Language of document : ECLI:EU:C:2012:124

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 6. März 2012(1)

Rechtssache C‑364/10

Ungarn

gegen

Slowakische Republik

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 259 AEUV – Art. 21 Abs. 1 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen – Einreiseverbot in die Slowakische Republik für den Präsidenten Ungarns – Anwendung des Unionsrechts auf Staatsoberhäupter – Missbrauch des Unionsrechts“






I –    Tatsächlicher und rechtlicher Zusammenhang der Klage

1.        Die vorliegende Vertragsverletzungsklage ist von Ungarn gemäß Art. 259 AEUV am 8. Juli 2010 eingereicht worden. Dieser Mitgliedstaat beantragt,

–        festzustellen, dass die Slowakische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG(2) und aus Art. 21 Abs. 1 AEUV verstoßen hat, dass sie dem Präsidenten Ungarns, László Sólyom, am 21. August 2009 die Einreise in ihr Hoheitsgebiet nicht gestattete und sich dabei auf die Richtlinie 2004/38 berufen hat, ohne deren Bestimmungen zu beachten;

–        festzustellen, dass der bis zur Klageerhebung vertretene Standpunkt der Slowakischen Republik gegen das Recht der Europäischen Union, konkret gegen Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 21 Abs. 1 AEUV, verstößt, soweit sie es als mit der Richtlinie 2004/38 vereinbar ansieht, einem Vertreter Ungarns, wie dem Präsidenten dieses Mitgliedstaats, die Einreise in slowakisches Hoheitsgebiet zu versagen, und auf diese Weise die Möglichkeit aufrechterhält, dieses rechtswidrige Verhalten zu wiederholen;

–        festzustellen, dass die Slowakische Republik das Unionsrecht missbräuchlich angewandt hat, als die staatlichen Behörden Präsident Sólyom am 21. August 2009 die Einreise in ihr Hoheitsgebiet nicht gestatteten, und,

–        falls der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38 durch eine konkrete Vorschrift des Völkerrechts beschränkt werden könnte, den Umfang und die Auswirkungen solcher Ausnahmen zu nennen.

2.        Der Sachverhalt, der dem Rechtsstreit zwischen Ungarn und der Slowakischen Republik zugrunde liegt, kann wie folgt zusammengefasst werden.

3.        Auf Einladung einer Vereinigung mit Sitz in der Slowakei beabsichtigte der Präsident Ungarns, Herr Sólyom, am 21. August 2009 in die Stadt Komárno (Slowakei) zu reisen, um an der Feier zur Einweihung einer Statue des Heiligen Stephan teilzunehmen.

4.        Zum Verständnis der Umstände dieses Besuchs ist insbesondere daran zu erinnern, dass der 20. August in Ungarn ein Nationalfeiertag ist zum Gedenken an den Heiligen Stephan, Gründer und erster König des ungarischen Staates. Zum anderen ist der 21. August in der Slowakei ein heikles Datum, da am 21. August 1968 die Truppen des Warschauer Paktes unter Beteiligung der ungarischen Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten.

5.        Nach mehreren diplomatischen Kontakten zwischen den Botschaften der beiden Mitgliedstaaten im Hinblick auf den geplanten Besuch von Präsident Sólyom erließen die drei höchsten Vertreter der Slowakischen Republik, nämlich Präsident Gašparovič, Premierminister Fico und Parlamentspräsident Paška eine gemeinsame Erklärung, in der sie darauf hinwiesen, dass der Besuch von Präsident Sólyom als unpassend angesehen werde, insbesondere da er nicht den Wunsch geäußert habe, slowakische Persönlichkeiten zu treffen, und da der 21. August besonders heikel sei.

6.        Nach weiteren diplomatischen Kontakten äußerte Präsident Sólyom den Wunsch, an seinem Besuch festzuhalten.

7.        Mit Verbalnote vom 21. August 2009 informierte der slowakische Außenminister den ungarischen Botschafter in Bratislava (Slowakei), dass die slowakischen Behörden entschieden hätten, dem Präsidenten auf der Grundlage der Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 und des innerstaatlichen Rechts über den Aufenthalt von Ausländern und die nationale Polizei die Einreise in slowakisches Hoheitsgebiet an diesem Tag wegen Sicherheitsrisiken zu versagen.

8.        Als Präsident Sólyom auf dem Weg in die Slowakei über den Wortlaut dieser Note informiert wurde, bestätigte er deren Empfang an der Grenze und verzichtete darauf, in slowakisches Hoheitsgebiet einzureisen.

9.        Mit Note vom 24. August 2009 bestritten die ungarischen Behörden u. a., dass die Richtlinie 2004/38 eine gültige Rechtsgrundlage sein könne, die die Weigerung der Slowakischen Republik, Präsident Sólyom die Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu gestatten, rechtfertigen könne. Sie stellten auch fest, dass die Entscheidung über das Einreiseverbot nicht ausreichend begründet gewesen sei. Deshalb habe die Slowakische Republik diese Maßnahme unter Verstoß gegen das Unionsrecht erlassen.

