Language of document : ECLI:EU:C:2013:107

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

26. Februar 2013(*)

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen ist – Vollstreckung einer in Abwesenheit verhängten Strafe – Möglichkeit einer Überprüfung des Urteils“

In der Rechtssache C‑399/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Constitucional (Spanien) mit Entscheidung vom 9. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juli 2011, in dem Verfahren

Stefano Melloni

gegen

Ministerio Fiscal

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, A. Rosas und E. Jarašiūnas sowie der Richter E. Levits, A. Ó Caoimh, J.‑C. Bonichot, M. Safjan (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juli 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Melloni, vertreten durch L. Casaubón Carles, abogado,

–        des Ministerio Fiscal, vertreten durch J. M. Caballero Sánchez-Izquierdo,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Kemper und T. Henze als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer und C. Wissels als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte,

–        des Rates der Europäischen Union, vertreten durch P. Plaza García und T. Blanchet als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral, H. Krämer und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Oktober 2012

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung und gegebenenfalls die Gültigkeit von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584). Außerdem wird der Gerichtshof darum ersucht, gegebenenfalls zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen Verletzung der in der nationalen Verfassung garantierten Grundrechte des Betroffenen verweigern kann.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Melloni und dem Ministerio Fiscal über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der von den italienischen Behörden zur Vollstreckung der in Abwesenheit gegen ihn ergangenen Verurteilung zu einer Haftstrafe ausgestellt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Charta

3        Art. 47 Abs. 2 der Charta bestimmt:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.“

4        Art. 48 Abs. 2 der Charta lautet:

„Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.“

5        Art. 52 Abs. 3 der Charta sieht vor:

„Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete] Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [im Folgenden: EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“

6        Art. 53 („Schutzniveau“) der Charta lautet:

„Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch die internationalen Übereinkünfte, bei denen die [Europäische] Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die [EMRK], sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden.“

 Rahmenbeschlüsse 2002/584 und 2009/299

7        In Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

8        Art. 5 des Rahmenbeschlusses sah in seiner ursprünglichen Fassung vor:

„Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden:

1.      Ist der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Strafe oder einer Maßregel der Sicherung ausgestellt worden, die in einem Abwesenheitsurteil verhängt worden ist, und ist die betroffene Person nicht persönlich vorgeladen oder nicht auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zum Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden, so kann die Übergabe an die Bedingung geknüpft werden, dass die ausstellende Justizbehörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, im Ausstellungsmitgliedstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen und bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein.

…“

9        Im Rahmenbeschluss 2009/299 werden die Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgeführt, wenn die betroffene Person zu ihrer Verhandlung nicht erschienen ist. In seinen Erwägungsgründen 1 bis 4 sowie 10 heißt es:

„(1)      Das Recht eines Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, ist Teil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 der [EMRK] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Gerichtshof hat aber auch darauf hingewiesen, dass das Recht des Angeklagten, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen, nicht absolut ist und dass der Angeklagte unter bestimmten Bedingungen aus freiem Willen ausdrücklich oder stillschweigend aber eindeutig auf das besagte Recht verzichten kann.

(2)      In den verschiedenen Rahmenbeschlüssen, mit denen der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung rechtskräftiger Entscheidungen umgesetzt wird, wird die Frage der Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, nicht einheitlich behandelt. Diese Uneinheitlichkeit könnte die Arbeit der Praktiker erschweren und die justizielle Zusammenarbeit behindern.

(3)      … Gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI … kann die vollstreckende Behörde verlangen, dass die ausstellende Behörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, im Ausstellungsmitgliedstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen und anwesend zu sein, wenn die Entscheidung ergeht. Die Frage, ob diese Zusicherung als ausreichend zu erachten ist, ist von der vollstreckenden Behörde zu entscheiden, und es ist daher schwierig, genau zu wissen, wann eine Vollstreckung verweigert werden kann.

(4)      Es muss daher eine präzise und einheitliche Grundlage für die Nichtanerkennung von Entscheidungen geschaffen werden, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist. Diese einheitliche Grundlage soll mit diesem Rahmenbeschluss geschaffen werden, damit die vollstreckende Behörde die Entscheidung unter uneingeschränkter Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person auch dann vollstrecken kann, wenn die Person nicht zur Verhandlung erschienen ist. Dieser Rahmenbeschluss soll nicht regeln, welche Mittel und Wege, einschließlich verfahrensrechtlicher Vorschriften, zur Verwirklichung der darin festgelegten Ziele zu wählen sind; dies bleibt dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten vorbehalten.

