Language of document : ECLI:EU:C:2011:865

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

21. Dezember 2011(*)

„Unionsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Durchführung des Unionsrechts – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Gemeinsames Europäisches Asylsystem – Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Begriff ‚sichere Staaten‘ – Überstellung eines Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat – Verpflichtung – Widerlegbare Vermutung der Beachtung der Grundrechte durch diesen Mitgliedstaat“

In den verbundenen Rechtssachen C‑411/10 und C‑493/10

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) und vom High Court (Irland) mit Entscheidungen vom 12. Juli und 11. Oktober 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 18. August und 15. Oktober 2010, in den Verfahren

N. S. (C‑411/10)

gegen

Secretary of State for the Home Department

und

M. E. (C‑493/10),

A. S. M.,

M. T.,

K. P.,

E. H.

gegen

Refugee Applications Commissioner,

Minister for Justice, Equality and Law Reform,

Beteiligte:

Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK) (C‑411/10),

Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) (UK) (C‑411/10),

Equality and Human Rights Commission (EHRC) (C‑411/10),

Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (IRL) (C‑493/10),

Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) (IRL) (C‑493/10),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot, J. Malenovský und U. Lõhmus, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), M. Ilešič, T. von Danwitz und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader und des Richters J.-J. Kasel,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von N. S., vertreten durch D. Rose, QC, M. Henderson und A. Pickup, Barristers, sowie S. York, Legal Officer,

–        von M. E. u. a., vertreten durch C. Power, BL, F. McDonagh, SC, und G. Searson, Solicitor,

–        von Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK) (C‑411/10), vertreten durch S. Cox und S. Taghavi, Barristers, sowie J. Tomkin, BL,

–        von Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (IRL) (C‑493/10), vertreten durch B. Shipsey, SC, J. Tomkin, BL, und C. Ó Briain, Solicitor,

–        der Equality and Human Rights Commission (EHRC), vertreten durch G. Robertson, QC, sowie J. Cooper und C. Collier, Solicitors,

–        des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) (UK), vertreten durch R. Husain, QC, R. Davies, Solicitor, sowie S. Knights und M. Demetriou, Barristers,

–        von Irland, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von S. Moorhead, SC, und D. Conlan Smyth, BL,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte im Beistand von D. Beard, Barrister,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch A. Samoni-Rantou, M. Michelogiannaki, T. Papadopoulou, F. Dedousi und M. Germani als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, E. Belliard und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Arciszewski, B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte,

–        der slowenischen Regierung, vertreten durch N. Aleš Verdir und V. Klemenc als Bevollmächtigte,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, M. Wilderspin und H. Kraemer als Bevollmächtigte,

–        der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vertreten durch O. Kjelsen als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 22. September 2011

folgendes

Urteil

1        Die beiden Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung erstens von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1), zweitens der Unionsgrundrechte einschließlich der in den Art. 1, 4, 18, 19 Abs. 2 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) genannten Rechte und drittens des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta auf die Republik Polen und das Vereinigte Königreich (ABl. 2010, C 83, S. 313, im Folgenden: Protokoll [Nr. 30]).

2        Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Asylbewerbern, die nach der Verordnung Nr. 343/2003 nach Griechenland rückzuführen sind, und den Behörden des Vereinigten Königreichs bzw. Irlands.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (im Folgenden: Protokoll von 1967).

4        Alle Mitgliedstaaten sowie die Republik Island, das Königreich Norwegen, die Schweizerische Eidgenossenschaft und das Fürstentum Liechtenstein sind Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967. Die Union ist weder Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention noch des Protokolls von 1967, aber Art. 78 AEUV und Art. 18 der Charta sehen vor, dass das Recht auf Asyl u. a. nach Maßgabe dieser Konvention und dieses Protokolls gewährleistet wird.

5        Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) der Genfer Flüchtlingskonvention bestimmt in Abs. 1:

„Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“

 Das Gemeinsame Europäische Asylsystem

6        Zur Verwirklichung des vom Europäischen Rat auf seiner Tagung in Straßburg am 8. und 9. Dezember 1989 gesetzten Ziels der Harmonisierung ihrer Asylpolitiken unterzeichneten die Mitgliedstaaten am 15. Juni 1990 in Dublin das Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (ABl. 1997, C 254, S. 1, im Folgenden: Dubliner Übereinkommen). Dieses Übereinkommen trat für die zwölf ursprünglichen Unterzeichnerstaaten am 1. September 1997, für die Republik Österreich und das Königreich Schweden am 1. Oktober 1997 und für die Republik Finnland am 1. Januar 1998 in Kraft.

7        Die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 sahen u. a. die Errichtung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt, wodurch sichergestellt werden sollte, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist, d. h. der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt.

8        Mit dem Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 wurde Art. 63 in den EG-Vertrag aufgenommen, der der Europäischen Gemeinschaft die Zuständigkeit für den Erlass der vom Europäischen Rat in Tampere empfohlenen Maßnahmen zuwies. Mit jenem Vertrag wurde dem EG‑Vertrag auch das Protokoll (Nr. 24) über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 305) beigefügt, nach dem diese Staaten füreinander für rechtliche und praktische Zwecke im Zusammenhang mit dem Recht auf Asyl als sichere Herkunftsländer gelten.

9        Der Erlass von Art. 63 EG erlaubte es insbesondere, zwischen den Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Königreichs Dänemark das Dubliner Übereinkommen durch die Verordnung Nr. 343/2003 zu ersetzen, die am 17. März 2003 in Kraft trat. Auf der gleichen Rechtsgrundlage wurden auch die auf die Ausgangsrechtssachen anwendbaren Richtlinien im Hinblick auf die Errichtung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erlassen, das in den Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere vorgesehen war.

10      Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bestehen die maßgeblichen Asylbestimmungen in Art. 78 AEUV, der die Errichtung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems vorsieht, und Art. 80 AEUV, der auf den Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten hinweist.

11      Das für die Ausgangsrechtssachen einschlägige Regelwerk der Union umfasst:

–      die Verordnung Nr. 343/2003;

–      die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18);

–      die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, und Berichtigung, ABl. 2005, L 204, S. 24);

–      die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, und Berichtigung, ABl. 2006, L 236, S. 35).

12      Zu nennen ist auch die Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (ABl. L 212, S. 12). Wie aus dem 20. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, besteht eines ihrer Ziele darin, einen Solidaritätsmechanismus zu schaffen, um dazu beizutragen, dass die Belastungen, die sich im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Aufnahme dieser Personen und den damit verbundenen Folgen ergeben, auch ausgewogen auf die Mitgliedstaaten verteilt werden.