10.      Bei einem Treffen am 10. September 2009 in Szécsény (Ungarn), nahmen der ungarische und der slowakische Premierminister eine gemeinsame Erklärung an, in der sie ihren jeweiligen Standpunkt zu den rechtlichen Aspekten der streitigen Entscheidung beibehielten und gleichzeitig ihr Bedauern über die Umstände der Reise von Präsident Sólyom zum Ausdruck brachten. Bei dieser Gelegenheit wurde auch ein Aide-Mémoire angenommen, um für die Zukunft bestimmte praktische Fragen der Durchführung von offiziellen Staatsbesuchen und nichtoffiziellen Besuchen in den beiden Staaten zu klären.

11.      Mit Note vom 17. September 2009 antworteten die slowakischen Behörden auf die Note vom 24. August 2009 und wiesen darauf hin, dass im Hinblick auf die Umstände des Vorfalls die Anwendung der Richtlinie 2004/38 die allerletzte Möglichkeit gewesen sei, Präsident Sólyom daran zu hindern, in das Hoheitsgebiet der Slowakischen Republik einzureisen, und dass sie keinesfalls unter Verstoß gegen das Unionsrecht gehandelt hätten.

12.      In der Zwischenzeit hatte sich der ungarische Außenminister am 3. September 2009 in einem Schreiben an Herrn Barrot, Vizepräsident der Europäischen Kommission, gewandt, in dem er um die Meinung der Kommission zu einer eventuellen Verletzung des Unionsrechts durch die Slowakische Republik bat.

13.      In seinem Antwortschreiben vom 10. September 2009 führte Herr Barrot aus, dass gemäß der Richtlinie 2004/38 jede Beschränkung der Freizügigkeit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren habe, dass für eine solche Beschränkung gemäß Art. 27 Abs. 2 dieser Richtlinie ausschließlich das Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein dürfe und dass sie dem Betroffenen in der in Art. 30 dieser Richtlinie genannten Form unter genauer und umfassender Angabe der Gründe mitgeteilt werden müsse. Weiter führte er aus, dass es in erster Linie Sache der nationalen Gerichte sei, auf die Anwendung der Richtlinie 2004/38 zu achten. Es sei alles daran zu setzen, dass sich eine solche Situation nicht wiederhole, und er sei zuversichtlich, dass der Streit durch einen konstruktiven bilateralen Dialog zwischen den beiden Mitgliedstaaten beigelegt werden könne.

14.      Am 12. Oktober 2009 richtete der ungarische Außenminister im Namen Ungarns eine Beschwerde an den Präsidenten der Kommission und beantragte, dass diese die Möglichkeit prüfe, gegen die Slowakische Republik ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV wegen eines Verstoßes gegen Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 einzuleiten.

15.      Mit Schreiben vom 11. Dezember 2009 bestätigte die Kommission, dass „die Unionsbürger nach Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 das Recht haben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“. Sie führte weiter aus, dass sich „die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Völkerrechts das Recht vorbehalten, die Kontrolle über die Einreise eines Staatsoberhaupts auszuüben, unabhängig davon, ob dieses Staatsoberhaupt Unionsbürger ist oder nicht“. Nach ihrer Ansicht werden offizielle Staatsbesuche auf bilateralem Weg über politische Kanäle organisiert, so dass sich dieser Bereich der Anwendung des Unionsrechts entziehe. Ein Staatsoberhaupt könne zwar einen anderen Mitgliedstaat auch als Privatperson gemäß Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 besuchen, den der Beschwerde des ungarischen Außenministers beigefügten Unterlagen sei jedoch zu entnehmen, dass Ungarn und die Slowakische Republik unterschiedlicher Meinung über den privaten oder offiziellen Charakter des beabsichtigten Besuchs seien. Die Kommission war folglich der Ansicht, dass sie keine Verletzung der Vorschriften des Unionsrechts über die Freizügigkeit der Unionsbürger durch die Slowakische Republik feststellen könne, auch wenn sich die Slowakische Republik in ihrer Verbalnote vom 21. August 2009 zu Unrecht auf die Richtlinie 2004/38 und die zu ihrer Umsetzung in nationales Recht erlassenen Vorschriften berufen habe.

16.      Der slowakische Außenminister kommentierte am 16. Dezember 2009 die Stellungnahme der Kommission mit dem Hinweis, dass „dies aus Sicht der [Slowakischen Republik] bedeutet, dass wir Recht haben und dass wir überlegt handeln und uns nicht bei der ganzen Welt beschweren, dass jemand die europäischen Vorschriften verletze, ohne zu wissen, wovon wir sprechen“. Er betonte, dass „es gut ist, dass Ungarn wie wir selbst und die Kommission die Sache für erledigt hält“. Er fügte noch hinzu, dass Bratislava das Schreiben der Kommission als Bestätigung dafür ansehe, dass sein Standpunkt korrekt sei.

