Language of document : ECLI:EU:C:2014:103

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

27. Februar 2014(*)

„Richtlinie 2003/9/EG – Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten – Art. 13 Abs. 1 – Fristen für die Gewährung materieller Aufnahmebedingungen – Art. 13 Abs. 2 – Maßnahmen in Bezug auf die materiellen Aufnahmebedingungen – Garantien – Art. 13 Abs. 5 – Festlegung und Gewährung der Mindestaufnahmebedingungen für Asylbewerber – Höhe der gewährten Unterstützung – Art. 14 – Modalitäten der materiellen Aufnahmebedingungen – Vollauslastung der Aufnahmestrukturen – Weiterverweisung auf die nationalen Systeme der Sozialfürsorge – Gewährung der materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen“

In der Rechtssache C‑79/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeidshof te Brussel (Belgien) mit Entscheidung vom 7. Februar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Februar 2013, in dem Verfahren

Federaal agentschap voor de opvang van asielzoekers

gegen

Selver Saciri,

Danijela Dordevic,

Danjel Saciri, vertreten durch Selver Saciri und Danijela Dordevic,

Sanela Saciri, vertreten durch Selver Saciri und Danijela Dordevic,

Denis Saciri, vertreten durch Selver Saciri und Danijela Dordevic,

Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Welzijn van Diest

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter M. Safjan und J. Malenovský sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. November 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte im Beistand von S. Ishaque, advocaat,

–        der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, F.‑X. Bréchot und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, K. Pawłowska und B. Czech als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou‑Durande und R. Troosters als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18) in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 und 2 sowie Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 dieser Richtlinie.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Federaal agentschap voor de opvang van asielzoekers (Föderalagentur für die Aufnahme von Asylbewerbern, im Folgenden: Fedasil) auf der einen Seite und Herrn Selver Saciri und Frau Danijela Dordevic in ihrem eigenen Namen und in ihrer Eigenschaft als gesetzliche Vertreter ihrer minderjährigen Kinder Danjel Saciri, Denis Saciri und Sanela Saciri (im Folgenden: Familie Saciri) sowie dem Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Welzijn van Diest (Öffentliches Sozialhilfezentrum Diest, im Folgenden: ÖSHZ) auf der anderen Seite wegen der Weigerung der Fedasil, der Familie Saciri sozialen Beistand zu gewähren, da sie nicht in einem Zentrum für die Unterbringung von Asylbewerbern aufgenommen werden könne.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der siebte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/9 lautet:

„Es sollten Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern festgelegt werden, die diesen im Normalfall ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten.“

4        Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist die Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten.“

5        Nach ihrem Art. 2 bezeichnet im Sinne dieser Richtlinie der Ausdruck

„…

j)      ‚materielle Aufnahmebedingungen‘ die Aufnahmebedingungen, die Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- und Geldleistungen oder Gutscheinen sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs umfassen;

…“

6        In Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten unterrichten die Asylbewerber innerhalb einer angemessenen Frist von höchstens fünfzehn Tagen nach der Antragstellung bei der zuständigen Behörde zumindest über die vorgesehenen Leistungen und die mit den Aufnahmebedingungen verbundenen Verpflichtungen.

…“

7        Art. 13 der Richtlinie 2003/9, der allgemeine Bestimmungen zu materiellen Aufnahmebedingungen und zur Gesundheitsversorgung enthält, sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Asylbewerbern ab Antragstellung materielle Aufnahmebedingungen gewährt werden.

(2)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die gewährten materiellen Aufnahmebedingungen einem Lebensstandard entsprechen, der die Gesundheit und den Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet.

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um besonders bedürftige Personen im Sinne von Artikel 17 und um in Gewahrsam befindliche Personen handelt.

(5)      Die materiellen Aufnahmebedingungen können in Form von Sachleistungen, Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination dieser Leistungen gewährt werden.