13      Die Speicherung der Fingerabdruckdaten von Ausländern, die illegal eine Außengrenze der Union überschreiten, gestattet die Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats. Eine solche Speicherung ist in der Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates vom 11. Dezember 2000 über die Einrichtung von „Eurodac“ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens (ABl. L 316, S. 1) vorgesehen.

14      Die Verordnung Nr. 343/2003 und die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 nehmen in ihrem ersten Erwägungsgrund darauf Bezug, dass eine gemeinsame Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wesentlicher Bestandteil des Ziels der Union ist, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Gemeinschaft um Schutz nachsuchen. Sie verweisen außerdem in ihrem zweiten Erwägungsgrund auf die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere.

15      In jedem dieser Rechtstexte findet sich der Hinweis, dass er im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden, steht. Insbesondere heißt es im 15. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003, dass sie darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten, im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/9, dass es vor allem deren Ziel ist, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Art. 1 und 18 der Charta zu fördern, und im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83, dass diese insbesondere darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde sowie des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen.

16      Nach ihrem Art. 1 legt die Verordnung Nr. 343/2003 die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen.

17      Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)      Abweichend von Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Gegebenenfalls unterrichtet er den zuvor zuständigen Mitgliedstaat, den Mitgliedstaat, der ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates durchführt, oder den Mitgliedstaat, an den ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuch gerichtet wurde.“

18      Damit der „zuständige Mitgliedstaat“ im Sinne des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt werden kann, nennt Kapitel III dieser Verordnung eine Liste objektiver Kriterien in einer Rangfolge mit folgenden Anknüpfungspunkten: unbegleitete Minderjährige, Einheit der Familie, Erteilung eines Aufenthaltstitels oder Visums, illegale Einreise oder illegaler Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, legale Einreise in einen Mitgliedstaat und Anträge, die im internationalen Transitbereich eines Flughafens gestellt werden.

19      Nach Art. 13 dieser Verordnung ist, wenn sich anhand der Rangfolge der Kriterien kein Mitgliedstaat bestimmen lässt, automatisch der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

20      Art. 17 der Verordnung Nr. 343/2003 sieht vor, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, wenn er einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig hält, den anderen Mitgliedstaat so bald wie möglich ersuchen kann, den Asylbewerber aufzunehmen.

21      Nach Art. 18 Abs. 7 dieser Verordnung ist, wenn vom ersuchten Mitgliedstaat innerhalb der Frist von zwei Monaten – oder bei Berufung auf das Dringlichkeitsverfahren von einem Monat – keine Antwort erteilt wird, davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung für diesen Mitgliedstaat nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.

22      In Art. 19 der Verordnung Nr. 343/2003 heißt es

„(1)      Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit.

(2)      Die Entscheidung nach Absatz 1 ist zu begründen. Die Frist für die Durchführung der Überstellung ist anzugeben, und gegebenenfalls der Zeitpunkt und der Ort zu nennen, zu dem bzw. an dem sich der Antragsteller zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Ein gegen die Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist.

(4)      Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist.

…“

23      Das Vereinigte Königreich beteiligt sich an der Anwendung jeder der Verordnungen und vier Richtlinien, die oben in den Randnrn. 11 bis 13 genannt sind. Irland dagegen beteiligt sich an der Anwendung der Verordnungen und der Richtlinien 2004/83, 2005/85 und 2001/55, nicht aber der Richtlinie 2003/9.

24      Das Königreich Dänemark ist durch das mit dem Beschluss 2006/188/EG des Rates vom 21. Februar 2006 (ABl. L 66, S. 37) genehmigte Übereinkommen gebunden, das es mit der Europäischen Gemeinschaft zur Ausdehnung der Verordnung Nr. 343/2003 und der Verordnung Nr. 2725/2000 auf Dänemark geschlossen hat. Es ist nicht durch die oben in Randnr. 11 genannten Richtlinien gebunden.

25      Die Gemeinschaft hat auch ein Übereinkommen mit der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Kriterien und Regelungen zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in Island oder Norwegen gestellten Asylantrags geschlossen, das mit dem Beschluss 2001/258/EG des Rates vom 15. März 2001 (ABl. L 93, S. 38) genehmigt wurde.

26      Ferner hat die Gemeinschaft ein Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags geschlossen, das mit dem Beschluss 2008/147/EG des Rates vom 28. Januar 2008 (ABl. L 53, S. 3) genehmigt wurde, sowie das Protokoll mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Fürstentum Liechtenstein zu dem Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestellten Asylantrags, das mit dem Beschluss 2009/487/EG des Rates vom 24. Oktober 2008 (ABl. 2009, L 161, S. 6) genehmigt wurde.

27      Die Richtlinie 2003/9 legt Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten fest. Diese Normen betreffen u. a. die Informationspflichten gegenüber den Asylbewerbern und die Dokumente, die diesen ausgehändigt werden müssen, die Entscheidungen, die von den Mitgliedstaaten in Bezug auf den Wohnsitz und die Bewegung der Asylbewerber in ihrem Hoheitsgebiet, die Familien, medizinische Untersuchungen, die Grundschulerziehung und weiterführende Bildung Minderjähriger sowie die Beschäftigung der Asylbewerber und deren Zugang zur beruflichen Bildung erlassen werden können, die allgemeinen Bestimmungen zu materiellen Aufnahmebedingungen und zur Gesundheitsversorgung der Antragsteller, die Modalitäten der Aufnahmebedingungen und die medizinische Versorgung, die den Asylbewerbern gewährt werden muss.

28      Diese Richtlinie sieht auch die Verpflichtung zur Steuerung des Niveaus der Aufnahmebedingungen und die Möglichkeit von Rechtsmitteln in Bezug auf die von ihr erfassten Bereiche und Entscheidungen vor. Außerdem enthält sie Vorschriften über die Ausbildung der Behörden und die Ressourcen, die im Zusammenhang mit den nationalen Durchführungsvorschriften zu der Richtlinie erforderlich sind.

29      Die Richtlinie 2004/83 legt Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes fest. Kapitel II enthält verschiedene Bestimmungen dazu, wie die Anträge zu prüfen sind. Kapitel III stellt die Voraussetzungen klar, die für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt sein müssen. Kapitel IV betrifft die Flüchtlingseigenschaft. Die Kapitel V und VI behandeln die Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz und den damit verbundenen Status. Kapitel VII enthält verschiedene Vorschriften über den Inhalt des internationalen Schutzes. Die Bestimmungen dieses Kapitels berühren nach Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht die in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Rechte.

