Language of document : ECLI:EU:C:2013:842

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 12. Dezember 2013(1)

Rechtssache C‑456/12

O.

gegen

Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel

und

Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel

gegen

B.

Rechtssache C‑457/12

S.

gegen

Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel

und

Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel

gegen

G.


(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Niederlande])

„Recht von Nichtunionsbürgern auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes des Unionsbürgers, zu dem sie eine familiäre Bindung haben“





1.        Vier Drittstaatsangehörige (im Folgenden: O, B, S und G) haben familiäre Bindungen zu jeweils einem niederländischen Staatsangehörigen (also einem Unionsbürger), der ihre Referenzperson ist. Die Drittstaatsangehörigen beantragen einen Aufenthaltstitel in den Niederlanden, wo sich ihre jeweilige Referenzperson aufhält. In allen dieser Fälle hat sich die Referenzperson aus Arbeits- oder sonstigen Gründen in einen anderen Mitgliedstaat begeben. Der Raad van State (Niederlande) fragt den Gerichtshof im Wesentlichen, ob eine solche Bewegung genügt, um das Unionsrecht Anwendung finden zu lassen und ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Drittstaatsangehörigen in den Niederlanden zu begründen.

2.        O, B bzw. G sind mit Referenzperson O, Referenzperson B bzw. Referenzperson G verheiratet. Referenzperson O und Referenzperson B haben sich zuvor eine Zeit lang in anderen Mitgliedstaaten aufgehalten, waren dort aber nicht erwerbstätig. Referenzperson G ist bei einem belgischen Arbeitgeber angestellt und fährt jeden Tag zur Arbeit nach Belgien. G und Referenzperson G haben Kinder. S hat einen Schwiegersohn (Referenzperson S), der bei einem niederländischen Arbeitgeber angestellt ist, aber ungefähr 30 % seiner Zeit für die Vorbereitung und Durchführung von Geschäftsreisen in Belgien aufwendet. S betreut den Sohn der Referenzperson S in den Niederlanden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

3.        Art. 20 Abs. 1 AEUV führt eine Unionsbürgerschaft ein und sieht vor, dass Unionsbürger ist, „wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“. Nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a haben die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“.

4.        Art. 21 Abs. 1 AEUV fügt hinzu, dass dieses Recht „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ besteht.

5.        Art. 45 AEUV garantiert die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen“ umfasst.

6.        Nach Art. 56 Abs. 1 AEUV sind die „Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, … verboten“.

 Charta der Grundrechte der Europäischen Union

7.        In Art. 7 („Achtung des Privat- und Familienlebens“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) heißt es, dass „[j]ede Person … das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens [hat]“.

8.        In Art. 51 ist der Anwendungsbereich der Charta festgelegt:

„(1) Diese Charta gilt … für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.

…“

 Richtlinie 2004/38/EG(2)

9.        Der erste Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 entspricht inhaltlich Art. 21 Abs. 1 AEUV. Im dritten Erwägungsgrund heißt es, dass „[d]ie Unionsbürgerschaft … der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein [sollte]“, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen.

10.      Nach dem fünften Erwägungsgrund „[sollte d]as Recht aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, … wenn es unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, auch den Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit gewährt werden“.

11.      Gemäß ihrem Art. 1 Buchst. a regelt die Richtlinie 2004/38 u. a. „die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen“.

12.      „Unionsbürger“ im Sinne der Richtlinie 2004/38 ist „jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“ (Art. 2 Nr. 1), und der Ausdruck „Familienangehöriger“ umfasst „den Ehegatten“ (Art. 2 Nr. 2 Buchst. a) sowie „die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners …, denen von diesen Unterhalt gewährt wird“ (Art. 2 Nr. 2 Buchst. d). „Aufnahmemitgliedstaat“ ist der „Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben“ (Art. 2 Nr. 3).

13.      Gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2004/38 für „jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen“.

14.      Anderen Familienangehörigen, die die Bedingungen von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a erfüllen, und dem Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist, „erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat … die Einreise und den Aufenthalt“ gemäß Art. 3 Abs. 2.

15.      Art. 6 Abs. 1 schreibt für Unionsbürger ein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten vor. Sie müssen lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein, die Erfüllung weiterer Bedingungen oder Formalitäten darf nicht verlangt werden. Nach Art. 6 Abs. 2 gilt die gleiche Regelung auch „für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen“.

16.      Ein Unionsbürger und seine Familienangehörigen (die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen) haben außerdem das Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat für einen Zeitraum von über drei Monaten, sofern der Unionsbürger die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, b oder c genannten Voraussetzungen erfüllt, d. h., wenn er a) Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder c) Studierender ist und über ausreichende Existenzmittel und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt.

17.      Nach Art. 16 Abs. 1 setzt der Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt den ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat für einen Zeitraum von fünf Jahren voraus.

18.      Art. 35 erlaubt es den Mitgliedstaaten, die durch die Richtlinie 2004/38 verliehenen Rechte im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Die hierfür notwendigen Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und unterliegen den Verfahrensgarantien nach den Art. 30 und 31.

 Niederländisches Recht

19.      In der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000, im Folgenden: Vw 2000) ist der Ausdruck „Gemeinschaftsangehörige“ definiert als Angehörige der Mitgliedstaaten und Familienangehörige, die die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzen, soweit sie (im Fall von Angehörigen der Mitgliedstaaten) aufgrund des (jetzt) AEU-Vertrags oder (im Fall von Drittstaatsangehörigen) aufgrund einer zur Durchführung dieses Vertrags erlassenen Entscheidung berechtigt sind, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten. Solche Drittstaatsangehörigen können vom Minister voor Immigratie, Integratie en Asiel (im Folgenden: Minister für Zuwanderung, Integration und Asyl bzw. Minister) ein Dokument oder eine schriftliche Bescheinigung erhalten, aus dem bzw. aus der sich der rechtmäßige Aufenthalt ergibt. Hat der Minister den Drittstaatsangehörigen für „unerwünscht“ erklärt, kann er auf dessen Antrag diese Erklärung aufheben. Die einschlägigen Bedingungen sind im Vreemdelingenbesluit (Ausländerverordnung) geregelt, der der Durchführung der Vw 2000 dient.

20.      In einer befristeten Aufenthaltserlaubnis werden Beschränkungen bezüglich des Zwecks festgelegt, für den der Aufenthalt bewilligt wird. Darüber hinaus kann die Erlaubnis mit anderen Auflagen verbunden werden.

 Sachverhalt

 Rechtssache O (C‑456/12)

 Rechtsstreit O

21.      Im Oktober 2006 schloss der nigerianische Staatsangehörige O in Frankreich die Ehe mit der Referenzperson O. 2007 zog er nach Spanien. Seit August 2009 sind O und die Referenzperson O dort als gemeinsam wohnhaft gemeldet. Aus einem bis September 2014 gültigen Aufenthaltsdokument geht hervor, dass O sich als Familienangehöriger eines Unionsbürgers in Spanien aufhält.

22.      Zwei Monate nach ihrer Ankunft in Spanien kehrte die Referenzperson O jedoch wieder in die Niederlande zurück, weil sie in Spanien keine Arbeit finden konnte. In der Zeit von 2007 bis April 2010 hielt sie sich allerdings wiederholt, zumeist an Wochenenden, bei O in Spanien auf und empfing während dieser Aufenthalte dort Dienstleistungen. Seit 1. Juli 2010 ist O als bei der Referenzperson O in den Niederlanden wohnhaft gemeldet.

23.      Es liegen offenbar keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die Referenzperson O während dieser Zeit aus dem Einwohnermelderegister in den Niederlanden hätte austragen lassen.

24.      O beantragte ein Dokument, das die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bescheinigt. Der Minister wies diesen Antrag zurück und erklärte den von O gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch für unbegründet. O erhob Klage bei der Rechtbank ’s-Gravenhage (im Folgenden: Rechtbank), die diese am 7. Juli 2011 abwies. Gegen dieses Urteil legte O sodann Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

 Rechtsstreit B

25.      B ist marokkanischer Staatsangehöriger. Ab Dezember 2002 lebte er mehrere Jahre lang mit der Referenzperson B in den Niederlanden. Sie waren damals nicht verheiratet. Offenbar hatten sie sich kennengelernt, als B auf eine Entscheidung über seinen Asylantrag wartete. Der Antrag wurde abgelehnt.

26.      Nach der Verurteilung von B zu zwei Monaten Freiheitsentzug wegen Benutzung eines falschen Passes erklärte der Minister B am 15. Oktober 2005 für einen unerwünschten Ausländer. Im Januar 2006 zog B nach Retie (Belgien) und lebte dort in einer Wohnung, die die Referenzperson B angemietet hatte. Offenbar wohnte die Referenzperson B dort zunächst allein, und B zog nach seiner Entlassung aus der Haft zu ihr. Die Referenzperson B war mit einer bis 18. Mai 2011 gültigen Aufenthaltserlaubnis in Retie wohnhaft gemeldet. Sie konnte jedoch keine Arbeit in Belgien finden. Sie behielt daher ihr Haus in den Niederlanden und hielt sich dort, während sie in den Niederlanden erwerbstätig war, die Woche über auf, verbrachte aber die Wochenenden mit B in Belgien. An diesen Wochenenden nahm sie Dienstleistungen in Belgien in Anspruch. Die beiden hatten zwar vor, in Belgien zu heiraten, schlossen die Ehe dann aber erst später in Marokko.

27.      Im April 2007 zog B nach Marokko, da ihm ein weiterer Aufenthalt in Belgien nicht mehr möglich war, nachdem die belgischen Behörden erfahren hatten, dass in den Niederlanden eine Unerwünschterklärung gegen ihn ausgesprochen worden war. Am 31. Juli 2007 wurden B und die Referenzperson B in Marokko getraut.

28.      Auf Antrag von B hob der Minister die Unerwünschterklärung im März 2009 auf. Im Juni 2009 kehrte B in die Niederlande zurück und zog dort zur Referenzperson B.

29.      Am 30. Oktober 2009 wurde der von B gestellte Antrag auf Ausstellung eines seinen rechtmäßigen Aufenthalt bescheinigenden Dokuments abgelehnt. Im März 2010 wies der Minister sowohl den gegen diese Entscheidung eingelegten Widerspruch als auch den Widerspruch gegen das Anbringen eines Klebeetiketts mit dem Eintrag eines Beschäftigungsverbots im Pass von B als unbegründet zurück.

30.      Auf die entsprechende von B erhobene Klage hob die Rechtbank die beiden Widerspruchsbescheide auf und verurteilte den Minister, die Widersprüche neu zu bescheiden. Im Dezember 2010 erließ der Minister einen neuen Bescheid mit gleichem Inhalt wie sein voriger Bescheid und legte beim vorlegenden Gericht Rechtsmittel gegen das Urteil der Rechtbank ein.

 Rechtssache S (C‑457/12)

 Rechtsstreit S

31.      S ist ukrainische Staatsangehörige. Ihr Schwiegersohn, die Referenzperson S, ist seit 2002 für einen in den Niederlanden niedergelassenen Arbeitgeber tätig, der erklärt hat, die Referenzperson S verwende 30 % ihrer Zeit für die Vorbereitung und Durchführung von Geschäftsreisen nach Belgien. Die Referenzperson S fährt mindestens einen Tag pro Woche dorthin; darüber hinaus besucht sie Kunden und nimmt an Konferenzen in anderen Mitgliedstaaten teil. S trägt außerdem vor, sie betreue den Sohn der Referenzperson S (ihren Enkelsohn).

32.      S beantragte die Ausstellung eines Dokuments, mit dem der rechtmäßige Aufenthalt bescheinigt wird. Ihr Antrag wurde im August 2009 abgelehnt. Der Minister wies ihren hiergegen eingelegten Widerspruch zurück. Im Juni 2010 wies die Rechtbank ihre Klage ab. Gegen dieses Urteil legte S sodann Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein.

 Rechtsstreit G

33.      G besitzt die peruanische Staatsangehörigkeit. Im Jahr 2009 schloss sie mit der Referenzperson G in Peru die Ehe. Die Referenzperson G lebt in den Niederlanden, ist aber seit 2003 für einen belgischen Arbeitgeber tätig. Zur Ausübung ihrer Tätigkeit fährt die Referenzperson G täglich nach Belgien und wieder zurück.

34.      Der Antrag von G auf Ausstellung eines Dokuments, mit dem der rechtmäßige Aufenthalt bescheinigt wird, wurde im Dezember 2009 abgelehnt. Der Minister wies ihren Widerspruch zurück. Im Juni 2011 gab die Rechtbank der von G erhobenen Klage statt und verpflichtete den Minister zur Neubescheidung des Widerspruchs. Dagegen legte der Minister Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein. Im Verfahren vor diesem Gericht trug G vor, sie und ihr Ehegatte hätten ein Kind (das die niederländische Staatsangehörigkeit besitze), und ein Kind, das sie vor ihrer Eheschließung mit der Referenzperson G gehabt habe, gehöre ebenfalls zu ihrer neuen Familie.

 Verfahren und Vorlagefragen

35.      In der Rechtssache O (C‑456/12) fragt das vorlegende Gericht:

In den Rechtsstreiten B und O:

1.      Ist die Richtlinie 2004/38 in Bezug auf die Voraussetzungen des Rechts auf Freizügigkeit von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die die Staatsangehörigkeit eines Drittlands besitzen, ebenso wie in den Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Singh(3) (C‑370/90) und Eind(4) (C‑291/05) entsprechend anzuwenden, wenn ein Unionsbürger in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit zurückkehrt, nachdem er sich im Rahmen von Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie als Empfänger von Dienstleistungen im Sinne von Art. 56 AEUV in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat?

2.      Falls ja: Ist Voraussetzung, dass der Aufenthalt des Unionsbürgers in einem anderen Mitgliedstaat eine bestimmte Mindestdauer gehabt hat, damit nach der Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit seinem Familienangehörigen mit der Staatsangehörigkeit eines Drittlands in diesem Mitgliedstaat ein Aufenthaltsrecht zusteht?

3.      Falls ja: Kann diese Voraussetzung auch erfüllt werden, wenn es sich nicht um einen ununterbrochenen Aufenthalt gehandelt hat, sondern um einen Aufenthalt von einer bestimmten Häufigkeit wie etwa wöchentlich an den Wochenenden oder in Form regelmäßiger Besuche?

Im Rechtsstreit B:

4.      Sind, wenn zwischen der Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit und dem Nachzug des Familienangehörigen aus einem Drittland in diesen Mitgliedstaat eine beträchtliche Zeitspanne liegt, unter den Umständen des Rechtsstreits die möglichen Ansprüche des Familienangehörigen mit der Staatsangehörigkeit eines Drittlands auf ein aus dem Unionsrecht hergeleitetes Aufenthaltsrecht erloschen?

