SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
ELEANOR SHARPSTON
vom 13. Juli 2016(1)
Rechtssache C‑188/15
Asma Bougnaoui,
Association de défense des droits de l’homme (ADDH)
gegen
Micropole SA
(Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation [Kassationsgerichtshof, Frankreich])
„Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78/EG – Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung – Wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung – Bedeutung – Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung – Tragen des islamischen Kopftuchs“
1. Inwieweit folgt aus dem im Unionsrecht, insbesondere nach der Richtlinie 2000/78(2), geltenden Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung die Unzulässigkeit der Entlassung einer Arbeitnehmerin, die praktizierende Muslima ist, wegen ihrer Weigerung, einer Weisung ihres Arbeitgebers (eines Unternehmens des privaten Sektors) nachzukommen, im Kontakt mit Kunden des Unternehmens keinen Schleier und kein Kopftuch zu tragen? Dem Gerichtshof wird die Frage unter Bezug auf Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie gestellt. Wie ich nachfolgend erläutern werde, sind in diesem Zusammenhang auch Fragen relevant, die sich aus der Unterscheidung zwischen einer unmittelbaren und einer mittelbaren Diskriminierung in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a bzw. b ergeben(3).
Rechtlicher Rahmen
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
2. Art. 9 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)(4) bestimmt:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
3. Art. 14 EMRK bestimmt:
„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“
4. Art. 1 des Protokolls Nr. 12 zur EMRK ist mit „Allgemeines Diskriminierungsverbot“ überschrieben(5). Sein Abs. 1 bestimmt:
„Der Genuss eines jeden gesetzlich niedergelegten Rechtes ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“
Vertrag über die Europäische Union
5. Art. 3 Abs. 3 EUV bestimmt:
„Die Union errichtet einen Binnenmarkt. Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt.
Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz …“
6. Art. 4 Abs. 2 EUV bestimmt:
„Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.“
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
7. Art. 10 („Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“) Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)(6) lautet wie folgt:
„Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.“
8. Art. 16 („Unternehmerische Freiheit“) der Charta bestimmt:
„Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.“
9. Art. 21 („Nichtdiskriminierung“) Abs. 1 der Charta bestimmt:
„Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“
Richtlinie 2000/78
10. In den Erwägungsgründen der Richtlinie 2000/78 heißt es insbesondere:
„(1) Nach Artikel 6 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union beruht die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der [EMRK] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des [Unions]rechts ergeben.
…
(9) Beschäftigung und Beruf sind Bereiche, die für die Gewährleistung gleicher Chancen für alle und für eine volle Teilhabe der Bürger am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben sowie für die individuelle Entfaltung von entscheidender Bedeutung sind.
…
(11) Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit.
(12) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen [unions]weit untersagt werden. …
…
(15) Die Beurteilung von Tatbeständen, die auf eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung schließen lassen, obliegt den einzelstaatlichen gerichtlichen Instanzen oder anderen zuständigen Stellen nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten; …
…
(23) Unter sehr begrenzten Bedingungen kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das mit der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, dem Alter oder der sexuellen Ausrichtung zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Diese Bedingungen sollten in die Informationen aufgenommen werden, die die Mitgliedstaaten der Kommission übermitteln.
…“
11. Nach Art. 1 der Richtlinie ist ihr Zweck „die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“.
12. Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) bestimmt insbesondere:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:
i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, …
…
(5) Diese Richtlinie berührt nicht die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.“
13. Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie bestimmt:
„(1) Im Rahmen der auf die [Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf
a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs;
…
c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts;
…“
14. Art. 4 der Richtlinie 2000/78 ist mit „Berufliche Anforderungen“ überschrieben. Sein Abs. 1 bestimmt:
„(1) Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“
15. Art. 4 Abs. 2 regelt Ungleichbehandlungen wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person im besonderen Zusammenhang von beruflichen Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und „anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht“.
16. Art. 6 der Richtlinie 2000/78 regelt bestimmte Ausnahmen von den Bestimmungen der Richtlinie in Bezug auf Diskriminierung wegen des Alters.
17. Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie hindert der Gleichbehandlungsgrundsatz die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung im Berufsleben spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen Benachteiligungen wegen eines in Art. 1 genannten Diskriminierungsgrundes verhindert oder ausgeglichen werden.