30      Die Richtlinie 2005/85 regelt die Rechte der Asylbewerber und die Verfahren zur Prüfung der Anträge.

31      Art. 36 („Europäisches Konzept der sicheren Drittstaaten“) der Richtlinie 2005/85 bestimmt in Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass keine oder keine umfassende Prüfung des Asylantrags und der Sicherheit des Asylbewerbers in seiner spezifischen Situation nach Kapitel II erfolgt, wenn eine zuständige Behörde anhand von Tatsachen festgestellt hat, dass der Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Absatz 2 unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einzureisen versucht oder eingereist ist.“

32      Die in Abs. 2 dieser Vorschrift vorgesehenen Voraussetzungen stellen u. a. ab auf

–        die Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Einhaltung ihrer Bestimmungen;

–        das Bestehen eines gesetzlich festgelegten Asylverfahrens;

–        die Ratifizierung der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und die Einhaltung der darin enthaltenen Bestimmungen einschließlich der Normen über wirksame Rechtsbehelfe.

33      Art. 39 der Richtlinie 2005/85 nennt die wirksamen Rechtsbehelfe, die vor den Gerichten der Mitgliedstaaten eingelegt werden können müssen. Sein Abs. 1 Buchst. a Ziff. iii betrifft die Entscheidungen, keine Prüfung nach Art. 36 der Richtlinie vorzunehmen.

 Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

 Rechtssache C‑411/10

34      N. S., der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens, ist ein afghanischer Staatsangehöriger, der in das Vereinigte Königreich kam, wobei ihn sein Weg u. a. über Griechenland führte. Dort wurde er am 24. September 2008 verhaftet, stellte aber keinen Asylantrag.

35      Nach seiner Aussage wurde er von den griechischen Behörden vier Tage lang inhaftiert; bei seiner Freilassung sei ihm eine Anordnung bekanntgegeben worden, mit der er aufgefordert worden sei, das griechische Staatsgebiet innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Er behauptet, er sei bei dem Versuch, Griechenland zu verlassen, von der Polizei verhaftet und in die Türkei abgeschoben worden, wo er zwei Monate lang unter schrecklichen Bedingungen inhaftiert gewesen sei. Er sei aus der Haft in der Türkei entkommen und von dort in das Vereinigte Königreich gereist, wo er am 12. Januar 2009 angekommen sei und noch am selben Tag einen Asylantrag gestellt habe.

36      Am 1. April 2009 richtete der Secretary of State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) nach Art. 17 der Verordnung Nr. 343/2003 ein Gesuch um Aufnahme des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens zwecks Prüfung seines Asylantrags an die Hellenische Republik. Diese antwortete nicht innerhalb der Frist des Art. 18 Abs. 7 der Verordnung Nr. 343/2003 auf das Gesuch, so dass am 18. Juni 2009 davon ausgegangen wurde, dass sie nach dieser Bestimmung die Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens anerkannt hatte.

37      Am 30. Juli 2009 gab der Secretary of State dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens bekannt, dass Verfügungen im Hinblick auf seine Rücküberstellung nach Griechenland am 6. August 2009 ergangen seien.

38      Am 31. Juli 2009 gab der Secretary of State dem Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens eine Entscheidung gemäß Schedule 3 Part 2 Paragraph 5(4) des Asyl- und Einwanderungsgesetzes (Behandlung der Antragsteller usw.) (Asylum and Immigration [Treatment of Claimants, etc] Act) 2004 (im Folgenden: Asylgesetz von 2004) bekannt, mit der seine Beschwerde, dass seine Überstellung nach Griechenland seine Rechte nach der EMRK verletze, amtlich für offensichtlich unbegründet erklärt wurde, da die Hellenische Republik auf der „Liste der sicheren Staaten“ in Schedule 3 Part 2 des Asylgesetzes von 2004 verzeichnet sei.

39      Nach Schedule 3 Part 2 Paragraph 5(4) des Asylgesetzes von 2004 hatte diese amtliche Erklärung zur Folge, dass der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens im Vereinigten Königreich gegen die Entscheidung über seine Überstellung nach Griechenland nicht mehr den mit Suspensiveffekt versehenen Rechtsbehelf in Einwanderungssachen („immigration appeal“) einlegen konnte, der ihm ohne eine solche Erklärung zugestanden hätte.

40      Am 31. Juli 2009 beantragte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens beim Secretary of State die Übernahme der Zuständigkeit für die Prüfung seines Asylantrags nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, weil die Gefahr einer Verletzung der ihm durch das Unionsrecht, die EMRK und/oder die Genfer Flüchtlingskonvention verliehenen Grundrechte bestehe, wenn er nach Griechenland rückgeführt würde. Mit Schreiben vom 4. August 2009 erhielt der Secretary of State seine Entscheidungen über die Überstellung des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens nach Griechenland und über die amtliche Erklärung der offensichtlichen Unbegründetheit der auf die EMRK gestützten Beschwerde des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens aufrecht.

41      Am 6. August 2009 stellte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens einen Antrag auf Zulassung der gerichtlichen Überprüfung („judicial review“) der Entscheidungen des Secretary of State. Daraufhin hob dieser die Überstellungsverfügungen auf. Am 14. Oktober 2009 wurde dem Antrag des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens auf gerichtliche Überprüfung stattgegeben.

42      Die gerichtliche Überprüfung wurde vom 24. bis 26. Februar 2010 vom High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) durchgeführt. Mit Urteil vom 31. März 2010 wies Richter Cranston diesen Rechtsbehelf zurück, ließ jedoch ein Rechtsmittel des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens gegen das Urteil zum Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) zu.

43      Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens legte am 21. April 2010 Rechtsmittel beim letztgenannten Gericht ein.

44      Der Vorlageentscheidung zufolge, in der dieses Gericht auf das Urteil des High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court), Bezug nimmt,

–       weisen die Asylverfahren in Griechenland schwere Mängel auf: die Antragsteller träfen auf zahlreiche Schwierigkeiten bei der Erfüllung der notwendigen Formalitäten, sie würden nicht ausreichend informiert und unterstützt, und ihre Anträge würden nicht aufmerksam geprüft;

–       ist die Asylgewährungsquote in Griechenland äußerst niedrig;

–       ist der Rechtsweg in Griechenland unzureichend und sehr schwer zugänglich;

–       sind die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Griechenland unzureichend: diese würden entweder unter unangemessenen Bedingungen festgesetzt oder lebten in Elend ohne Obdach und Nahrung im Freien.