17.      Am 15. März 2010 gab der slowakische Premierminister als Reaktion auf eine Äußerung von Präsident Sólyom zum Sprachunterricht an Grundschulen eine öffentliche Erklärung ab, in der er ausführte, dass „unter diesen Umständen das Einreiseverbot für Herrn … Sólyom vom 21. August 2009 vollkommen gerechtfertigt war. Unseres Erachtens gilt dies heute noch mehr als damals.“

18.      Am 30. März 2010 befasste Ungarn die Kommission gemäß Art. 259 AEUV mit der Sache. Am 30. April 2010 übermittelte die Slowakische Republik ihre Stellungnahme. Schließlich äußerten sich beide Mitgliedstaaten am 12. Mai 2010 in einer von der Kommission vorbereiteten Anhörung.

19.      In ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 24. Juni 2010 war die Kommission der Ansicht, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV und die Richtlinie 2004/38 nicht auf Besuche eines Staatsoberhaupts in einem anderen Mitgliedstaat anwendbar seien und dass der Vorwurf einer Vertragsverletzung unter diesen Umständen nicht begründet sei.

20.      Am 8. Juli 2010 hat Ungarn die vorliegende Klage erhoben. Die Slowakische Republik beantragt, die Klage abzuweisen und Ungarn die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

21.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 28. Januar 2011 ist die Kommission als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Slowakischen Republik zugelassen worden.

22.      Ungarn, die Slowakische Republik und die Kommission haben in der Sitzung vom 1. Februar 2012 mündlich verhandelt.

II – Wesentliche Argumente der Verfahrensbeteiligten

23.      Die Slowakische Republik weist vorab darauf hin, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs, über die vorliegende Rechtssache zu entscheiden, bezweifle, da das Unionsrecht auf einen Sachverhalt wie im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei.

24.      Ungarn, das in diesem Punkt von der Kommission unterstützt wird, ist dagegen der Ansicht, dass, da sich die Mitgliedstaaten nach Art. 344 AEUV verpflichtet hätten, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als darin vorgesehen zu regeln, der Gerichtshof allein zuständig sei, über einen Rechtsstreit zwischen zwei Mitgliedstaaten über die Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden. Insbesondere könne ein Mitgliedstaat, der der Ansicht sei, ein anderer Mitgliedstaat habe gegen das Unionsrecht verstoßen, entweder die Kommission bitten, eine Vertragsverletzungsklage gemäß Art. 258 AEUV einzureichen, oder den Gerichtshof gemäß Art. 259 AEUV unmittelbar anrufen.

25.      Zur Begründetheit formuliert Ungarn vier Rügen gegen die Slowakische Republik.

26.      In seiner ersten Rüge führt es aus, die Slowakische Republik habe dadurch, dass sie Präsident Sólyom die Einreise in ihr Hoheitsgebiet untersagt habe, gegen Art. 21 Abs. 1 AEUV und die Richtlinie 2004/38 verstoßen.

27.      Zum Nachweis der Anwendbarkeit des Unionsrechts im vorliegenden Fall macht Ungarn insbesondere geltend, die Richtlinie gelte für jeden Unionsbürger, einschließlich der Staatsoberhäupter, und für alle Arten von Besuchen, d. h. sowohl für offizielle als auch private Besuche.

28.      Sie führt weiter aus, wenn das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union die Ausübung des Freizügigkeitsrechts dem Völkerrecht hätten unterstellen wollen, hätten sie dies wie z. B. in Art. 3 Abs. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen(3) vorgesehen. Außerdem gebe es im Völkerrecht keine Normen, die die Einreise von Staatsoberhäuptern in das Hoheitsgebiet anderer Staaten regelten. In Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach der Unionsgesetzgeber das Völkerrecht zu beachten habe(4), wären solche Normen, wenn sie existierten, in der Richtlinie 2004/38 berücksichtigt worden. Selbst wenn man annehme, dass solche Normen existierten, könnte deren Anwendung nach Ansicht Ungarns jedenfalls nicht die Wirksamkeit einer Unionsregelung wie der Richtlinie 2004/38 gefährden, indem eine Ausnahme im persönlichen Geltungsbereich dieser Richtlinie geschaffen werde(5).

29.      Ungarn trägt vor, die Staatsoberhäupter der Mitgliedstaaten seien während ihrer Amtszeit auch Unionsbürger, so dass die bloße Tatsache, dass das Völkerrecht Personen, die die Aufgabe eines Staatsoberhaupts ausübten, Vorrechte und Befreiungen gewähre, um die Wahrnehmung dieser Aufgabe zu erleichtern, weder zu einer Aufhebung noch zu einer Aussetzung der Rechte und Pflichten, die nach dem EU-Vertrag mit der Unionsbürgerschaft verknüpft seien, führe. Diese Vorrechte und Befreiungen seien vielmehr zusätzliche Rechte für Staatsoberhäupter und seien den mit der Unionsbürgerschaft verknüpften Rechten und Pflichten hinzuzufügen, anstatt diese zu beschränken.

30.      Ungarn macht ferner geltend, der Umfang des Rechts eines jeden Unionsbürgers, sich innerhalb der Union frei zu bewegen, könne nicht restriktiv ausgelegt werden, so dass dieses Recht nur den Beschränkungen unterliege, die ausnahmsweise in der Richtlinie 2004/38 vorgesehen seien. Diese Beschränkungen könnten jedoch nur angewandt werden, wenn die materiell- und verfahrensrechtlichen Bedingungen, die diese Richtlinie vorsehe, erfüllt seien.