Französisches Recht
18. Art. L. 1121‑1 des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) bestimmt:
„Niemand darf persönlichen Rechten oder individuellen oder kollektiven Freiheiten Beschränkungen auferlegen, die nicht durch die Art der zu erfüllenden Aufgabe gerechtfertigt und im Hinblick auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig sind.“
19. Art. L. 1321‑3 des Arbeitsgesetzbuchs in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung lautete:
„Arbeitsplatzvorschriften dürfen nicht enthalten:
(1) Vorschriften, die dem primären oder sekundären Recht oder den Regelungen der im Unternehmen oder Betrieb für Arbeitsmodalitäten geltenden Kollektivverträge und Gepflogenheiten widersprechen;
(2) Vorschriften, die Beschränkungen persönlicher Rechte oder individueller oder kollektiver Freiheiten vorsehen, die nicht durch die Art der auszuführenden Aufgabe gerechtfertigt oder im Hinblick auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig sind;
(3) Vorschriften, die Arbeitnehmer mit gleichen beruflichen Fähigkeiten in ihrer Beschäftigung oder bei ihrer Arbeit aus Gründen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihres Verhaltens, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Alters … ihrer politischen Überzeugungen, ihrer Betätigung in Gewerkschaften oder Betriebsräten, ihrer religiösen Überzeugungen, ihres äußerlichen Erscheinungsbilds, ihres Nachnamens oder aus Gründen ihres Gesundheitszustands oder ihrer Behinderung diskriminieren.“
20. Art. L. 1132‑1 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:
„Niemand darf aus Gründen seiner Herkunft, seines Geschlechts, seines Verhaltens, seiner sexuellen Orientierung, seines Alters, … seiner politischen Überzeugungen, seiner Betätigung in Gewerkschaften oder Betriebsräten, seiner religiösen Überzeugungen, seines äußerlichen Erscheinungsbilds, seines Nachnamens oder aus Gründen seines Gesundheitszustands oder seiner Behinderung von einem Bewerbungsverfahren oder vom Zugang zu Berufserfahrung oder einer Ausbildungszeit in einem Unternehmen ausgeschlossen werden oder als Arbeitnehmer gemaßregelt, entlassen oder einer diskriminierenden Behandlung ausgesetzt werden, sei es unmittelbar oder mittelbar; … dies gilt insbesondere im Hinblick auf Vergütung, Anreiz- oder Mitarbeiterbeteiligungssysteme, Aus- und Fortbildung, Neueinstufung, Verwendung, Qualifizierung, Einstufung, beruflichen Aufstieg, Versetzung oder eine Vertragsverlängerung.“
21. Art. L. 1133‑1 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:
„Art. L. 1132‑1 steht Ungleichbehandlungen nicht entgegen, die sich aus einer wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung ergeben, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine verhältnismäßige Anforderung handelt.“
Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage
22. Frau Asma Bougnaoui war als Softwaredesignerin bei der Micropole SA beschäftigt, einem Unternehmen, das der Vorlageentscheidung zufolge auf die Beratung, Gestaltung und spezialisierte Schulung im Bereich der Entwicklung und Integration entscheidungsbezogener Lösungen spezialisiert ist. Vor ihrer Tätigkeit für dieses Unternehmen als Arbeitnehmerin hatte sie dort ein Abschlusspraktikum absolviert. Ihr Arbeitsvertrag bei Micropole begann am 15. Juli 2008.
23. Am 15. Juni 2009 wurde sie zu einem Vorgespräch über ihre etwaige Entlassung gebeten und anschließend mit Schreiben vom 22. Juni 2009 entlassen. In diesem Schreiben (im Folgenden: Entlassungsschreiben) heißt es:
„Sie haben ab 4. Februar 2008 Ihr Abschlusspraktikum absolviert und wurden dann bei unserem Unternehmen ab 1. August 2008[(7)] als Projektingenieurin angestellt. Im Rahmen Ihrer Aufgaben kamen Sie bei der Durchführung von Aufträgen für unsere Kunden zum Einsatz.
Wir hatten Sie beauftragt, am 15. Mai für den Kunden Groupama an dessen Standort in Toulouse tätig zu werden. Im Anschluss an diesen Einsatz teilte uns der Kunde mit, dass eine Reihe seiner Mitarbeiter an dem Schleier Anstoß genommen habe, den Sie tatsächlich täglich tragen. Er bat zudem darum, dass es ‚nächstes Mal keinen Schleier‘ geben möge.
