Language of document : ECLI:EU:C:2011:807

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

6. Dezember 2011(*)

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Gemeinsame Normen und Verfahren im Bereich der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Nationale Regelung, die für den Fall des illegalen Aufenthalts eine Freiheits- oder Geldstrafe vorsieht“

In der Rechtssache C‑329/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d’appel de Paris (Frankreich) mit Entscheidung vom 29. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juli 2011, in dem Verfahren

Alexandre Achughbabian

gegen

Préfet du Val-de-Marne

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot, J. Malenovský, U. Lõhmus und M. Safjan, der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič (Berichterstatter) und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie des Richters J.‑J. Kasel,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

aufgrund des Beschlusses des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. September 2011, das Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104a Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Oktober 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Achughbabian, vertreten durch C. Papazian und P. Spinosi, avocats,

–        der französischen Regierung, vertreten durch E. Belliard, G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam, als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,

nach Anhörung des Generalanwalts

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Achughbabian und dem Präfekten des Departements Val-de-Marne wegen des illegalen Aufenthalts von Herrn Achughbabian im französischen Hoheitsgebiet.

 Rechtlicher Rahmen

 Richtlinie 2008/115

3        Die Erwägungsgründe 4, 5 und 17 der Richtlinie 2008/115 lauten:

„(4)      Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.

(5)      Mit dieser Richtlinie sollte eine Reihe von horizontalen Vorschriften eingeführt werden, die für sämtliche Drittstaatsangehörige gelten, die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen.

(17)      … Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.“

4        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

5        Art. 2 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

(2)      Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot … unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden …;

b)      die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.

…“

6        In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der genannten Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die … Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.      ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

–      deren Herkunftsland oder

–      ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

–      ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.      ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.      ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat;

…“

7        In den Art. 6 bis 9 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„Artikel 6

Rückkehrentscheidung

(1)      Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(2)      Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. …

(3)      Die Mitgliedstaaten können davon absehen, eine Rückkehrentscheidung gegen illegal in ihrem Gebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat … wieder aufgenommen [werden]. …

(4)      Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. …

(5)      Ist ein Verfahren anhängig, in dem über die Verlängerung des Aufenthaltstitels oder einer anderen Aufenthaltsberechtigung von illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen entschieden wird, so prüft dieser Mitgliedstaat …, ob er vom Erlass einer Rückkehrentscheidung absieht, bis das Verfahren abgeschlossen ist.

Artikel 7

Freiwillige Ausreise

(1)      Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. …

(2)      Die Mitgliedstaaten verlängern – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum.

(3)      Den Betreffenden können für die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise bestimmte Verpflichtungen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr auferlegt werden, wie eine regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, das Einreichen von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.

(4)      Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.

Artikel 8

Abschiebung

(1)      Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.

(4)      Machen die Mitgliedstaaten – als letztes Mittel – von Zwangsmaßnahmen zur Durchführung der Abschiebung von Widerstand leistenden Drittstaatsangehörigen Gebrauch, so müssen diese Maßnahmen verhältnismäßig sein und dürfen nicht über die Grenzen des Vertretbaren hinausgehen. Sie müssen nach dem einzelstaatlichen Recht im Einklang mit den Grundrechten und unter gebührender Berücksichtigung der Menschenwürde und körperlichen Unversehrtheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen angewandt werden.

Artikel 9

Aufschub der Abschiebung

(1)      Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf,

a)      wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde oder

b)      solange [aufgrund einer Klage gegen eine mit der Rückkehr in Zusammenhang stehende Entscheidung] aufschiebende Wirkung besteht.

(2)      Die Mitgliedstaaten können die Abschiebung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls um einen angemessenen Zeitraum aufschieben. Die Mitgliedstaaten berücksichtigen insbesondere

a)      die körperliche oder psychische Verfassung der betreffenden Drittstaatsangehörigen;

b)      technische Gründe wie fehlende Beförderungskapazitäten oder Scheitern der Abschiebung aufgrund von Unklarheit über die Identität.