31.      Was aber die materiell-rechtlichen Bedingungen betreffe, räume Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, restriktive Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit zu erlassen, wenn ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sei. Außerdem könnten diese Beschränkungen nur angewandt werden, wenn das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Was die Verfahrensvoraussetzungen betreffe, nenne Art. 30 dieser Richtlinie die Garantien, die jeder Unionsbürger genieße, dessen Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt werde, und die insbesondere die Mitteilung der Gründe für jede restriktive Maßnahme und die Rechtsbehelfsmöglichkeiten beträfen.

32.      Nach Ansicht Ungarns hat die Slowakische Republik beim Verbot der Einreise von Herrn Sólyom weder die materiellen noch die verfahrensrechtlichen Bedingungen der Richtlinie 2004/38 beachtet. Zum einen habe Herr Sólyom nämlich keine Gefahr für irgendein Grundinteresse der Gesellschaft dargestellt, und ein Einreiseverbot sei auf alle Fälle eine unverhältnismäßige Maßnahme. Zum anderen seien ihm die Gründe für die Entscheidung und seine Rechtsbehelfsmöglichkeiten nicht mitgeteilt worden.

33.      Die Slowakische Republik führt wie die Kommission zunächst aus, der geplante Besuch von Herrn Sólyom sei ein öffentlicher und kein privater Besuch gewesen und deshalb sei die wesentliche Frage des Rechtsstreits diejenige, ob das Unionsrecht und insbesondere Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 für Staatsoberhäupter der Mitgliedstaaten gelte.

34.      Die Slowakische Republik ist insoweit der Ansicht, dass im Hinblick auf die Aufgabe der Staatsoberhäupter ihre Reisen innerhalb der Union in den Bereich der diplomatischen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten fielen, wie sie durch das Völkergewohnheitsrecht und durch Übereinkommen bestimmt würden(6). Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, der sich aus Art. 4 Abs. 1 EUV und Art. 5 EUV ergebe, schließe bilaterale diplomatische Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten vom Geltungsbereich des Unionsrechts aus. Dies werde zunächst durch das Urteil vom 22. März 2007, Kommission/Belgien(7), bestätigt, nach dem die Möglichkeit, ihre diplomatischen Beziehungen zu regeln, selbst nach dem Beitritt zur Union bei den Mitgliedstaaten verbleibe. Außerdem weise keine Bestimmung der Verträge der Union ausdrücklich die Zuständigkeit zu, die diplomatischen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu regeln. Da das Staatsoberhaupt Inhaber der Souveränität des Staates sei, den er führe, könne es sich in einen anderen souveränen Staat nur mit Wissen und mit der Zustimmung dieses Staates begeben. Insoweit bestimme Art. 4 Abs. 2 EUV, dass „die Union … die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität [achtet]“ und dass der Grundsatz des freien Verkehrs keinesfalls eine Änderung des Geltungsbereichs des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder des Sekundärrechts nach sich ziehen könne.

35.      Hinsichtlich des Vorbringens Ungarns zur Anwendbarkeit des Unionsrechts im vorliegenden Fall erwidert die Slowakische Republik erstens, der Umstand, dass die Richtlinie 2004/38 keine Ausnahme für die Freizügigkeit der Staatsoberhäupter vorsehe, bedeute nicht, dass sie auf diese anwendbar sei, da die Anwendbarkeit des Unionsrechts auf Staatsoberhäupter durch die Verträge selbst ausgeschlossen sei. Zweitens widerspricht die Slowakische Republik ebenso wie die Kommission dem Vergleich der Richtlinie 2004/38 mit der Richtlinie 2003/109, da der Gegenstand dieser beiden Rechtstexte verschieden sei. Drittens ergebe sich aus den Urteilen Poulsen und Diva Navigation sowie Racke keine Pflicht des Unionsgesetzgebers, für jeden Rechtsakt des Sekundärrechts den sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich der Verträge im Zusammenhang mit dem Völkerrecht anzugeben. Schließlich seien viertens die Urteile RTE und ITP/Kommission sowie Bogiatzi nur relevant, wenn die Zuständigkeit der Union nicht bestritten werde, was im vorliegenden Fall gerade nicht zutreffe.

36.      Ließe man im Übrigen die Anwendung des Unionsrechts bei Umständen wie im vorliegenden Fall zu, käme das Staatsoberhaupt eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat in den Genuss der Privilegien auf der Grundlage des Unionsrechts und wäre gleichzeitig durch die im Völkerrecht vorgesehenen Befreiungen vor Verwaltungsentscheidungen, die dieser Staat auf der Grundlage des Unionsrechts treffe, geschützt. Die Folge davon wäre, dass ein Mitgliedstaat weder die Einreise einer solchen Person in sein Hoheitsgebiet verbieten noch, mit Rücksicht auf die Befreiungen, sie später ausweisen könnte.