36.      In der Rechtssache S (C‑457/12) fragt das vorlegende Gericht:

1.      Im Rechtsstreit G:

Kann ein Staatsangehöriger eines Drittlands, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der seinen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aber in einem anderen Mitgliedstaat für einen in diesem anderen Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber arbeitet, unter Umständen wie denen im Ausgangsverfahren aus dem Unionsrecht ein Aufenthaltsrecht herleiten?

2.      Im Rechtsstreit S:

Kann ein Staatsangehöriger eines Drittlands, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der seinen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aber im Rahmen seiner Tätigkeiten für einen in demselben Mitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat pendelt, unter Umständen wie denen im Ausgangsverfahren aus dem Unionsrecht ein Aufenthaltsrecht herleiten?

37.      O, B, G, die belgische, die dänische, die deutsche, die estnische, die niederländische und die tschechische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der Sitzung vom 25. Juni 2013 in den verbundenen Rechtssachen haben diese Verfahrensbeteiligten mit Ausnahme von G, der belgischen und der estnischen Regierung, sowie S mündlich verhandelt.

 Würdigung

 Vorbemerkungen

38.      Der Rechtsbereich der Zuwanderung fällt grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Außer bei Sachverhalten, bei denen der Angehörige eines Mitgliedstaats (der aufgrund seiner Staatsangehörigkeit auch Unionsbürger ist) die Grenze zu einem anderen Mitgliedstaat überquert hat oder die begründete Aussicht besteht, dass dies geschehen wird, kommt das im Unionsrecht bestehende Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt im Prinzip nicht zum Tragen und findet ausschließlich nationales Recht Anwendung(5).

39.      In den vorliegenden Fällen sind die einzelnen Referenzpersonen mit Unionsbürgerschaft zwar in den Niederlanden ansässig, haben aber alle die Grenze zu einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich überquert. Sie haben dies zu Erwerbs- oder Freizeitzwecken getan; sie haben dort (vermutlich) von dem „passiven“ Recht, Dienstleistungen zu empfangen, Gebrauch gemacht; einige von ihnen waren amtlich als in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaft gemeldet, haben jedoch weiterhin einen Wohnsitz irgendwelcher Art im Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit (im Folgenden: Heimatmitgliedstaat) behalten. Hat dies zur Folge, dass ihr Heimatmitgliedstaat aufgrund Unionsrechts ihren Familienangehörigen (O, B, S und G) ein Aufenthaltsrecht nicht verweigern darf? Ist es von Bedeutung, wenn die Referenzperson und der Familienangehörige nicht gemeinsam in den Heimatmitgliedstaat der Referenzperson zurückkehren?

40.      Fest steht, dass den Referenzpersonen selbst ein unbedingtes Aufenthaltsrecht in ihrem Heimatmitgliedstaat kraft nationalen Rechts zusteht(6). Einem Mitgliedstaat ist es verwehrt, „seine Staatsangehörigen aus seinem Hoheitsgebiet auszuweisen oder ihnen den Aufenthalt dort zu versagen oder ihn Bedingungen zu unterwerfen“(7). Die Einreise eines Staatsangehörigen in seinen Heimatmitgliedstaat und der dortige Aufenthalt unterliegen aber auch dem Unionsrecht, soweit dies notwendig ist, um die volle Wirkung der Grundfreiheiten der Freizügigkeit und des Aufenthalts nach dem Unionsrecht zu gewährleisten(8).

41.      Sollte O, B, S und G unionsrechtlich ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zustehen, bestünde dieses nicht absolut, sondern unterläge den im Unionsrecht festgelegten Bedingungen und Beschränkungen. Deshalb werde ich zunächst das Aufenthaltsrecht und sodann in einem eigenen Abschnitt die für seine Ausübung geltenden Bedingungen und Beschränkungen untersuchen.

42.      Der Gerichtshof verfügt über keine Angaben darüber, ob O, B, S und G ein Aufenthaltsrecht nach nationalem Recht, einschließlich der nationalen Vorschriften zum Schutz der Grundrechte, oder nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zustehen könnte. Der Sachverhalt bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei den Ehen um Scheinehen handelt oder dass Betrug oder Rechtsmissbrauch vorliegt. In anderen Fällen mag die Feststellung eines solchen Missbrauchs durchaus dazu führen, dass sich eine weitere Prüfung der Zulässigkeit der Verweigerung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts erübrigt. Dass sich sowohl O und die Referenzperson O als auch B und die Referenzperson B irgendwann einmal in einen anderen Mitgliedstaat begeben haben, in dem eine günstigere Behandlung gewährleistet ist, stellt allein noch keinen Rechtsmissbrauch dar(9).

43.      In den vorliegenden Schlussanträgen konzentriere ich mich auf die Frage, ob dadurch, dass Drittstaatsangehörigen wie O, B, S und G der rechtmäßige Aufenthalt untersagt wird, das Recht ihrer Referenzpersonen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, beschränkt wird. Eine solche Beschränkung könnte theoretisch gerechtfertigt sein. Dem Gerichtshof stehen jedoch keine Informationen zur Verfügung, um Rechtfertigungsgründe prüfen zu können.

44.      Schließlich werde ich mich bemühen, im Rahmen dieser Schlussanträge kohärent die Voraussetzungen für das Entstehen eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zu formulieren, das Familienangehörigen mit der Staatsangehörigkeit eines Drittlands im Heimatmitgliedstaat eines Unionsbürgers zusteht, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, ohne unbedingt (in vollem Umfang) Aufenthaltsrechte in einem anderen Mitgliedstaat wahrzunehmen. Bei einer Einzelfalllösung, die zwar dem nationalen Gericht die Erledigung dieser vier individuellen Rechtsstreitigkeiten ermöglichen mag, die aber die einschlägigen Voraussetzungen nicht klar aufzeigt, bestünde die Gefahr, dass sich die in der Praxis und in den nationalen Verwaltungen derzeit herrschende Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob das Unionsrecht herangezogen werden kann (oder nicht), noch weiter erhöht; damit einher geht das Risiko, dass es in erheblichem Umfang zu „Wiederholungsentscheidungen“ kommt, weil die nationalen Gerichte im Wege weiterer Vorabentscheidungsersuchen nähere Klärung verlangen.

 Begründung für das abgeleitete Aufenthaltsrecht

45.      Die Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV und 21 Abs. 1 AEUV verleihen den Unionsbürgern das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Wesensgehalt dieses Rechts ist die Freiheit, zu entscheiden, ob man sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben und/oder sich dort aufhalten will oder nicht. Maßnahmen, die diese Entscheidungsfreiheit einschränken, verstoßen, sofern sie nicht gerechtfertigt sind, gegen die genannten Bestimmungen.

46.      Der Gedanke, dass Familienangehörigen solcher Unionsbürger ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zustehen sollte, entstand im Kontext der wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechte, insbesondere derjenigen von Wanderarbeitnehmern. Arbeitnehmer sind menschliche Wesen, keine Automaten. Sie sollten, nur um Wanderarbeitnehmer in einem anderen Mitgliedstaat werden zu können, nicht ihre Ehegatten und sonstigen Familienangehörigen zurücklassen müssen, insbesondere nicht diejenigen, denen sie Unterhalt gewähren(10). Wenn sie im Fall eines Umzugs nicht ihre Familie mitbringen können, könnten sie von der Ausübung dieser Freizügigkeitsrechte abgehalten werden. Im Übrigen kann die Anwesenheit der Familie die Eingliederung in den Aufnahmemitgliedstaat fördern und somit zu einer erfolgreichen Verwirklichung der Freizügigkeit beitragen(11).

47.      Seit Einführung der Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht erwerben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten das Recht, sich im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, unabhängig von den wirtschaftlichen Freizügigkeitsrechten und damit unabhängig von der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit(12). Ebenso wie im Fall von Wanderarbeitnehmern kann die Wirksamkeit des Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit und Aufenthalt davon abhängen, ob bestimmte Familienangehörige unionsrechtlich das Recht haben, den Unionsbürger in das Hoheitsgebiet, in das sich dieser begibt oder in dem er sich aufhält, zu begleiten oder ihm dorthin nachzuziehen. Wie es der Gerichtshof unlängst formuliert hat: „Der Zweck und die Rechtfertigung dieser abgeleiteten Rechte beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte, weil ihn dies davon abhalten könnte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten …“(13)

48.      Nach der Richtlinie 2004/38 hängt das abgeleitete Aufenthaltsrecht nicht länger von dem Nachweis möglicher Auswirkungen ab, die sich für den Unionsbürger ergeben, wenn Familienangehörigen der Aufenthalt verwehrt wird(14). Der mit der Zuerkennung abgeleiteter Aufenthaltsrechte verfolgte Zweck lässt sich jedoch daran erkennen, dass solche Rechte nur ganz bestimmten Familienangehörigen automatisch zustehen, hinsichtlich deren der Gesetzgeber davon ausgeht, dass die ihnen eröffnete Möglichkeit, den Unionsbürger zu begleiten oder ihm nachzuziehen, dessen Entscheidung und somit die Ausübung seines Freizügigkeitsrechts beeinflusst. Die Richtlinie 2004/38 unterscheidet daher zwischen der Kernfamilie und anderen Familienangehörigen. Zur Kernfamilie gehören der Unionsbürger, sein Ehegatte oder eingetragener Lebenspartner sowie ihre Verwandten in gerader absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Diesen Familienangehörigen steht automatisch ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zu. Für Verwandte in gerader absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr vollendet haben, und Verwandte in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers (oder seines Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartners) ist hingegen Voraussetzung für die Geltendmachung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts, dass ihnen Unterhalt gewährt wird. Ich habe den Eindruck, dass im Rahmen der Richtlinie 2004/38 der Begriff des Unterhalts eng ausgelegt wird und dass darauf abgestellt wird, ob der Unionsbürger diese Familienmitglieder materiell unterstützt(15). Eine solche materielle Sorge kann zwar ein äußerst aussagekräftiges Indiz dafür sein, inwieweit eine Versagung des Aufenthalts die Ausübung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts des Unionsbürgers beeinträchtigen kann, jedoch hat der Gerichtshof – in anderem Zusammenhang als mit der Richtlinie 2004/38 – angedeutet, dass ein Abhängigkeitsverhältnis auch anhand der Kriterien einer rechtlichen oder affektiven Bindung festgestellt werden könne oder dass es auch von Bedeutung sein könne, wenn der Unionsbürger von einem Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigkeit Unterhalt erhalte („umgekehrte Abhängigkeit“)(16).

 Entstehung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts

49.      Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts besteht ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht grundsätzlich nur, soweit dies notwendig ist, um dem Unionsbürger die wirksame Wahrnehmung seiner Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte zu ermöglichen. Als Erstes stellt sich somit die Frage, ob der betreffende Unionsbürger diese Rechte wahrgenommen hat oder wahrnimmt. Falls ja, lautet die nächste Frage, ob durch ein Aufenthaltsverbot für seine Familienangehörigen die Wahrnehmung dieser Rechte beschränkt wird (liegt keine Beschränkung vor, besteht auch kein Grund für die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts). Das vorlegende Gericht möchte daher im Wesentlichen wissen, ob geprüft werden muss, auf welche Weise und mit welcher Intensität der Unionsbürger sein Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht ausgeübt hat, ehe man sich der zweiten Frage zuwendet.

50.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Vorschriften über die Freizügigkeit nicht auf Tätigkeiten anwendbar, die keinerlei Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht abstellt(17). Die rein hypothetische Aussicht auf die Ausübung oder die Beeinträchtigung des Rechts auf Freizügigkeit stellt den notwendigen Bezug nicht her(18).

51.      Hier haben die Referenzpersonen O, B, S und G sämtlich ihr Recht auf Freizügigkeit und/oder Aufenthalt im Sinne von Art. 21 AEUV ausgeübt. Diese Rechtsstreitigkeiten betreffen daher nicht rein interne Sachverhalte, die vom Geltungsbereich des Unionsrechts nicht erfasst wären. Dies genügt, um das Unionsrecht zur Anwendung kommen zu lassen, führt aber nicht zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass O, B, S und G sich aufgrund des Unionsrechts rechtmäßig in den Niederlanden aufhalten dürfen.

52.      Gerade weil es zu einer Grenzüberquerung gekommen ist, unterscheiden sich die diesen Rechtsstreitigkeiten zugrunde liegenden Sachverhalte von Rechtssachen wie Ruiz Zambrano, McCarthy oder Dereci u. a., in denen der Gerichtshof entschieden hat, dass ein Bezug zum Unionsrecht und eine Grundlage für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV ausnahmsweise auch gegeben sein könnten, wenn das Recht, sich in einen anderen (Aufnahme‑)Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, nicht ausgeübt worden sei, nämlich dann, wenn eine nationale Maßnahme den Unionsbürger (auch einen eigenen Staatsangehörigen des Mitgliedstaats) zum Verlassen des Gebiets der Europäischen Union zwingen würde(19). In der Rechtssache Iida betreffend zwei deutsche Staatsangehörige, die nach Österreich gezogen waren, und einen japanischen Staatsangehörigen, der einen Aufenthaltstitel in Deutschland begehrte, hat der Gerichtshof klargestellt, dass dieses Kriterium nicht auf Sachverhalte beschränkt sei, die andernfalls als rein intern einzustufen wären(20).

53.      Im Urteil Ruiz Zambrano ist der Gerichtshof davon ausgegangen, dass dadurch, dass dem Vater der Aufenthalt verweigert wird, seinen minderjährigen Kindern „der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird“(21). Insbesondere habe die Verweigerung zur Folge, dass sie gezwungen wären, das Gebiet der Union zu verlassen(22).

54.      Im Urteil McCarthy betreffend den jamaikanischen Ehemann von Frau McCarthy ist der Gerichtshof zum umgekehrten Ergebnis gekommen. Frau McCarthy besitzt die irische und britische Doppelstaatsangehörigkeit und hatte sich stets nur im Vereinigten Königreich aufgehalten. Sie hatte sich nie nach Irland begeben, noch von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union Gebrauch gemacht und hatte einen irischen Reisepass, auf den sie Anspruch hatte, erst nach der im Vereinigten Königreich erfolgten Eheschließung mit einem jamaikanischen Staatsangehörigen beantragt. Sie machte auch nicht geltend, eine Arbeitnehmerin, Selbständige oder wirtschaftlich unabhängige Person zu sein. Ihrem Ehemann wurde der Aufenthalt als Ehegatte einer Unionsbürgerin, die eine andere Staatsangehörigkeit als die britische besitze, verwehrt(23).

