Language of document : ECLI:EU:C:2015:763

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

19. November 2015(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 23 Buchst. a – Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung – Öffentliche Ordnung“

In der Rechtssache C‑455/15 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varbergs tingsrätt (Gericht erster Instanz Varberg, Schweden) mit Entscheidung vom 25. August 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 28. August 2015, in dem Verfahren

P

gegen

Q

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Dritten Kammer L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal (Berichterstatterin) und K. Jürimäe,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von P, vertreten durch A. Heurlin, advokat, und M. Hellner,

–        von Q, vertreten durch K. Gerbauskas und H. Mackevičius, advokatai,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, U. Persson, C. Meyer-Seitz und L. Swedenborg als Bevollmächtigte,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch M. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten,

–        der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und J. Nasutavičienė als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten im Beistand von S. Samuelsson und M. Johansson, advokater,

nach Anhörung des Generalanwalts

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1), insbesondere ihrer Art. 23 Buchst. a und 24.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen P, wohnhaft in Schweden, und Q, wohnhaft in Litauen, wegen des Sorgerechts für ihre Kinder.

 Rechtlicher Rahmen

 Haager Übereinkommen von 1980

3        In Art. 13 des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) heißt es:

„Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

a)      dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder

b)      dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.

…“

4        Das Haager Übereinkommen von 1980 trat am 1. Dezember 1983 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsstaaten dieses Übereinkommens.

 Unionsrecht

5        Der 21. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.“

6        Art. 8 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt in Abs. 1:

„Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.“

7        Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des [Haager Übereinkommens von 1980], um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(6)      Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.

(7)      Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.

Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.

(8)      Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, … vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

8        In Art. 15 („Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann“) der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„(1)      In Ausnahmefällen und sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht, kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann,

a)      die Prüfung des Falls oder des betreffenden Teils des Falls aussetzen und die Parteien einladen, beim Gericht dieses anderen Mitgliedstaats einen Antrag gemäß Absatz 4 zu stellen, oder

b)      ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ersuchen, sich gemäß Absatz 5 für zuständig zu erklären.

(2)      Absatz 1 findet Anwendung

a)      auf Antrag einer der Parteien oder

b)      von Amts wegen oder

c)      auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung gemäß Absatz 3 hat.

Die Verweisung von Amts wegen oder auf Antrag des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats erfolgt jedoch nur, wenn mindestens eine der Parteien ihr zustimmt.

(3)      Es wird davon ausgegangen, dass das Kind eine besondere Bindung im Sinne des Absatzes 1 zu dem Mitgliedstaat hat, wenn

a)      nach Anrufung des Gerichts im Sinne des Absatzes 1 das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erworben hat oder

b)      das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte oder

c)      das Kind die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt oder

d)      ein Träger der elterlichen Verantwortung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hat oder

e)      die Streitsache Maßnahmen zum Schutz des Kindes im Zusammenhang mit der Verwaltung oder der Erhaltung des Vermögens des Kindes oder der Verfügung über dieses Vermögen betrifft und sich dieses Vermögen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet.

(4)      Das Gericht des Mitgliedstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, setzt eine Frist, innerhalb deren die Gerichte des anderen Mitgliedstaats gemäß Absatz 1 angerufen werden müssen.

Werden die Gerichte innerhalb dieser Frist nicht angerufen, so ist das befasste Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

(5)      Diese Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats können sich, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände des Falls dem Wohl des Kindes entspricht, innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Anrufung gemäß Absatz 1 Buchstabe a) oder b) für zuständig erklären. In diesem Fall erklärt sich das zuerst angerufene Gericht für unzuständig. Anderenfalls ist das zuerst angerufene Gericht weiterhin nach den Artikeln 8 bis 14 zuständig.