45      Der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) hielt die Gefahr der Abschiebung aus Griechenland nach Afghanistan oder in die Türkei hinsichtlich der nach der Verordnung Nr. 343/2003 rückgeführten Personen für nicht erwiesen; der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens widerspricht dieser Einschätzung vor dem vorlegenden Gericht.

46      Vor dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) räumte der Secretary of State ein, dass „man sich gegenüber dem Vereinigten Königreich auf die in der Charta niedergelegten Grundrechte berufen kann und … dass der Administrative Court zu Unrecht anders entschieden hat“. Nach Ansicht des Secretary of State bestätigt die Charta nur nochmals die Rechte, die bereits integraler Bestandteil des Unionsrechts seien, und begründet keine neuen Rechte. Er machte jedoch geltend, der High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) habe zu Unrecht befunden, dass er bei der Ausübung des ihm nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verliehenen Ermessens die Unionsgrundrechte habe berücksichtigen müssen. Dieses Ermessen fällt seiner Ansicht nach nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts.

47      Hilfsweise brachte der Secretary of State vor, dass die Verpflichtung zur Beachtung der Unionsgrundrechte ihn nicht zwinge, Beweise dafür zu berücksichtigen, dass bei einer Rückführung des Rechtsmittelführers nach Griechenland eine erhebliche Gefahr bestehe, dass die diesem vom Unionsrecht verliehenen Grundrechte verletzt würden. Aufgrund der Systematik der Verordnung Nr. 343/2003 könne er sich nämlich auf die unwiderlegbare Vermutung stützen, dass Griechenland (oder jeder andere Mitgliedstaat) seinen Verpflichtungen nach dem Unionsrecht nachkomme.

48      Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens machte schließlich vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass der nach der Charta gewährte Schutz weiter sei und insbesondere über den durch Art. 3 EMRK verbürgten Schutz hinausgehe, was im vorliegenden Fall zu einem anderen Ausgang führen könne.

49      In der Verhandlung vom 12. Juli 2010 befand das vorlegende Gericht, dass für die Entscheidung über das Rechtsmittel einige unionsrechtliche Fragen zu klären seien.

50      Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Fällt die Entscheidung eines Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 darüber, ob er einen Asylantrag prüft, der nach den in Kapitel III der Verordnung festgelegten Kriterien nicht in seine Zuständigkeit fällt, für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta in den Geltungsbereich des Unionsrechts?

Wenn Frage 1 zu bejahen ist:

2.      Ist die Verpflichtung eines Mitgliedstaats zur Beachtung der Unionsgrundrechte (einschließlich der in den Art. 1, 4, 18, 19 Abs. 2 und 47 der Charta festgelegten Rechte) erfüllt, wenn er den Asylbewerber dem Mitgliedstaat überstellt, der nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 gemäß den Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung als zuständiger Staat bestimmt worden ist, ohne dass es auf die im zuständigen Mitgliedstaat herrschenden Verhältnisse ankommt?

3.      Schließt insbesondere die Verpflichtung zur Beachtung der Unionsgrundrechte die Anwendung der unwiderlegbaren Vermutung aus, dass der zuständige Mitgliedstaat (i) die Grundrechte des Antragstellers nach dem Unionsrecht und/oder (ii) die nach den Richtlinien 2003/9, 2004/83 und/oder 2005/85 einzuhaltenden Mindestnormen beachten wird?

4.      Hilfsweise: Ist ein Mitgliedstaat nach dem Unionsrecht verpflichtet – und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen –, von der Befugnis nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, einen Asylantrag zu prüfen und in seine Zuständigkeit zu übernehmen, Gebrauch zu machen, wenn der Antragsteller im Fall seiner Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat der Gefahr einer Verletzung seiner Grundrechte, insbesondere der in den Art. 1, 4, 18, 19 Abs. 2 und/oder 47 der Charta festgelegten Rechte, und/oder der Gefahr ausgesetzt wäre, dass die Mindestnormen nach den Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 auf ihn keine Anwendung finden?

5.      Reicht der Schutz, der einer Person, auf die die Verordnung Nr. 343/2003 anwendbar ist, aufgrund der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der Rechte nach den Art. 1, 18 und 47 der Charta zuteil wird, weiter als der Schutz nach Art. 3 EMRK?

6.      Ist es mit den Rechten nach Art. 47 der Charta vereinbar, wenn eine Vorschrift des nationalen Rechts die Gerichte bei der Prüfung, ob eine Person rechtmäßig nach der Verordnung Nr. 343/2003 in einen anderen Mitgliedstaat abgeschoben werden kann, verpflichtet, diesen Mitgliedstaat als einen Staat zu behandeln, aus dem die Person nicht unter Verletzung ihrer Rechte nach der EMRK oder nach der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 in einen anderen Staat überstellt werden wird?

7.      Unterliegen die Antworten auf die Fragen 2 bis 6, soweit diese sich in Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs stellen, irgendwelchen Einschränkungen, um dem Protokoll (Nr. 30) Rechnung zu tragen?

 Rechtssache C‑493/10

51      Diese Rechtssache betrifft in den Ausgangsverfahren fünf Kläger aus Afghanistan, dem Iran und Algerien, die in keiner Beziehung zueinander stehen. Sie reisten alle durch Griechenland und wurden dort wegen illegaler Einreise festgenommen. Danach begaben sie sich nach Irland, wo sie Asyl beantragten. Drei der Kläger der Ausgangsverfahren stellten den Asylantrag, ohne ihren vorherigen Aufenthalt in Griechenland anzugeben, während die beiden anderen einräumten, sich zuvor in Griechenland aufgehalten zu haben. Über das Eurodac-System wurde bestätigt, dass die fünf Kläger zuvor in griechisches Hoheitsgebiet eingereist waren, aber keiner von ihnen dort Asyl beantragt hatte.