Bei Ihrer Einstellung in unserem Unternehmen und Ihrem Gespräch mit Ihrem Betriebsmanager … sowie der Verantwortlichen für Einstellungen … wurde das Thema des Tragens eines Schleiers sehr deutlich mit Ihnen besprochen. Wir hatten Ihnen klargemacht, dass wir das Prinzip der Meinungsfreiheit ebenso wie die religiösen Überzeugungen eines jeden völlig respektieren, dass Sie aber, da Sie sowohl intern als auch extern in Kontakt mit Kunden des Unternehmens stehen würden, den Schleier nicht in allen Situationen würden tragen können. Im Interesse unseres Unternehmens und seiner Entwicklung sehen wir uns gezwungen, gegenüber unseren Kunden hinsichtlich der Äußerung persönlicher Einstellungen unserer Angestellten Zurückhaltung zu verlangen.
Bei unserem Gespräch vom 17. Juni[(8)] hatten wir dieses Prinzip notwendiger Neutralität Ihnen gegenüber bekräftigt und Sie um seine Einhaltung gegenüber unserer Kundschaft gebeten. Wir hatten Sie erneut gefragt, ob Sie diese beruflichen Anforderungen akzeptieren könnten, indem Sie sich bereit erklären würden, den Schleier nicht zu tragen, was Sie verneinten.
Wir sind der Meinung, dass diese Tatsachen aus den oben genannten Gründen die Auflösung Ihres Arbeitsvertrags rechtfertigen. Da Ihre Haltung es unmöglich macht, dass Sie Ihre Aufgaben für das Unternehmen ausüben, weil wir aufgrund Ihres Standpunkts die weitere Erbringung von Leistungen durch Sie in Räumlichkeiten unserer Kunden nicht länger in Betracht ziehen können, werden Sie während Ihrer Kündigungsfrist nicht arbeiten können. Da diese Nichterbringung der Arbeitsleistung während der Kündigungsfrist Ihnen zuzurechnen ist, werden Sie während Ihrer Kündigungsfrist keine Vergütung erhalten.
Wir bedauern diese Situation, da Ihre beruflichen Fähigkeiten und Ihr Potenzial auf eine dauerhafte Zusammenarbeit hatten hoffen lassen.“
24. Gegen die Entscheidung zu ihrer Entlassung erhob Frau Bougnaoui im November 2009 Klage vor dem Conseil de prud’hommes (Arbeitsgericht) Paris und machte geltend, sie stelle eine Diskriminierung aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen dar. Die Association de défense des droits de l’homme (Vereinigung zum Schutz der Menschenrechte; im Folgenden: ADDH) trat diesem Rechtsstreit von sich aus bei. Mit Urteil vom 4. Mai 2011 stellte dieses Gericht fest, dass die Entlassung durch einen tatsächlichen und ernsthaften Grund gerechtfertigt sei, verurteilte Micropole zur Zahlung einer Annahmeverzugsvergütung von 8 378,78 Euro an Frau Bougnaoui und wies ihre übrigen Anträge als unbegründet zurück.
25. Auf Berufung von Frau Bougnaoui und Anschlussberufung von Micropole wurde das Urteil des Arbeitsgerichts von der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) mit Urteil vom 18. April 2013 bestätigt.
26. Gegen dieses Urteil hat Frau Bougnaoui Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht eingelegt. Aufgrund von Zweifeln im Hinblick auf die richtige Auslegung des Unionsrechts unter den Umständen der Rechtssache hat dieses Gericht dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV folgende Frage vorgelegt:
Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass der Wunsch eines Kunden einer Informatikberatungsgesellschaft, die informationstechnischen Leistungen dieses Unternehmens nicht mehr von einer angestellten Projektingenieurin, die einen islamischen Schleier trägt, ausführen zu lassen, eine aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt?
27. Schriftliche Erklärungen sind beim Gerichtshof von Frau Bougnaoui und der ADDH, von Micropole, der französischen und der schwedischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission eingereicht worden. In der Sitzung vom 15. März 2016 haben diese Beteiligten – mit Ausnahme der ADDH, aber unter zusätzlicher Beteiligung der Regierung des Vereinigten Königreichs – mündlich vorgetragen.