55.      Im Urteil Dereci u. a. hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Verwehrung des tatsächlichen Genusses des Kernbestands der unionsbürgerlichen Rechte sich auf einen Sachverhalt beziehe, der dadurch gekennzeichnet sei, „dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes“(24). Der Gerichtshof hat diesen Sachverhalt als Ausnahme bezeichnet(25). Er hat nicht näher ausgeführt, unter welchen Umständen ein Unionsbürger zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sein könnte, hat aber darauf hingewiesen, dass „die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte“, dass ihm ein Aufenthaltsrecht gewährt wird, für sich genommen nicht die Annahme rechtfertige, die Verweigerung des Aufenthalts veranlasse einen solchen Wegzug(26). Aus solchen Faktoren lässt sich daher nicht herleiten, dass die Aufenthaltsverweigerung zu einem Verlust eines unionsbürgerlichen Rechts, d. h. des Rechts, sich im Gebiet der Union aufzuhalten, führt.

56.      Der Gerichtshof hat allerdings nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, dass ein nationales Gericht ganz abgesehen von den Art. 20 AEUV und 21 AEUV die Gestattung des Aufenthalts aufgrund Art. 7 der Charta (sofern der Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt) oder Art. 8 Abs. 1 EMRK (bei anderen Sachverhalten) anordnen könnte(27). Könne ein Drittstaatsangehöriger mit familiären Bindungen zu einem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht nicht aus dem Unionsrecht herleiten, könne das nationale Gericht dennoch zu dem Ergebnis gelangen, dass es bei in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallenden Sachverhalten aufgrund des Rechts auf Achtung des Familienlebens geboten sei, dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen.

57.      Mich verblüfft diese Passage insofern, als sie dahin zu verstehen sein könnte, dass der Gerichtshof damit drei verschiedene Rechtsgrundlagen im Unionsrecht anerkennt: das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 der Charta), das Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 21 Abs. 1 AEUV), und die Verwehrung des tatsächlichen Genusses des Kernbestands der Rechte, die dem Unionsbürger verliehen werden (Art. 20 AEUV). Bei Sachverhalten, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, könnte das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK eine weitere Rechtsgrundlage für ein Aufenthaltsrecht bilden.

58.      Sollte der Gerichtshof dies gemeint haben, muss er noch klären, inwieweit bei der Beurteilung, ob Unionsrecht (und somit auch die Charta) Anwendung findet, und bei der Beurteilung, ob eine den Aufenthalt verweigernde Maßnahme gegen die Art. 20 AEUV und 21 AEUV verstößt, jeweils die gleichen Kriterien heranzuziehen sind(28).

59.      Meines Erachtens kann man das Problem aber auch auf andere Weise angehen.

60.      Die Charta gilt nur, wenn Unionsrecht Anwendung findet(29). Die Charta ist also nicht anwendbar auf eine interne Situation, wie etwa die, in der sich Frau McCarthy befand, in der ein Unionsbürger weder in der Ausübung seines Unionsrechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt beeinträchtigt wird noch ihm aufgrund einer nationalen Maßnahme das auf dem Unionsbürgerstatus beruhende separate Kernrecht auf Aufenthalt im Unionsgebiet verwehrt wird. Es steht fest, dass die Charta, zumindest derzeit, bei solchen Fallgestaltungen keine eigenständigen Grundrechte verleiht – also Rechte ohne Anknüpfungspunkt an den Zuständigkeitsbereich der Union –, aufgrund deren ein nationales Gericht verpflichtet sein könnte, eine nationale Maßnahme unangewendet zu lassen, die den Unionsbürger bei der Gestaltung seines Familienlebens nach seinen Wünschen benachteiligt.

61.      Ist also keine einschlägige Bestimmung des Unionsrechts erkennbar, greift die Charta nicht ein. Um es etwas anders zu formulieren: Man muss die Rechtslage dann und nur dann durch die Brille der Charta betrachten, wenn eine unionsrechtliche Bestimmung den Mitgliedstaaten Handlungs- oder Unterlassungspflichten auferlegt (wobei es unerheblich ist, ob diese Pflichten durch die Verträge oder durch abgeleitetes Unionsrecht begründet werden)(30).

62.      Falls und soweit ein einen Unionsbürger betreffender Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, müssen Bestimmungen, die diesem Bürger Rechte verleihen (und die somit den Mitgliedstaaten die Pflicht zur Achtung dieser Rechte auferlegen), im Einklang mit den durch die Charta verbürgten Rechten ausgelegt werden(31), zu denen auch das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 7 der Charta gehört. Das bedeutet, dass Vorschriften wie die Art. 20 AEUV oder 21 AEUV nicht einfach nur eine gegenüber Art. 7 der Charta eigenständige Rechtsgrundlage für den Aufenthaltsstatus sind. Vielmehr wird der Kernbestand der sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte von Erwägungen geprägt, die für die Ausübung des Rechts auf Familienleben maßgeblich sind. Die sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte aus den Art. 20 AEUV und 21 AEUV sind daher so auszulegen, dass ihr Wesensgehalt „chartakonform“ gewährleistet wird. Dieser Vorgang ist von der Prüfung der Frage zu unterscheiden, ob ein Rechtfertigungsgrund, der für die Beschränkung von unionsbürgerlichen Rechten – sofern diese zum Tragen kommen – geltend gemacht wird, mit der Charta vereinbar ist(32).

63.      Bei diesem Ansatz wird der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht „ausgeweitet“ und daher die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den sie konstituierenden Mitgliedstaaten nicht verletzt. Es wird lediglich dem übergeordneten Grundsatz Rechnung getragen, dass in einer Rechtsunion bei der Auslegung einer zu dieser Rechtsordnung gehörenden Bestimmung sämtliche einschlägigen Rechtsnormen (selbstverständlich einschließlich des einschlägigen Primärrechts in Gestalt der Charta) zu berücksichtigen sind. Aus diesem Blickwinkel stellt die gebührende Berücksichtigung der Charta ebenso wenig einen „Eingriff“ oder eine „Missachtung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten“ dar wie die korrekte Auslegung der Bestimmungen über den freien Warenverkehr.

64.      Außerdem muss das Unionsrecht in Fällen, in denen die Charta anwendbar ist und die in der Charta festgelegten Rechte den bereits von der EMRK erfassten Rechten entsprechen, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ausgelegt werden(33). Eine solche Bestimmung ist der das Recht auf Familienleben schützende Art. 7 der Charta, und es liegt eine reichhaltige Rechtsprechung des EGMR vor, mit der die Bedeutung der diesem Artikel entsprechenden EMRK-Bestimmung (Art. 8 EMRK) klargestellt wird.

65.      Folglich dürfte es unerheblich sein, ob die Anwendung einer bestimmten nationalen Maßnahme gegen Art. 7 der Charta oder gegen Art. 8 EMRK verstoßen würde. Der (vom nationalen Gericht, dem Gerichtshof oder dem EGMR) anzuwendende Maßstab ist per definitionem in beiden Fällen derselbe. Grundsätzlich ist es daher undenkbar, je nach der herangezogenen Bestimmung zu unterschiedlichen Ergebnissen zu gelangen. (Ich lasse an dieser Stelle die dritte Rechtsquelle für den Grundrechtsschutz beiseite, nämlich das nationale Verfassungsrecht, das selbstverständlich ebenfalls einschlägig sein kann.)

66.      Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens hat der Gerichtshof dem nationalen Gericht natürlich klare Hinweise zu der Frage zu geben, unter welchen Voraussetzungen ein nach Maßgabe der Charta auszulegendes Unionsrecht zum Tragen kommt. Entsprechend ist es Sache des nationalen Gerichts, das allein für die Feststellung des Sachverhalts zuständig ist, die erforderlichen detaillierten Tatsachenfeststellungen vorzunehmen und anhand der Hinweise des Gerichtshofs zu entscheiden, ob das in dieser Weise ausgelegte Unionsrecht der Anwendung der nationalen Maßnahme entgegensteht. Dabei geht das nationale Gericht bei der Prüfung des Einwands einer Grundrechtsverletzung in derselben Weise vor, wie sie ihm von der Prüfung eines entsprechenden auf die EMRK gestützten Einwands im Licht der Rechtsprechung des EGMR her vertraut ist.

 Anwendbarkeit der Richtlinie 2004/38

67.      Mit der Richtlinie 2004/38 wird Art. 21 Abs. 1 AEUV durchgeführt. Sie soll die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und stärken(34). Nach ständiger Rechtsprechung kann eine solche Regelung des abgeleiteten Rechts nicht eng ausgelegt werden(35) und dürfen deren Bestimmungen „keinesfalls ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt werden“(36).

68.      Nur ein Berechtigter im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2004/38 kann Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte aus ihr herleiten. Berechtigter kann ein Unionsbürger oder ein Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Nr. 2 sein(37).

69.      Die Richtlinie 2004/38 gilt zwar für einen bestimmten festgelegten Kreis von Familienangehörigen eines Unionsbürgers und unabhängig davon, ob sich diese Angehörigen bereits rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat(38) oder überhaupt in einem Mitgliedstaat aufgehalten haben(39), sie erwerben ihre Rechte aber als Familienangehörige des betreffenden Unionsbürgers(40). So gesehen handelt es sich um automatisch verliehene Rechte(41). Voraussetzung ist daher zunächst, dass der Unionsbürger, zu dessen Familie sie gehören, in den Geltungsbereich der Richtlinie fällt.

70.      Unstreitig sind O, B, S und G Familienangehörige im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. a und d der Richtlinie 2004/38. Diese Eigenschaft genügt: Sofern die Richtlinie 2004/38 Anwendung findet, bedarf es für die Feststellung, dass ihnen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zusteht, nicht des Nachweises, dass andernfalls das sich aus dem Unionsbürgerstatus ergebende Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, beschränkt würde(42). Das Problem liegt an anderer Stelle.

71.      Art. 3 Abs. 1 gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, „begibt oder sich dort aufhält“(43). Um sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, in dem der Unionsbürger nicht geboren wurde, muss er sich normalerweise erst dorthin begeben(44). Umgekehrt ist es jedoch durchaus möglich, sich in einen Mitgliedstaat zu begeben, ohne sich dort aufzuhalten. In diesem Fall übt der Unionsbürger lediglich sein Recht auf Freizügigkeit aus, nicht aber das Recht auf Aufenthalt. Dann finden nur die Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 über die Ausreise und die Einreise Anwendung. Grundsätzlich können Drittstaatsangehörige kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat ableiten, in dem ihr Familienangehöriger, der Unionsbürger ist, kein Aufenthaltsrecht für sich selbst beansprucht und in dem er sich nicht aufhält(45). Insoweit besteht eine gewisse Parallele zwischen den Rechten des Unionsbürgers und den abgeleiteten Rechten seiner Familienangehörigen.

72.      Drittstaatsangehörige können ein solches Recht im Aufnahmemitgliedstaat nur geltend machen, wenn sie den Unionsbürger, der sein Aufenthaltsrecht in jenem Hoheitsgebiet unter den Voraussetzungen der Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 oder 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ausübt, begleiten oder ihm dorthin nachziehen(46).

73.      Art. 3 Abs. 1 unterscheidet nicht nach dem Zweck, zu dem das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt ausgeübt wird, wenngleich die Voraussetzungen für das Recht auf Aufenthalt für einen Zeitraum von über drei Monaten je nachdem variieren können, ob der Unionsbürger Wanderarbeitnehmer bzw. Selbständiger ist oder nicht(47). Es ist gerade das Ziel der Richtlinie 2004/38, die fragmentarischen Ansätze dieser Rechte zu überwinden, gleichzeitig aber bestimmte Vergünstigungen für diejenigen Unionsbürger aufrechtzuerhalten, die in einem anderen Mitgliedstaat wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen(48).

74.      Dennoch ist Art. 3 Abs. 1 so formuliert, dass für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2004/38 die Richtung bestimmend ist, in der sich der Unionsbürger bewegt, nämlich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt(49).

75.      Daher kann ein Unionsbürger, der sich stets in seinem Heimatmitgliedstaat aufgehalten und noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, grundsätzlich nicht Berechtigter im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sein(50). Folglich können auch seine Familienangehörigen keine Berechtigten sein.

76.      Bei keiner der Referenzpersonen in den vorliegenden Rechtssachen verhält es sich so. Sie haben sämtlich zumindest in irgendeiner Form das Recht auf Freizügigkeit ausgeübt.

77.      Allgemein gesprochen kann sich ein Unionsbürger innerhalb der Union in drei Richtungen bewegen: i) zwischen zwei Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, ii) von seinem Heimatmitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat und iii) von einem anderen Mitgliedstaat in seinen Heimatmitgliedstaat. Selbstverständlich kann er sich mehrfach und in verschiedenen Richtungen bewegen(51).

78.      Es liegt auf der Hand, dass die Richtlinie 2004/38 auf Bewegungen der Richtung i) und ii) anwendbar ist. In diesen Fällen hat ein Drittstaatsangehöriger, der ein Familienangehöriger des (eine der genannten Bewegungen vollführenden) Unionsbürgers ist, das Recht, diesen zu begleiten oder ihm nachzuziehen(52).

79.      Auf Bewegungen der Richtung iii) trifft dies indessen nicht zu. Ich bin zwar unbedingt der Meinung, dass ein Unionsbürger (und alle Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Drittlands besitzen), nachdem er in den Genuss des durch die Richtlinie 2004/38 verliehenen Schutzes gekommen ist, diesen nicht verlieren darf, wenn er sich ein zweites Mal bewegt(53), jedoch wäre eine Erstreckung des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2004/38 auch auf Bewegungen der Richtung iii) gleichbedeutend mit der Streichung der Wendung „anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt“ in Art. 3 Abs. 1.

80.      Hinzugefügt sei, dass es, hätte der Gesetzgeber auch Bewegungen der Richtung iii) erfassen wollen, detaillierter Bestimmungen zur Regelung eines solchen Sachverhalts bedurft hätte. Solche Bestimmungen gibt es nicht.

81.      Im Urteil McCarthy hat der Gerichtshof das auch fast so zum Ausdruck gebracht, indem er nämlich ausführt, dass „die Richtlinie 2004/38 … nicht dazu bestimmt sein [kann], auf einen Unionsbürger Anwendung zu finden, der aufgrund der Tatsache, dass er sich in dem Mitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, über ein nicht an Bedingungen geknüpftes Aufenthaltsrecht verfügt“(54). In der Rechtssache Iida hat Generalanwältin Trstenjak die Auffassung vertreten, dass „die Richtlinie 2004/38 den hier vorliegenden Fall des Aufenthaltsrechts des Drittstaatsangehörigen im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers gar nicht erfasst“(55), obwohl sie die Möglichkeit eines hiervon abweichenden Ergebnisses in anders gelagerten Fällen nicht von vornherein auszuschließen scheint(56).