52      Alle Kläger der Ausgangsverfahren widersetzen sich ihrer Rückkehr nach Griechenland. Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, wurde nicht geltend gemacht, dass ihre Überstellung nach Griechenland gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 gegen Art. 3 EMRK verstieße, weil eine Zurückweisung, eine gestaffelte Zurückweisung, Misshandlungen oder eine Unterbrechung des Asylverfahrens drohten. Es wird auch nicht vorgetragen, dass die Überstellung gegen sonstige Vorschriften der EMRK verstieße. Die Kläger der Ausgangsverfahren brachten vor, dass die Verfahren und Bedingungen für Asylbewerber in Griechenland unangemessen seien, so dass Irland verpflichtet sei, von der ihm mit Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 eröffneten Befugnis Gebrauch zu machen, die Zuständigkeit für die Prüfung und Entscheidung ihrer Asylanträge zu übernehmen.

53      Unter diesen Umständen hat der High Court beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der überstellende Mitgliedstaat nach der Verordnung Nr. 343/2003 verpflichtet, die Beachtung von Art. 18 der Charta, der Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 sowie der Verordnung Nr. 343/2003 durch den Aufnahmemitgliedstaat zu beurteilen?

2.      Falls die Frage zu bejahen ist und falls festgestellt wird, dass der Aufnahmemitgliedstaat eine oder mehrere jener Bestimmungen nicht beachtet, ist dann der überstellende Mitgliedstaat nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zur Übernahme der Zuständigkeit für die Prüfung des Antrags verpflichtet?

54      Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 16. Mai 2011 sind die Rechtssachen C‑411/10 und C‑493/10 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑411/10

55      Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑411/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen wissen, ob für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta die von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 getroffene Entscheidung darüber, ob er einen Asylantrag prüft, für den er in Ansehung der Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht zuständig ist, in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt.

 Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

56      N. S., die Equality and Human Rights Commission (EHRC), Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK), der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), die französische, die niederländische, die österreichische und die finnische Regierung sowie die Europäische Kommission sind der Ansicht, dass eine auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 erlassene Entscheidung in den Geltungsbereich des Unionsrechts falle.

57      N. S. betont insoweit, dass die Ausübung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befugnis für den Antragsteller nicht zwangsläufig günstiger sei, was erkläre, dass die Kommission in ihrem Bericht vom 6. Juni 2007 zur Bewertung des Dublin-Systems (KOM[2007] 299 endg.) vorgeschlagen habe, dass die Wahrnehmung der mit Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 gewährten Befugnis von der Zustimmung des Asylbewerbers abhängig gemacht werden solle.

58      Nach Ansicht insbesondere von Amnesty International Ltd and the AIRE Centre (Advice on Individual Rights in Europe) (UK) und der französischen Regierung ist die in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehene Möglichkeit dadurch gerechtfertigt, dass diese Verordnung den Schutz der Grundrechte bezwecke und dass es nötig sein könne, die in dieser Bestimmung vorgesehene Befugnis auszuüben.

59      Die finnische Regierung unterstreicht, dass die Verordnung Nr. 343/2003 Teil eines Regelwerks sei, mit dem ein System errichtet werde.

60      Nach Ansicht der Kommission muss ein Mitgliedstaat, wenn eine Verordnung ihm einen Ermessensspielraum einräume, bei der Ausübung des Ermessens das Unionsrecht beachten (Urteile vom 13. Juli 1989, Wachauf, 5/88, Slg. 1989, 2609, vom 4. März 2010, Chakroun, C‑578/08, Slg. 2010, I‑1839, und vom 5. Oktober 2010, McB., C‑400/10 PPU, Slg. 2010, I‑0000). Eine Entscheidung, die ein Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 erlasse, habe Folgen für diesen Staat, der durch die Verfahrensauflagen der Union und durch die Richtlinien gebunden sei.

61      Irland, das Vereinigte Königreich, die belgische Regierung und die italienische Regierung vertreten dagegen die Auffassung, dass eine solche Entscheidung nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts falle. Argumentiert wird mit der Klarheit des Wortlauts, nach dem es sich um eine Befugnis handle, der Bezugnahme auf eine „Souveränitätsklausel“ oder „Ermessensklausel“ in den Dokumenten der Kommission, dem Grund für eine solche Klausel, nämlich humanitären Gründen, und schließlich der Logik des mit der Verordnung Nr. 343/2003 errichteten Systems.

62      Das Vereinigte Königreich unterstreicht, dass eine Souveränitätsklausel keine Ausnahme im Sinne des Urteils vom 18. Juni 1991, ERT (C‑260/89, Slg. 1991, I‑2925, Randnr. 43), darstelle. Auch bedeute der Umstand, dass der Gebrauch dieser Klausel keine Durchführung des Unionsrechts sei, nicht, dass die Mitgliedstaaten die Grundrechte nicht beachteten, da sie an die Genfer Flüchtlingskonvention und die EMRK gebunden seien. Die belgische Regierung betont jedoch, dass der Vollzug der Entscheidung über die Überstellung des Asylbewerbers die Durchführung der Verordnung Nr. 343/2003 nach sich ziehe und daher in den Geltungsbereich des Art. 6 EUV und der Charta falle.

63      Für die tschechische Regierung fällt die Entscheidung eines Mitgliedstaats unter das Unionsrecht, wenn er von der Souveränitätsklausel Gebrauch macht, nicht aber dann, wenn er diese Befugnis nicht ausübt.

 Antwort des Gerichtshofs

64      Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.

65      Die Prüfung von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zeigt, dass er den Mitgliedstaaten ein Ermessen einräumt, das integraler Bestandteil des vom AEU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist.

66      Wie die Kommission hervorgehoben hat, müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieses Ermessens die übrigen Bestimmungen dieser Verordnung beachten.

67      Außerdem ist Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 zu entnehmen, dass die Abweichung von dem in ihrem Art. 3 Abs. 1 aufgestellten Grundsatz bestimmte in der Verordnung vorgesehene Folgen nach sich zieht. So wird der Mitgliedstaat, der die Entscheidung fasst, einen Asylantrag selbst zu prüfen, zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 und muss gegebenenfalls den oder die anderen Mitgliedstaaten, die von dem Asylantrag betroffen sind, unterrichten.

68      Diese Gesichtspunkte sprechen für die Auslegung, nach der das den Mitgliedstaaten durch Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 verliehene Ermessen Teil der von dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren zur Bestimmung des für einen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats ist und daher nur ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems darstellt. Übt ein Mitgliedstaat dieses Ermessen aus, führt er damit das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durch.

69      Deshalb ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑411/10 zu antworten, dass für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta mit der von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 getroffenen Entscheidung darüber, ob er einen Asylantrag prüft, für den er in Ansehung der Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht zuständig ist, das Unionsrecht durchgeführt wird.

