Unionsgesetzgeber mit der Richtlinie 2005/29 „allgemeines Recht“ in die Unionsrechtsordnung eingeführt, indem er eine Reihe von Regeln erlassen hat, die allgemeine Grundsätze, Begriffe und Kriterien enthalten.


42 – Vgl. die Erwägungsgründe 6, 7, und 8 der Richtlinie 2005/29 sowie 8 und 15 der Richtlinie 93/13.


43 – In diesem Sinne Orlando, S., a. a. O. (Fn. 35), S. 25, der der Frage nachgeht, ob die Verwendung missbräuchlicher Klauseln im Sinne der Richtlinie 93/13 zugleich auch eine unlautere Geschäftspraxis im Sinne der Richtlinie 2005/29 darstellt. Diese Frage wird grundsätzlich bejaht: Eine solche Verwendung sei vor allem als irreführende Geschäftspraktik anzusehen, da in der Regel eine falsche Information vermittelt wurde oder aber der Verbraucher im Unklaren bleibe über seine Rechte und Pflichten bei der Vertragsdurchführung, insbesondere im Hinblick auf Rechte und Pflichten aus den missbräuchlichen (und damit unwirksamen) Vertragsklauseln. Der Autor weist ferner darauf hin, dass die unklare und missverständliche Formulierung von zentralen Vertragsklauseln auch als eine Vorenthaltung wichtiger Informationen im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2005/29 betrachtet werden könne.


44 – Vgl. Randnr. 43 des Schriftsatzes der deutschen Regierung.


45 – Vgl. Beschluss Pohotovosť (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 68) und Urteil vom 23. März 2000, Berliner Kindl Brauerei (C‑208/98, Slg. 2000, I‑1741, Randnr. 21).


46 – Vgl. Beschluss Pohotovosť (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 70) und Urteil vom 4. März 2004, Cofinoga (C‑264/02, Slg. 2004, I‑2157, Randnrn. 26 und 27).


47 – Vgl. Randnr. 14 des Schriftsatzes der slowakischen Regierung.


48 – Zehnter Erwägungsgrund, Hervorhebung nur hier.


49 – Vgl. S. 11 des Vorlagebeschlusses.


50 – Vgl. Abbamonte, G., a. a. O. (Fn. 38), S. 28, wonach die Prüfung eines Verstoßes gegen die berufliche Sorgfalt ausscheide, wenn im konkreten Fall eine irreführende bzw. aggressive Geschäftspraktik vorliege. Eine solche Geschäftspraktik verstoße nämlich automatisch gegen jegliche berufliche Sorgfaltspflicht. Ähnlich auch Henning-Bodewig, F., „Die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken“, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht – Internationaler Teil, 2005, Nr. 8/9, S. 631, die darauf hinweist, dass die Generalklausel in Art. 5 Abs. 1 (die wiederum in Art. 5 Abs. 2 präzisiert wird) erst dann zur Anwendung komme, wenn der konkrete Sachverhalt nicht unter die „schwarze Liste“ von unlauteren Geschäftspraktiken in Anhang I zur Richtlinie falle und keiner der geregelten Beispielsfälle (irreführende bzw. aggressive Geschäftspraktiken) der Generalklausel vorliege.


51 – Siehe Nrn. 43 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


52 – Vgl. Nrn. 81 f. dieser Schlussanträge.


53 – Vgl. Abbamonte, G., a. a. O. (Fn. 38), S. 16.


54 – Vgl. Urteil Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid (oben in Fn. 26 angeführt, Randnr. 34).


55 – Vgl. Beschluss Pohotovosť (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 77).


56 – Ebd. (Randnr. 73).


57 – Vgl. Urteil Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid (oben in Fn. 26 angeführt, Randnr. 32).


58 – Vgl. Urteile vom 9. November 2010, Pénzügyi Lízing (C‑137/08, Slg. 2010, I‑10847, Randnr. 40), Caja de Ahorros y Monte de Piedad de Madrid (oben in Fn. 26 angeführt, Randnr. 34), Freiburger Kommunalbauten (oben in Fn. 22 angeführt, Randnrn. 18, 19 und 21) und vom 7. Mai 2002, Kommission/Schweden (C‑478/99, Slg. 2002, I‑4147, Randnrn. 11 und 17).


59 – Urteil Pannon GSM (oben in Fn. 8 angeführt, Randnrn. 37 bis 39).


60 – Urteil Pénzügyi Lízing (oben in Fn. 58 angeführt, Randnr. 40).


61 – Vgl. Brandner, H. E., „Maßstab und Schranken der Inhaltskontrolle bei Verbraucherverträgen“, Monatsschrift für Deutsches Recht, 4/1997, S. 313.


62 – Hervorhebung nur hier. Nach Auffassung von Pfeiffer, T., a. a. O. (Fn. 15), Randnr. 13, S. 5, können bei der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit von Bedeutung sein: faktische oder rechtliche Monopolstellungen einer Vertragspartei; ein existenzielles oder auch ein dringendes Angewiesensein einer Seite auf eine Leistung; Vorbildung und Geschäftserfahrung; erkennbar gründliche Vorprüfungen durch den Verbraucher; Vorliegen eines flüchtigen Alltagsgeschäfts; Vorliegen eines Formularvertrags; missbilligenswerte Überredungsmethoden (z. B. sittenwidriger Appell an familiäre Hilfsbereitschaft), Bagatellisierungen (z. B. Unterschrift „nur für die Akten“) oder das Vorliegen einer Überrumpelungssituation.


63 – Siehe Nr. 90 der vorliegenden Schlussanträge.


64 – Vgl. Kapnopoulou, E., a. a. O. (Fn. 19), S. 152, nach deren Ansicht der Umstand, dass auf einen Verbraucher eingewirkt wurde, eine Vertragsklausel zu akzeptieren, und er dieser „Einwirkung“ nicht widerstanden hat, ein Indiz für ein Ungleichgewicht in dem konkreten Verbrauchervertrag ist.


65 – Abbamonte, G., a. a. O. (Fn. 38), S. 16, nimmt zwar nicht ausdrücklich Stellung zu der Frage, ob Wertungen aus der Richtlinie 2005/29 in die Auslegung der Richtlinie 93/13 einfließen sollten. Dennoch erklärt er, dass der nationale Richter bei der Gewährung von Rechtsschutz im Rahmen einer zivilrechtlichen Klage des Verbrauchers (auf Kündigung des Vertrags oder Minderung des Preises gerichtet) wichtige Umstände wie etwa die Anwendung unlauterer Geschäftspraktiken berücksichtigen müsse.


66 – Vgl. Randnr. 51 des Schriftsatzes der deutschen Regierung.


67 – Siehe Nr. 108 der vorliegenden Schlussanträge.


68 – Siehe Nrn. 86 und 111 der vorliegenden Schlussanträge.


69 – Siehe Nrn. 120 f. der vorliegenden Schlussanträge.