(3)      Wird eine Abschiebung gemäß den Absätzen 1 und 2 aufgeschoben, so können dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die in Artikel 7 Absatz 3 vorgesehenen Verpflichtungen auferlegt werden.“

8        In den Art. 15 und 16 der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„Artikel 15

Inhaftnahme

(1)      Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(4)      Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

(5)      Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6)      Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)      mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)      Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.

Artikel 16

Haftbedingungen

(1)      Die Inhaftierung erfolgt grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen. Sind in einem Mitgliedstaat solche speziellen Hafteinrichtungen nicht vorhanden und muss die Unterbringung in gewöhnlichen Haftanstalten erfolgen, so werden in Haft genommene Drittstaatsangehörige gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht.

…“

9        Nach Art. 20 der Richtlinie 2008/115 mussten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, um der Richtlinie bis spätestens zum 24. Dezember 2010 nachzukommen.

 Nationales Recht

 Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht

10      Nach Art. L. 211‑1 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht (Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile, im Folgenden: CESEDA) muss jeder Ausländer „[f]ür die Einreise nach Frankreich … im Besitz … der von den internationalen Übereinkünften und geltenden Verordnungen vorgeschriebenen Dokumente und Visa sein“.

11      Nach Art. L. 311‑1 CESEDA „muss ein Ausländer, der älter als 18 Jahre ist und sich in Frankreich aufhalten möchte, nach Ablauf einer Frist von drei Monaten ab seiner Einreise nach Frankreich im Besitz eines Aufenthaltstitels sein“.

12      In Art. L. 551‑1 CESEDA in der zur Zeit der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Ereignisse geltenden Fassung hieß es:

„Die Inhaftierung eines Ausländers in nicht der Strafvollzugsverwaltung unterstellten Räumen kann angeordnet werden, wenn der Ausländer

3.      Adressat einer Abschiebungsverfügung … ist, die vor weniger als einem Jahr erlassen wurde, oder in Vollziehung eines für das gesamte Staatsgebiet geltenden Aufenthaltsverbots gemäß [dem] Strafgesetzbuch (Code pénal) abzuschieben ist, aber das französische Hoheitsgebiet nicht umgehend verlassen kann, oder

6.       verpflichtet ist, das französische Hoheitsgebiet aufgrund einer Verfügung zu verlassen, die vor weniger als einem Jahr … erlassen wurde und deren einmonatige Frist für die freiwillige Ausreise abgelaufen ist, aber das französische Hoheitsgebiet nicht umgehend verlassen kann.“

13      Art. L. 552‑1 Satz 1 CESEDA sah in der zur Zeit der Ereignisse des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung vor: „Wenn seit der Entscheidung über die Inhaftierung 48 Stunden vergangen sind, entscheidet über eine Verlängerung der Haft der für die Anordnung der Untersuchungshaft zuständige Richter (Juge des libertés et de la détention).“

14      Art. L. 621‑1 CESEDA bestimmt:

„Ein Ausländer, der unter Verstoß gegen die Art. L. 211‑1 und L. 311‑1 nach Frankreich eingereist ist oder sich dort aufhält oder der sich in Frankreich über die in seinem Visum bestimmte Dauer hinaus aufhält, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mit einer Geldstrafe von 3 750 Euro bestraft.

Das Gericht kann dem verurteilten Ausländer außerdem für eine Dauer von bis zu drei Jahren verbieten, nach Frankreich einzureisen oder sich dort aufzuhalten. Dieses Verbot führt von Rechts wegen zur Rückführung des Verurteilten, gegebenenfalls nach dem Verbüßen seiner Freiheitsstrafe.“

15      Einige dieser Vorschriften des CESEDA wurden durch das Gesetz Nr. 2011-672 vom 16. Juni 2011 über die Einwanderung, die Integration und die Staatsangehörigkeit (Loi relative à l’immigration, à l’intégration et à la nationalité, JORF vom 17. Juli 2011, S. 10290), das am 18. Juli 2011 in Kraft trat, geändert. Art. L. 621‑1 gehört nicht zu den geänderten Vorschriften.