 Zu den Fragen 2, 3, 4 und 6 in der Rechtssache C‑411/10 und zu den beiden Fragen in der Rechtssache C‑493/10

70      Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C‑411/10 und der ersten Frage in der Rechtssache C‑493/10 möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen, ob der Mitgliedstaat, der den Asylbewerber in den gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständig bestimmten Mitgliedstaat überstellen muss, zu überprüfen hat, ob der letztgenannte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte, die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 und die Verordnung Nr. 343/2003 beachtet.

71      Mit der dritten Frage in der Rechtssache C‑411/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen wissen, ob die Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte, die den Mitgliedstaat trifft, der den Asylbewerber zu überstellen hat, der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegensteht, dass der zuständige Staat die dem Antragsteller vom Unionsrecht verliehenen Grundrechte und/oder die Mindestnormen, die sich aus den vorstehend genannten Richtlinien ergeben, beachtet.

72      Mit der vierten Frage in der Rechtssache C‑411/10 und der zweiten Frage in der Rechtssache C‑493/10 möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen, ob der Mitgliedstaat, der den Asylbewerber zu überstellen hat, die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 annehmen muss, wenn festgestellt wird, dass der zuständige Mitgliedstaat die Grundrechte nicht beachtet.

73      Schließlich möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) mit der sechsten Frage in der Rechtssache C‑411/10 im Wesentlichen wissen, ob es mit den Rechten nach Art. 47 der Charta vereinbar ist, wenn eine Bestimmung des nationalen Rechts die Gerichte bei der Feststellung, ob eine Person rechtmäßig nach der Verordnung Nr. 343/2003 in einen anderen Mitgliedstaat abgeschoben werden kann, dazu verpflichtet, diesen Mitgliedstaat als „sicheren Staat“ anzusehen.

74      Diese Fragen sind zusammen zu behandeln.

75      Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. Die Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967 ist in Art. 18 der Charta und in Art. 78 AEUV geregelt (vgl. Urteile vom 2. März 2010, Salahadin Abdulla u. a., C‑175/08, C‑176/08, C‑178/08 und C‑179/08, Slg. 2010, I‑1493, Randnr. 53, und vom 17. Juni 2010, Bolbol, C‑31/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 38).

76      Wie oben in Randnr. 15 ausgeführt, heißt es in den einzelnen Verordnungen und Richtlinien, die für die Ausgangsverfahren einschlägig sind, dass sie die Grundrechte und die mit der Charta anerkannten Grundsätze achten.

77      Nach gefestigter Rechtsprechung haben überdies die Mitgliedstaaten nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2003, Lindqvist, C‑101/01, Slg. 2003, I‑12971, Randnr. 87, und vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, Slg. 2007, I‑5305, Randnr. 28).

78      Die Prüfung der Rechtstexte, die das Gemeinsame Europäische Asylsystem bilden, ergibt, dass dieses in einem Kontext entworfen wurde, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen.

79      Gerade aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens hat der Unionsgesetzgeber die Verordnung Nr. 343/2003 erlassen und die oben in den Randnrn. 24 bis 26 genannten Übereinkommen und Abkommen geschlossen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen.

80      Unter diesen Bedingungen muss die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht.

81      Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist.

82      Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtungen der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde.

83      Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet.

84      Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Mit der Verordnung Nr. 343/2003 soll nämlich, ausgehend von der Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in dem normalerweise für die Entscheidung über seinen Antrag zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, wie in den Nrn. 124 und 125 der Schlussanträge in der Rechtssache C‑411/10 ausgeführt worden ist, eine klare und praktikable Methode eingerichtet werden, mit der rasch bestimmt werden kann, welcher Mitgliedstaat für die Entscheidung über einen Asylantrag zuständig ist. Zu diesem Zweck sieht die Verordnung Nr. 343/2003 vor, dass für die Entscheidung über in einem Land der Union gestellte Asylanträge nur ein Mitgliedstaat zuständig ist, der auf der Grundlage objektiver Kriterien bestimmt wird.

85      Wenn aber jeder Verstoß des zuständigen Mitgliedstaats gegen einzelne Bestimmungen der Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 zur Folge hätte, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht wurde, daran gehindert wäre, den Antragsteller an den erstgenannten Staat zu überstellen, würde damit den in Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 genannten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ein zusätzliches Ausschlusskriterium hinzugefügt, nach dem geringfügige Verstöße gegen die Vorschriften dieser Richtlinien in einem bestimmten Mitgliedstaat dazu führen könnten, dass er von den in dieser Verordnung vorgesehenen Verpflichtungen entbunden wäre. Dies würde die betreffenden Verpflichtungen in ihrem Kern aushöhlen und die Verwirklichung des Ziels gefährden, rasch den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Entscheidung über einen in der Union gestellten Asylantrag zuständig ist.

86      Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar.

87      Hinsichtlich der Lage in Griechenland ist zwischen den Beteiligten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, unstreitig, dass im Jahr 2010 fast 90 % der illegalen Einwanderer über diesen Mitgliedstaat in die Union gelangten, so dass die wegen dieses Zustroms auf ihm liegende Last außer Verhältnis zu der Belastung der anderen Mitgliedstaaten steht und es den griechischen Behörden tatsächlich unmöglich ist, diesen Zustrom zu bewältigen. Die Hellenische Republik hat darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten nicht den Vorschlag der Kommission angenommen hätten, die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 auszusetzen und diese unter Abschwächung des Kriteriums der ersten Einreise zu ändern.

88      Bei einem Sachverhalt, der denen der Ausgangsverfahren gleicht, nämlich einer Überstellung eines Asylbewerbers an Griechenland, den im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat, im Juni 2009, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte u. a. entschieden, dass das Königreich Belgien gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe, indem es den Beschwerdeführer zum einen den sich aus den Mängeln des Asylverfahrens in Griechenland ergebenden Risiken ausgesetzt habe, da die belgischen Behörden gewusst hätten oder hätten wissen müssen, dass eine gewissenhafte Prüfung seines Asylantrags durch die griechischen Behörden in keiner Weise gewährleistet gewesen sei, und indem es ihn zum anderen wissentlich Haft- und Existenzbedingungen ausgesetzt habe, die eine erniedrigende Behandlung darstellten (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, noch nicht im Recueil des arrêts et décisions veröffentlicht, §§ 358, 360 und 367).