37.      Selbst unter der Voraussetzung, dass das Unionsrecht im vorliegenden Fall anwendbar sei, bestreitet die Slowakische Republik jedenfalls, dieses Recht und insbesondere die Richtlinie 2004/38 angewandt zu haben. Sie ist insoweit der Ansicht, dass die Verbalnote vom 21. August 2009, in der auf die Richtlinie 2004/38 Bezug genommen werde, im Rahmen der diplomatischen Kontakte zur Vorbereitung des geplanten Besuchs von Herrn Sólyom zu sehen und deshalb keine „Entscheidung“ im Sinne dieser Richtlinie sei. Dies gelte umso mehr, als diese Note nicht von einem Beamten des Grenzschutzes, sondern vom Außenminister verfasst worden sei, d. h. von einem Organ, das offensichtlich unzuständig gewesen sei, eine solche Entscheidung auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 zu treffen. Außerdem sei die Note keineswegs an Herrn Sólyom gerichtet, sondern auf diplomatischem Weg Ungarn übermittelt worden.

38.      Die Slowakische Republik macht ferner geltend, die unglückliche Formulierung und die rechtlich unerhebliche Erwähnung der Richtlinie 2004/38 in der Verbalnote vom 21. August 2009 bewirke nicht die materielle Geltung dieser Richtlinie für den vorliegenden Fall. Die in dieser Note enthaltene Bezugnahme auf die genannte Richtlinie, die die ungarischen Behörden auf eine potenzielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit hinweisen sollte, sei unpassend gewesen.

39.      Mit seiner zweiten Rüge macht Ungarn geltend, es bestehe die Gefahr, dass die Slowakische Republik in der Zukunft den Verstoß gegen Art. 3 EUV und Art. 21 AEUV sowie gegen die Richtlinie 2004/38 wiederhole. Eine solche Gefahr werde insbesondere durch mehrere Erklärungen der slowakischen Behörden bestätigt, darunter insbesondere diejenigen des slowakischen Außenministers vom 16. Dezember 2009 und des slowakischen Premierministers vom 15. März 2010, nach denen ihr Verhalten gegenüber dem Präsidenten Ungarns das Unionsrecht nicht verletzt habe.

40.      Da die Slowakische Republik jede Verletzung des Unionsrechts, im Wesentlichen wegen seiner Unanwendbarkeit im vorliegenden Fall, bestreitet, ist sie der Ansicht, dass als logische Folge keinerlei Wiederholungsgefahr bestehe. Auf alle Fälle stütze sich der zweite Klagegrund nur auf ein mögliches und künftiges Verhalten der slowakischen Behörden. Außerdem handele es sich bei den Punkten, auf die Ungarn diese Rüge stütze, um Erklärungen, die nach der Note vom 21. August 2009 abgegeben worden seien und deren Berücksichtigung im vorliegenden Verfahren das Verteidigungsrecht der Slowakischen Republik verletzen würde. Schließlich beruft sich die Slowakische Republik darauf, dass sich die Beziehungen zwischen den beiden Staaten seit dem streitigen Vorfall deutlich verbessert hätten, und sie weist die Möglichkeit einer künftigen Wiederholung eines vergleichbaren Missverständnisses zurück.

41.      Mit seiner dritten Rüge macht Ungarn geltend, nicht nur das Verhalten der slowakischen Behörden habe gegen die Richtlinie 2004/38 verstoßen, sondern schon die Tatsache, dass die Verbalnote vom 21. August 2009 auf diese Richtlinie gestützt worden sei, falle unter den Begriff des Rechtsmissbrauchs, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofs definiert werde (u. a. im Urteil vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke(8)). In Wirklichkeit hätten sich diese Behörden auf die Richtlinie berufen, um politische Ziele zu verfolgen.

42.      Der Rückgriff auf das Unionsrecht, um eine politische Feindseligkeit mit Beschränkungen der Freizügigkeit der Bürger auszudrücken, verstößt nach Ansicht Ungarns gegen die grundlegendsten Werte der Union. Auch sei es nicht möglich, die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit, die in der Richtlinie 2004/38 genannt würden, zur Verfolgung politischer Ziele geltend zu machen. Würde man ein solches Verhalten als mit dem Unionsrecht vereinbar ansehen, würde künftig nichts die anderen Mitgliedstaaten daran hindern, ihre bilateralen Streitigkeiten unter Berufung auf das Unionsrecht zu regeln, was offensichtlich den Zielen dieses Rechts widerspreche.

43.      Die Slowakische Republik erwidert, ein Missbrauch des Unionsrechts liege nicht vor, da dieses Recht auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei.

44.      Auf alle Fälle müssten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (insbesondere im Urteil Emsland-Stärke) für die Feststellung eines Rechtsmissbrauchs zwei Elemente vorliegen, nämlich ein objektives Element, das darin bestehe, dass die Unionsregelung für andere Zwecke als die ihr eigenen benutzt werde, und ein subjektives Element, das die Absicht betreffe, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen würden. Die Slowakische Republik bestreitet, dass diese beiden Elemente im vorliegenden Fall gegeben sind, da das Unionsrecht nicht anwendbar sei und da sie nicht beabsichtigt habe, einen Vorteil zu erlangen.