82.      Es trifft zwar zu, dass der Gerichtshof im Urteil Singh(57) gestützt auf Art. 52 EWG-Vertrag (jetzt Art. 59 AEUV) und die Richtlinie 73/148(58) (aufgehoben und ersetzt durch die Richtlinie 2004/38(59)) ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für Familienmitglieder eines zurückkehrenden Wanderarbeitnehmers anerkannt hat. Ebenso wie bei der Richtlinie 2004/38 war in der Richtlinie 73/148 der Fall einer in ihren Mitgliedstaat zurückkehrenden Person nicht geregelt; der Gerichtshof hat seine Entscheidung offenbar ausschließlich mit den Bestimmungen des Vertrags und nicht mit denjenigen der genannten Richtlinie begründet. Meines Erachtens ist diese Entscheidung für die Würdigung von Art. 21 AEUV von besonderer Bedeutung(60).

83.      Da die Richtlinie 2004/38 keine Anwendung findet, sind für die Rechtsstellung von O, B, S und G und ihrer Referenzpersonen die Verträge maßgebend. Sollte sich im Rahmen einer entsprechenden Prüfung ergeben, dass ein abgeleitetes Recht des einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen notwendig ist, um dem Unionsbürger die wirksame Ausübung seines Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV zu ermöglichen, ist es angemessen, im Heimatmitgliedstaat zumindest die Behandlung vorzuschreiben, die die Richtlinie 2004/38 in den Aufnahmemitgliedstaaten garantiert(61).

 Art. 21 AEUV

 Abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Heimatmitgliedstaat

84.      Gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV (vorbehaltlich der entsprechenden Durchführungsvorschriften) müssen die Mitgliedstaaten einem Unionsbürger, der nicht ihre Staatsangehörigkeit besitzt, den Zuzug in ihr Hoheitsgebiet und den dortigen Aufenthalt mit seinem Ehegatten und möglicherweise bestimmten anderen Familienangehörigen, die keine Unionsbürger sind, erlauben.

85.      In den vorliegenden Fällen verweigern die Niederlande im Wesentlichen den einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen ihrer eigenen Staatsangehörigen ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht, obwohl sie unionsrechtlich grundsätzlich verpflichtet sind, den einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen von Unionsbürgern, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, ein solches Recht zuzuerkennen.

86.      Es ist seltsam, dass ein Mitgliedstaat also seine eigenen Staatsangehörigen weniger günstig behandeln will als andere Unionsbürger (deren Fall abgesehen von ihrer Staatsangehörigkeit durchaus identisch oder ähnlich gelagert sein kann). Seltsam ist auch, dass der Mitgliedstaat durch Verweigerung des Aufenthalts Gefahr läuft, seine eigenen Staatsangehörigen de facto „auszuweisen“ und sie zu zwingen, sich entweder in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, in dem das Unionsrecht garantiert, dass sie sich dort gemeinsam mit ihren Familienangehörigen aufhalten können, oder vielleicht sogar die Union ganz zu verlassen. Eine solche Maßnahme steht nicht recht in Einklang mit der Solidarität, die dem Verhältnis eines Mitgliedstaats zu seinen eigenen Staatsangehörigen zugrunde liegen soll. Sie ist auch schwer mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu vereinbaren, der meines Erachtens im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander ebenso gilt wie im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Union(62).

87.      Trotzdem zeigen die schriftlichen Erklärungen und mündlichen Ausführungen in den vorliegenden Rechtssachen, dass eine erhebliche Anzahl von Mitgliedstaaten der Ansicht ist, dass ihnen eben dies durch das Unionsrecht nicht verwehrt sei.

88.      Gegen diese Argumentation ließe sich einfach einwenden, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV das Recht der Unionsbürger, sich im Gebiet der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht beschränken dürfen. Oder, wie es Generalanwalt Jacobs formuliert hat, dass „vorbehaltlich der in [dem genannten Artikel] selbst genannten Beschränkungen … keine ungerechtfertigte Belastung auferlegt werden darf“(63).

89.      Derselbe Grundsatz gilt auch für einen mit einem Drittstaatsangehörigen verheirateten Unionsbürger, der sein Recht auf Freizügigkeit ausüben will. Ein solches Paar wird oftmals (vielleicht sogar im Regelfall) sein Recht auf Familienleben in enger geografischer Nähe zueinander ausüben wollen. Wenn die beiden daran gehindert werden, in dem Mitgliedstaat zusammenzuleben, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt (in den dieser zurückkehrt, nachdem er sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befunden hat oder der der Ausgangspunkt für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts ist), können sie entweder nicht zusammenleben oder sie sind zum Wegzug gezwungen. Sie könnten in ein Land außerhalb der Union ziehen, das ihnen den gemeinsamen rechtmäßigen Aufenthalt erlaubt, oder sie könnten in einen anderen Mitgliedstaat der Union ziehen und sich auf die Richtlinie 2004/38 berufen. Im ersten Fall wird dem Unionsbürger de facto die Unionsbürgerschaft entzogen, da dieser Status außerhalb der Union nur von geringer Bedeutung ist(64). Im zweiten Fall kann davon ausgegangen werden, dass die Maßnahme zu vermehrten Umzugsbewegungen führt. Wenngleich die Erleichterung der Freizügigkeit durchaus zu den Zielen von Art. 21 Abs. 1 AEUV gehören mag, lässt sich dies von der Erzwingung eines Umzugs nicht behaupten. Den Unionsbürgern wird vielmehr das Recht garantiert, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten. Ist eine Maßnahme geeignet, die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Ausübung dieses Rechts zu beeinträchtigen, handelt es sich um eine Beschränkung, die, falls sie nicht gerechtfertigt ist, gegen Art. 21 Abs. 1 AEUV verstößt.

90.      Meines Erachtens gilt diese Überlegung auch für Fälle, in denen andere enge Familienangehörige betroffen sind (wie etwa die Schwiegermutter im Rechtsstreit S), sofern dargetan wird, dass der Unionsbürger andernfalls mit seiner Familie (einschließlich dieser anderen engen Familienangehörigen) umziehen oder sein Recht auf Freizügigkeit nicht mehr ausüben wird.

91.      Auf dieses Kriterium hat der Gerichtshof bereits abgestellt, wenn ein Unionsbürger nach der Ausübung seines Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zurückkehrt, um sich in seinem Heimatmitgliedstaat aufzuhalten (Rechtssachen Singh und Eind) oder vom Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, während er seinen Aufenthalt in seinem Heimatmitgliedstaat fortsetzt (Rechtssache Carpenter(65), in der das Urteil nach dem Urteil Singh(66), jedoch vor dem Urteil Eind(67) erging). Den ersten beiden genannten Entscheidungen lässt sich im Wesentlichen entnehmen(68), dass in Fällen, in denen sich ein Unionsbürger in einen anderen Mitgliedstaat begeben und sich dort aufgehalten hat, die Familienangehörigen berechtigt sind, ihn zu nicht weniger günstigen Bedingungen in seinen Heimatmitgliedstaat zu begleiten oder ihm dorthin nachzuziehen, als den Bedingungen, die unionsrechtlich im Aufnahmemitgliedstaat gelten.

92.      Sowohl Herr Singh als auch Herr Eind hatten sich als Wanderarbeitnehmer in einen anderen als den Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit begeben und sich dort aufgehalten. Beide kehrten dann in ihren jeweiligen eigenen Mitgliedstaat zurück. Herr Singh nahm eine selbständige Erwerbstätigkeit auf; Herr Eind ging keiner Erwerbstätigkeit nach. Beide hatten jeweils einen einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen, der mit ihnen im Aufnahmemitgliedstaat zusammengelebt hatte und dann dieses Zusammenleben im jeweiligen Heimatmitgliedstaat fortsetzen wollte.

93.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass Herr Singh bei der Rückkehr in seinen Heimatmitgliedstaat eine Behandlung erfahren müsse, die derjenigen, die er in dem Aufnahmemitgliedstaat erfahren hätte, aus dem er zurückkehre, zumindest gleichwertig sei(69). Ein Familienangehöriger sei daher berechtigt, ihn unter den im Vorgängerrechtsakt der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Bedingungen in den Heimatmitgliedstaat zu begleiten(70).

94.      Im Urteil Singh äußert sich der Gerichtshof ausdrücklich kaum zu dem Recht auf Achtung des Familienlebens, obwohl er seine Entscheidung damit begründet, dass ein Unionsbürger, wenn er an der Wahrnehmung dieses Rechts in Form des Zusammenlebens mit seinem Ehegatten und seinen Kindern bei der Rückkehr in seinen eigenen Mitgliedstaat gehindert werde, von der Ausübung der Grundfreiheit, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten, abgehalten werden könnte (sogenannte „abschreckende Wirkung“)(71). Im Urteil Eind akzeptiert der Gerichtshof expliziter, dass Hindernisse bei der Familienzusammenführung zu Hindernissen bei der Ausübung des Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit führen können(72). Im Gegensatz zum Urteil Singh (aus dem Jahr 1992) stammt das im Jahr 2007 ergangene Urteil Eind aus der Zeit nach Einführung der Unionsbürgerschaft.

95.      Der Unionsbürger hat also Anspruch darauf, dass Familienangehörige, sofern sie zu einem bestimmten Personenkreis zählen, ihn bei der Ausübung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts begleiten oder ihm nachziehen dürfen. Das Bewusstsein, dass dieser Anspruch bei seiner Rückkehr in den Heimatmitgliedstaat verloren geht, ist geeignet, ihn entweder von vornherein vom Umzug abzuhalten oder seine Handlungsmöglichkeiten nach dem ersten Umzug einzuschränken. Insoweit spielt es keine Rolle, dass einem Familienangehörigen vor dem ersten Umzug kein Aufenthaltsrecht im Heimatmitgliedstaat zustand: Die Richtlinie 2004/38 garantiert dem Unionsbürger nach dem zweiten Umzug den gemeinsamen Aufenthalt mit Familienangehörigen, mit denen er vor dem ersten Umzug zusammengelebt hat, die ihm von außerhalb der Union nachziehen oder die nach dem ersten Umzug Familienangehörige werden(73). Deshalb darf ein Heimatmitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen, die zurückkehren, um sich in seinem Hoheitsgebiet aufzuhalten, keine weniger günstige Behandlung zuteilwerden lassen als diejenige, die sie als Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat genossen haben. Entscheidend ist die Behandlung, auf die der Unionsbürger Anspruch im Aufnahmemitgliedstaat hat. Welche Behandlung der Unionsbürger tatsächlich erfahren hat, ist ohne Belang(74). Da die nach Unionsrecht bestehenden Rechte nach dem ersten Umzug „mitreisen“ und dem Unionsbürger nach dessen Rückkehr in seinen Heimatmitgliedstaat erhalten bleiben, gelten die in der Richtlinie 2004/38 festgelegten Bedingungen und Beschränkungen mittelbar auch für alle Unionsbürger, die in ihren Heimatmitgliedstaat zurückkehren.

 Definition des Begriffs „Aufenthalt“

96.      Wenn der Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat nicht Wohnung genommen hat, ist weniger ersichtlich, dass die Verweigerung des unionsrechtlichen Aufenthalts für Familienangehörige im Heimatmitgliedstaat das Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgers einschränkt. Was ist jedoch unter dem Begriff „Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat“ zu verstehen? Diese Problematik liegt der zweiten und der dritten Frage in der Rechtssache C‑456/12 zugrunde.

97.      Die Richtlinie 2004/38 legt die Bedingungen fest, unter denen ein Unionsbürger sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten darf, ohne jedoch den Begriff „Aufenthalt“ zu definieren. Auch in den Verträgen findet sich keine allgemeine Begriffsbestimmung. In bestimmten abgeleiteten Instrumenten ist „Aufenthalt“ für die Zwecke des betreffenden Rechtsakts definiert, indem auf Begriffe wie „gewöhnlicher Wohnsitz“(75) oder „Wohnort“, „gewöhnlicher Aufenthalt“ bzw. „gewöhnlicher Aufenthaltsort“(76) zurückgegriffen wird.

98.      Der Begriff „Aufenthalt“ übernimmt im Unionsrecht verschiedene Funktionen. In bestimmten Zusammenhängen kann er – im Sinne von Wohnort – als Kriterium zur Bestimmung des anwendbaren Rechts (z. B. im Steuerrecht oder im internationalen Privatrecht) und zur Vermeidung des sogenannten „Sozialleistungstourismus“ verwendet werden(77). In anderem Zusammenhang kann „Aufenthalt“ Gegenstand eines Rechts(78) oder – im Sinne von ständiger Wohnsitz – ein Tatbestandsmerkmal sein, bei dessen Nichterfüllung der Bezug einer Leistung ausgeschlossen ist(79). In bestimmten Fällen ist der Begriff definiert, in anderen hingegen nicht. „Aufenthalt“ ist im Unionsrecht also kein einheitlicher Begriff.

99.      Im Unionsbürgerschaftsrecht ist der Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat nicht nur ein Recht, sondern – im Sinne von Wohnsitz – mitunter auch Voraussetzung für die Ausübung von mit dem Unionsbürgerstatus einhergehenden Rechten (z. B. das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen(80)); damit kann aber auch ein Erfordernis bezeichnet werden, mit dem andere unionsrechtlich garantierte Freiheiten eingeschränkt werden können.

100. Im Urteil Swaddling hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Ausdruck „Wohnort“ nach der Begriffsbestimmung von Art. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71(81) den „gewöhnlichen Aufenthalt“ bedeute und damit eine unionsrechtliche Bedeutung habe(82). Der Gerichtshof hat den Begriff „Wohnmitgliedstaat“ in dem Sinne ausgelegt, dass damit der Ort bezeichnet werde, an „dem sich … der gewöhnliche Mittelpunkt ihrer [,der Betroffenen,] Interessen befindet“; zur Ermittlung dieses Ortes seien „die Familiensituation des Arbeitnehmers, die Gründe, die ihn zum Wandern veranlasst haben, die Dauer des Wohnens, gegebenenfalls die Innehabung einer festen Anstellung und die Absicht des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, wie sie sich aus einer Gesamtbetrachtung ergibt“(83). Damit gibt der Gerichtshof zu erkennen, dass für die richtige Einschätzung, ob sich eine Person aufhält oder nicht, nicht auf einen einzigen Faktor, sondern auf eine Anzahl von Elementen abzustellen ist, die in ihrer Gesamtheit eine Beurteilung der Situation des Betroffenen und der Frage ermöglichen, ob diese Situation als Aufenthalt zu qualifizieren ist oder nicht.

101. In anderen Bereichen des Unionsrechts hat der Gerichtshof sich im Sinne eines ähnlichen Verständnisses des Begriffs „Wohnort“ ausgesprochen, nämlich als dem Ort, an dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen einer Person befindet; dieser Ort ist anhand der konkreten Umstände, einschließlich objektiver und subjektiver Elemente, zu bestimmen(84).