(10)      Die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, sollte nicht verweigert werden, wenn die betroffene Person in Kenntnis der anberaumten Verhandlung in dieser durch einen Rechtsbeistand verteidigt wurde, dem sie ein entsprechendes Mandat erteilt hat, wobei gewährleistet ist, dass die rechtliche Unterstützung zweckmäßig und effektiv ist. In diesem Zusammenhang sollte es keine Rolle spielen, ob der Rechtsbeistand von der betroffenen Person gewählt, bestellt und vergütet wurde oder ob er vom Staat bestellt und vergütet wurde, wobei davon auszugehen ist, dass die betroffene Person sich bewusst dafür entschieden haben sollte, von einem Rechtsbeistand vertreten zu werden, statt persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen. …“

10      Art. 1 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2009/299 lautet:

„(1)      Die Ziele dieses Rahmenbeschlusses bestehen darin, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern.

(2)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des [EU-Vertrags in seiner Fassung vor dem Vertrag von Lissabon] einschließlich des Verteidigungsrechts von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist; die Verpflichtungen der Justizbehörden in dieser Hinsicht bleiben unberührt.“

11      Durch Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2009/299 wurde Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgehoben und in diesen ein Art. 4a eingefügt, der sich auf Entscheidungen bezieht, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist. Dieser Art. 4a bestimmt:

„(1)      Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a)      rechtzeitig

i)      entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii)      davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

oder

b)      in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist;

oder

c)      nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

i)      ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

ii)      innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

oder

d)      die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber

i)      sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann;

und

ii)      von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.

…“

12      In Art. 8 Abs. 1 bis 3 des Rahmenbeschlusses 2009/299 heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um diesem Rahmenbeschluss bis zum 28. März 2011 nachzukommen.

(2)      Dieser Rahmenbeschluss findet ab dem in Absatz 1 genannten Zeitpunkt Anwendung auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war.

(3)      Erklärt ein Mitgliedstaat bei der Annahme dieses Rahmenbeschlusses, dass er aus schwer wiegenden Gründen vermutlich nicht in der Lage sein wird, diesem Rahmenbeschluss bis zu dem in Absatz 1 genannten Zeitpunkt nachzukommen, so findet dieser Rahmenbeschluss spätestens ab dem 1. Januar 2014 Anwendung auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen der zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war. …“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13      Mit Beschluss vom 1. Oktober 1996 erklärte die Erste Kammer des Strafsenats der Audiencia Nacional (Spanien) die Auslieferung von Herrn Melloni nach Italien zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen ihn wegen der Handlungen, die in den Haftbefehlen 554/1993 und 444/1993 des Tribunale di Ferrara (Italien) vom 13. Mai und 15. Juni 1993 beschrieben waren, für zulässig. Nachdem Herrn Melloni gegen eine Kaution von 5 000 000 ESP, die er am 30. April 1996 leistete, die Freilassung gewährt worden war, wurde er flüchtig, so dass er nicht den italienischen Behörden übergeben werden konnte.

14      Mit Beschluss vom 27. März 1997 stellte das Tribunale di Ferrara das Nichterscheinen von Herrn Melloni fest und ordnete an, die weiteren Zustellungen an die von ihm benannten Vertrauensanwälte vorzunehmen. Mit Urteil des Tribunale di Ferrara vom 21. Juni 2000, das später durch Urteil der Corte d’appello di Bologna (Italien) vom 14. März 2003 bestätigt wurde, wurde Herr Melloni in Abwesenheit wegen betrügerischen Konkurses zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt. Mit Urteil der Fünften Strafkammer der Corte suprema di cassazione (Italien) vom 7. Juni 2004 wurde das Rechtsmittel der Anwälte von Herrn Melloni zurückgewiesen. Am 8. Juni 2004 stellte der Generalstaatsanwalt der Republik bei der Corte d’appello di Bologna den Europäischen Haftbefehl Nr. 271/2004 zur Vollstreckung des vom Tribunale di Ferrara erlassenen Urteils aus.

15      Nach der Festnahme von Herrn Melloni durch die spanische Polizei am 1. August 2008 legte das Juzgado Central de Instrucción Nr. 6 (Spanien) den Europäischen Haftbefehl mit Beschluss vom 2. August 2008 der Sección Primera de la Sala de lo Penal de la Audiencia Nacional vor.