45.      Mit seiner vierten und letzten Rüge macht Ungarn geltend, der Gerichtshof müsse, falls er entscheiden sollte, dass im vorliegenden Fall das Völkerrecht und nicht das Unionsrecht gelte, auch den persönlichen Anwendungsbereich dieser Regeln präzisieren, um die Grenzen für die Anwendung des Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 klarzustellen. Insbesondere müsse der Gerichtshof präzisieren, ob diese Grenzen nur Staatsoberhäupter beträfen oder auch andere Kategorien von Unionsbürgern.

46.      Nach Ansicht der Slowakischen Republik hat die Frage, welche Personen außer den Staatsoberhäuptern nicht in den Anwendungsbereich von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38 fallen, keinerlei Auswirkungen auf das Ergebnis des Rechtsstreits.

III – Würdigung

47.      Zunächst weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof meines Erachtens für die Entscheidung über diese Klage selbstverständlich zuständig ist, da dem Rechtsstreit zwischen Ungarn und der Slowakischen Republik der Vorwurf eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zugrunde liegt. Der Gerichtshof ist im Rahmen dieser Klage aufgefordert, die Tragweite der Regeln über die Unionsbürgerschaft zu bestimmen und insbesondere zu entscheiden, ob das Staatsoberhaupt eines Mitgliedstaats bei seinen öffentlichen Reisen in das Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als Unionsbürger angesehen werden kann. Es entspricht Art. 344 AEUV, dass ein Streit über die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des AEU-Vertrags, die sich auf die Unionsbürgerschaft beziehen, vom Gerichtshof im Rahmen eines der Verfahren, die in diesem Vertrag vorgesehen sind, im vorliegenden Fall Art. 259 AEUV, entschieden werden.

48.      Zur Begründetheit weise ich vorab darauf hin, dass der geplante Besuch von Herrn Sólyom angesichts der damit zusammenhängenden objektiven Umstände, wie sie sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Stellungnahmen ergeben, als Besuch öffentlicher Natur anzusehen ist. Es steht nämlich fest, dass Herr Sólyom beabsichtigte, in die Stadt Komárno zu reisen, um dort an der Einweihung eines Denkmals teilzunehmen, das ein Symbol darstellt, das mit der Geschichte des ungarischen Staates verbunden ist, und dass er dort bei dieser Gelegenheit eine Rede halten sollte. Es geht hier somit nicht um einen Besuch in rein privatem Interesse, auch nicht um eine inkognito durchgeführte Reise, da die slowakischen Behörden wiederholt auf diplomatischem Weg über diesen Besuch in Kenntnis gesetzt wurden.

49.      Daraus folgt, dass Herr Sólyom sich in Ausübung seiner Funktion als Präsident Ungarns und nicht nur in seiner Eigenschaft als Unionsbürger in die Stadt Komárno begeben wollte.

50.      Zwar wird der Verkehr der Unionsbürger zwischen den Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht, insbesondere durch Art. 21 AEUV und durch die Richtlinie 2004/38 geregelt, dies gilt jedoch nicht für die Besuche von Staatsoberhäuptern in den Mitgliedstaaten.

51.      Art. 5 Abs. 2 EUV bestimmt: „Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten.“(9) Da die Verträge zur Frage der Einreise von Staatsoberhäuptern in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten schweigen, schließe ich daraus, dass es sich um eine bei den Mitgliedstaaten verbliebene Zuständigkeit handelt.

52.      Im Übrigen hat der Gerichtshof in seinem Urteil Kommission/Belgien zum Wiener Übereinkommen von 1961 ausgeführt, dass dieses Übereinkommen „ein völkerrechtliches Abkommen ist, das die Mitgliedstaaten und Drittstaaten im Rahmen ihrer Zuständigkeit für ihre diplomatischen Beziehungen[(10)] untereinander geschlossen haben“(11), und dass es „grundsätzlich die bilateralen Beziehungen zwischen Staaten [betrifft]“(12). Daraus folgt, dass der Bereich der diplomatischen Beziehungen in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten unter Beachtung des Völkerrechts verbleibt. Dies gilt meines Erachtens ebenso für die Reisen der Staatsoberhäupter der Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten unter Umständen, wie sie in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehen.

53.      Ich teile die Ansicht Ungarns nicht, dass der Status eines Unionsbürgers und die Rechte und Pflichten, die sich daraus ergeben, über dem Status der Staatsoberhäupter der Mitgliedstaaten stehen müsse, so dass ihnen auf alle Fälle Freizügigkeit innerhalb der Union zu gewähren sei. Ein so weites Verständnis der Bedeutung der Unionsbürgerschaft würde dazu führen, die Zuständigkeiten der Union in einer Weise auszudehnen, die mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nicht vereinbar sind.

54.      Zudem handelt es sich dabei um eine Sicht, die die Besonderheiten der Position der Staatsoberhäupter nicht berücksichtigt. Diese liegt insbesondere in ihrer Eigenschaft als oberstes Organ des Staates, das diesen auf internationaler Ebene vertritt, personifiziert und verpflichtet(13). Diese besondere Position bewirkt auf anschauliche Art und Weise, dass ein Staatsoberhaupt, wenn es im Rahmen eines öffentlichen Besuchs reist, sich niemals ganz und gar als Privatmann bewegen kann, da der Staat, der ihn empfängt, vor allem das Gemeinwesen aufnimmt, das er vertritt.