Vorbemerkungen
Einleitung
28. Ganz allgemein betrachtet betrifft die Frage, um deren Prüfung der Gerichtshof ersucht wird, die Wirkung der Antidiskriminierungsbestimmungen des Unionsrechts auf das Tragen religiöser Bekleidung. Ersucht wird er darum mit besonderem Bezug auf das Tragen solcher Bekleidung im Kontext eines Beschäftigungsverhältnisses des privaten Sektors durch eine Frau, die praktizierende Angehörige des islamischen Glaubens ist. In den letzten Jahrzehnten hat sich in Bezug auf gesellschaftliche Konventionen im Allgemeinen und den Arbeitsmarkt im Besonderen vieles verändert. Während Menschen verschiedener Religionen und ethnischer Hintergründe einmal davon ausgegangen sein mögen, voneinander getrennt zu leben und zu arbeiten, ist dies nicht mehr der Fall. Fragen, denen noch vor relativ kurzer Zeit kein oder allenfalls minimales Gewicht beigemessen wurde, werden nun in einen scharfen und bisweilen unangenehmen Fokus gerückt. Aus dieser Perspektive gesehen mag der Kontext als ein relativ „moderner“ wahrgenommen und, in bestimmten Kreisen, als emotional aufgeladen betrachtet werden. Es ist auch ein Kontext, in dem sich breit gefächerte Unterschiede in den Ansichten und der jeweiligen Praxis innerhalb der Europäischen Union auftun.
29. Häufig (vielleicht auch allgemein) ist es so, dass das Kompendium der religiösen Praxis einer bestimmten Religion von einem Angehörigen dieser Religion nicht im vollen Umfang als absoluter „Kern“ seiner oder ihrer religiösen Betätigung wahrgenommen wird. Religiöse Betätigung tritt in unterschiedlichen Formen und in unterschiedlicher Intensität auf. Was eine bestimmte Person als wesentlich für ihre religiöse Betätigung betrachtet, kann sich auch mit der Zeit ändern. Es ist nämlich relativ normal, dass sich der Grad der persönlichen Überzeugung und somit der mit dieser Überzeugung verbundenen persönlichen Betätigung im Laufe des Lebens eines Menschen fortentwickeln. Bei manchen wird die Betätigung mit der Zeit schwächer, bei anderen stärker. Unter denjenigen, die einem bestimmten Glauben folgen, kann der Grad der religiösen Betätigung auch im Lauf des religiösen Jahres variieren. Ein erhöhter Grad der Betätigung – die der Praktizierende in verschiedener Weise zu bekennen für angebracht halten mag – kann daher mit bestimmten Zeitpunkten im religiösen Jahr einhergehen(9), während derselben Person zu anderen Zeiten eine „geringere“ Betätigung angemessen erscheinen mag(10).
30. Die Fragen, die sich in diesen Schlussanträgen stellen, betreffen nicht allein den islamischen Glauben oder Angehörige des weiblichen Geschlechts. Das Tragen religiöser Bekleidung ist nicht auf eine bestimmte Religion oder ein bestimmtes Geschlecht beschränkt. In einigen Fällen gibt es gewissermaßen absolute Regeln, auch wenn diese nicht unbedingt für alle Angehörigen des betreffenden Glaubens oder unter allen Umständen gelten. In anderen Fällen kann es einen oder mehrere für Glaubensangehörige in Betracht kommende Bekleidungsstile geben, die sie nach ihrer Wahl entweder ständig (zumindest in der Öffentlichkeit) oder zu Zeiten und/oder an Orten tragen können, für die sie es für angebracht halten. So waren, nur als Beispiel, Nonnen im römisch-katholischen und anglikanischen Glauben traditionell verpflichtet, eine Form von Habit zu tragen, zu dem eine Kopfbedeckung oder ein Schleier gehören. In einigen Orden kann diese charakteristische Bekleidung jetzt durch ein kleines, dezentes Kreuz ersetzt werden, das an die gewöhnliche Zivilkleidung gesteckt wird. Ebenso ist das Tragen einer Kippa(11) durch männliche Angehörige des jüdischen Glaubens allgemein bekannt. Auch wenn die Ansichten erheblich auseinandergehen, ob eine Pflicht besteht, den Kopf stets zu bedecken (und nicht nur zum Gebet), tun viele orthodoxe Glaubensangehörige dies in der Praxis(12). Männliche Angehörige des Sikh-Glaubens sind im Allgemeinen verpflichtet, stets einen Dastar (oder Turban) zu tragen, und dürfen ihn in der Öffentlichkeit nicht abnehmen(13).