Wenn die Mitgliedstaaten materielle Aufnahmebedingungen durch Geldleistungen oder Gutscheine gewähren, bemisst sich deren Wert nach den in diesem Artikel festgelegten Grundsätzen.“

8        In Art. 14 der Richtlinie heißt es:

„(1)      Sofern Unterbringung als Sachleistung erfolgt, sollte sie in einer der folgenden Formen gewährt werden, die auch miteinander kombiniert werden können:

a)      Räumlichkeiten zur Unterbringung von Asylbewerbern für die Dauer der Prüfung eines an der Grenze gestellten Asylantrags;

b)      Unterbringungszentren, die einen angemessenen Standard gewährleisten;

c)      Privathäuser, Wohnungen, Hotels oder andere für die Unterbringung von Asylbewerbern geeignete Räumlichkeiten.

(3)      Die Mitgliedstaaten tragen gegebenenfalls dafür Sorge, dass minderjährige Kinder von Asylbewerbern oder minderjährige Asylbewerber zusammen mit ihren Eltern oder dem erwachsenen Familienmitglied, das nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht sorgeberechtigt ist, untergebracht werden.

(5)      Das in den Unterbringungszentren eingesetzte Personal muss angemessen geschult sein und unterliegt in Bezug auf die Informationen, die es durch seine Arbeit erhält, der Schweigepflicht, wie sie im nationalen Recht definiert ist.

(8)      Die Mitgliedstaaten können in Ausnahmefällen für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, andere Modalitäten der materiellen Aufnahmebedingungen festlegen als in diesem Artikel vorgesehen, wenn

–        zunächst eine Evaluierung der spezifischen Bedürfnisse des Asylbewerbers erforderlich ist;

–        materielle Aufnahmebedingungen, wie sie in diesem Artikel vorgesehen sind, in einer bestimmten Region nicht zur Verfügung stehen;

–        die üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind;

–        sich der Asylbewerber in Gewahrsam oder in Grenzgebäuden befindet, die er nicht verlassen darf.

Bei diesen anderen Aufnahmemodalitäten werden in jedem Fall die Grundbedürfnisse gedeckt.“

9        Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten berücksichtigen in den nationalen Rechtsvorschriften zur Durchführung des Kapitels II betreffend die materiellen Aufnahmebedingungen sowie die medizinische Versorgung die spezielle Situation von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben.“

10      Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Bei der Anwendung der Minderjährige berührenden Bestimmungen der Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Wohl des Kindes.“

 Belgisches Recht

11      Die Richtlinie 2003/9 ist mit der Wet van 12 januari 2007 betreffende de opvang van asielzoekers en van bepaalde andere categorieën van vreemdelingen (Gesetz vom 12. Januar 2007 über die Aufnahme von Asylbewerbern und von bestimmten anderen Kategorien von Ausländern, Belgisch Staatsblad, 7. Mai 2007, S. 24027, im Folgenden: Aufnahmegesetz) umgesetzt worden.

12      Art. 3 des Aufnahmegesetzes bestimmt:

„Jeder Asylbewerber hat Anrecht auf eine Aufnahme, die ihm ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.

Unter Aufnahme wird die materielle Hilfe verstanden, die aufgrund dieses Gesetzes gewährt wird, oder die Sozialhilfe, die gemäß der Organieke wet van 8 Juli 1976 betreffende de openbare centra voor maatschapelijk welzijn [Grundlagengesetz vom 8. Juli 1976 über die öffentlichen Sozialhilfezentren, Belgisch Staatsblad, 5. August 1976, S. 9876] von den öffentlichen Sozialhilfezentren gewährt wird.“

13      Art. 9 des Gesetzes lautet:

„Die Aufnahme im Sinne von Art. 3 wird von der Aufnahmestruktur oder dem öffentlichen Sozialhilfezentrum gewährt, die bzw. das unbeschadet der Anwendung von Art. 11 § 3 letzter Unterabsatz oder Art. 13 als obligatorischer Eintragungsort bestimmt wird.“