102. Meines Erachtens ist, um von einem Aufenthalt ausgehen zu können, keine ständige physische Anwesenheit im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erforderlich (dritte Frage in der Rechtssache C‑456/12). Andernfalls könnte ein Aufenthalt in einem Mitgliedstaat nur dann angenommen werden, wenn das Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt wurde (vor einem Umzug muss man zwangsläufig an einem anderen Ort gelebt haben)(85). Es wäre jedoch vielleicht angemessen, eine Anwesenheit für einen überwiegenden Teil der Zeit zu verlangen.

103. Ich meine auch, dass es für die Frage, ob ein Unionsbürger Wohnung in einem anderen Mitgliedstaat genommen hat, nicht darauf ankommt, ob sich dort der alleinige Wohnsitz befindet. Vielfach gehört zu der Ausübung des Rechts, sich in der Union frei zu bewegen, die Verlegung des Wohnsitzes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, ohne eine aussagekräftige Beziehung zum früheren Wohnsitz fortzusetzen. In anderen Fällen hingegen wird die Aufrechterhaltung enger Bindungen aus den verschiedensten Gründen zweckmäßig sein.

104. Sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen für die Begründung des Wohnsitzes in einem Mitgliedstaat erfüllt, darf es keine Rolle spielen, ob er noch anderenorts einen Wohnsitz irgendwelcher Art hat(86). Es gibt im Unionsrecht keine allgemeine Regel, wonach der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat den gleichzeitigen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat ausschlösse(87). Hiervon scheint stillschweigend auch die Richtlinie 2004/38 auszugehen, die für ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate die Voraussetzung aufstellt, dass es sich bei dem Unionsbürger um einen Arbeitnehmer oder Selbständigen handelt oder dass er über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er während seines Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen muss. Personen, denen ein Recht auf Daueraufenthalt zusteht, müssen Anspruch auf volle Solidarität haben (in deren Rahmen die Voraussetzung der „ausreichenden Existenzmittel“ nicht gilt)(88).

105. Unionsbürger, die keine Wanderarbeitnehmer oder Selbständige im Aufnahmemitgliedstaat sind, müssen zwar unter Umständen nachweisen, dass sie über ausreichende Existenzmittel verfügen, jedoch trifft die Richtlinie 2004/38 keine Aussage über die Herkunft dieser Existenzmittel, die daher aus Tätigkeiten oder Beteiligungen stammen können, die an einem anderen Ort innerhalb oder außerhalb der Union liegen können. Andernfalls läge eine offensichtliche Beschränkung der Grundfreiheiten vor.

106. Spielt es eine Rolle, ob der Unionsbürger sich ursprünglich in den Aufnahmemitgliedstaat begeben hat, um von einer wirtschaftlichen Freiheit Gebrauch zu machen, und ob er in seinen Heimatmitgliedstaat zurückgekehrt ist, um dort wirtschaftlich aktiv zu sein?

107. Ich meine nicht.

108. Herr Eind hatte sich von den Niederlanden in das Vereinigte Königreich begeben, um dort wirtschaftlich aktiv zu werden; nach seiner Rückkehr in die Niederlande war er nicht erwerbstätig. Dennoch hatte seine Tochter das Recht, bei ihm in den Niederlanden Wohnung zu nehmen, wenngleich unter den für Verwandte in absteigender Linie von Wanderarbeitnehmern nach der Verordnung Nr. 1612/98 geltenden Bedingungen(89). Auf diese Behandlung hatte Herr Eind nämlich im Vereinigten Königreich Anspruch, den er bei seiner Rückkehr in die Niederlande nicht verlieren konnte.

109. Ein Unionsbürger hat also Anspruch darauf, als Arbeitnehmer oder Selbständiger in seinem Heimatmitgliedstaat nicht weniger günstig behandelt zu werden als im Aufnahmemitgliedstaat. An diesem Anspruch ändert sich nichts, wenn der Betreffende nicht mehr wirtschaftlich aktiv ist. Auch der Umstand, dass der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat nicht den Status eines Arbeitnehmers oder Selbständigen hatte, führt zu keinem anderen Ergebnis, da das Recht des Unionsbürgers auf Freizügigkeit und Aufenthalt mittlerweile nicht mehr von der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit abhängt. Allerdings können unterschiedliche Bedingungen für den Aufenthalt von Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat gelten(90).

110. Nicht überzeugend finde ich die These, ein Unionsbürger (gleichviel ob es sich bei ihm um einen Wanderarbeitnehmer oder Selbständigen handele) müsse sich in einem anderen Mitgliedstaat für einen ununterbrochenen Zeitraum von mindestens drei Monaten oder für einen sonstigen „erheblichen“ Zeitraum aufgehalten haben, ehe seine Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigkeit unionsrechtlich ein Aufenthaltsrecht im Heimatmitgliedstaat herleiten könnten (Gegenstand der zweiten Frage in der Rechtssache C‑456/12). Diese These setzt voraus, dass eine erzwungene Trennung von einem Familienangehörigen, etwa einem Ehegatten, den Unionsbürger, der vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat Wohnung nehmen will, nicht von der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt abhalten würde. Ich sehe keine Grundlage für die Auffassung, dass es dem Unionsbürger in einem solchen Fall zuzumuten sei, vorübergehend auf sein Recht auf Familienleben zu verzichten (oder etwas anders ausgedrückt, dass er diesen Preis zu zahlen habe, um sich später gegenüber seinem eigenen Mitgliedstaat auf das Unionsrecht berufen zu können). Nach der Richtlinie 2004/38 sind die Familienangehörigen nämlich berechtigt, den Unionsbürger sofort in den Aufnahmemitgliedstaat zu begleiten. Die Richtlinie 2004/38 macht ihren Anspruch auf dieses abgeleitete Recht nicht von einem Aufenthalt des Unionsbürgers für eine Mindestdauer abhängig. Vielmehr richten sich die für die Unterhaltsberechtigten geltenden Bedingungen je nach der Dauer des Aufenthalts in dem betreffenden Hoheitsgebiet.

111. Die Dauer des Aufenthalts eines Unionsbürgers in einem anderen Mitgliedstaat ist (offenkundig) ein relevantes quantitatives Kriterium. Meiner Meinung nach kann es nicht als absoluter Maßstab für die Beurteilung herangezogen werden, ob jemand das Aufenthaltsrecht ausgeübt hat, so dass seine Familienangehörigen das Recht haben, ihn zu begleiten oder ihm nachzuziehen(91). Es handelt sich um ein Kriterium unter mehreren, die berücksichtigt werden müssen.

 Freizügigkeit ohne Aufenthalt

112. Wie ist die Rechtslage, wenn sich ein Unionsbürger in einen anderen als den Mitgliedstaat begibt, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, dort aber keine Wohnung nimmt? Sind seine Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigkeit dann berechtigt, ihn in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit und seines Wohnsitzes zu begleiten? So lauten im Kern die erste und die zweite Frage in der Rechtssache C‑457/12.

113. Diese Fallgestaltung wird von den Ausführungen in den Urteilen Singh(92) und Eind(93) nicht erfasst. Dem Urteil Carpenter(94) lässt sich jedoch bereits entnehmen, dass ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes den einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen eines Unionsbürgers zustehen kann, der von den Binnenmarktfreiheiten (z. B. zur Erbringung von Dienstleistungen) Gebrauch macht, aber seinen Wohnsitz nicht in einen anderen Mitgliedstaat verlegt.

114. In der Rechtssache Carpenter hatte das nationale Gericht festgestellt, dass Frau Carpenter ihren Ehegatten durch die Betreuung der Kinder und die Haushaltsführung möglicherweise mittelbar bei der Wahrnehmung seines Rechts, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen, unterstütze und ihm diese erleichtere. Infolgedessen könne Herr Carpenter mehr Zeit in sein Unternehmen investieren, in dessen Rahmen ein erheblicher Teil des Geschäfts in anderen Mitgliedstaaten abgewickelt werde(95). Der Gerichtshof hat entschieden, dass ein Aufenthaltsverbot für Frau Carpenter und damit die Trennung der Eheleute „sich nachteilig auf ihr Familienleben und damit auf die Bedingungen auswirken würde, unter denen Herr Carpenter eine Grundfreiheit wahrnimmt“(96). Unter Rückgriff auf die Grundsätze des Urteils Singh hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die volle Wirkung dieser Freiheit beeinträchtigt werden könnte, wenn im Herkunftsland von Herrn Carpenter Hindernisse für die Einreise und den Aufenthalt seines Ehegatten bestünden(97).

115. Bei der Prüfung, ob diese Beschränkung gerechtfertigt sein könnte, ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass die Entscheidung über die Ausweisung von Frau Carpenter ein Eingriff in die Verwirklichung des Rechts von Herrn Carpenter auf Achtung seines Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK sei(98).

116. Lassen Sie uns das Urteil Carpenter ein wenig näher betrachten.

117. Den Erwägungen des Gerichtshofs liegt zwangsläufig die Prämisse zugrunde, dass zwischen der Ausübung der wirtschaftlichen Freizügigkeit durch Herrn Carpenter und dem Aufenthalt seiner philippinischen Ehegattin im Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes von Herrn Carpenter ein Kausalzusammenhang bestehe. Mit der wirtschaftlichen Tätigkeit werde seine einem Drittstaat angehörende Ehegattin unterstützt. Umgekehrt sei Herr Carpenter insofern von seiner Ehegattin abhängig, als sie sich um seine Kinder kümmere, den Haushalt führe und dadurch mittelbar zu seinem Erfolg beitrage(99). Die Bedingungen, unter denen das Recht auf Familienleben ausgeübt werde, seien daher geeignet, sich auf die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit auszuwirken. Werde Frau Carpenter das Recht verweigert, sich im Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes von Herrn Carpenter aufzuhalten, wäre er wahrscheinlich gezwungen, entweder i) sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um den Nachzug seiner Ehegattin dorthin (vorbehaltlich der in der Richtlinie 2004/38 festgelegten Bedingungen) zu ermöglichen, oder ii) die Beschränkung seines Rechts auf Familienleben hinzunehmen und auf die Anwesenheit seiner Ehegattin bei ihm in seinem Heimatmitgliedstaat zu verzichten, was sich auf die Bedingungen auswirke, unter denen er von seiner Freiheit Gebrauch mache, in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen zu erbringen (ohne sich dort aufzuhalten). Ob er sich dadurch tatsächlich dazu veranlasst gesehen hätte, seine Tätigkeiten im Ausland aufzugeben, steht nicht fest und ist nicht Gegenstand der Erwägungen des Gerichtshofs.

118. Inwieweit ist diese Analyse von Bedeutung für erstens die Wahrnehmung des aktiven Freizügigkeitsrechts ohne Aufenthalt als Arbeitnehmer und für zweitens die Wahrnehmung des „passiven“ Rechts auf Empfang von Dienstleistungen?

 Grenzübertritt als Arbeitnehmer ohne Verlegung des Wohnsitzes

119. Es kann vorkommen, dass einem Unionsbürger, der ohne Verlegung seines Wohnsitzes das Freizügigkeitsrecht im Rahmen einer Tätigkeit ausübt, mit der er zur Unterstützung von Familienangehörigen beiträgt oder aufgrund deren er von Familienangehörigen abhängig wird, aus eben diesem Grund bestimmte Familienangehörige in seinen Heimatmitgliedstaat nachziehen müssen. In solchen Fällen kann der Zusammenhang zwischen Aufenthalt und Ausübung des Freizügigkeitsrechts recht deutlich zutage treten und ohne Weiteres nachweisbar sein. Wird z. B. den Familienangehörigen eines Grenzarbeitnehmers der Aufenthalt verweigert, könnte dieser von einer Arbeitstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat abgehalten werden oder zu einem Wohnortwechsel und zu einem Umzug mit seiner Familie in einen anderen Mitgliedstaat gezwungen sein. Das Gleiche gilt für einen Unionsbürger, der von einem Familienangehörigen abhängig ist, weil dieser Familienangehörige die Ausübung des Freizügigkeitsrechts erleichtert oder ermöglicht. Dies ergibt sich unmittelbar aus der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Carpenter zur „aktiven“ Erbringung von Dienstleistungen an in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Kunden.

120. Besteht ein maßgeblicher Unterschied zwischen einerseits Wohnen in Mitgliedstaat A mit Tätigkeit für einen Arbeitgeber in Mitgliedstaat B (Situation der Referenzperson G) und andererseits Wohnen in Mitgliedstaat A, Tätigkeit für einen ebenfalls in Mitgliedstaat A ansässigen Arbeitgeber mit Verrichtung einer Arbeit, in deren Rahmen der Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat fahren muss (Situation der Referenzperson S)? Diese Problemstellung liegt im Wesentlichen den beiden in der Rechtssache C‑457/12 vorgelegten Fragen zugrunde.

121. Meines Erachtens besteht kein solcher Unterschied. In beiden Fällen erfordert es die Beschäftigung des Arbeitnehmers, dass er Grenzen überquert, um seinen Arbeitsvertrag zu erfüllen. Er kann nicht seine Anstellung behalten und gleichzeitig in seinem Heimatmitgliedstaat bleiben. Fraglich ist dann, ob eine Beschränkung der Anwesenheit des einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen im Heimatmitgliedstaat dazu führt, dass der Arbeitnehmer entweder am Grenzübertritt zum Zweck der Erfüllung seines Arbeitsvertrags gehindert wird oder dass ihm die Vertragserfüllung nennenswert erschwert wird. Denkbar ist eine Konstellation, bei der die Beschränkung nach dem Sachverhalt für die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts keine Rolle spielt. Sollte jedoch die Möglichkeit des Arbeitnehmers zur Vertragserfüllung nennenswert beeinträchtigt werden, falls er die durch den Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigkeit gewährte Unterstützung nicht in Anspruch nehmen kann (oder sollte die grenzüberschreitende Tätigkeit sogar ganz unmöglich werden), gebietet es der Grundsatz, dass der Unionsbürger das Freizügigkeitsrecht wirksam wahrnehmen können muss, seinem Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigkeit unionsrechtlich ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Heimatmitgliedstaat zu gewähren.

122. Ob dem einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen ein solches Recht im Heimatmitgliedstaat des Unionsbürgers zusteht, ist anhand derselben drei Variablen zu beurteilen, die auch schon die Grundlage für die Begründung abgeleiteter Rechte für Familienangehörige mit Drittstaatsangehörigkeit im Unionsrecht bilden. Diese Variablen lauten:

–        Familienbeziehung zum Unionsbürger,

–        Ausübung des Freizügigkeitsrechts durch den Unionsbürger und

–        Kausalzusammenhang zwischen Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen und Ausübung des Freizügigkeitsrechts durch den Unionsbürger.