89      Das in jenem Urteil beschriebene Ausmaß der Beeinträchtigung der Grundrechte zeugt von einer systemischen Unzulänglichkeit des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Griechenland zur Zeit der Überstellung des Beschwerdeführers M.S.S.

90      Für den Befund, dass die Risiken für den Beschwerdeführer hinreichend erwiesen seien, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, in denen auf die praktischen Schwierigkeiten bei der Anwendung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in Griechenland hingewiesen wurde, die an den zuständigen belgischen Minister gesandten Schreiben des UN‑Flüchtlingskommissariats, aber auch die Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und die Vorschläge zur Überarbeitung der Verordnung Nr. 343/2003 zwecks der Steigerung der Wirksamkeit dieses Systems und der Stärkung des tatsächlichen Grundrechtsschutzes (Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland, §§ 347 bis 350) berücksichtigt.

91      Anders als die belgische, die italienische und die polnische Regierung geltend machen, nach deren Ansicht die Mitgliedstaaten nicht über geeignete Instrumente verfügen, um die Beachtung der Grundrechte durch den zuständigen Mitgliedstaat und damit die tatsächlichen Risiken für einen Asylbewerber im Fall seiner Überstellung an diesen Mitgliedstaat zu beurteilen, sind somit Informationen wie die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeführten geeignet, die Mitgliedstaaten in die Lage zu versetzen, sich ein Bild über das Funktionieren des Asylsystems im zuständigen Mitgliedstaat zu machen, das die Bewertung solcher Risiken ermöglicht.

92      Zu betonen ist die Erheblichkeit der von der Kommission stammenden Berichte und Änderungsvorschläge zur Verordnung Nr. 343/2003, deren Existenz dem Mitgliedstaat, der die Überstellung vorzunehmen hat, in Anbetracht seiner Teilnahme an den Arbeiten des Rates der Europäischen Union, der einer der Adressaten dieser Dokumente ist, nicht unbekannt sein kann.

93      Außerdem gilt nach Art. 80 AEUV für die Asylpolitik und ihre Umsetzung der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht. Die Richtlinie 2001/55 ist ein Beispiel für diese Solidarität, doch sollen ihre Solidaritätsmechanismen, wie in der mündlichen Verhandlung dargelegt worden ist, den ganz außergewöhnlichen Situationen vorbehalten sein, die ihr Anwendungsbereich erfasst, d. h. den Fällen eines Massenzustroms von Vertriebenen.

94      Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.

95      Zu der Frage, ob der Mitgliedstaat, der die Überstellung des Asylbewerbers an den Mitgliedstaat, der gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 als „zuständig“ bestimmt worden ist, nicht durchführen kann, den Antrag selbst prüfen muss, ist darauf hinzuweisen, dass Kapitel III dieser Verordnung eine Reihe von Kriterien aufstellt und diese Kriterien nach Art. 5 Abs. 1 der Verordnung in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung finden.

96      Ist die Überstellung eines Antragstellers an Griechenland, wenn dieser Staat nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der nachrangigen Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.

97      Lässt sich anhand der Kriterien der Verordnung Nr. 343/2003 nicht bestimmen, welchem Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags obliegt, so ist nach Art. 13 dieser Verordnung der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

98      Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der dessen Grundrechte verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst prüfen.

99      Nach alledem ist, wie von der Generalanwältin in Nr. 131 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache C‑411/10 ausgeführt, eine Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 auf der Grundlage einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers in dem für die Entscheidung über seinen Antrag normalerweise zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 unvereinbar.

100    Außerdem könnte, wie N. S. geltend gemacht hat, die Verordnung Nr. 343/2003, wenn sie eine unwiderlegbare Vermutung der Beachtung der Grundrechte aufstellen würde, selbst als eine Regelung angesehen werden, die die Garantien in Frage stellt, mit denen der Schutz und die Beachtung der Grundrechte durch die Union und ihre Mitgliedstaaten sichergestellt werden sollen.

101    Dies wäre insbesondere bei einer Bestimmung, nach der bestimmte Staaten in Bezug auf die Beachtung der Grundrechte „sichere Staaten“ sind, der Fall, wenn sie als unwiderlegbare Vermutung ausgelegt werden müsste, die jeden Gegenbeweis ausschließt.

102    Insoweit ist festzustellen, dass Art. 36 der Richtlinie 2005/85, der das europäische Konzept der sicheren Drittstaaten betrifft, in Abs. 2 Buchst. a und c vorsieht, dass ein Drittstaat nur dann als „sicherer Drittstaat“ betrachtet werden kann, wenn er die Genfer Flüchtlingskonvention und die EMRK nicht nur ratifiziert hat, sondern ihre Bestimmungen auch einhält.

103    Eine solche Formulierung weist darauf hin, dass die bloße Ratifizierung der Konventionen durch einen Staat nicht eine unwiderlegbare Vermutung ihrer Einhaltung durch diesen Staat zur Folge haben kann. Dieser Grundsatz gilt sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für Drittstaaten.

104    Unter diesen Umständen muss die oben in Randnr. 80 festgestellte Vermutung der menschenrechtskonformen Behandlung von Asylbewerbern, die dem einschlägigen Regelwerk zugrunde liegt, als widerlegbar angesehen werden.

105    In Anbetracht dessen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass das Unionsrecht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegensteht, dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet.

106    Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden.

107    Ist die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat der Union, wenn dieser Staat nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.

108    Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst prüfen.

 Zur fünften Frage in der Rechtssache C‑411/10

109    Mit seiner fünften Frage in der Rechtssache C‑411/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen wissen, ob der Schutz, der einer von der Verordnung Nr. 343/2003 erfassten Person durch die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere durch die Art. 1, 18 und 47 der Charta, die die Menschenwürde, das Asylrecht und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betreffen, gewährt wird, weiter reicht als der Schutz nach Art. 3 EMRK.

110    Nach Ansicht der Kommission muss die Antwort auf diese Frage ermöglichen, die Bestimmungen der Charta zu ermitteln, deren Verletzung durch den zuständigen Mitgliedstaat eine Sekundärzuständigkeit des Mitgliedstaats, der über die Überstellung zu entscheiden hat, nach sich zieht.