14      Nach Art. 10 dieses Gesetzes weist die Fedasil Ausländern einen obligatorischen Eintragungsort zu.

15      Gemäß Art. 11 § 3 des Aufnahmegesetzes achtet die Fedasil bei der Zuweisung eines obligatorischen Eintragungsorts darauf, dass dieser Ort für den Aufzunehmenden geeignet ist, und zwar in den Grenzen der verfügbaren Plätze. Beurteilt wird die Geeignetheit dieses Ortes insbesondere anhand von Kriterien wie der familiären Situation des Aufzunehmenden, seinem Gesundheitszustand und der Kenntnis einer der Landessprachen oder der Verfahrenssprache. In diesem Rahmen widmet die Fedasil der Situation schutzbedürftiger Personen im Sinne von Art. 36 des Aufnahmegesetzes besondere Aufmerksamkeit. Liegen besondere Umstände vor, braucht die Fedasil abweichend von Art. 11 § 1 keinen obligatorischen Eintragungsort zuzuweisen.

16      Nach Art. 11 § 4 des Aufnahmegesetzes kann die Fedasil unter außergewöhnlichen Umständen im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit von Plätzen in den Aufnahmestrukturen nach Beschluss des Ministerrats aufgrund eines von ihr erstellten Berichts während eines von ihr bestimmten Zeitraums entweder den obligatorischen Eintragungsort eines Asylbewerbers, soweit es sich um eine Aufnahmestruktur handelt, ändern und ein öffentliches Sozialhilfezentrum bestimmen oder als letztes Mittel einem Asylbewerber ein solches Zentrum als obligatorischen Eintragungsort zuweisen.

17      Gemäß Art. 1 des Grundlagengesetzes vom 8. Juli 1976 über die öffentlichen Sozialhilfezentren hat jede Person ein Anrecht auf Sozialhilfe. Dieses Anrecht auf Sozialhilfe gilt grundsätzlich auch für Ausländer, sofern sie sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet aufhalten.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Am 11. Oktober 2010 stellte die Familie Saciri einen Asylantrag beim Dienst Vreemdelingenzaken (Ausländerbehörde) und ersuchte unmittelbar darauf bei der Fedasil um Aufnahme.

19      Am selben Tag teilte die Fedasil der Familie Saciri mit, dass sie keine Aufnahmestruktur bestimmen könne, und verwies die Familie an das zuständige ÖSHZ weiter.

20      Nachdem die Familie Saciri keine Unterkunft hatte bekommen können, wandte sie sich an den privaten Wohnungsmarkt, stellte aber, da sie nicht in der Lage war, die Miete zu begleichen, beim ÖSHZ einen Antrag auf finanzielle Unterstützung.

21      Das ÖSHZ lehnte diesen Antrag ab und teilte zur Begründung mit, dass die von der Fedasil bereitgestellten Aufnahmestrukturen für die Familie Saciri zuständig seien.

22      Am 10. Dezember 2010 strengte die Familie Saciri bei der Arbeidsrechtbank te Leuven ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Fedasil und das ÖSHZ an.

23      Mit Entscheidung vom 12. Januar 2011 verurteilte die Arbeidsrechtbank te Leuven die Fedasil, der Familie Saciri Aufnahme zu gewähren, und das ÖSHZ, ihr finanzielle Unterstützung zu leisten.

24      Am 21. Januar 2011 gewährte die Fedasil den Betroffenen Aufnahme in einem Zentrum für die Unterbringung von Asylbewerbern.

25      Am 14. Dezember 2010 bzw. 7. Januar 2011 erhob die Familie Saciri bei der Arbeidsrechtbank te Leuven Klage gegen die Fedasil und das ÖSHZ.

26      Mit Urteil vom 17. Oktober 2011 erklärte das betreffende Gericht die Klage gegen das ÖSHZ für unbegründet und verurteilte die Fedasil zur Zahlung von 2 961,27 Euro an die Familie Saciri; dies entspricht drei Monatsbeträgen des Eingliederungseinkommens für eine Person mit Unterhaltspflicht gegenüber einer Familie.