 Strafprozessordnung

16      Art. 62-2 der Strafprozessordnung (Code de procédure pénale) in der zur Zeit der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Ereignisse geltenden Fassung lautete:

„Der Polizeigewahrsam ist eine Zwangsmaßnahme, die von einem Beamten der Kriminalpolizei unter richterlicher Aufsicht angeordnet wird und mit der eine Person, gegen die ein oder mehrere Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung eines Verbrechens oder eines mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens vorliegen, zur Verfügung der Ermittlungspersonen gehalten wird.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

17      Am 24. Juni 2011 führte die Polizei in Maisons-Alfort (Frankreich) im öffentlichen Verkehrsraum Identitätskontrollen durch. Eine der anlässlich dieser Kontrollen befragten Personen gab an, dass sie Alexandre Achughbabian heiße und am 9. Juli 1990 in Armenien geboren sei.

18      Laut Polizeiprotokoll erklärte Herr Achughbabian außerdem, dass er armenischer Staatsangehöriger sei. Er selbst bestreitet allerdings, diese Erklärung abgegeben zu haben.

19      Da Herr Achughbabian im Verdacht stand, eine Straftat nach Art. L. 621‑1 CESEDA begangen zu haben und diese fortzusetzen, wurde er in Polizeigewahrsam genommen.

20      Bei genauerer Überprüfung der Situation von Herrn Achughbabian stellte sich heraus, dass der Betroffene am 9. April 2008 nach Frankreich eingereist war und dort die Erteilung eines Aufenthaltstitels beantragt hatte. Der Antrag wurde am 28. November 2008 zurückgewiesen. Die Zurückweisung wurde am 27. Januar 2009 vom Präfekten des Departements Val-d’Oise bestätigt und mit einer Verfügung versehen, die Herrn Achughbabian am 14. Februar 2009 zugestellt wurde und die Anordnung enthielt, das französische Hoheitsgebiet innerhalb einer Frist von einem Monat zu verlassen.

21      Am 25. Juni 2011 erließ der Präfekt des Departements Val-de-Marne eine Abschiebungsverfügung und eine Verfügung zur Anordnung der Verwaltungshaft, die Herrn Achughbabian zugestellt wurden.

22      Am 27. Juni 2011 ordnete der nach Art. L. 552‑1 CESEDA wegen einer Verlängerung der Haft über 48 Stunden hinaus mit der Angelegenheit befasste Juge des libertés et de la détention du tribunal de grande instance de Créteil diese Verlängerung an und verwarf die Nichtigkeitseinreden, die Herr Achughbabian u. a. gegen den gegen ihn verhängten Polizeigewahrsam vorgebracht hatte.

23      Eine diese Einreden bezog sich auf das Urteil des Gerichtshofs vom 28. April 2011, El Dridi (C‑61/11 PPU, Slg. 2011, I‑0000), in dem dieser entschieden hat, dass die Richtlinie 2008/115 einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die vorsieht, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Haftstrafe verhängt werden kann, wenn er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund dort verbleibt. Nach Ansicht von Herrn Achughbabian geht aus diesem Urteil hervor, dass die in Art. L. 621‑1 CESEDA vorgesehene Freiheitsstrafe mit dem Unionsrecht unvereinbar sei. In Anbetracht dieser Unvereinbarkeit und des Grundsatzes, wonach Polizeigewahrsam nur bei Verdacht des Vorliegens einer mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Straftat statthaft sei, sei das im vorliegenden Fall angewandte Verfahren rechtswidrig.

24      Am 28. Juni 2011 erhob Herr Achughbabian gegen die Anordnung des Juge des libertés et de la détention du tribunal de grande instance de Créteil bei der Cour d’appel de Paris Beschwerde. Dieses Gericht stellte fest, dass Herr Achughbabian armenischer Staatsangehöriger sei und wegen illegalen Aufenthalts in Polizeigewahrsam und anschließend in Haft genommen worden sei. Er mache geltend, dass Art. L. 621‑1 CESEDA mit der Richtlinie 2008/115 in der Auslegung gemäß dem genannten Urteil El Dridi unvereinbar sei.