16      Herr Melloni widersprach seiner Übergabe an die italienischen Behörden, da er erstens im Berufungsverfahren einen anderen Rechtsanwalt beauftragt habe als die beiden Anwälte, die ihn vertreten hätten, und Letztere von ihrem Mandat entbunden habe, die italienischen Behörden aber trotzdem die Zustellungen weiterhin an diese beiden Anwälte vorgenommen hätten, und zweitens das italienische Prozessrecht nicht die Möglichkeit vorsehe, in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilungen anzufechten, weshalb die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegebenenfalls unter die Bedingung gestellt werden müsse, dass die Italienische Republik die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsmittels gegen seine Verurteilung gewährleiste.

17      Mit Beschluss vom 12. September 2008 gestattete die Sección Primera de la Sala de lo Penal de la Audiencia Nacional die Übergabe von Herrn Melloni an die italienischen Behörden zur Vollstreckung der gegen ihn vom Tribunale di Ferrara wegen betrügerischen Konkurses verhängten Strafe, da zum einen nicht erwiesen sei, dass die Rechtsanwälte, die er beauftragt habe, ihn seit 2001 nicht mehr vertreten hätten, und zum anderen die Verteidigungsrechte gewahrt worden seien, da ihm die bevorstehende Durchführung des Gerichtsverfahrens bekannt gewesen sei, er aus freien Stücken nicht vor Gericht erschienen sei und für seine Vertretung und Verteidigung zwei Anwälte benannt habe, die in dieser Eigenschaft im ersten Rechtszug, im Berufungsverfahren und im Kassationsverfahren tätig geworden seien und damit den Rechtsweg ausgeschöpft hätten.

18      Herr Melloni legte gegen diesen Beschluss beim Tribunal Constitucional einen „recurso de amparo“ (Verfassungsbeschwerde) ein. Zur Stützung seines Rechtsbehelfs machte er eine indirekte Verletzung der sich aus dem in Art. 24 Abs. 2 der spanischen Verfassung verankerten Recht auf ein faires Verfahren ergebenden absoluten Gebote geltend. Denn es sei der Wesensgehalt des fairen Verfahrens in einer die Menschenwürde berührenden Weise beeinträchtigt, da die Auslieferung in Staaten gestattet werde, die in Fällen sehr schwerer Straftaten in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilungen für gültig erklärten, ohne dass die Übergabe des Verurteilten unter der Bedingung stehe, dass solche Verurteilungen zur Wahrung der Verteidigungsrechte angefochten werden könnten.

19      Mit Beschluss vom 18. September 2008 erklärte die Erste Kammer des Tribunal Constitucional den „recurso de amparo“ für zulässig und setzte die Vollziehung des Beschlusses vom 12. September 2008 aus. Mit Beschluss vom 1. März 2011 zog das Plenum des Tribunal Constitucional die Entscheidung über dieses Rechtsmittel an sich.

20      Das vorlegende Gericht räumt ein, dass es in seinem Urteil Nr. 91/2000 vom 30. März 2000 festgestellt habe, dass der bindende Inhalt der Grundrechte begrenzter sei, wenn es um die Auslandswirkung gehe; dabei könnten nur die grundlegendsten und elementarsten Gebote aus Art. 24 der spanischen Verfassung hergeleitet und bei der Beurteilung der Frage, ob eine indirekte Verfassungswidrigkeit vorliege, berücksichtigt werden. Gleichwohl stelle die Entscheidung der spanischen Gerichte, die Auslieferung in Staaten zu gestatten, die in Fällen sehr schwerer Straftaten in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilungen für gültig erklärten, ohne dass die Übergabe des Verurteilten unter der Bedingung stehe, dass dieser die Verurteilung zur Wahrung der Verteidigungsrechte anfechten könne, eine „indirekte“ Verletzung der rechtlichen Anforderungen an ein faires Verfahren dar, da sie den Wesensgehalt eines fairen Verfahrens in einer Weise beeinträchtige, die die Menschenwürde berühre.

21      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass diese nationale Rechtsprechung aus zwei Gründen auch für das durch den Rahmenbeschluss 2002/584 geschaffene Übergabeverfahren gelte: Erstens gehöre die an die Übergabe eines Verurteilten geknüpfte Bedingung zum Wesensgehalt des verfassungsmäßigen Rechts auf ein faires Verfahren. Zweitens sehe Art. 5 Nr. 1 dieses Rahmenbeschlusses in der seinerzeit geltenden Fassung die Möglichkeit vor, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Verbüßung einer in Abwesenheit ausgesprochenen Strafe erlassen worden sei, „nach dem Recht des vollstreckenden Mitgliedstaats“ u. a. an die Bedingung geknüpft werden könne, „dass die ausstellende Justizbehörde eine als ausreichend erachtete Zusicherung gibt, wonach die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, die Möglichkeit haben wird, im Ausstellungsmitgliedstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens zur Wahrung der Verteidigungsrechte in diesem Staat zu beantragen und bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein“ (Urteil Nr. 177/2006 des Tribunal Constitucional vom 5. Juni 2006).