…“

9        Art. 23 („Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung“) der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„Eine Entscheidung über die elterliche Verantwortung wird nicht anerkannt,

a)      wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats, in dem sie beantragt wird, offensichtlich widerspricht, wobei das Wohl des Kindes zu berücksichtigen ist;

…“

10      Art. 24 („Verbot der Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats“) der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats darf nicht überprüft werden. Die Überprüfung der Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung gemäß … Artikel 23 Buchstabe a) darf sich nicht auf die Zuständigkeitsvorschriften der Artikel 3 bis 14 erstrecken.“

11      Art. 26 („Ausschluss einer Nachprüfung in der Sache“) der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Die Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12      Nach der Vorlageentscheidung haben P und Q die gemeinsamen Kinder V (geboren 2000) und S (geboren 2009). Sie waren seit 1997 ein Paar und lebten bis 2003, dem Jahr ihrer Trennung, zusammen. Die Ehe wurde am 6. Januar 2003 vom Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) geschieden, das den Vertrag über die rechtlichen Wirkungen der Ehe im Jahr 2006 aufhob. Wie aus dieser Entscheidung hervorgeht, wurde als Aufenthaltsort von V der Wohnsitz von Q, der Mutter, bestimmt, das Sorgerecht für dieses Kind aber beiden Eltern gemeinsam übertragen. 2005 zog die Familie von Litauen nach Schweden und wurde dort 2006 in das Einwohnermelderegister eingetragen. S wurde in Schweden geboren. Beide Kinder sprechen Schwedisch und gingen in Falkenberg (Schweden) zur Schule. Dort wohnen auch die meisten Personen, mit denen sie Kontakt haben.

13      Am 27. November 2013 bemerkte P, dass Q und die beiden Kinder verschwunden waren. Es stellte sich heraus, dass Q Kontakt mit dem Sozialdienst der Stadt Falkenberg aufgenommen hatte, der aufgrund ihrer Behauptung, P habe Straftaten gegen sie und ihre Kinder begangen, eine Untersuchung einleitete. Es wurde Strafanzeige bei der Polizei erstattet. Q und die Kinder wurden in einem Heim untergebracht. Die Ermittlungen gegen P wurden einige Monate später eingestellt. P wurde jedoch verboten, Verbindung zu Q und seinen Kindern aufzunehmen.

14      Am 29. März 2014 brachte Q ihre beiden Kinder nach Litauen. Das Sorgerecht für die Kinder stand zu diesem Zeitpunkt beiden Eltern gemeinsam zu. Die Kinder wurden am 31. März 2014 in das Einwohnermelderegister der Stadt Šilutė (Litauen) eingetragen.

15      Q erhob am 8. April 2014 beim Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) Klage gegen P. Sie beantragte, in Bezug auf S eine einstweilige Anordnung betreffend den Aufenthaltsort und das Sorgerecht zu erlassen und ihr für beide Kinder Unterhalt zuzusprechen.

16      Am 11. April 2014 erhob P beim vorlegenden Gericht Klage gegen Q. Er beantragte, ihm das alleinige Sorgerecht für seine beiden Kinder zu übertragen.

17      Am selben Tag bestimmte das Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) als vorläufigen Aufenthaltsort von S den Wohnsitz der Mutter.

18      Im Juni 2014 stellte P beim Außenministerium (Utrikesdepartementet) des Königreichs Schweden einen Antrag auf Kindesrückgabe nach dem Haager Übereinkommen von 1980.

19      Das Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) wies den Antrag von P auf Kindesrückgabe am 4. September 2014 zurück. Diese auf Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 gestützte Entscheidung wurde am 21. Oktober 2014 vom Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) bestätigt.

20      Das vorlegende Gericht übertrug P am 18. Oktober 2014 nach einer in der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit von Q durchgeführten Beweisaufnahme das alleinige Sorgerecht für S.

21      Mit Entscheidung vom 18. Februar 2015 bestimmte das Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) aufgrund des Antrags vom 8. April 2014 den Wohnsitz von Q zum Aufenthaltsort von S und verurteilte P zur Zahlung von Unterhalt für beide Kinder.