31. Zudem kann es verschiedene Arten religiöser Bekleidung geben, die Angehörigen eines bestimmten Glaubens zur Verfügung stehen. Frau Bougnaoui trug offenbar einen sogenannten „Hidschab“, d. h. eine Art Tuch, das Kopf und Hals bedeckt, das Gesicht jedoch frei lässt. Andere Kleidungsstücke, die von muslimischen Frauen getragen werden, sind u. a. der Nikab, ein Ganzgesichtsschleier, der eine Öffnung nur für die Augen lässt, die Burka, eine Ganzkörperbedeckung mit einem Gittergewebe über dem Gesicht und der „Tschador“ oder „Chador“ oder die „Abaya“, ein schwarzer Schleier, der den ganzen Körper vom Kopf bis zu den Fußgelenken bedeckt, das Gesicht jedoch frei lässt(14).
32. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es in der Frage, zwischen welchen Arten von Kopf- und Körperbekleidung weibliche Angehörige des islamischen Glaubens wählen können, innerhalb der islamischen Religion wie in fast allen anderen Glaubensrichtungen unterschiedliche Lehrmeinungen dazu gibt, welche Regeln Anhänger genau zu befolgen haben. Nicht alle schreiben in dieser Hinsicht etwas vor. Nach einigen Lehrmeinungen steht es Frauen frei, keine besondere Form der Kopf- oder Körperbekleidung zu tragen. Andere schreiben zwingend vor, dass eine solche Bekleidung von Frauen stets zu tragen ist, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen. Manche muslimische Frauen behalten sich die Entscheidung vor und tragen je nach den Umständen religiöse Bekleidung oder nicht(15).
33. Auch beschränken sich die Fragen nicht allein auf das Tragen religiöser Bekleidung. Zu Konflikten hat ebenso die Verwendung religiöser Zeichen geführt, die selbstverständlich in Größe und Bedeutung stark variieren können. Beispielsweise stützte der EGMR seine Begründung im Urteil Eweida zum Teil darauf, dass das von Frau Eweida getragene Kreuz „dezent“ sei(16). Das betreffende Kreuz war offenbar sehr klein und an einer um den Hals der Trägerin getragenen Halskette befestigt. Es könnte daher als relativ, wenngleich natürlich nicht völlig unauffällig angesehen werden. Andere Angehörige des christlichen Glaubens mögen sich für erheblich größere Kreuze mit einer Länge bis zu mehreren Zentimetern entscheiden. Manchmal mag indes von dem Betroffenen vernünftigerweise keine „dezente“ Wahl zu erwarten sein. So ist schwer vorstellbar, wie ein männlicher Sikh dezent oder unauffällig seine Pflicht zum Tragen eines Dastars(17) befolgen sollte. Entweder trägt er den von seiner Religion vorgeschriebenen Turban oder nicht.
Mitgliedstaaten
34. In seinem Urteil Leyla Şahin/Türkei stellte der EGMR fest, dass „ein in ganz Europa einheitliches Verständnis der Bedeutung der Religion in der Gesellschaft nicht erkennbar ist … und die Bedeutung oder Wirkung des öffentlichen Ausdrucks einer religiösen Überzeugung je nach Zeit und Zusammenhang variiert“(18). Es ist nicht ersichtlich, dass sich daran in den etwa zehn Jahren seit Verkündung dieses Urteils etwas geändert haben sollte.