111    Tatsächlich lässt die Vorlageentscheidung, auch wenn der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) darin nicht ausdrücklich begründet hat, inwieweit die Beantwortung der Frage für den Erlass seines Urteils erforderlich ist, doch erkennen, dass sich diese Frage durch die Entscheidung vom 2. Dezember 2008, K.R.S/Vereinigtes Königreich (noch nicht im Recueil des arrêts et décisions veröffentlicht), erklärt, mit der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde für unzulässig erklärt hat, mit der gerügt wurde, dass bei Überstellung des Beschwerdeführers vom Vereinigten Königreich an Griechenland die Art. 3 und 13 der EMRK verletzt würden. Vor dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) haben manche Beteiligte geltend gemacht, dass der Grundrechtsschutz nach der Charta weiter reiche als der nach der EMRK und dass die Berücksichtigung der Charta zur Folge haben müsse, dass ihrem Antrag auf Nichtüberstellung des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens an Griechenland stattgegeben werde.

112    Seit dem Ergehen der Vorlageentscheidung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seinen Standpunkt im Licht neuer Beweise überprüft und im Urteil M.S.S./Belgien und Griechenland nicht nur entschieden, dass die Hellenische Republik wegen der Haft- und Existenzbedingungen des Beschwerdeführers in Griechenland gegen Art. 3 EMRK sowie wegen der Mängel des den Beschwerdeführer betreffenden Asylverfahrens gegen Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 3 EMRK verstoßen habe, sondern auch, dass das Königreich Belgien gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe, weil es den Beschwerdeführer Risiken im Zusammenhang mit den Mängeln des Asylverfahrens in Griechenland und Haft- und Existenzbedingungen in Griechenland, die diesem Artikel zuwiderliefen, ausgesetzt habe.

113    Wie sich aus Randnr. 106 des vorliegenden Urteils ergibt, verstieße ein Mitgliedstaat gegen Art. 4 der Charta, wenn er einen Asylbewerber unter den oben in Randnr. 94 beschriebenen Umständen an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 überstellte.

114    Es ist nicht ersichtlich, dass die Art. 1, 18 und 47 der Charta zu einer anderen Antwort führen können, als sie auf die Fragen 2, 3, 4 und 6 in der Rechtssache C‑411/10 und die beiden Fragen in der Rechtssache C‑493/10 gegeben worden ist.

115    Deshalb ist auf die fünfte Frage in der Rechtssache C‑411/10 zu antworten, dass die Art. 1, 18 und 47 der Charta nicht zu einer anderen Antwort führen, als sie auf die Fragen 2, 3, 4 und 6 in der Rechtssache C‑411/10 und die beiden Fragen in der Rechtssache C‑493/10 gegeben worden ist.

 Zur siebten Frage in der Rechtssache C‑411/10

116    Mit seiner siebten Frage in der Rechtssache C‑411/10 möchte der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) im Wesentlichen wissen, ob, soweit sich die Fragen 2 bis 6 in Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs stellen, die Berücksichtigung des Protokolls (Nr. 30) in irgendeiner Weise Einfluss auf die Beantwortung dieser Fragen hat.

117    Wie von der EHRC vorgetragen, geht diese Frage auf den Standpunkt des Secretary of State vor dem High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) zurück, wonach die Bestimmungen der Charta im Vereinigten Königreich nicht anwendbar seien.

118    Auch wenn der Secretary of State diesen Standpunkt vor dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) nicht mehr vertreten hat, ist darauf hinzuweisen, dass das Protokoll (Nr. 30) in Art. 1 Abs. 1 vorsieht, dass die Charta keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs oder eines Gerichts der Republik Polen oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung bewirkt, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen der Republik Polen oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen.

119    Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, wie die Generalanwältin insbesondere in den Nrn. 169 und 170 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache C‑411/10 ausgeführt hat, dass das Protokoll (Nr. 30) nicht die Geltung der Charta für das Vereinigte Königreich oder für Polen in Frage stellt, was in den Erwägungsgründen des Protokolls Bestätigung findet. So sieht nach dem dritten Erwägungsgrund des Protokolls (Nr. 30) Art. 6 EUV vor, dass die Charta von den Gerichten der Republik Polen und des Vereinigten Königreichs strikt im Einklang mit den in jenem Artikel erwähnten Erläuterungen anzuwenden und auszulegen ist. Außerdem bekräftigt die Charta nach dem sechsten Erwägungsgrund dieses Protokolls die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze und macht diese Rechte besser sichtbar, schafft aber keine neuen Rechte oder Grundsätze.

120    Unter diesen Umständen verdeutlicht Art. 1 Abs. 1 des Protokolls (Nr. 30) Art. 51 der Charta über deren Anwendungsbereich und bezweckt weder, die Republik Polen und das Vereinigte Königreich von der Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen der Charta freizustellen, noch, ein Gericht eines dieser Mitgliedstaaten daran zu hindern, für die Einhaltung dieser Bestimmungen zu sorgen.

121    Da die in den Ausgangsverfahren betroffenen Rechte nicht unter Titel IV der Charta fallen, kann die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 des Protokolls (Nr. 30) dahingestellt bleiben.

122    Deshalb ist auf die siebte Frage in der Rechtssache C‑411/10 zu antworten, dass, soweit sich die davor gestellten Fragen in Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs stellen, die Berücksichtigung des Protokolls (Nr. 30) keinen Einfluss auf die Beantwortung der Fragen 2 bis 6 in der Rechtssache C‑411/10 hat.

 Kosten

123    Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Für die Zwecke von Art. 6 EUV und/oder Art. 51 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird mit der Entscheidung, die ein Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, darüber trifft, ob er einen Asylantrag prüft, für den er in Ansehung der Kriterien des Kapitels III dieser Verordnung nicht zuständig ist, das Unionsrecht durchgeführt.

2.      Das Unionsrecht steht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegen, dass der im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet.

Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden

Ist die Überstellung eines Antragstellers an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, wenn dieser Staat nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung Nr. 343/2003 als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt worden ist, nicht möglich, so hat der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, vorbehaltlich der Befugnis, den Antrag im Sinne des Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung selbst zu prüfen, die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines der weiteren Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.

Der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst prüfen.

3.      Die Art. 1, 18 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union führen nicht zu einer anderen Antwort.

4.      Soweit sich die vorstehend beantworteten Fragen in Bezug auf Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland stellen, hat die Berücksichtigung des Protokolls (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Republik Polen und das Vereinigte Königreich keinen Einfluss auf die Beantwortung der Fragen 2 bis 6 in der Rechtssache C‑411/10.

Unterschriften


*Verfahrenssprache: Englisch.