22      Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es mit seinem Urteil Nr. 199/2009 vom 28. September 2009 einem „recurso de amparo“ gegen einen Beschluss über die Übergabe des Betroffenen an Rumänien in Vollziehung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Haftstrafe von vier Jahren, die in Abwesenheit des Betroffenen ausgesprochen worden sei, stattgegeben habe, ohne dass auf das Erfordernis hingewiesen worden sei, dass die fragliche Verurteilung überprüft werden könne. Dabei sei in diesem Urteil die Argumentation der Audiencia Nacional zurückgewiesen worden, wonach in Wirklichkeit keine Verurteilung in Abwesenheit vorgelegen habe, da der Beschwerdeführer einen Rechtsanwalt beauftragt gehabt habe, der in dem Prozess als von ihm privat bevollmächtigter Verteidiger aufgetreten sei.

23      Nach Ansicht des Tribunal Constitucional rührt die Schwierigkeit daher, dass durch den Rahmenbeschluss 2009/299 Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgehoben und ein Art. 4a in diesen eingefügt worden sei. Nach diesem Art. 4a sei es unzulässig, „die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls [zu] verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat“, sofern sie „in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist“. In der dem vorliegenden verfassungsgerichtlichen Verfahren bei dem vorlegenden Gericht zugrunde liegenden Rechtssache stellt Letzteres fest, dass Herr Melloni ein Mandat an zwei Rechtsanwälte seines Vertrauens erteilt habe, die das Tribunale di Ferrara über die bevorstehende Durchführung der Verhandlung unterrichtet habe, so dass er von dieser Kenntnis gehabt habe. Außerdem stehe fest, dass Herr Melloni in der Verhandlung im ersten Rechtszug ebenso wie in den späteren Verfahren der Berufung und Kassation von diesen beiden Anwälten tatsächlich verteidigt worden sei.

24      Nach Auffassung des Tribunal Constitucional stellt sich somit die Frage, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 es den spanischen Gerichten verbietet, die Übergabe von Herrn Melloni an die Bedingung zu knüpfen, dass die in Frage stehende Verurteilung überprüft werden kann.

25      Das vorlegende Gericht weist in diesem Zusammenhang das Vorbringen des Ministerio Fiscal zurück, wonach ein Vorabentscheidungsersuchen nicht erforderlich sei, weil der Rahmenbeschluss 2009/299 in zeitlicher Hinsicht auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar sei. In diesem gehe es nämlich nicht darum, zu bestimmen, ob der Beschluss vom 12. September 2008 gegen diesen Rahmenbeschluss verstoße, sondern darum, ob er das durch Art. 24 Abs. 2 der spanischen Verfassung geschützte Recht auf ein faires Verfahren indirekt verletzt habe. Der Rahmenbeschluss sei bei der Bestimmung des Inhalts dieses Rechts, das Auslandswirkungen entfalte, zu berücksichtigen, da er das im Zeitpunkt der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses geltende Unionsrecht darstelle. Diese Berücksichtigung sei auch durch den Grundsatz geboten, wonach das nationale Recht rahmenbeschlusskonform auszulegen sei (vgl. Urteil vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, Slg. 2005, I‑5285, Randnr. 43).

26      Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Constitucional beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI in seiner durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI geänderten geltenden Fassung dahin auszulegen, dass er die nationalen Justizbehörden unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen daran hindert, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls von der Bedingung abhängig zu machen, dass die in Frage stehende Verurteilung überprüft werden kann, um die Verteidigungsrechte der gesuchten Person zu gewährleisten?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Ist Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI mit den Erfordernissen vereinbar, die sich aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta sowie aus den durch deren Art. 48 Abs. 2 garantierten Verteidigungsrechten ergeben?