22      Das vorlegende Gericht leitet seine Zuständigkeit aus Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ab. Zum Zeitpunkt der Erhebung der Klagen beim Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) (8. April 2014) bzw. bei ihm selbst (11. April 2014) hätten die beiden Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne dieser Bestimmung in Schweden gehabt.

23      P macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, damit das Ausgangsverfahren dort anhängig bleibe, sei der Entscheidung des Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) vom 18. Februar 2015 die Anerkennung zu versagen. Diese Versagung sei auf Art. 23 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 zu stützen.

24      Zwar verbiete Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 normalerweise die Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats. Er verweise aber nicht auf Art. 15 der Verordnung, aus dem das Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) seine Zuständigkeit abgeleitet habe. Dieses Gericht habe aber gegen Art. 15 der Verordnung verstoßen, weil es sich für zuständig erklärt habe, ohne vom vorlegenden Gericht hierum ersucht worden zu sein.

25      Das Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) habe ferner aus der Weigerung eines litauischen Gerichts, gemäß Art. 13 des Haager Übereinkommens von 1980 die Rückgabe des Kindes anzuordnen, gefolgert, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt nunmehr in Litauen habe.

26      Zwar müsse die Klausel über die öffentliche Ordnung restriktiv ausgelegt werden, doch bestehe ein gewisser Ermessensspielraum, wenn das ausländische Gericht einen schweren Fehler begangen habe. Das Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) habe einen derartigen Fehler begangen, indem es, bewusst oder versehentlich, nicht nur gegen Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 verstoßen habe, sondern auch gegen den elementaren Grundsatz, dass bei Kindesentführungen die Gerichte im Land des ursprünglichen Aufenthalts des Kindes das letzte Wort hätten.

27      Q macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 verbiete die Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats. Der einzige Fall, in dem dem Urteil des Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) vom 18. Februar 2015 die Anerkennung versagt werden könne, sei ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung. Ein solcher liege hier aber nicht vor, da klar ersichtlich sei, dass P seine väterlichen Pflichten nicht angemessen erfülle und S daher bei ihrer Mutter bleiben müsse. Dies sei in vier verschiedenen Verfahren festgestellt worden. Außerdem gingen die Kinder in Litauen zur Schule, es bestehe keine Gefahr für ihre Gesundheit oder Entwicklung, und es sei gegen keine Rechtsvorschrift verstoßen worden. Das Vilniaus apygardos teismas (Regionalgericht Vilnius) und das Lietuvos apeliacinis teismas (Berufungsgericht Litauens) hätten entschieden, dass die beiden Kinder von ihrer Mutter rechtmäßig nach Litauen verbracht worden seien. Das vorlegende Gericht habe keinen Anlass, an der von diesen Gerichten und den litauischen Behörden vorgenommenen Beurteilung zu zweifeln.

28      Bis zum 18. Februar 2015 habe sich P aktiv an den Verfahren vor den litauischen Gerichten beteiligt. Er habe gegen die ergangenen Entscheidungen auch Rechtsbehelfe eingelegt. Außerdem habe er seinen Antrag, seinen Wohnsitz zum Aufenthaltsort von V zu bestimmen, von sich aus zurückgenommen und damit akzeptiert, dass V bei ihrer Mutter in Litauen lebe. Daher verletze P die Rechte und die berechtigten Interessen beider Kinder, wenn er das Sorgerecht für S fordere.

29      Vor diesem Hintergrund hat das Varbergs tingsrätt (Gericht erster Instanz Varberg) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Soll das vorlegende Gericht der Entscheidung des Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) vom 18. Februar 2015 ungeachtet Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Anerkennung gemäß Art. 23 Buchst. a dieser Verordnung oder einer anderen Vorschrift versagen und deshalb das bei ihm anhängige Sorgerechtsverfahren fortsetzen?

 Zum Eilvorabentscheidungsverfahren

30      Das Varbergs tingsrätt (Gericht erster Instanz Varberg) hat beantragt, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen. Seitdem S und ihre Mutter am 29. März 2014 das Land verlassen hätten, habe P keine Möglichkeit mehr, mit ihr zusammenzutreffen. Zöge sich das Ausgangsverfahren weiter hin, würden das Wohl dieses Kindes und dessen Beziehungen zu seinem Vater beeinträchtigt.