27      Die Fedasil legte gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht Rechtsmittel ein. Die Familie Saciri legte daraufhin ein Anschlussrechtsmittel ein und beantragte, die Fedasil und das ÖSHZ gesamtschuldnerisch zur Zahlung eines Betrags zu verurteilen, der dem Eingliederungseinkommen für den gesamten Zeitraum entspricht, in dem der Familie keine Aufnahme gewährt wurde.

28      Der Arbeidshof te Brussel führt aus, dass für den Fall der Vollauslastung des Netzwerks für die Aufnahme von Asylbewerbern weder das Aufnahmegesetz noch irgendein anderes nationales Regelwerk eine besondere Regelung enthielten, die es Asylbewerbern, die nicht von der Fedasil aufgenommen werden könnten, ermögliche, binnen angemessener Frist eine Aufnahme zu erhalten, die den in der Richtlinie 2003/9 aufgestellten Normen genüge.

29      Beschließt die Fedasil, keinen Aufnahmeplatz zuzuweisen, erhalten Asylbewerber dem Gericht zufolge eine Geldleistung. Deren Höhe reiche jedoch nicht aus, um eine Unterkunft zu finden, und sei es auch nur vorübergehend.

30      Unter diesen Umständen hat der Arbeidshof te Brussel das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist ein Mitgliedstaat, wenn er dafür optiert, die materielle Unterstützung gemäß Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9 in Form einer Geldleistung zu gewähren, dann noch dafür verantwortlich, darüber zu wachen, dass der Asylbewerber in irgendeiner Form in den Genuss der Mindestschutzmaßnahmen nach Art. 13 Abs. 1 und 2 sowie Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 dieser Richtlinie kommt?

2.      Ist die in Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9 vorgesehene Geldleistung ab dem Zeitpunkt des Asyl- und des Aufnahmeantrags, nach Ablauf der Frist des Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie oder ab einem anderen Zeitpunkt zu gewähren? Muss die Geldleistung so hoch ausfallen, dass sie es dem Asylbewerber, wenn ihm der Mitgliedstaat oder eine von diesem bezeichnete Einrichtung keine materielle Aufnahme gewährt, erlaubt, jederzeit selbst für seine Unterbringung, gegebenenfalls in einem Hotel, zu sorgen, bis ihm eine feste Unterkunft angeboten wird oder er sich selbst eine Unterkunft für einen längeren Zeitraum beschaffen kann?

3.      Ist es mit der Richtlinie 2003/9 vereinbar, wenn ein Mitgliedstaat die materielle Aufnahme nur gewährt, soweit die bestehenden, vom Staat geschaffenen Aufnahmestrukturen diese Unterbringung gewährleisten können, und Asylbewerber, die darin keinen Platz finden, auf die allen Einwohnern dieses Staates zustehende Sozialhilfe weiterverweist, ohne dass es die erforderlichen gesetzlichen Vorschriften und Strukturen gibt, die es den nicht vom Staat selbst geschaffenen Einrichtungen tatsächlich ermöglichen würden, Asylbewerbern innerhalb kurzer Frist eine menschenwürdige Aufnahme zu gewähren?

 Zu den Vorlagefragen

 Zu der ersten und der zweiten Frage

31      Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, wenn er dafür optiert hat, die materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen zu gewähren, verpflichtet ist, diese Leistungen ab dem Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zu gewähren und dafür zu sorgen, dass die Leistungen hoch genug sind, damit die Asylbewerber eine Unterkunft finden können, die den in Art. 13 Abs. 1 und 2 sowie Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen genügt.

32      Zunächst ist festzustellen, dass nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9 die materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Sachleistungen, Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination dieser Leistungen gewährt werden können.

33      Was erstens den Zeitpunkt angeht, ab dem die Mitgliedstaaten die materiellen Aufnahmebedingungen zu gewähren haben, hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass der Zeitraum, in dem den Asylbewerbern die materiellen Aufnahmebedingungen gewährt werden müssen, mit der Antragstellung beginnt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI, C‑179/11, Rn. 39).