25      Unter diesen Umständen hat die Cour d’appel de Paris das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Steht die Richtlinie 2008/115 unter Berücksichtigung ihres Anwendungsbereichs einer nationalen Regelung wie Art. L. 621‑1 CESEDA entgegen, die die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen Drittstaatsangehörigen allein wegen seiner illegalen Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats oder seines illegalen Aufenthalts dort vorsieht?

26      Das vorlegende Gericht hat außerdem die Haft von Herrn Achughbabian aufgehoben.

27      Auf entsprechenden Antrag des vorlegenden Gerichts hin hat die zuständige Kammer die Frage geprüft, ob es erforderlich ist, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorlageverfahren nach Art. 104b der Verfahrensordnung zu unterwerfen. Diese Kammer hat nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, dem Antrag nicht stattzugeben.

 Zur Vorlagefrage

28      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich die Richtlinie 2008/115 nur auf die Rückführung von Drittstaatsangehörigen bezieht, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, und somit nicht zum Ziel hat, die nationalen Rechtsvorschriften über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Folglich steht die Richtlinie dem Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegen, das den illegalen Aufenthalt als Straftat einstuft und strafrechtliche Sanktionen vorsieht, um von der Begehung derartiger Verstöße gegen die nationalen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften abzuschrecken und sie zu ahnden.

29      Da sich die mit der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren nur auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung beziehen, steht diese Richtlinie außerdem einer Inhaftierung zur Ermittlung, ob der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen illegal ist oder nicht, nicht entgegen.

30      Diese Feststellung wird durch den 17. Erwägungsgrund der genannten Richtlinie bekräftigt, aus dem hervorgeht, dass die Voraussetzungen für den ursprünglichen Aufgriff eines Drittstaatsangehörigen, der im Verdacht steht, sich illegal in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, weiterhin im nationalen Recht geregelt sind. Wie die französische Regierung geltend macht, wäre das Ziel der Richtlinie 2008/115, nämlich die wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, gefährdet, wenn es den Mitgliedstaaten nicht möglich wäre, durch einen Freiheitsentzug wie den Polizeigewahrsam zu verhindern, dass ein des illegalen Aufenthalts Verdächtiger flieht, noch bevor seine Situation geklärt werden kann.

31      Zu berücksichtigen ist dabei, dass die zuständigen Behörden über eine zwar kurze, aber angemessene Zeit verfügen müssen, um die Identität der kontrollierten Personen festzustellen und um die Fakten zu recherchieren, auf deren Grundlage entschieden werden kann, ob es sich bei dieser Person um einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen handelt. Die Feststellung des Namens und der Staatsangehörigkeit kann sich bei mangelnder Kooperationsbereitschaft des Betroffenen als schwierig erweisen. Die Prüfung, ob ein illegaler Aufenthalt vorliegt, kann sich ebenfalls als sehr komplex erweisen, insbesondere, wenn der Betroffene den Status eines Asylbewerbers oder eines Flüchtlings geltend macht. Dabei sind die zuständigen Behörden verpflichtet, zügig zu handeln, um nicht, wie in der vorangehenden Randnummer ausgeführt, das Ziel der Richtlinie 2008/115 zu gefährden, und sie müssen umgehend darüber entscheiden, ob der Aufenthalt der betroffenen Person illegal ist oder nicht. Stellt sich heraus, dass der Aufenthalt illegal ist, müssen diese Behörden nach Art. 6 Abs. 1 der genannten Richtlinie und unbeschadet der dort vorgesehenen Ausnahmen eine Rückkehrentscheidung erlassen.