55.      Es existiert aktuell zwar kein internationales Übereinkommen, das den Status von Staatsoberhäuptern im Völkerrecht allgemein definiert und insbesondere die Frage ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet der Staaten behandelt, dennoch kommt den Staatsoberhäuptern nach dem Völkerrecht eine Stellung zu, die mit keiner anderen vergleichbar ist und gewiss nicht mit der eines Unionsbürgers, der sich aus rein privaten Gründen in einen anderen Staat begeben möchte.

56.      Die Sonderbehandlung, die das Völkerrecht Staatsoberhäuptern vorbehält, ergibt sich zum großen Teil aus dem Völkergewohnheitsrecht sowie in einem kleineren Umfang und in Bezug auf bestimmte besondere Aspekte aus internationalen Übereinkommen(14). Diese Sonderbehandlung betrifft den Schutz, die Erleichterungen, die Vorrechte und die Befreiungen, die ihnen gewährt werden(15).

57.      Die Stellung eines Staatsoberhaupts als höchster Vertreter des Staates und der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten sprechen meines Erachtens für das Gegenteil der von Ungarn vertretenen Ansicht, nämlich für die Ansicht, dass Besuche von Staatsoberhäuptern innerhalb der Mitgliedstaaten der Union im Einvernehmen mit dem Aufnahmestaat(16) und nach den von diesem im Rahmen seiner Zuständigkeit definierten Modalitäten erfolgen und nicht als Freizügigkeit verstanden werden können.

58.      Allerdings dürfen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit im Bereich der Diplomatie, wie jede bei ihnen verbliebene Zuständigkeit, nicht in einer Weise ausüben, die zu einem dauerhaften Bruch der diplomatischen Beziehungen zwischen zwei Mitgliedstaaten führen könnte. Ein solcher Bruch wäre in der Tat nicht mit dem Integrationsprozess vereinbar, der nach dem Wortlaut der Präambel des EU-Vertrags auf die „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ gerichtet ist, und würde ein Hindernis für die Verwirklichung der wesentlichen Ziele der Union, darunter das der Förderung des Friedens, darstellen.

59.      Nur ein andauernder Stillstand der diplomatischen Beziehungen zwischen zwei Mitgliedstaaten entgegen der von ihnen eingegangenen Verpflichtung, gutnachbarliche Beziehungen zu unterhalten, die ein wesentlicher Punkt ihrer Entscheidung, der Union beizutreten, ist, fällt unter das Unionsrecht, nicht zuletzt deshalb, weil die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV alle Maßnahmen unterlassen müssen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.

60.      Eine solche Situation ist hier offensichtlich nicht gegeben, was u. a. durch das Treffen zwischen dem ungarischen und dem slowakischen Premierminister bestätigt wird, das am 10. September 2009, d. h. einige Tage nach dem Vorfall, der dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegt, stattgefunden hat(17). Bei dieser Gelegenheit wiederholten sie ihre Verpflichtung, alle Artikel des am 19. März 1995 in Paris unterzeichneten Vertrags über die gutnachbarlichen Beziehungen und die freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ungarn und der Slowakischen Republik(18) zu beachten und anzuwenden.

61.      Da es folglich nicht die Aufgabe des Unionsrechts ist, den Vorfall vom 21. August 2009 zu regeln, bin ich der Ansicht, dass eine Vertragsverletzung nach Art. 259 AEUV nicht festgestellt werden kann.

62.      Die Prüfung der Rüge, nach der die slowakische Regierung einen Rechtsmissbrauch begangen habe, indem sie sich in ihrer Verbalnote vom 21. August 2009 insbesondere auf die Richtlinie 2004/38 gestützt habe, um Präsident Sólyom die Einreise in ihr Hoheitsgebiet zu versagen, kann meines Erachtens dieses Ergebnis nicht ändern.

63.      Der Standpunkt der Slowakischen Republik zu dieser Frage ist unverändert. Sie räumt ein, dass der Hinweis auf die Richtlinie 2004/38 in dieser Verbalnote unpassend gewesen sei, was ich unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen nur gutheißen kann. Ich kann daraus jedoch nicht ableiten, dass es sich dabei um einen Rechtsmissbrauch im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs handelt, der das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements erfordert(19).

64.      Den Stellungnahmen, die dem Gerichtshof vorgelegt worden sind, ist zu entnehmen, dass diese Verbalnote von Seiten der Slowakischen Republik nach mehreren Versuchen auf dem diplomatischem Weg das letzte Mittel war, um auszudrücken, dass sie mit dem geplanten Besuch von Herrn Sólyom zu einem Zeitpunkt, den sie als heikel ansah, nicht einverstanden war. Es scheint, dass der Bezugnahme auf die Richtlinie 2004/38 in der genannten Note Erwägungen zur öffentlichen Sicherheit zugrunde lagen(20). Da diese Richtlinie solche Erwägungen erfasst, insbesondere in ihrem Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1, und der geplante Besuch von Herrn Sólyom unter Berücksichtigung des mit diesem Besuch verbundenen politischen Kontexts vernünftigerweise eine Prüfung im Bereich der öffentlichen Sicherheit erforderlich machen konnte, ist es meines Erachtens nicht erwiesen, dass die Slowakische Republik durch die Bezugnahme auf die Richtlinie 2004/38 in der Verbalnote vom 21. August 2009 einen Rechtsmissbrauch begangen hat.