123. Die Prüfung anhand dieser drei Kriterien führt nicht automatisch zu einer einfachen Antwort „ja“ oder „nein“. Die Beschränkung des Freizügigkeitsrechts kann z. B. je nach der familiären Nähebeziehung ganz unterschiedlich einschneidend sein. Gleichzeitig kann der Einfluss dieser Beziehung und des Abhängigkeitsverhältnisses auf die Entscheidung des Unionsbürgers darüber, ob er vom Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen soll, ebenfalls stark schwanken. Eine Beschränkung dieser Entscheidungsfreiheit liegt dann vor, wenn dargetan wird, dass der Unionsbürger dadurch, dass dem einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen der Aufenthalt verweigert wird, denkbarerweise zu einem Umzug, zur Unterlassung eines Umzugs oder zum Ausschlagen einer tatsächlichen Chance zu einem Umzug veranlasst wird.

 Genuss der „passiven“ Freiheit, in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen zu empfangen, ohne sich dorthin zu begeben

124. Dies steht im Mittelpunkt der ersten Frage in der Rechtssache C‑456/12.

125. Im Geltungsbereich des Unionsrechts genießt jeder Unionsbürger denselben Schutz seiner Grundfreiheiten und des Rechts auf Familienleben. Ein Unionsbürger, der sich in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen, fällt, um welche Dienstleistung auch immer es sich handeln mag, in den Geltungsbereich des Unionsrechts(100). Daraus folgt jedoch noch nicht, dass jede Ausübung des Freizügigkeitsrechts zum Zweck der Inanspruchnahme von Dienstleistungen auch ein abgeleitetes Recht der einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen des Unionsbürgers begründet, sich in dessen Heimatmitgliedstaat aufzuhalten. Denn nicht jede Verweigerung des Aufenthalts stellt ein der Familienzusammenführung entgegenstehendes Hindernis dar, durch das das Grundrecht des Unionsbürgers auf Freizügigkeit beschränkt wird(101).

126. Eine Gesellschaft oder Volkswirtschaft ohne Dienstleistungen ist heute nicht mehr vorstellbar(102). Immer mehr Unionsbürger überqueren Grenzen, um Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Für viele von ihnen mag dies die einzige Art und Weise sein, in der sie jemals Freizügigkeit ausüben: Sie fahren in Urlaub, unternehmen Tagesausflüge, bestellen Bücher über das Internet und dergleichen.

127. Doch nicht für alle diese von einem Unionsbürger wahrgenommenen Formen der passiven Dienstleistungsfreiheit ist entscheidend, ob Familienangehörige mit Drittstaatsangehörigkeit sich ebenfalls in dem Mitgliedstaat aufhalten, in dem der Unionsbürger wohnt.

128. Der Umzug in einen anderen Mitgliedstaat mit dem Ziel, dort eine Dienstleistung zu empfangen, ist zwar zweifellos als Ausübung einer wirtschaftlichen Freiheit zu werten, er gehört aber in der Regel nicht zu der Art von Tätigkeit, die es einem Unionsbürger ermöglicht, seine Familienangehörigen zu unterstützen, oder die dazu führt, dass er von ihnen Unterhalt bezieht (ein Grund hierfür mögen die Opportunitätskosten für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts sein). Deshalb sind die einer Familienzusammenführung entgegenstehenden Hindernisse weniger geeignet, die Überlegungen zu beeinflussen, aufgrund deren ein Unionsbürger sich an einen anderen Ort begibt und/oder dort Aufenthalt nimmt.

129. In der Mehrzahl der Fälle ist ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen (das zu einem Daueraufenthalt führen könnte) nicht notwendig, damit ein Unionsbürger eine Dienstleistung empfangen kann, die „nicht nur unter Berücksichtigung der Dauer der Leistung, sondern auch ihrer Häufigkeit, regelmäßigen Wiederkehr oder Kontinuität“(103) vorläufiger Natur ist und bei der es sich häufig um eine Verbraucherdienstleistung, für die der Unionsbürger ein Entgelt zahlt, und nicht um eine Einkommen erzielende Tätigkeit handelt.

130. Dass die Inanspruchnahme der Dienstleistung gemeinsam mit Familienangehörigen angenehmer sein mag, genügt allein noch nicht für die Annahme einer Beschränkung des Freizügigkeitsrechts, weil diese Erwägung nicht zu den Gründen gehört, die den Unionsbürger dazu bewegt haben, zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung (z. B. ein Essen in einem besonders netten Restaurant) eine Grenze zu überqueren, anstatt in dem Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit und seines Wohnsitzes zu bleiben, um die Dienstleistung dort zu empfangen.

131. Ich will jedoch nicht ausschließen, dass in Ausnahmefällen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen mit Drittstaatsangehörigkeit erforderlich sein mag. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Unionsbürger von dem Familienangehörigen genau aus den Gründen abhängig wird, die ihn zur Grenzüberquerung mit dem Ziel der Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat veranlasst haben. Angenommen z. B., ein deutscher Staatsangehöriger, der sich in Deutschland aufhält und mit einer chinesischen Staatsangehörigen verheiratet ist, die dort keinen Aufenthaltstitel besitzt, wird krank und muss sich einer Langzeitbehandlung unterziehen. Er beschließt, die Behandlung aus medizinischen Gründen in Belgien durchführen zu lassen. Er hat keinerlei Absicht, seinen Wohnort zu wechseln und sich dort niederzulassen. Er benötigt jedoch Unterstützung bei den regelmäßigen Reisen nach Belgien. Er braucht auch Hilfe in anderen Angelegenheiten, die er nicht mehr selbst erledigen kann. Er ist auf eine Betreuungsperson angewiesen. Verständlicherweise möchte er, dass seine chinesische Ehegattin diese Betreuung übernimmt. Diese Entscheidung fällt in den Bereich seines Privat- und Familienlebens; sie steht aber gleichzeitig auch in Zusammenhang mit den Bedingungen, unter denen er das Freizügigkeitsrecht ausübt.

 Bewegung zwischen Mitgliedstaaten, um von dem Recht auf Familienleben Gebrauch zu machen

132. Wie verhält es sich, wenn ein Unionsbürger sich an einen anderen Ort in der Union ausschließlich zu dem Zweck begibt, sein Recht auf Familienleben mit einem Familienangehörigen auszuüben, der sich dort aufhält? Kann der Unionsbürger anschließend eine Beschränkung der Wahrnehmung der ihm zustehenden Freizügigkeit geltend machen, wenn dem Familienangehörigen unionsrechtlich untersagt wird, sich in dem Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes rechtmäßig aufzuhalten? Diese Fragen betreffen die Situation von B und O (Rechtssache C‑456/12), die beide Grenzen überquert haben, um bei ihrem Lebenspartner bzw. Ehegatten sein zu können.

133. Es ließe sich argumentieren, dass gerade in einem Fall, in dem eine solche restriktive nationale Maßnahme dazu führt, dass der Unionsbürger Wohnung in einem anderen Mitgliedstaat nimmt, die Unionsbürgerschaft ihre Funktion erfüllt und deutlich wird, in welcher Weise das Freizügigkeitsrecht die Ausübung des Rechts auf Familienleben verbessern kann.

134. Es geht jedoch nicht um die Frage, ob eine solche nationale Maßnahme zur Freizügigkeit führt (oder diese erlaubt). Vielmehr kommt es maßgeblich auf die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Bewegung an. Eine Maßnahme, die eine Bewegung erzwingt, schränkt diese Entscheidungsfreiheit ein. Sie verstößt damit gegen Art. 21 Abs. 1 AEUV(104).

 Bedingungen für die Ausübung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts

135. Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind zwar auf das Bestehen abgeleiteter Aufenthaltsrechte gerichtet, es ist aber zu beachten, dass für solche Rechte Bedingungen gelten. Die Ausübung der Rechte kann in den Verträgen oder in Durchführungsvorschriften geregelt sein.

136. Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ frei zu bewegen und aufzuhalten.

137. Ein Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit begibt, hat das Recht, unter den in der Richtlinie 2004/38 festgelegten Bedingungen in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten. Für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten muss sich der Unionsbürger z. B. lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses befinden(105). Das Gleiche gilt auch für Familienangehörige, die die Staatsangehörigkeit eines Drittlands besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm dorthin nachziehen(106). Für einen Aufenthalt für einen Zeitraum von über drei Monaten und für einen Daueraufenthalt gelten andere Bedingungen. Bei der Rückkehr des Unionsbürgers in seinen Heimatmitgliedstaat muss er Anspruch darauf haben, dass seine einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen ihn unter Bedingungen begleiten oder ihm nachziehen dürfen, die nicht weniger günstig sind als die Bedingungen, die unionsrechtlich im Aufnahmemitgliedstaat gelten.

138. Angenommen, ein Unionsbürger hat sich zwei Monate im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten, und sein einem Drittstaat angehörender Ehegatte ist ihm dorthin nachgezogen. Die Umstände (vielleicht die schwere Erkrankung eines Elternteils) zwingen den Unionsbürger zur Rückkehr in seinen Heimatmitgliedstaat, wo er sich zusammen mit seinem Ehegatten auf absehbare Zeit aufzuhalten gedenkt. Die Möglichkeit hierzu besteht, sofern der Ehegatte die entsprechenden Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt. Der Umstand, dass der Ehegatte lediglich zwei Monate lang mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat zusammengelebt hat, besagt nicht, dass die Dauer des Aufenthalts des Ehegatten im Heimatmitgliedstaat des Unionsbürgers in derselben Weise begrenzt werden müsste. Andernfalls könnte der Unionsbürger gezwungen sein, entweder von einem Umzug zurück in seinen eigenen Mitgliedstaat abzusehen, um sich mit seinem Ehegatten an einem anderen Ort in der Union aufzuhalten, oder den Ehegatten bei der Rückkehr in den Heimatmitgliedstaat zurückzulassen, weil der Ehegatte lediglich ein Aufenthaltsrecht für einen Zeitraum von zwei Monaten herleiten könnte und der Unionsbürger für einen längeren Zeitraum in der Heimat bleiben muss. Wären die beiden im Aufnahmemitgliedstaat geblieben, hätte sich der Ehegatte, sofern die einschlägigen Voraussetzungen erfüllt sind, dort länger als drei Monate aufhalten und womöglich ein Recht auf Daueraufenthalt erwerben können.

139. Schließlich ist zu prüfen, ob das abgeleitete Aufenthaltsrecht erlischt, falls zwischen der Rückkehr des Unionsbürgers in seinen Heimatmitgliedstaat und dem Nachzug des Familienangehörigen dorthin eine Zeitspanne (von nicht näher bezeichneter Dauer) liegt. Hierum geht es in der vierten Frage in der Rechtssache C‑456/12 (betreffend B).

140. Die Antwort hängt meines Erachtens davon ab, aus welchen Gründen der Unionsbürger und sein Familienangehöriger nicht gemeinsam umgezogen sind.

141. Die Richtlinie 2004/38 gestattet es dem Aufnahmemitgliedstaat nicht, einem Drittstaatsangehörigen wegen Zeitablaufs den Aufenthalt zu verweigern. Drittstaatsangehörige haben das Recht, den Unionsbürger, zu dem sie die in der Richtlinie bezeichneten Familienbeziehungen unterhalten, zu „begleiten oder ihm nach[zu]ziehen“(107). Aus dieser Formulierung ergibt sich, dass es einem Drittstaatsangehörigen nicht aufgrund des Umstands, dass eine gewisse Zeit verstrichen ist, verwehrt sein kann, einem Unionsbürger, der eingereist ist und Aufenthalt genommen hat, später „nachzuziehen“. So hat der Gerichtshof entschieden, die Richtlinie 2004/38 verlange nicht, dass der Familienangehörige eines Unionsbürgers zum selben Zeitpunkt in den Aufnahmemitgliedstaat einreise wie der Unionsbürger, aus dessen Status er Rechte ableite(108).

142. Der Grund, weshalb es zu einer Verzögerung gekommen ist, ist meiner Meinung nach unerheblich. Entscheidend ist vielmehr, ob die Entscheidung zum Umzug mit dem Ziel, sich bei einem Unionsbürger aufzuhalten, in Ausübung des Rechts auf Familienleben getroffen wird. Den Unionsbürgern steht die Entscheidung frei, wie sie das Recht auf Familienleben wahrnehmen wollen (andernfalls hätte das Recht kaum einen Wert). Viele werden es vorziehen, mit ihren Familienangehörigen zusammenzuleben, andere hingegen mögen zu einem bestimmten Zeitpunkt andere Prioritäten setzen (die sich im Laufe der Zeit auch ändern können), oder einem sofortigen Zusammenleben können praktische Hindernisse entgegenstehen. Wenn hingegen ein Familienangehöriger mit Drittstaatsangehörigkeit und ein Unionsbürger beschließen, dass sie nicht mehr als Paar zusammenleben und ihr Recht auf Familienleben nicht mehr ausüben wollen, besteht kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen.

143. Soviel vorausgeschickt, wende ich mich jetzt kurz der Prüfung zu, wie das vorlegende Gericht die Situation von O, B, S und G würdigen sollte.

 Bestimmende Faktoren für das abgeleitete Aufenthaltsrecht von O, B, S und G

–       O

144. Die Referenzperson O verzog aus den Niederlanden, heiratete O in Frankreich und begab sich dann mit ihrem Ehegatten nach Spanien. Falls sich O mit der Referenzperson O als einem Drittstaat angehörender Familienangehöriger einer Unionsbürgerin gemäß der Richtlinie 2004/38 rechtmäßig in Spanien aufhielt, darf die Referenzperson O bei ihrer Rückkehr in die Niederlande zu Arbeits- und Wohnzwecken nicht weniger günstig behandelt werden als bei ihrem Umzug nach Spanien zum Zweck der dortigen Wohnungsnahme. Sollte dieser Sachverhalt bestätigt werden (was selbstverständlich Sache des nationalen Gerichts ist), hat O daher nach Unionsrecht ein Recht auf einen Aufenthaltstitel in den Niederlanden. Dieses Recht gilt weder unbedingt noch absolut. Es unterliegt den in der Richtlinie 2004/38 festgelegten Bedingungen und Beschränkungen in derselben Weise wie sein vorangegangenes Aufenthaltsrecht in Spanien.

–       B

145. Die Referenzperson B übte das Freizügigkeitsrecht aus und nahm möglicherweise Aufenthalt in Belgien, um dort mit ihrem (damaligen) Partner B zusammenzuleben. (Ob die Referenzperson B in Belgien Arbeitssuchende war, ist nicht klar und muss vom nationalen Gericht überprüft werden.) Als bloßer Partner fiel B jedoch nicht in den Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 und konnte daher unionsrechtlich aus der Anwesenheit der Referenzperson B in Belgien kein Recht auf einen dortigen Aufenthalt ableiten. Für den Anspruch von B auf Aufenthalt in den Niederlanden ist daher unerheblich, ob die Referenzperson B in Belgien Aufenthalt nahm oder nicht.