3.      Falls die zweite Frage bejaht wird: Gestattet Art. 53 bei seiner systematischen Auslegung in Verbindung mit den in den Art. 47 und 48 der Charta anerkannten Rechten es einem Mitgliedstaat, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung, dass die Verurteilung in dem ersuchenden Staat einer Überprüfung unterworfen werden kann, abhängig zu machen und damit diesen Rechten ein höheres Schutzniveau zu verleihen als das sich aus dem Recht der Europäischen Union ergebende, um eine Auslegung zu vermeiden, die ein in der Verfassung dieses Mitgliedstaats anerkanntes Grundrecht einschränkt oder verletzt?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

27      Einige Beteiligte, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, vertreten die Auffassung, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, da Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 in zeitlicher Hinsicht auf das Übergabeverfahren des Beschwerdeführers des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar sei. Der 12. September 2008, an dem der Beschluss ergangen sei, mit dem die Audiencia Nacional entschieden habe, dass der Beschwerdeführer an die italienischen Behörden übergeben werden solle, liege vor dem in Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/299 festgelegten Ablauf von dessen Umsetzungsfrist am 28. März 2011. Überdies habe die Italienische Republik jedenfalls auch von der Option des Art. 8 Abs. 3 Gebrauch gemacht, wonach die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2009/299 auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen der zuständigen italienischen Behörden, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war, bis zum 1. Januar 2014 verschoben werden. Die Voraussetzungen für die Übergabe von Herrn Melloni durch die spanischen Behörden an die italienischen Behörden bestimmten sich folglich weiterhin nach Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584.

28      Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteil vom 8. September 2011, Paint Graphos u. a., C‑78/08 bis C‑80/08, Slg. 2011, I‑7611, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen kann nur ausnahmsweise widerlegt werden, wenn die erbetene Auslegung der in den Fragen genannten Vorschriften des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Paint Graphos u. a., Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Im vorliegenden Fall steht die Auslegung von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584, um die das vorlegende Gericht ersucht, nicht offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits oder betrifft ein Problem hypothetischer Natur.

31      Was die zeitliche Anwendbarkeit von Art. 4a des Rahmenbeschlusses angeht, ist erstens festzustellen, dass der Rahmenbeschluss 2009/299 nach dem Wortlaut seines Art. 8 Abs. 2 ab dem 28. März 2011 „auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war [, Anwendung findet]“, ohne dass danach unterschieden wird, ob die Entscheidungen vor oder nach diesem Zeitpunkt ergangen sind.

32      Die grammatikalische Auslegung wird dadurch bestätigt, dass Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584, der als verfahrensrechtliche Vorschrift einzuordnen ist (vgl. entsprechend Urteile vom 1. Juli 2004, Tsapalos und Diamantakis, C‑361/02 und C‑362/02, Slg. 2004, I‑6405, Randnr. 20, sowie vom 12. August 2008, Santesteban Goicoechea, C‑296/08 PPU, Slg. 2008, I‑6307, Randnr. 80), auf das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Übergabeverfahren des Beschwerdeführers, das noch immer nicht abgeschlossen ist, Anwendung finden soll. Nach ständiger Rechtsprechung sind Verfahrensvorschriften nämlich im Allgemeinen auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar, während materiell-rechtliche Vorschriften gewöhnlich so ausgelegt werden, dass sie nicht für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte gelten (vgl. u. a. Urteile vom 12. November 1981, Meridionale Industria Salumi u. a., 212/80 bis 217/80, Slg. 1981, 2735, Randnr. 9; vom 28. Juni 2007, Dell’Orto, C‑467/05, Slg. 2007, I‑5557, Randnr. 48, und Santesteban Goicoechea, Randnr. 80).

33      Zweitens kann die Tatsache, dass die Italienische Republik erklärt hat, von der Möglichkeit des Art. 8 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2009/299, dessen Anwendung auf die Anerkennung und Durchführung von Entscheidungen der zuständigen italienischen Behörden, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war, bis spätestens zum 1. Januar 2014 zu verschieben, Gebrauch zu machen, nicht zur Unzulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens führen. Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass das vorlegende Gericht zur Auslegung der Grundrechte, die in der spanischen Verfassung gemäß den vom Königreich Spanien ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen anerkannt sind, die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts heranziehen möchte, um den Wesensgehalt des durch Art. 24 Abs. 2 dieser Verfassung garantierten Rechts auf ein faires Verfahren zu bestimmen.

34      Nach alledem ist das vom Tribunal Constitucional eingereichte Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zur Beantwortung der Fragen

 Zur ersten Frage

35      Mit seiner ersten Frage möchte das Tribunal Constitucional wissen, ob Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er die vollstreckende Justizbehörde unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen daran hindert, die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls von der Bedingung abhängig zu machen, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden kann.