31      Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Vorlage zur Vorabentscheidung die Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 betrifft, die insbesondere auf der Grundlage von Art. 61 Buchst. c EG (jetzt Art. 67 AEUV) erlassen wurde, der zu Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags gehört. Sie fällt somit in den in Art. 107 der Verfahrensordnung festgelegten Anwendungsbereich des Eilvorabentscheidungsverfahrens.

32      Zweitens geht es im vorliegenden Fall um ein sechsjähriges Kind, das seit über einem Jahr von seinem Vater getrennt ist, der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts keine Gelegenheit mehr hat, es zu sehen. Die Verlängerung der gegenwärtigen Situation könnte dem zukünftigen Verhältnis zwischen dem Kind und seinem Vater mithin ernsthaft schaden.

33      Die Vierte Kammer des Gerichtshofs hat daher auf der Grundlage von Art. 108 der Verfahrensordnung auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegende Vorlage zur Vorabentscheidung dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zur Vorlagefrage

34      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 23 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass er es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einem Gericht eines Mitgliedstaats, das seine Zuständigkeit für die Entscheidung über das Sorgerecht für ein Kind bejaht, gestattet, der von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats getroffenen Entscheidung über das Sorgerecht für dieses Kind die Anerkennung zu versagen.

35      Der Verordnung Nr. 2201/2003 liegt nach ihrem 21. Erwägungsgrund der Grundgedanke zugrunde, dass die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein sollten.

36      In diesem System ist Art. 23 der Verordnung Nr. 2201/2003, in dem die möglichen Gründe für die Nichtanerkennung einer Entscheidung über die elterliche Verantwortung genannt sind, eng auszulegen, denn er stellt ein Hindernis für die Verwirklichung des in der vorstehenden Randnummer wiedergegebenen grundlegenden Ziels dieser Verordnung dar.

37      Es ist zwar nicht Sache des Gerichtshofs, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Mitgliedstaats festzulegen, doch hat er über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Mitgliedstaats auf diesen Begriff stützen darf, um einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung die Anerkennung zu versagen (vgl. entsprechend Urteil Diageo Brands, C‑681/13, EU:C:2015:471, Rn. 42).

38      Im Übrigen verlangt Art. 23 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003, anders als die Ordre-public-Klausel in Art. 34 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), die Gegenstand der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung war, dass bei der Entscheidung über eine etwaige Versagung der Anerkennung das Wohl des Kindes berücksichtigt wird.

39      Eine Heranziehung der Ordre-public-Klausel in Art. 23 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung der in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidung – unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes – gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stünde. Damit das in Art. 26 der Verordnung Nr. 2201/2003 enthaltene Verbot, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in der Sache nachzuprüfen, gewahrt bleibt, muss es sich bei dem Verstoß – unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes – um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln (vgl. entsprechend Urteil Diageo Brands, C‑681/13, EU:C:2015:471, Rn. 44).

40      Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ist jedoch nicht ersichtlich, dass es im Ausgangsverfahren eine solche in der Rechtsordnung des Königreichs Schweden als wesentlich geltende Rechtsnorm oder ein dort als grundlegend anerkanntes Recht gäbe, die bei einer Anerkennung der Entscheidung des Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) vom 18. Februar 2015 verletzt würden.

41      P macht allerdings geltend, die genannte Entscheidung sei nach Art. 23 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht anzuerkennen, weil sich das Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) unter Verstoß gegen Art. 15 der Verordnung für zuständig erklärt habe.

42      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 jede Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats verbietet und sogar ausdrücklich klarstellt, dass eine solche Nachprüfung auch nicht im Rahmen von Art. 23 Buchst. a der Verordnung erfolgen darf.