32      Auch wenn sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, dass die Richtlinie 2008/115 weder einer nationalen Regelung wie Art. L. 621‑1 CESEDA entgegensteht, soweit diese den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen als Straftat einstuft und strafrechtliche Sanktionen einschließlich einer Freiheitsstrafe vorsieht, um diesen Aufenthalt zu ahnden, noch der Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, um zu ermitteln, ob dessen Aufenthalt illegal ist oder nicht, ist im Folgenden dennoch zu prüfen, ob diese Richtlinie einer Regelung wie Art. L. 621‑1 CESEDA entgegensteht, soweit diese zu einer Inhaftierung zur Strafvollstreckung während des von der genannten Richtlinie geregelten Rückkehrverfahrens führen kann.

33      Insoweit hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass das Strafrecht und das Strafprozessrecht zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass aber dieser Rechtsbereich gleichwohl vom Unionsrecht berührt werden kann. Daher müssen die Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass weder Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG, der in Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV übernommen wurde, noch die Richtlinie 2008/115, die u. a. auf der Grundlage der erwähnten Bestimmung des EG-Vertrags ergangen ist, die strafrechtliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts ausschließen, ihre Rechtsvorschriften in diesem Bereich so ausgestalten, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten dürfen keine strafrechtliche Regelung anwenden, die die Verwirklichung der mit der genannten Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und sie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte (Urteil El Dridi, Randnrn. 53 bis 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Zur Beantwortung der Frage, ob die Richtlinie 2008/115 aus Gründen wie denjenigen, die der Gerichtshof in seinem Urteil El Dridi dargelegt hat, einer Regelung wie Art. L. 621‑1 CESEDA entgegensteht, ist zunächst festzustellen, dass die Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens unter Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie fällt.

35      Aus den Akten und aus der Antwort des vorlegenden Gerichts auf ein Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs geht nämlich hervor, dass Herrn Achughbabian am 14. Februar 2009 eine Anordnung zum Verlassen des französischen Hoheitsgebiets, in der eine Frist von einem Monat für die freiwillige Ausreise gesetzt war, zugestellt wurde, er diese aber nicht befolgte. Da diese Rückkehrentscheidung am 24. Juni 2011, dem Tag der Überprüfung und der polizeilichen Ingewahrsamnahme von Herrn Achughbabian nicht mehr in Kraft war, wurde am 25. Juni 2011 erneut eine Rückkehrentscheidung erlassen, diesmal in Form einer Abschiebungsverfügung, in der keine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt war. Unabhängig davon, ob die Lage des Klägers des Ausgangsverfahrens als die einer Person zu betrachten ist, die ihrer Pflicht zur Rückkehr innerhalb einer für die freiwillige Ausreise gewährten Frist nicht nachgekommen ist, oder als die einer Person, gegen die eine Rückkehrentscheidung ohne Bestimmung einer Frist für eine freiwillige Ausreise erlassen wurde, fällt sie somit in jedem Fall unter Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, so dass der betroffene Mitgliedstaat gemäß diesem Artikel verpflichtet ist, alle Maßnahmen zu ergreifen, die zur Durchführung der Abschiebung, d. h. laut Art. 3 Nr. 5 der Richtlinie zur tatsächlichen Verbringung des Betroffenen aus dem genannten Mitgliedstaat, erforderlich sind.

36      Sodann ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2008/115 klar, dass die darin verwendeten Begriffe „Maßnahmen“ und „Zwangsmaßnahmen“ sich auf jegliches Vorgehen beziehen, das auf wirksame Weise unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zur Rückkehr des Betroffenen führt. Nach Art. 15 der genannten Richtlinie ist die Inhaftnahme des Betroffenen nur zulässig, um die Abschiebung vorzubereiten und zu ermöglichen, und dieser Freiheitsentzug darf nur für die Höchstdauer von sechs Monaten aufrechterhalten werden. Die Haft kann nur in den Fällen um weitere zwölf Monate verlängert werden, in denen die Rückkehrentscheidung während der genannten sechs Monate wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft des Betroffenen oder Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten nicht vollstreckt werden konnte.