146. Im Rahmen von Art. 21 Abs. 1 AEUV ist auch nicht entscheidend, ob die Referenzperson B nach der Eheschließung mit B in Marokko lebte oder ihn dort besuchte, da die genannte Bestimmung lediglich das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt in der Union garantiert.

147. Es ist auch kein Zusammenhang zwischen dem Aufenthaltsverbot für B in den Niederlanden und der Wahrnehmung der durch Art. 21 Abs. 1 AEUV garantierten Rechte durch die Referenzperson B zu erkennen. Jede etwaige Wahrnehmung solcher Rechte war abgeschlossen, bevor zwischen B und der Referenzperson B eine familiäre Beziehung bestand.

148. Die bloße Tatsache, dass zwischen der Rückkehr der Referenzperson B in die Niederlande und dem Nachzug von B eine gewisse Zeit verstrichen war, lässt jedoch ein B eventuell zustehendes abgeleitetes Aufenthaltsrecht unberührt, sofern die Entscheidung, der Referenzperson B in die Niederlande nachzuziehen, in Ausübung des Rechts auf Familienleben getroffen wurde(109).

–       S

149. Die Referenzperson S ist nicht ein „Angehörige[r] eines Mitgliedstaats, der von dem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit …“(110). Sie ist in dem Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes und ihrer Staatsangehörigkeit beschäftigt und tritt, wenn sie sich nach Belgien oder in andere Mitgliedstaaten begibt, nicht in den dortigen Arbeitsmarkt ein(111). Sie ist kein entsandter Arbeitnehmer(112), und sie überquert auch keine Grenzen mit dem Ziel, in Belgien Dienstleistungen im Sinne von Art. 56 AEUV zu erbringen. Vermutlich ist es vielmehr ihr Arbeitgeber, der durch Einschaltung der Referenzperson S Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten erbringt.

150. Dennoch bleibt es dabei, dass die Referenzperson S ihr Freizügigkeitsrecht im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit (ihrer Beschäftigung in den Niederlanden) ausübt, deren Früchte (was vom nationalen Gericht noch zu überprüfen ist) zum Wohlergehen ihrer Familie beitragen. Die Opportunitätskosten für die Aufnahme einer Beschäftigung dieser Art bestehen in der Notwendigkeit, die Kinderbetreuung für den Sohn sicherzustellen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob (und gegebenenfalls in welchem Umfang) die Referenzperson S eine solche Betreuung sicherstellen müsste, wenn sie die Erwerbstätigkeit einfach nur in den Niederlanden ausüben würde.

151. Wie steht es mit den beiden anderen oben genannten Variablen(113), nämlich Familienbeziehung und Kausalzusammenhang?

152. Bezüglich der Familienbeziehung zwischen S und der Referenzperson S hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass es sich bei S um eine Familienangehörige in aufsteigender Linie, der die Referenzperson S Unterhalt gewähre, im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/38 handele. Diese Feststellung impliziert, dass die Referenzperson S nach Auffassung des nationalen Gerichts S materiell unterstützt (unter Zugrundelegung der engen Auslegung des in der Richtlinie 2004/38 verwendeten Begriffs „Unterhalt“ durch den Gerichtshof). Ihrerseits ist die Referenzperson S offenbar auf S angewiesen, da S für den Sohn der Referenzperson S sorgt, während die Referenzperson S im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnisses vom Freizügigkeitsrecht Gebrauch macht.

153. Die Rechtbank, die den Bescheid des Ministers zunächst geprüft hat, hat diesen Umstand offenbar als nicht maßgeblich angesehen, weil sich entweder die (ebenfalls in den Niederlanden ansässige) Ehegattin der Referenzperson S oder ein professioneller Kinderbetreuungsdienst um den Sohn der Referenzperson S kümmern könne.

154. Hiervon ausgehend gelangt das vorlegende Gericht zu dem vorläufigen Ergebnis, dass die Referenzperson S bei einem Aufenthaltsverbot für S in den Niederlanden hinsichtlich der Ausübung des Freizügigkeitsrechts nicht schlechtergestellt wäre. Zur Feststellung, ob in der Tat kein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen diesen beiden Faktoren besteht, wird das vorlegende Gericht zu untersuchen haben, ob eine Verweigerung des Aufenthalts für S die Referenzperson S dazu veranlassen würde, eine andere Beschäftigung zu suchen, bei der es nicht zu einer Ausübung des Freizügigkeitsrechts kommt, oder sich mit ihrer Familie, einschließlich S, in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.

–       G

155. Die Referenzperson G ist Grenzarbeitnehmer und hat diese Eigenschaft nach der Eheschließung mit G in Peru beibehalten; das Ehepaar hat gemeinsame Kinder. Es muss davon ausgegangen werden, dass G und die Referenzperson G als Eheleute in materieller, rechtlicher und affektiver Hinsicht voneinander abhängig sind. Die Beschäftigung der Referenzperson G in einem anderen Mitgliedstaat dürfte für diese Familienbeziehung von entscheidender Bedeutung sein.

156. Es ist durchaus denkbar, dass ein Aufenthaltsverbot für G in den Niederlanden die Referenzperson G, die mit G zusammenleben möchte, dazu veranlassen könnte, Wohnung in Belgien zu nehmen (damit die beiden gestützt auf die Richtlinie 2004/38 sich dort zusammen aufhalten können) und somit zu einem Wanderarbeitnehmer zu werden, der sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält. Dies wäre eine Beschränkung der Entscheidungsfreiheit, als Grenzarbeitnehmer tätig zu sein, und damit eine Beschränkung einer wirtschaftlichen Freiheit, die indes durch Art. 45 AEUV garantiert wird.

157. Weniger gewiss ist, ob dies die Referenzperson G dazu veranlassen würde, ihre Erwerbstätigkeit im Ausland aufzugeben. Ganz abgesehen davon, dass eine solche Entscheidung zum Verlust der Mittel zur Versorgung der Familie, einschließlich G, führen würde, käme es auch nicht zu einer Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Stellung von G in den Niederlanden.

 Nachtrag

158. Gleichviel, ob sich der Gerichtshof meiner hier dargestellten Würdigung anschließt, möchte ich dringend empfehlen, die sich durch diese beiden Vorabentscheidungsersuchen bietende Gelegenheit zu nutzen, um klare und systematische Hinweise zu den Voraussetzungen zu geben, unter denen den einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der sich in seinem Heimatmitgliedstaat aufhält, aber tatsächlich sein Freizügigkeitsrecht ausübt, nach Unionsrecht ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in dem Heimatmitgliedstaat zusteht.

 Ergebnis

159. Nach alledem bin ich der Meinung, dass der Gerichtshof die vom Raad van State aufgeworfenen Fragen in folgendem Sinne beantworten sollte:

In der Rechtssache O (C‑456/12):

1.      Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, gilt nicht unmittelbar für einen Unionsbürger, der in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit zurückkehrt. Der Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit darf dem Unionsbürger jedoch keine weniger günstige Behandlung zuteilwerden lassen als die, auf die er unionsrechtlich in dem Mitgliedstaat Anspruch hat, aus dem er sich in den Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit begibt. Die Richtlinie 2004/38 legt somit mittelbar den Mindeststandard der Behandlung fest, die einem zurückkehrenden Unionsbürger und seinen Familienangehörigen in dem Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit des Unionsbürgers zu gewähren ist.

2.      Das Unionsrecht verlangt nicht, dass ein Unionsbürger sich für einen Mindestzeitraum in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, damit die einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen des Unionsbürgers ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in dem Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit des Unionsbürgers, in den dieser zurückkehrt, geltend machen können.

3.      Ein Unionsbürger übt sein Recht auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat aus, wenn er den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen in diesen Mitgliedstaat verlegt. Ist diese Voraussetzung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände erfüllt, ist es in diesem Zusammenhang unerheblich, ob der Unionsbürger noch anderenorts einen Wohnsitz irgendwelcher Art unterhält oder ob seine physische Anwesenheit im Aufenthaltsmitgliedstaat regelmäßig oder unregelmäßig unterbrochen wird.

4.      Liegt zwischen der Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und dem Nachzug des einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen in diesen Mitgliedstaat eine Zeitspanne, erlischt der Anspruch des Familienangehörigen auf ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat nicht, sofern die Entscheidung, dem Unionsbürger nachzuziehen, in Ausübung des den beiden zustehenden Rechts auf Familienleben getroffen wird.

In der Rechtssache S (C‑457/12):

Übt ein Unionsbürger, der sich im Mitgliedstaat seiner Staatsangehörigkeit aufhält, das Freizügigkeitsrecht im Rahmen seines Beschäftigungsverhältnisses aus, hängt das Recht seines einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen auf Aufenthalt in diesem Staat von der Enge der familiären Beziehung zu dem Unionsbürger und von dem Kausalzusammenhang zwischen dem Aufenthaltsort der Familie und der Ausübung des Freizügigkeitsrechts durch den Unionsbürger ab. Dem Familienangehörigen ist insbesondere dann ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen, wenn eine Versagung dieses Rechts den Unionsbürger dazu veranlassen würde, eine anderweitige Beschäftigung zu suchen, bei der es nicht zu einer Ausübung des Freizügigkeitsrechts kommt, oder sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Insoweit ist es unerheblich, ob es sich bei dem Unionsbürger um einen Grenzarbeitnehmer handelt oder ob er sein Freizügigkeitsrecht zu dem Zweck ausübt, seinen Arbeitsvertrag mit einem Arbeitgeber zu erfüllen, der in dem Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes des Unionsbürgers niedergelassen ist.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77 mit Berichtigungen in ABl. 2004, L 229, S. 35, und ABl. 2007, L 204, S. 28 – für die vorliegenden Rechtssachen ist nur die erstgenannte Berichtigung von Bedeutung).


3 –      Urteil vom 7. Juli 1992 (Slg. 1992, I‑4265).


4 –      Urteil vom 11. Dezember 2007 (Slg. 2007, I‑10719).


5 – Selbstverständlich hängen nicht alle sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte davon ab, dass der Unionsbürger Ländergrenzen überschritten hat – vgl. z. B. Art. 20 Abs. 2 Buchst. d AEUV. Außerdem gibt es Ausnahmesituationen, in denen auch dann, wenn kein Grenzübertritt von einem Mitgliedstaat in einen anderen erfolgt ist, den Unionsbürgern „der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird“, wenn Familienangehörigen mit der Staatsangehörigkeit eines Drittlands kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuerkannt wird – vgl. die auf den Urteilen Ruiz Zambrano, McCarthy und Dereci u. a. beruhende Rechtsprechung, die unten in den Nrn. 52 bis 66 erörtert wird.


6 – Urteil vom 5. Mai 2011, McCarthy (C‑434/09, Slg. 2011, I‑3375, Randnrn. 29 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


7 – Urteil McCarthy (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8 – Vgl. z. B. Urteile Singh (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 23) und Eind (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 32).


9 – Vgl. z. B. Urteil vom 23. September 2003, Akrich (C‑109/01, Slg. 2003, I‑9607, Randnrn. 55 und 56).


10 – Vgl. z. B. fünfter Erwägungsgrund der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) und sechster Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141, S. 1).


11 – Vgl. z. B. Urteil vom 17. April 1986, Reed (59/85, Slg. 1986, 1283, Randnr. 28, in dem der Gerichtshof auf diesen Gesichtspunkt im Hinblick auf die Anwesenheit eines ledigen Partners hingewiesen hat).


12 – Vgl. z. B. Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R (C‑413/99, Slg. 2002, I‑7091, Randnr. 83).


13 – Urteile vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a. (C‑87/12, Randnr. 35), und auch vom 10. Oktober 2013, Alokpa u. a. (C‑86/12, Randnr. 22).


14 – Vgl. z. B. sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38.


15 – Urteil vom 9. Januar 2007, Jia (C‑1/05, Slg. 2007, I‑1, Randnrn. 35 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch z. B. Urteile vom 5. September 2012, Rahman u. a. (C‑83/11, Randnrn. 32, 33 und 35), und Alokpa u. a. (oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16 – Vgl. Urteil vom 6. Dezember 2012, O und S (C‑356/11 und C‑357/11, Randnr. 56). Im Urteil vom 11. Juli 2002, Carpenter (C‑60/00, Slg. 2002, I‑6279), hat der Gerichtshof offenbar dem Umstand Bedeutung beigemessen, dass Herr Carpenter insofern auf seine Ehefrau angewiesen war, als diese seine Kinder betreute. Siehe Näheres hierzu unten in Nrn. 113 bis 117.


17 – Vgl. z. B. Urteil vom 5. Juni 1997, Uecker und Jacquet (C‑64/96 und C‑65/96, Slg. 1997, I‑3171, Randnr. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18 – Urteil vom 8. November 2012, Iida (C‑40/11, Randnr. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19 – Dies ist in der Summe wohl die Konsequenz der Urteile vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, Slg. 2011, I‑1177, Randnrn. 43 und 44), McCarthy (oben in Fn. 6 angeführt, Randnrn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) und vom 15. November 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, Slg. 2011, I‑11315, Randnr. 66).


20 – Urteil Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 76). Insoweit hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass Herr Iida nicht das Recht zum Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat, in dem seine Ehefrau und seine Tochter wohnen (Österreich), begehre, sondern in ihrem Heimatmitgliedstaat (Deutschland), dass die beiden Unionsbürgerinnen nicht davon abgehalten worden seien, ihr Recht auf Freizügigkeit auszuüben, und dass Herrn Iida selbst sowohl nach nationalem Recht als auch nach Unionsrecht ohnehin in gewissem Umfang ein Aufenthaltsrecht zustehe (vgl. Randnrn. 73 bis 75).


21 – Urteil Ruiz Zambrano (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass Herr Ruiz Zambrano, ein kolumbianischer Staatsangehöriger, sich im Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes seiner minderjährigen Kinder aufhalten dürfe, die Unionsbürger seien (den Mitgliedstaat ihrer Geburt aber nie verlassen hätten) und denen er Unterhalt gewähre.


22 – Urteil Ruiz Zambrano (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 44). Die Grundrechte wurden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Diese Schlussfolgerung wurde auch nicht näher begründet.


23 – Urteil McCarthy (oben in Fn. 6 angeführt). Es ist zwar ersichtlich, dass Frau McCarthy selbst sich im Vereinigten Königreich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit aufhalten durfte und dass sie nicht dadurch in ihrem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht beeinträchtigt wurde, dass ihrem Ehemann als einem Familienangehörigen mit der Staatsangehörigkeit eines Drittlands ein abgeleitetes Recht versagt wurde, es ist aber weniger ersichtlich, ob der Gerichtshof die genauen Konsequenzen bedacht hat. Vielleicht lautete das Motto einfach nur: „Unionsrechtlich lässt sich nichts ausrichten, versuch’s beim EGMR“.