65.      Schließlich weise ich in Beantwortung der letzten Rüge Ungarns darauf hin, dass, da der vorliegende Rechtsstreit nur den Besuch eines Staatsoberhaupts betrifft, im Rahmen dieses Verfahrens nicht weiter zu untersuchen ist, wie die Lage bei Unionsbürgern wäre, die andere offizielle Funktionen ausüben.

IV – Ergebnis

66.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

–        die Klage abzuweisen und

–        Ungarn die Kosten aufzuerlegen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 158, S. 77, und Berichtigungen ABl. L 229, S. 35, und ABl. 2005, L 197, S. 34.


3 –      ABl. 2004, L 16, S. 44.


4 –      Ungarn führt insoweit die Urteile vom 24. November 1992, Poulsen und Diva Navigation (C‑286/90, Slg. 1992, I‑6019, Randnr. 9), und vom 16. Juni 1998, Racke (C‑162/96, Slg. 1998, I‑3655, Randnr. 45), an.


5 – Ungarn stützt sich auf die Urteile vom 6. April 1995, RTE und ITP/Kommission (C‑241/91 P und C‑242/91 P, Slg. 1995, I‑743, Randnr. 84), und vom 22. Oktober 2009, Bogiatzi (C‑301/08, Slg. 2009, I‑10185, Randnr. 19), in denen der Gerichtshof entschieden hat, dass „die Bestimmungen einer vor Inkrafttreten des Vertrags geschlossenen Übereinkunft in den innergemeinschaftlichen Beziehungen nicht geltend gemacht werden [können]“. Dieser Mitgliedstaat trägt vor, dieses Ergebnis gelte auch für die Regeln, die das Völkergewohnheitsrecht enthalte.


6 – Die Slowakische Republik bezieht sich insbesondere auf das Wiener Übereinkommen vom 18. April 1961 über diplomatische Beziehungen (im Folgenden: Wiener Übereinkommen von 1961), auf das Wiener Übereinkommen vom 24. April 1963 über konsularische Beziehungen, das Wiener Übereinkommen vom 14. März 1975 über die Vertretung der Staaten in ihren Beziehungen zu internationalen Organisationen universellen Charakters, das Übereinkommen über Sondermissionen, angenommen von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 8. Dezember 1969 (im Folgenden: Übereinkommen über Sondermissionen), sowie das Übereinkommen vom 14. Dezember 1973 über die Verhütung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten, A/RES/3166 (XXVIII) (BGBl. II 1976, S. 1745).


7 –      C‑437/04, Slg. 2007, I‑2513.


8 –      C‑110/99, Slg. 2000, I‑11569.


9 – Im selben Sinne Art. 4 Abs. 1 EUV.


10 –      Hervorhebung nur hier.


11 –      Randnr. 33.


12 –      Ebd.


13 – Siehe Salmon, J., „Représentativité internationale et chef d’État“, Le chef d’État et le droit international Colloque de Clermont-Ferrand/Société française pour le droit international, Pedone, Paris, 2002, S. 155.


14 – Vgl. u. a. das Übereinkommen über Sondermissionen und das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung von Straftaten gegen völkerrechtlich geschützte Personen einschließlich Diplomaten, in Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge angeführt.


15 – Vgl. hierzu Watts, A., „Heads of State“, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Nrn. 12 bis 20; Oppenheim’s International Law, 9. Ausgabe, Bd. 1, Peace, § 451 f., und Cosnard, M., „Les immunités du chef d’État“, Le chef d’État et le droit international, colloque de Clermont-Ferrand, Société française de droit international, a. a. O., S. 189.


16 – Man findet diesen Verweis auf das „Einvernehmen“ in mehreren internationalen Übereinkommen, u. a. in Art. 2 des Wiener Übereinkommens von 1961, in Art. 2 Abs. 1 und 2 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen vom 24. April 1963 sowie in den Art. 1 Buchst. a, 2 bis 6 und 18 des Übereinkommens über Sondermissionen.


17 –      Vgl. Nr. 10 der vorliegenden Schlussanträge.


18 – Der Wortlaut dieses Übereinkommens kann u. a. in der Revue générale de droit international public, Éditions A. Pedone, Paris, 1995, S. 525, eingesehen werden.


19 –      Vgl. Urteil Emsland-Stärke (Randnrn. 52 und 53).


20 – Siehe Nr. 57 der Klagebeantwortung der Slowakischen Republik sowie den Wortlaut der Verbalnote vom 21. August 2009 selbst, der auf die Berücksichtigung von Gefahren für die Sicherheit hinweist.