34      Bereits aus dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9 geht nämlich hervor, dass Asylbewerbern die materiellen Aufnahmebedingungen, ob als Sachleistungen oder als Geldleistungen, ab Antragstellung gewährt werden müssen.

35      Im Übrigen stehen die allgemeine Systematik und der Zweck der Richtlinie 2003/9 wie auch die Wahrung der Grundrechte, insbesondere das Gebot nach Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, dem entgegen, dass einem Asylbewerber, und sei es auch nur vorübergehend nach Einreichung eines Asylantrags, der mit den in dieser Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird (vgl. Urteil Cimade und GISTI, Rn. 56).

36      Was zweitens die Höhe der gewährten Geldleistungen betrifft, bemisst sich gemäß Art. 13 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/9, wenn die Mitgliedstaaten materielle Aufnahmebedingungen durch Geldleistungen oder Gutscheine gewähren, deren Wert nach den in diesem Artikel festgelegten Grundsätzen.

37      Insoweit ergibt sich aus Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie, dass die finanzielle Unterstützung für einen Lebensstandard ausreichen muss, der die Gesundheit und den Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet.

38      Ferner ist festzustellen, dass nach Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2003/9 der Ausdruck „materielle Aufnahmebedingungen“ die Aufnahmebedingungen bezeichnet, die Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- und Geldleistungen oder Gutscheinen sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs umfassen.

39      Zudem geht aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie hervor, dass mit dieser Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern festgelegt werden sollen, die diesen im Normalfall ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten.

40      Daraus ergibt sich, dass die Höhe der finanziellen Unterstützung zwar von dem jeweiligen Mitgliedstaat festgelegt wird, aber für ein menschenwürdiges Leben ausreichen muss, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind.

41      Im Rahmen der Festlegung der materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen sind die Mitgliedstaaten nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/9 verpflichtet, diese Aufnahmebedingungen der Situation besonders bedürftiger Personen im Sinne von Art. 17 der Richtlinie anzupassen. Die Geldleistungen müssen somit ausreichen, um die familiäre Gemeinschaft und das – nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie vorrangige – Wohl des Kindes zu bewahren.

42      Hat ein Mitgliedstaat dafür optiert, die materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen zu gewähren, müssen diese Leistungen folglich für ein menschenwürdiges Leben ausreichen, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind, indem sie insbesondere in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, gegebenenfalls auf dem privaten Wohnungsmarkt.

43      Die Bestimmungen der Richtlinie 2003/9 sind allerdings nicht dahin auszulegen, dass Asylbewerber eine Unterkunft nach ihren persönlichen Vorlieben wählen können müssten.

44      Was drittens die Frage des vorlegenden Gerichts angeht, ob diejenigen Mitgliedstaaten, die die materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen gewähren, dafür sorgen müssen, dass die in Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen Modalitäten der materiellen Aufnahmebedingungen eingehalten werden, ist festzustellen, dass Art. 14 Abs. 1 grundsätzlich die Formen der Unterbringung betrifft, die die Mitgliedstaaten wählen können, und bestimmt, dass die in dem betreffenden Artikel vorgesehenen Pflichten nur dann gelten, wenn die Mitgliedstaaten entschieden haben, dass die materiellen Aufnahmebedingungen als Sachleistungen gewährt werden.

45      Obwohl Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie nicht anwendbar ist, wenn die materiellen Aufnahmebedingungen ausschließlich als Geldleistungen gewährt werden, müssen diese Leistungen es jedoch gegebenenfalls minderjährigen Kindern von Asylbewerbern ermöglichen, bei ihren Eltern zu wohnen, so dass die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils angesprochene familiäre Gemeinschaft aufrechterhalten bleibt.