36      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584, wie sich insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie seinen Erwägungsgründen 5 und 7 ergibt, das multilaterale System der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden von verurteilten oder verdächtigen Personen zur Vollstreckung strafrechtlicher Urteile oder zur Strafverfolgung auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung ersetzen soll (vgl. Urteil vom 29. Januar 2013, Radu, C‑396/11, Randnr. 33).

37      Der Rahmenbeschluss 2002/584 ist daher darauf gerichtet, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (Urteil Radu, Randnr. 34).

38      Nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Die Mitgliedstaaten können nämlich nach den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls nur in den Fällen ablehnen, in denen sie gemäß Art. 3 des Rahmenbeschlusses abzulehnen ist oder gemäß Art. 4 oder 4a des Rahmenbeschlusses abgelehnt werden kann. Außerdem kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur an die in Art. 5 des Rahmenbeschlusses angeführten Bedingungen knüpfen (Urteil Radu, Randnrn. 35 und 36).

39      Zur Bestimmung der Tragweite von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, der Gegenstand der vorliegenden Frage ist, sind Wortlaut, Systematik und Zweck zu prüfen.

40      Aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt sich, dass diese Bestimmung einen fakultativen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls vorsieht, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Verurteilung geführt hat. Von dieser Möglichkeit bestehen jedoch vier Ausnahmen, bei denen die vollstreckende Justizbehörde nicht die Wahl hat, die Vollstreckung des betreffenden Europäischen Haftbefehls abzulehnen. Daraus ergibt sich, dass Art. 4a Abs. 1 die vollstreckende Justizbehörde in diesen vier Fällen daran hindert, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Möglichkeit einer Überprüfung der Verurteilung in ihrer Anwesenheit abhängig zu machen.

41      Diese grammatikalische Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wird durch die Prüfung der Systematik dieser Bestimmung bestätigt. Mit dem Rahmenbeschluss 2009/299 soll zum einen Art. 5 Nr. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgehoben werden, wonach die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer in Abwesenheit verhängten Strafe unter bestimmten Voraussetzungen an die Bedingung geknüpft werden konnte, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine Wiederaufnahme des Verfahrens in Anwesenheit der betroffenen Person gewährleistet ist, und zum anderen diese Bestimmung durch Art. 4a ersetzt werden. Dieser schränkt nunmehr die Möglichkeit ein, die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls abzulehnen, indem er, wie es im sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2009/299 heißt, die Bedingungen angibt, „unter denen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, nicht [verweigert werden dürfen]“.

42      Insbesondere sieht Art. 4a Abs. 1 Buchst. a und b des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Wesentlichen vor, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn der in Abwesenheit Verurteilte von der anberaumten Verhandlung rechtzeitig Kenntnis hatte und davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn er zu der Verhandlung nicht erscheint, oder in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand erteilt hat, ihn zu verteidigen, diese Person zu übergeben hat, so dass sie diese Übergabe nicht von der Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens im Ausstellungsmitgliedstaat in Anwesenheit der Person abhängig machen kann.

43      Diese Auslegung von Art. 4a wird auch durch die vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele bestätigt. Sowohl aus den Erwägungsgründen 2 bis 4 als auch aus Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/299 geht hervor, dass der Unionsgesetzgeber mit dessen Erlass die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen erleichtern und die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten verbessern wollte durch eine Harmonisierung der Grundlage für die Nichtanerkennung von Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist. Wie insbesondere im vierten Erwägungsgrund hervorgehoben wird, wollte der Unionsgesetzgeber durch Schaffung dieser einheitlichen Grundlage erreichen, dass „die vollstreckende Behörde die Entscheidung unter uneingeschränkter Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person auch dann vollstrecken [kann], wenn die Person nicht zur Verhandlung erschienen ist“.

44      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 65 und 70 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die Lösung, für die sich der Unionsgesetzgeber entschieden hat, nämlich abschließend die Fälle zu bestimmen, in denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung erlassen wurde, nicht als Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte anzusehen ist, unvereinbar mit dem Fortbestand der Möglichkeit für die vollstreckende Justizbehörde, diese Vollstreckung an die Bedingung zu knüpfen, dass die in Frage stehende Verurteilung überprüft werden kann, um die Verteidigungsrechte des Betroffenen zu gewährleisten.