37      Die Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe während des von der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rückkehrverfahrens trägt nicht zur Verwirklichung der mit diesem Verfahren verfolgten Abschiebung bei, d. h. zur tatsächlichen Verbringung des Betroffenen aus dem entsprechenden Mitgliedstaat. Eine derartige Strafe stellt somit keine „Maßnahme“ oder „Zwangsmaßnahme“ im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2008/115 dar.

38      Schließlich steht fest, dass die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung, soweit sie eine Freiheitsstrafe für Drittstaatsangehörige vorsieht, die älter als 18 Jahre sind und sich nach Ablauf einer Frist von drei Monaten seit ihrer Einreise in das französische Hoheitsgebiet illegal in Frankreich aufhalten, zu einer Inhaftierung zur Strafvollstreckung führen kann, während ein solcher Drittstaatsangehöriger nach den gemeinsamen Normen und Verfahren in den Art. 6, 8, 15 und 16 der Richtlinie 2008/115 vorrangig rückzuführen ist und, was einen etwaigen Freiheitsentzug betrifft, höchstens in Abschiebehaft genommen werden kann.

39      Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige könnte folglich die Anwendung der in der Richtlinie 2008/115 festgelegten gemeinsamen Normen und Verfahren vereiteln und die Rückführung verzögern und somit ebenso wie die in der Rechtssache El Dridi streitige Regelung die praktische Wirksamkeit der genannten Richtlinie beeinträchtigen.

40      Diese Schlussfolgerung wird weder durch den von der französischen Regierung hervorgehobenen Umstand entkräftet, dass die in der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung vorgesehenen Strafen aufgrund von Rundschreiben an die Gerichte außer in Fällen, in denen eine illegal aufhältige Person neben der Straftat des illegalen Aufenthalts eine weitere Straftat begangen habe, nur selten verhängt würden, noch durch den ebenfalls von dieser Regierung geltend gemachten Umstand, dass Herr Achughbabian nicht zu einer solchen Strafe verurteilt worden sei.

41      Dazu ist festzustellen, dass Drittstaatsangehörige, die neben der Straftat des illegalen Aufenthalts eine oder mehrere weitere Straftaten begangen haben, gegebenenfalls nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 von deren Anwendungsbereich ausgenommen werden können. Allerdings enthält die dem Gerichtshof übermittelte Akte keinen Hinweis, dass Herr Achughbabian eine weitere Straftat begangen hätte als die des illegalen Aufenthalts im französischen Hoheitsgebiet. Die Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens kann somit nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 ausgenommen werden, da deren Art. 2 Abs. 2 Buchst. b offensichtlich nicht, ohne das Ziel und die Verbindlichkeit der Richtlinie zu vereiteln, dahin ausgelegt werden kann, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die in der Richtlinie festgelegten gemeinsamen Normen und Verfahren auf Drittstaatsangehörige, die nur den Rechtsverstoß des illegalen Aufenthalts begangen haben, nicht anzuwenden.

42      Was den Umstand betrifft, dass Herr Achughbabian bisher nicht zu einer Freiheits- oder Geldstrafe nach Art. L. 621‑1 CESEDA verurteilt wurde, so ist unstreitig, dass der Erlass der an ihn gerichteten Abschiebungsverfügung auf die Feststellung der in dieser Vorschrift normierten Straftat des illegalen Aufenthalts gestützt wurde und dass es aufgrund dieser Vorschrift unabhängig vom Inhalt der von der französischen Regierung angeführten Rundschreiben zu einer Verurteilung zu den genannten Strafen kommen kann. Folglich sind Art. L. 621‑1 CESEDA und die Frage der Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit dem Unionsrecht für den Ausgangsrechtsstreit erheblich, zumal das vorlegende Gericht und die französische Regierung weder eine Einstellung des Verfahrens noch, allgemeiner, eine Entscheidung angeführt haben, die definitiv jegliche Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung von Herrn Achughbabian wegen der genannten Straftat ausschließt.