35. Was die Verbreitung religiöser Überzeugungen in allen Mitgliedstaaten angeht, belegen Ergebnisse einer von der Europäischen Kommission im Jahr 2012 in Auftrag gegebenen Umfrage(19), dass der durchschnittliche Prozentsatz derjenigen, die in der gesamten Europäischen Union nach eigenen Angaben christlichen Glaubens sind, bei 74 % lag. Die Zahlen für die verschiedenen Mitgliedstaaten variierten jedoch stark. Für Zypern lag der Wert bei 99 %, dicht gefolgt von Rumänien mit 98 %, Griechenland mit 97 %, Malta mit 96 %, Portugal mit 93 % und Polen und Irland mit 92 %. Die geringsten Prozentsätze wurden hingegen für Estland mit 45 % und die Tschechische Republik mit 34 % verzeichnet. Unter denjenigen, die als Angehörige des islamischen Glaubens verzeichnet wurden, wurde der höchste Prozentsatz für Bulgarien mit 11 %, gefolgt von Belgien mit 5 % verzeichnet. Für 16 Mitgliedstaaten lag der Wert bei 0 %. Unter denjenigen, die sich als Atheisten oder Agnostiker bezeichneten, wurde der höchste Wert für die Tschechische Republik mit 20 % bzw. 39 % festgestellt, während 41 % der Bevölkerung der Niederlande sich für Agnostiker hielten. Für Zypern und Rumänien lag der Wert jeweils bei 0 %. Was die Wahrnehmung einer Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung innerhalb der Mitgliedstaaten betrifft, hielten diese laut dem Bericht 51 % der Europäer allgemein für selten oder nicht vorhanden, während 39 % sie für weit verbreitet hielten. Als am weitesten verbreitet wurde eine Diskriminierung aus diesen Gründen in Frankreich (66 %) und Belgien (60 %) betrachtet, während die entsprechenden Werte für die Tschechische Republik und Litauen bei 10 % lagen.
36. Die Rechtsvorschriften und die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten zum Tragen religiöser Bekleidung im Bereich der Beschäftigung weisen ebenfalls breit gefächerte Unterschiede auf(20).
37. Am einen Ende des Spektrums stehen Mitgliedstaaten, die bestimmte Rechtsvorschriften eingeführt haben, die allgemein ein vollständiges Verbot des Tragens bestimmter Arten von Bekleidung in der Öffentlichkeit vorsehen. So haben sowohl Frankreich(21) als auch Belgien(22) gesetzliche Regelungen erlassen, die das Tragen von Bekleidung verbieten, die dazu bestimmt ist, an öffentlichen Orten das Gesicht zu verdecken. Diese Regelungen sind zwar nicht konkret auf den Beschäftigungssektor ausgerichtet, ihr Geltungsbereich ist jedoch so weitreichend, dass sie unvermeidlich die Möglichkeiten für bestimmte Personen (darunter muslimische Frauen, die die Burka oder den Nikab tragen wollen) beschränken, Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten.
38. Ebenfalls in diesem Zusammenhang relevant sind die Grundsätze der „laïcité“ und „neutralité“(23), die wiederum in Frankreich und Belgien besonders relevant sind. Nach diesen Grundsätzen ist es Arbeitnehmern im französischen staatlichen Sektor verboten, am Arbeitsplatz religiöse Zeichen oder Bekleidung zu tragen(24). Öffentliche Bedienstete in Belgien unterliegen ebenfalls einer strengen Verpflichtung zur Wahrung des Grundsatzes der Neutralität(25).
39. Andere Mitgliedstaaten gestehen ihren öffentlichen Bediensteten größere Freiheiten zu. So hat in Deutschland das Bundesverfassungsgericht unlängst entschieden, dass ein Verbot des Tragens religiöser Zeichen am Arbeitsplatz wegen der abstrakten Gefahr einer Beeinträchtigung der staatlichen Neutralität im öffentlichen Bildungssektor der Religionsfreiheit widerspricht und dass es eine ungerechtfertigte unmittelbare Diskriminierung darstellt, jüdisch-christlichen Werten Vorrang einzuräumen. Nur soweit das äußere Erscheinungsbild von Lehrern an Schulen eine hinreichend konkrete Gefahr einer Beeinträchtigung der staatlichen Neutralität oder der friedlichen Koexistenz innerhalb des Schulsystems hervorruft oder fördert, kann ein solches Verbot gerechtfertigt sein(26). In weiteren Mitgliedstaaten gibt es grundsätzlich keine Beschränkungen für das Tragen religiöser Zeichen oder Bekleidung durch öffentliche Bedienstete. Dies ist z. B. für Dänemark, die Niederlande und das Vereinigte Königreich der Fall(27). Zu ergänzen ist, dass in allen diesen Mitgliedstaaten gesetzlich keine förmliche Trennung zwischen den für Arbeitnehmer des öffentlichen Sektors und den für Arbeitnehmer des privaten Sektors geltenden rechtlichen Regelungen vorgenommen wird.