45      Was das Argument des vorlegenden Gerichts betrifft, wonach die Pflicht zur Achtung der Grundrechte, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt seien, es den vollstreckenden Justizbehörden erlaube, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auch in den Fällen des Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu verweigern, wenn die betroffene Person nicht die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen könne, ist festzustellen, dass es hierbei in Wirklichkeit um die Vereinbarkeit von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 mit den in der Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten geht, was Gegenstand der zweiten Frage ist.

46      Nach alledem ist Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass er die vollstreckende Justizbehörde unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen daran hindert, die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls von der Bedingung abhängig zu machen, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden kann.

 Zur zweiten Frage

47      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 mit den Erfordernissen vereinbar ist, die sich aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta sowie aus den durch deren Art. 48 Abs. 2 garantierten Verteidigungsrechten ergeben.

48      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Union gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta niedergelegt sind; nach dieser Bestimmung sind „die Charta der Grundrechte und die Verträge … rechtlich gleichrangig“.

49      Was die Tragweite des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta sowie der durch deren Art. 48 Abs. 2 garantierten Verteidigungsrechte betrifft, ist festzustellen, dass das Recht des Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, zwar ein wesentlicher Teil des Rechts auf ein faires Verfahren, aber kein absolutes Recht ist (vgl. u. a. Urteil vom 6. September 2012, Trade Agency, C‑619/10, Randnrn. 52 und 55). Der Angeklagte kann aus freiem Willen ausdrücklich oder stillschweigend darauf verzichten, vorausgesetzt, dass der Verzicht eindeutig feststeht, seiner Bedeutung entsprechende Mindestgarantien vorgesehen werden und ihm kein wichtiges öffentliches Interesse entgegensteht. Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ist, auch wenn der Angeklagte nicht persönlich erschienen sein sollte, insbesondere nicht erwiesen, wenn er von dem Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt oder durch einen Rechtsbeistand verteidigt wurde, dem er ein entsprechendes Mandat erteilt hat.

50      Diese Auslegung der Art. 47 und 48 Abs. 2 der Charta steht im Einklang mit der Tragweite, die den durch Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK garantierten Rechten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zuerkannt wurde (vgl. u. a. Urteile des EGMR vom 14. Juni 2001, Medenica/Schweiz, Beschwerde-Nr. 20491/92, §§ 56 bis 59, vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien, Beschwerde-Nr. 56581/00, Recueil des arrêts et décisions 2006‑II, §§ 84, 86 und 98, sowie vom 24. April 2012, Haralampiev/Bulgarien, Beschwerde-Nr. 29648/03, §§ 32 und 33).

51      Darüber hinaus soll die durch den Rahmenbeschluss 2009/299 bewirkte Harmonisierung der Voraussetzungen für die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, die zur Vollstreckung von Entscheidungen ausgestellt wurden, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht persönlich erschienen ist, wie aus Art. 1 des Rahmenbeschlusses hervorgeht, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, stärken und zugleich die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten verbessern.

52      Somit sind in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a und b des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Voraussetzungen festgelegt, unter denen davon auszugehen ist, dass der Betroffene aus freien Stücken eindeutig darauf verzichtet hat, dem Verfahren beizuwohnen, so dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung der Strafe der in Abwesenheit verurteilten Person nicht von der Bedingung abhängig gemacht werden kann, dass sie im Ausstellungsmitgliedstaat die Wiederaufnahme des Verfahrens in ihrer Anwesenheit beantragen kann. Das ist entweder der Fall, wenn der Betroffene, wie sich aus Abs. 1 Buchst. a ergibt, nicht persönlich zur Verhandlung erschienen ist, obwohl er persönlich vorgeladen wurde oder offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, oder wenn er sich, wie aus Abs. 1 Buchst. b hervorgeht, in Kenntnis der anberaumten Verhandlung dafür entschieden hat, von einem Rechtsbeistand vertreten zu werden, statt persönlich zu erscheinen. Was Abs. 1 Buchst. c und d betrifft, werden darin die Fälle aufgeführt, in denen die vollstreckende Justizbehörde den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken hat, obwohl die betroffene Person berechtigt ist, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, wenn aus dem Haftbefehl entweder hervorgeht, dass die Person keine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt hat oder dass sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens in Kenntnis gesetzt werden wird.

53      Daher ist festzustellen, dass durch Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 weder das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren noch die durch die Art. 47 und 48 Abs. 2 der Charta garantierten Verteidigungsrechte verletzt werden.

54      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 mit den sich aus den Art. 47 und 48 Abs. 2 der Charta ergebenden Erfordernissen vereinbar ist.

 Zur dritten Frage

55      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 53 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es dem vollstreckenden Mitgliedstaat gestattet, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, abhängig zu machen, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in seiner Verfassung garantiert sind, verletzt werden.