43      Im Übrigen ist, worauf in Randnr. 33 des vorliegenden Urteils bereits hingewiesen worden ist, die auch in Randnr. 56 des Urteils El Dridi angeführte Pflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 3 EUV hervorzuheben, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der sich aus der Richtlinie 2008/115 ergebenden Verpflichtungen zu ergreifen und alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung ihrer Ziele gefährden könnten. Die geltenden nationalen Vorschriften dürfen nicht geeignet sein, die ordnungsgemäße Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren zu gefährden.

44      Schließlich ist auch das Vorbringen der deutschen und der estnischen Regierung zurückzuweisen, wonach die Art. 8, 15 und 16 der Richtlinie 2008/115 zwar verhindern sollten, dass während des in diesen Vorschriften vorgesehenen Abschiebeverfahrens eine Freiheitsstrafe verhängt werde, aber einem Mitgliedstaat nicht untersagten, gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen vor seiner Abschiebung gemäß den von der Richtlinie vorgesehenen Modalitäten eine Freiheitsstrafe zu verhängen.

45      Insoweit genügt die Feststellung, dass sich sowohl aus der Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit als auch aus den Erfordernissen der Wirksamkeit, auf die u. a. im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 hingewiesen wird, ergibt, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 8 dieser Richtlinie auferlegte Pflicht, in den in Abs. 1 dieser Vorschrift genannten Fällen die Abschiebung vorzunehmen, innerhalb kürzester Frist zu erfüllen ist. Diesem Erfordernis würde ganz offensichtlich nicht genügt, wenn der betreffende Mitgliedstaat, nachdem er den illegalen Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen festgestellt hätte, vor der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung oder gar vor deren Erlass ein Strafverfahren durchführte, das gegebenenfalls zu einer Freiheitsstrafe führte. Ein solches Vorgehen würde die Abschiebung verzögern (Urteil El Dridi, Randnr. 59) und wird im Übrigen nicht unter den in Art. 9 der Richtlinie 2008/115 genannten Gründen aufgeführt, die einen Aufschub der Abschiebung rechtfertigen.

46      Aus den vorstehenden Ausführungen folgt zwar, dass die durch die Richtlinie 2008/115 gebundenen Mitgliedstaaten für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige in den Fällen keine Freiheitsstrafe vorsehen dürfen, in denen diese nach den in dieser Richtlinie festgelegten gemeinsamen Normen und Verfahren abzuschieben sind und zur Vorbereitung oder Durchführung dieser Abschiebung höchstens in Abschiebehaft genommen werden dürfen, doch schließt dies nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten aus, Vorschriften – gegebenenfalls strafrechtlicher Art – zu erlassen oder beizubehalten, die unter Beachtung der Grundsätze und des Ziels der genannten Richtlinie den Fall regeln, dass Zwangsmaßnahmen es nicht ermöglicht haben, einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen abzuschieben (Urteil El Dridi, Randnrn. 52 und 60).

47      In Anbetracht dieser Befugnis ist das Vorbringen der Regierungen, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, wonach eine Auslegung wie die vorstehende den Mitgliedstaaten die Möglichkeit nähme, von einem illegalen Aufenthalt abzuschrecken, nicht stichhaltig.

48      Insbesondere steht die Richtlinie 2008/115 strafrechtlichen Sanktionen nicht entgegen, die nach den nationalen strafverfahrensrechtlichen Vorschriften gegen Drittstaatsangehörige verhängt werden, auf die das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und die sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für ihre Nichtrückkehr illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten.

49      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Anwendung der genannten strafrechtlichen Vorschriften bei der Verhängung der in vorstehender Randnummer genannten strafrechtlichen Sanktionen die Grundrechte, insbesondere diejenigen, die in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind, in vollem Umfang gewahrt bleiben müssen.

50      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie

–      der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung die höchstzulässige Dauer noch nicht erreicht hat,

–      einer solchen Regelung aber nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält.

 Kosten

51      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass sie

–        der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung noch nicht die höchstzulässige Dauer erreicht hat,

–        einer solchen Regelung aber nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.