24 – Urteil Dereci u. a. (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 66). Herr Dereci ist türkischer Staatsangehöriger, dessen Ehefrau und Kinder Österreicher sind und sich stets in Österreich aufgehalten haben, wo er gemeinsam mit ihnen leben wollte.


25 – Dereci u. a. (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 67). Vgl. auch Urteil Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 71).


26 – Urteil Dereci u. a. (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 68).


27 – Urteil Dereci u. a. (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 72).


28 – Im Urteil Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 80) scheint der Gerichtshof zur Beurteilung der Frage, ob die Anwendung eines nationalen Gesetzes, mit dem Unionsrecht durchgeführt werden soll, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen kann, ein etwas anderes Kriterium verwendet zu haben (nämlich ob Herr Iida unionsrechtlich Anspruch auf eine bestimmte Vergünstigung – eine Aufenthaltskarte – habe).


29 – Art. 51 der Charta. Vgl. auch Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, Randnrn. 20 und 21), unlängst wiederholt im Urteil vom 26. September 2013, TEXDATA Software (C‑418/11, Randnr. 73).


30 – Vgl. hierzu meine Schlussanträge in der Rechtssache Pfleger u. a. (C‑390/12, beim Gerichtshof anhängig, Nrn. 35 bis 47), in denen ich mich auf die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) stütze. Nach Art. 52 Abs. 7 der Charta sind diese Erläuterungen von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten „gebührend zu berücksichtigen“. Im Kontext der Unionsbürgerschaft ließe sich als Beispiel für das Bestehen einer Unterlassungspflicht der Fall anführen, dass ein Mitgliedstaat versucht, einen Unionsbürger mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats aus Gründen der öffentlichen Ordnung von seinem Hoheitsgebiet fernzuhalten. Die Handlungsfreiheit des Mitgliedstaats ist in einer solchen Situation aufgrund der Erfordernisse des Unionsrechts, gegen das er nicht verstoßen darf, eingeschränkt. Für eine eingehendere Erörterung siehe Nrn. 151 bis 177 meiner Schlussanträge in der Rechtssache Ruiz Zambrano (oben angeführt in Fn. 19).


31 – Vgl. z. B. Urteil Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32 – Vgl. z. B. Urteil Carpenter (oben in Fn. 16 angeführt, Randnr. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33 – Art. 52 Abs. 3 der Charta lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der [EMRK] verliehen wird.“ Allerdings steht Art. 52 Abs. 3 „dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt“.


34 – Urteil McCarthy (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


35 – Urteil Eind (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36 – Urteil vom 25. Juli 2008, Metock u. a. (C‑127/08, Slg. 2008, I‑6241, Randnr. 84 mit Verweis auf das Urteil Eind, oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 43).


37 – Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.


38 – Urteil Metock u. a. (oben in Fn. 36 angeführt, Randnrn. 54, 58, 70 und 80). In diesem Urteil ist der Gerichtshof von seiner im Urteil Akrich (oben in Fn. 9 angeführt, vgl. Randnr. 58) vertretenen Auffassung abgerückt. Das Urteil Metock u. a. erging nach der Entscheidung von B, nach Marokko zu ziehen, aber zu diesem Zeitpunkt waren B und die Referenzperson B ohnehin noch nicht verheiratet. Siehe oben (Nr. 27).


39 – Urteil Metock u. a. (oben in Fn. 36 angeführt, Randnr. 49).


40 – Urteile Dereci u. a. (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 55) und, in Bezug auf einen Ehegatten, McCarthy (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


41 – Siehe oben (Nr. 48).


42 – Urteil Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 57). Siehe auch oben, Nr. 48.


43 – Hervorhebung nur hier.


44 – Denkbar ist auch, im Mitgliedstaat A geboren zu sein und diesen nie zu verlassen, jedoch stets nur die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats B zu besitzen (so z. B. Catherine Zhu in der Rechtssache Zhu und Chen [Urteil vom 19. Oktober 2004, C‑200/02, Slg. 2004, I‑9925]), jedoch kommt das nicht häufig vor.


45 – Vgl. demgegenüber z. B. Urteil Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 64).


46 – Urteil Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). In Randnr. 51 (und in der dort angeführten Rechtsprechung) hat der Gerichtshof festgestellt, dass das abgeleitete Recht auf Einreise und Aufenthalt davon abhänge, ob der Unionsbürger „sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat“.


47 – Vgl. Art. 7 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.


48 – Vgl. Erwägungsgründe 4 und 19 der Richtlinie 2004/38.


49 – Ich sehe keine Grundlage für die These, trotz des Wortlauts von Art. 3 Abs. 1 hätten die Verfasser den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/38 ausweiten wollen, wobei diese These damit begründet wird, dass in anderen Bestimmungen die Begriffe „Aufnahmemitgliedstaat“ oder „anderer Mitgliedstaat“ verwendet würden.


50 – Vgl. Urteile McCarthy (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 39) und Dereci u. a. (oben in Fn. 19 angeführt, Randnr. 54).


51 – Einzelne Fälle können z. B. so gelagert sein, dass ein Unionsbürger mit doppelter Staatsangehörigkeit sich zwischen den beiden Mitgliedstaaten bewegt, deren Staatsangehörigkeit er besitzt.


52 – Urteil Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).


53 – Siehe unten (Nr. 95).


54 – Urteil McCarthy (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 34 und auch Randnr. 37). Vgl. auch Schlussanträge von Generalanwältin Kokott (Nrn. 28 und 29).


55 – Schlussanträge von Generalanwältin Trstenjak in der Rechtssache Iida (Urteil oben in Fn. 18 angeführt, insbesondere Nrn. 48 und 54).


56 – Vgl. z. B. Nr. 47 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache Iida (Urteil oben in Fn. 18 angeführt).


57 – Oben in Fn. 3 angeführt.


58 – Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14).


59 – Vgl. Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.


60 – Siehe unten (Nrn. 91 bis 96).


61 – Siehe unten (Nrn. 91 bis 97, 110 und 111).


62 – Art. 4 Abs. 3 EUV lautet: „Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben.“


63 – Schlussanträge in der Rechtssache Pusa (C‑224/02, Urteil vom 29. April 2004, Slg. 2004, I‑5763, Nr. 22).


64 – Ein solcher extremer Entzug eines Kernrechts der Unionsbürgerschaft wird von dem im Urteil Dereci u. a. umformulierten Grundsatz aus dem Urteil Ruiz Zambrano erfasst (beide Urteile oben in Fn. 19 angeführt). Um genau zu sein, ist darauf hinzuweisen, dass bestimmte Vorschriften wie etwa Art. 20 Abs. 2 Buchst. c AEUV (diplomatischer Schutz in einem Drittland) Unionsbürgern Rechte verleihen, die außerhalb des Gebiets der Union wahrgenommen werden können.


65 – Urteil oben in Fn. 16 angeführt.


66 – Oben in Fn. 3 angeführt.


67 – Oben in Fn. 4 angeführt.


68 – Auf das Urteil Carpenter (oben in Fn. 16 angeführt) gehe ich unten in den Nrn. 113 ff. ein.


69 – Urteil Singh (oben in Fn. 3 angeführt, Randnrn. 19 und 23).


70 – Vgl. Urteile Singh (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 21) und auch Eind (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 39) sowie vom 7. Oktober 2010, Lassal (C‑162/09, Slg. 2010, I‑9217, Randnr. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).


71 – Urteil Singh (oben in Fn. 3 angeführt, Randnr. 20).


72 – Urteile Eind (oben in Fn. 4 angeführt, Randnrn. 37 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, darunter das oben in Fn. 16 angeführte Urteil Carpenter) und auch Iida (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 70).


73 – Vgl. z. B. Urteil Metock u. a. (oben in Fn. 36 angeführt, Randnrn. 88, 89 und 92) (in Bezug auf die Gründung einer Familie nach Ausübung des Freizügigkeitsrechts).


74 – Dies folgt aus der vom Gerichtshof gewählten Formulierung in den Randnrn. 19 und 23 des Urteils Singh (oben in Fn. 3 angeführt). Vgl. auch die in der vorigen Fußnote angeführten Stellen im Urteil Metock u. a.


75 – Vgl. z. B. Art. 7 der Richtlinie 83/182/EWG des Rates vom 28. März 1983 über Steuerbefreiungen innerhalb der Gemeinschaft bei vorübergehender Einfuhr bestimmter Verkehrsmittel (ABl. L 105, S. 59) in geänderter Fassung.


76 – Vgl. z. B. die mehrfach geänderte Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1), Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177, S. 6), Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II) (ABl. L 199, S. 40) sowie Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. L 335, S. 1).


77 – Vgl. z. B. Urteil vom 16. Mai 2013, Wencel (C‑589/10, Randnrn. 48 bis 51), zur Möglichkeit zweier Wohnorte nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), aufgehoben durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004.


78 – Vgl. z. B. Richtlinie 2004/38.


79 – Vgl. z. B. Urteil vom 9. Oktober 1984, Witte/Parlament (188/83, Slg. 1984, 3465, Randnrn. 8 bis 11), in Bezug auf die Bewilligung einer Auslandszulage.


80 – Vgl. Art. 22 AEUV.


81 –      Oben in Fn. 77 angeführt.


82 – Urteil vom 25. Februar 1999, Swaddling (C‑90/97, Slg. 1999, I‑1075, Randnr. 28).


83 – Urteil Swaddling (oben in Fn. 82 angeführt, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


84 – Vgl. z. B. Urteile vom 17. Februar 1977, Di Paolo (76/76, Slg. 1977, 315), und vom 8. Juli 1992, Knoch (C‑102/91, Slg. 1992, I‑441); vgl. auch Schlussanträge von Generalanwalt Saggio in der Rechtssache Swaddling (Urteil oben in Fn. 82 angeführt, Nr. 17). Vgl. z. B. auch Urteile vom 23. April 1991, Ryborg (C‑297/89, Slg. 1991, I‑1943, Randnrn. 24 und 25), und vom 12. Juli 2001, Louloudakis (C‑262/99, Slg. 2001, I‑5547, Randnr. 55).


85 – Zur Vermeidung dieses logischen Paradoxons ist in den meisten Rechtsvorschriften über Aufenthalt als Tatbestandsmerkmal ein feststehender (und somit zwangsläufig willkürlicher) Anwesenheitszeitraum vorgeschrieben, nach dessen Ablauf das Vorliegen eines Aufenthalts bejaht wird. Es besteht jedoch kein objektiver Unterschied zwischen der Anwesenheit am Tag vor und der Anwesenheit am Tag nach diesem magischen Zeitpunkt.


86 – Vgl. z. B. Urteil Di Paolo (oben in Fn. 84 angeführt, Randnrn. 17/20 und 21/22).


87 – Die Mitgliedstaaten haben z. B. noch nie angenommen, dass eine Person nicht in ihrem Hoheitsgebiet steuerlich ansässig sein könne, weil sie (auch) in einem anderen Hoheitsgebiet steuerlich ansässig ist.


88 – Vgl. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.


89 – Urteil Eind (oben in Fn. 4 angeführt, Randnrn. 38 und 39). Die Verordnung Nr. 1612/68 wurde durch die Richtlinie 2004/38 geändert und ist inzwischen durch die Verordnung Nr. 492/2011 aufgehoben worden.


90 – Siehe unten (Nrn. 135 bis 142).


91 –      Müsste sich nämlich ein Unionsbürger x Monate lang ununterbrochen aufgehalten haben, ehe er berechtigt wäre, seine Familie bei sich zu haben, könnte sie ihn nur dann „begleiten“, wenn er das Hoheitsgebiet nach Zurücklegen des magischen Zeitraums verlässt, dann wieder einreist und dabei seine Familie mitbringt, was wohl kaum die Ausübung seines Freizügigkeitsrechts erleichtern dürfte.


92 – Oben in Fn. 3 angeführt.


93 – Oben in Fn. 4 angeführt.


94 – Oben in Fn. 16 angeführt.


95 – Urteil Carpenter (oben in Fn. 16 angeführt, Randnrn. 14 und 19).


96 – Urteil Carpenter (oben in Fn. 16 angeführt, Randnr. 39).


97 – Ebd.


98 – Vgl. Urteil Carpenter (oben in Fn. 16 angeführt, Randnr. 41).


99 – Der Immigration Adjudicator hatte als Tatsache festgestellt, dass der wachsende Erfolg des Unternehmens ihres Ehemanns mittelbar auf Frau Carpenter zurückgehe – Urteil Carpenter (oben in Fn. 16 angeführt, Randnr. 18). Generalanwältin Stix-Hackl hat die Auffassung vertreten, dass dieser Umstand für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht unerheblich sei (vgl. Nrn. 103 bis 105 ihrer Schlussanträge). Ich werte die Tatsache, dass der Gerichtshof ausdrücklich auf diesen Gesichtspunkt abgestellt hat, als Indiz dafür, dass er der Generalanwältin insoweit nicht zugestimmt hat.


100 – Vgl. hierzu Urteil vom 24. September 2013, Demirkan (C‑221/11, Randnrn. 35 und 36).


101 – Vgl. hierzu auch Schlussanträge von Generalanwalt Tesauro in der Rechtssache Singh (Urteil oben in Fn. 3 angeführt, Nr. 5).


102 – Vgl. z. B. auch Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón in der Rechtssache Demirkan (Urteil oben in Fn. 100 angeführt, insbesondere Nrn. 49 und 50).


103 – Urteil vom 30. November 1995, Gebhard (C‑55/94, Slg. 1995, I‑4165, Randnr. 27).


104 – Siehe auch oben (Nr. 89). Es sei darauf hingewiesen, dass es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Scheinehe, eines Betrugs oder eines Rechtsmissbrauchs gibt – siehe oben (Nr. 42).


105 – Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.


106 – Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38. Selbstverständlich müssen diese Familienangehörigen bei der Einreise auch alle einschlägigen Anforderungen für ein Einreisevisum erfüllen – vgl. Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38.


107 – Vgl. z. B. Art. 6 Abs. 2, 7 Abs. 2 und 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38. Vgl. auch Urteil Eind (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 38).


108 – Vgl. z. B. Urteil Metock u. a. (oben in Fn. 36 angeführt, Randnr. 90), Beschluss vom 19. Dezember 2008, Sahin (C‑551/07, Slg. 2008, I‑10453, Randnr. 28), sowie Urteil O und S (oben in Fn. 16 angeführt, Randnr. 54).


109 – Siehe oben (Nrn. 141 und 142).


110 – Urteil vom 13. Dezember 2012, Caves Krier Frères (C‑379/11, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


111 – Vgl. hierzu Urteil vom 9. August 1994, Vander Elst (C‑43/93, Slg. 1994, I‑3803, Randnr. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).


112 – Vgl. Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1).


113 – Oben, Nr. 122.