46      Daher ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9 dahin auszulegen ist, dass Geldleistungen oder Gutscheine, wenn ein Mitgliedstaat dafür optiert hat, die materiellen Aufnahmebedingungen in dieser Form zu gewähren, gemäß Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie ab dem Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zu gewähren sind und den in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie festgelegten Mindestnormen genügen müssen. Der betreffende Mitgliedstaat hat darauf zu achten, dass der Gesamtbetrag der Geldleistungen, durch die die materiellen Aufnahmebedingungen gewährt werden, für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind, indem sie insbesondere in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, wobei gegebenenfalls die Wahrung der Interessen besonders bedürftiger Personen im Sinne von Art. 17 der Richtlinie zu berücksichtigen ist. Die Mitgliedstaaten sind nicht an die in Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen materiellen Aufnahmebedingungen gebunden, wenn sie entschieden haben, diese Bedingungen ausschließlich in Form von Geldleistungen zu gewähren. Die betreffenden Leistungen müssen jedoch so hoch sein, dass minderjährige Kinder von Asylbewerbern bei ihren Eltern wohnen können, so dass die familiäre Gemeinschaft der Asylbewerber aufrechterhalten werden kann.

 Zur dritten Frage

47      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2003/9 dahin auszulegen ist, dass sie die Mitgliedstaaten daran hindert, Asylbewerber im Fall der Vollauslastung der Strukturen für ihre Unterbringung auf Einrichtungen des allgemeinen Sozialhilfesystems weiterzuverweisen, die den Asylbewerbern die nötige finanzielle Unterstützung zu gewähren haben.

48      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2003/9 den Mitgliedstaaten, wenn sie nicht in der Lage sind, die materiellen Aufnahmebedingungen als Sachleistungen zu gewähren, die Möglichkeit lässt, für die Gewährung der materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen zu optieren. Diese Leistungen müssen jedoch hoch genug sein, um die Grundbedürfnisse der Asylbewerber zu decken und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, bei dem ihre Gesundheit gewährleistet ist.

49      Da die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Frage, wie sie die materiellen Aufnahmebedingungen gewähren, über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügen, können sie die Geldleistungen somit von Einrichtungen auszahlen lassen, die zum allgemeinen Sozialhilfesystem gehören, sofern diese Einrichtungen dafür sorgen, dass die in der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen Mindestnormen für Asylbewerber beachtet werden.

50      In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Mitgliedstaaten darauf achten müssen, dass die betreffenden Einrichtungen die Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern einhalten. Die Vollauslastung der Aufnahmenetze rechtfertigt keinerlei Abweichung von diesen Normen.

51      Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2003/9 dahin auszulegen ist, dass sie die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, Asylbewerber im Fall der Vollauslastung der Strukturen für ihre Unterbringung auf Einrichtungen des allgemeinen Sozialhilfesystems weiterzuverweisen, sofern dieses System dafür sorgt, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindestnormen für Asylbewerber beachtet werden.

 Kosten

52      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass Geldleistungen oder Gutscheine, wenn ein Mitgliedstaat dafür optiert hat, die materiellen Aufnahmebedingungen in dieser Form zu gewähren, gemäß Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie ab dem Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zu gewähren sind und den in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie festgelegten Mindestnormen genügen müssen. Der betreffende Mitgliedstaat hat darauf zu achten, dass der Gesamtbetrag der Geldleistungen, durch die die materiellen Aufnahmebedingungen gewährt werden, für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind, indem sie insbesondere in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, wobei gegebenenfalls die Wahrung der Interessen besonders bedürftiger Personen im Sinne von Art. 17 der Richtlinie zu berücksichtigen ist. Die Mitgliedstaaten sind nicht an die in Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen materiellen Aufnahmebedingungen gebunden, wenn sie entschieden haben, diese Bedingungen ausschließlich in Form von Geldleistungen zu gewähren. Die betreffenden Leistungen müssen jedoch so hoch sein, dass minderjährige Kinder von Asylbewerbern bei ihren Eltern wohnen können, so dass die familiäre Gemeinschaft der Asylbewerber aufrechterhalten werden kann.

2.      Die Richtlinie 2003/9 ist dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, Asylbewerber im Fall der Vollauslastung der Strukturen für ihre Unterbringung auf Einrichtungen des allgemeinen Sozialhilfesystems weiterzuverweisen, sofern dieses System dafür sorgt, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindestnormen für Asylbewerber beachtet werden.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.