43      Zwar verweist Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003, wie P geltend macht, lediglich auf die Art. 3 bis 14 dieser Verordnung und nicht auf deren Art. 15.

44      Jedoch vervollständigt Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003, der zu deren Kapitel II („Zuständigkeit“) gehört, die in den Artikeln 8 bis 14 dieses Kapitels enthaltenen Zuständigkeitsregeln durch einen Mechanismus der Zusammenarbeit, der dem Gericht eines Mitgliedstaats, das nach einer dieser Vorschriften für die Entscheidung über die Rechtssache zuständig ist, in Ausnahmefällen eine Verweisung an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ermöglicht, das den Fall besser beurteilen kann.

45      Wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Stellungnahme ausgeführt hat, darf das Gericht eines Mitgliedstaats daher die Zuständigkeit des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats nicht deshalb überprüfen, weil behauptet wird, dass dieses Gericht gegen Art. 15 der Verordnung Nr. 2201/2003 verstoßen habe, ungeachtet dessen, dass das in Art. 24 der Verordnung enthaltene Verbot nicht ausdrücklich auf deren Art. 15 verweist.

46      Im Übrigen kann der Richter des Staates, in dem die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung beantragt wird, die Anerkennung nicht allein deshalb versagen, weil er der Auffassung ist, dass in dieser Entscheidung das nationale Recht oder das Unionsrecht nicht richtig angewandt worden sei, denn sonst würde der Zweck der Verordnung Nr. 2201/2003 in Frage gestellt.

47      P vertritt ferner die Auffassung, dass es möglich sein müsse, eine solche Entscheidung nicht anzuerkennen, weil andernfalls gegen die Grundsätze verstoßen würde, auf denen die in der Verordnung Nr. 2201/2003 enthaltene Regelung über das widerrechtliche Verbringen von Kindern beruhe.

48      Hierzu ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 in ihrem Art. 11 spezielle Vorschriften für die Rückgabe eines Kindes enthält, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird.

49      Im Übrigen ist in Art. 11 Abs. 8 der Verordnung Nr. 2201/2003 ein eigenständiges Verfahren vorgesehen, mit dem das Problem etwaiger sich widersprechender Entscheidungen in diesem Bereich gelöst werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile Rinau, C‑195/08 PPU, EU:C:2008:406, Rn. 63, und Povse, C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 56).

50      Selbst wenn es im Ausgangsverfahren eine das widerrechtliche Zurückhalten eines Kindes betreffende Schwierigkeit geben sollte, wäre sie nicht durch eine auf Art. 23 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 gestützte Versagung der Anerkennung einer Entscheidung wie der des Šilutės rajono apylinkės teismas (Bezirksgericht Šilutė) vom 18. Februar 2015 zu lösen, sondern gegebenenfalls unter Rückgriff auf das in Art. 11 dieser Verordnung vorgesehene Verfahren.

51      Dieses Verfahren ermöglicht es dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine spätere Entscheidung zu erlassen, um die Rückkehr des Kindes in den Mitgliedstaat sicherzustellen, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

52      Das zuständige Gericht muss jedoch, bevor es eine solche Entscheidung erlässt, die Gründe und Beweise berücksichtigen, die der Entscheidung, die Rückgabe des Kindes abzulehnen, zugrunde liegen (Urteil Povse, C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 59).

53      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 23 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung es einem Gericht eines Mitgliedstaats, das seine Zuständigkeit für die Entscheidung über das Sorgerecht für ein Kind bejaht, nicht gestattet, der von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats getroffenen Entscheidung über das Sorgerecht für dieses Kind die Anerkennung zu versagen, sofern unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes keine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts vorliegt.

 Kosten

54      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 23 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung es einem Gericht eines Mitgliedstaats, das seine Zuständigkeit für die Entscheidung über das Sorgerecht für ein Kind bejaht, nicht gestattet, der von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats getroffenen Entscheidung über das Sorgerecht für dieses Kind die Anerkennung zu versagen, sofern unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes keine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts vorliegt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Schwedisch.