56      Insoweit zieht das vorlegende Gericht zunächst die Auslegung in Betracht, wonach Art. 53 der Charta es einem Mitgliedstaat generell gestatte, den in seiner Verfassung garantierten Schutzstandard für die Grundrechte anzuwenden, wenn er höher als der sich aus der Charta ergebende sei, und ihn gegebenenfalls der Anwendung unionsrechtlicher Vorschriften entgegenzuhalten. Diese Auslegung würde es einem Mitgliedstaat insbesondere erlauben, die Vollstreckung eines zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils ausgestellten Europäischen Haftbefehls an Bedingungen zu knüpfen, die eine Auslegung verhinderten, durch die die in seiner Verfassung anerkannten Grundrechte eingeschränkt oder verletzt würden, auch wenn die Anwendung dieser Bedingungen nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht zulässig wäre.

57      Einer solchen Auslegung von Art. 53 der Charta kann nicht gefolgt werden.

58      Diese Auslegung von Art. 53 der Charta würde nämlich gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen, da sie es einem Mitgliedstaat erlauben würde, die Anwendung von mit der Charta vollständig im Einklang stehenden Unionsrechtsakten zu verhindern, wenn sie den in der Verfassung dieses Staats garantierten Grundrechten nicht entsprächen.

59      Nach gefestigter Rechtsprechung kann nämlich nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der die Unionsrechtsordnung wesentlich prägt (vgl. Gutachten 1/91 vom 14. Dezember 1991, Slg. 1991, I‑6079, Randnr. 21, und 1/09 vom 8. März 2011, Slg. 2011, I‑1137, Randnr. 65), die Geltung des Unionsrechts in einem Mitgliedstaat nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass dieser Staat Vorschriften des nationalen Rechts, und haben sie auch Verfassungsrang, geltend macht (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, Slg. 1970, 1125, Randnr. 3, und vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, Slg. 2010, I‑8015, Randnr. 61).

60      Zwar bestätigt Art. 53 der Charta, dass es den nationalen Behörden und Gerichten, wenn ein Unionsrechtsakt nationale Durchführungsmaßnahmen erforderlich macht, weiterhin freisteht, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.

61      Wie sich aus Randnr. 40 des vorliegenden Urteils ergibt, haben die Mitgliedstaaten jedoch nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht die Möglichkeit, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, wenn sich der Betroffene in einer der vier in dieser Bestimmung aufgeführten Fallgestaltungen befindet.

62      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Erlass des Rahmenbeschlusses 2009/299, durch den diese Bestimmung in den Rahmenbeschluss 2002/584 eingefügt wurde, die Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war, beseitigt werden sollen, die sich daraus ergeben, dass in den Mitgliedstaaten Unterschiede im Grundrechtsschutz bestehen. Zu diesem Zweck wird in diesem Rahmenbeschluss eine Harmonisierung der Voraussetzungen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei einer Verurteilung in Abwesenheit bewirkt, die den Konsens widerspiegelt, zu dem alle Mitgliedstaaten gemeinsam in Bezug auf die Tragweite gelangt sind, die nach dem Unionsrecht den Verfahrensrechten der in Abwesenheit verurteilten Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zuzumessen ist.

63      Könnte sich ein Mitgliedstaat auf Art. 53 der Charta berufen, um die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der im Rahmenbeschluss 2009/299 nicht vorgesehenen Bedingung abhängig zu machen, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in der Verfassung des vollstreckenden Mitgliedstaats garantiert sind, verletzt werden, würde dies deshalb, indem die Einheitlichkeit des im Rahmenbeschluss festgelegten Grundrechtsschutzstandards in Frage gestellt wird, zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die der Rahmenbeschluss stärken soll, führen und daher die Wirksamkeit dieses Rahmenbeschlusses beeinträchtigen.

64      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 53 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, abhängig zu machen, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in seiner Verfassung garantiert sind, verletzt werden.

 Kosten

65      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er die vollstreckende Justizbehörde unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen daran hindert, die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls von der Bedingung abhängig zu machen, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden kann.

2.      Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist mit den sich aus den Art. 47 und 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergebenden Erfordernissen vereinbar.

3.      Art. 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person von der Bedingung, dass die Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat einer Überprüfung unterworfen werden kann, abhängig zu machen, um zu vermeiden, dass das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte, wie sie in seiner Verfassung garantiert sind, verletzt werden.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Spanisch.