40. Hinsichtlich der Beschäftigungsverhältnisse des privaten Sektors gibt es erneut breit gefächerte Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. Zu betonen ist, dass es auf diesem Gebiet offenbar im Allgemeinen keine relevanten Beschränkungen gibt. Diejenigen, die ich nachfolgend aufführe, sind dementsprechend eher die Ausnahme als die Regel.
41. In Frankreich hatte die französische Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) als Plenum (Assemblée plénière) in einer neueren Rechtssache betreffend eine Kinderkrippe des privaten Sektors in einer benachteiligten Gegend des Departement Yvelines über die Bekleidungsvorschriften eines Arbeitgebers zu befinden, die Arbeitnehmern das Tragen religiöser Zeichen als Teil ihrer Bekleidung untersagten. Die stellvertretende Leiterin hatte gegen diese Vorschriften verstoßen, indem sie sich geweigert hatte, ihr islamisches Kopftuch abzunehmen, und wurde entlassen. Das nationale Gericht entschied insbesondere aufgrund von Art. L. 1121‑1 und Art. L. 1321‑3 des Arbeitsgesetzbuchs, dass Beschränkungen der Freiheit von Arbeitnehmern, ihre religiösen Überzeugungen zu bekennen, durch die Art der auszuführenden Arbeit gerechtfertigt und im Hinblick auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig sein müssen. Daher dürfen private Unternehmen in ihren Beschäftigungsbedingungen keine allgemeinen und unbestimmten Beschränkungen einer Grundfreiheit vorsehen. Beschränkungen, die hinreichend bestimmt, durch die Art der auszuführenden Arbeit gerechtfertigt und im Hinblick auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig sind, können jedoch rechtmäßig sein. Insoweit stellte das Gericht fest, dass das betreffende Unternehmen nur 18 Arbeitnehmer hatte und diese Arbeitnehmer mit kleinen Kindern und ihren Eltern in Kontakt kamen oder kommen konnten. Auf dieser Grundlage hielt es die Beschränkung für zulässig, stellte jedoch gleichzeitig fest, dass aus seinem Urteil nicht folgt, dass der Grundsatz der Laizität im Sinne von Art. 1 der Verfassung für Beschäftigungsverhältnisse des privaten Sektors gilt, die nicht mit der Verwaltung einer öffentlichen Leistung verbunden sind(28).
42. Während der Grundsatz der „laïcité“ nicht allgemein für Beschäftigungsverhältnisse im privaten Sektor in Frankreich gilt, können Beschränkungen für das Tragen religiöser Bekleidung erstens aus Gründen der Gesundheit, der Sicherheit oder der Hygiene zum Schutz des Einzelnen vorgesehen werden(29). Zweitens können sie gerechtfertigt sein, soweit sie für das ordnungsgemäße Funktionieren des Unternehmens erforderlich sind. Demnach gilt: i) Ein Arbeitnehmer kann sich nicht weigern, bestimmte, in seinem Arbeitsvertrag klar festgelegte und bei Beginn des Arbeitsverhältnisses bekannte Aufgaben wahrzunehmen(30); ii) eine nicht hinnehmbare Störung des Gleichgewichts zwischen den Rechten der Beschäftigten auf Ausübung ihrer religiösen Freiheit und den unternehmerischen Interessen des Arbeitgebers sowie allgemein innerhalb der Arbeitnehmerschaft, etwa bei der Gewährung von Urlaub an religiösen Feiertagen, muss vermieden werden(31); iii) Kundenbeziehungen können Grundlage für eine Beschränkung sein, jedoch nur soweit ein Schaden für das Unternehmen nachweisbar ist; eine bloße Befürchtung, dass dies der Fall sein wird, genügt nicht(32).
43. In Deutschland kann einem Arbeitnehmer im privaten Sektor grundsätzlich entweder durch einen Kollektivvertrag oder kraft der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers verboten werden, am Arbeitsplatz religiöse Zeichen zu tragen. Dies darf allerdings nur ausnahmsweise geschehen(33). Dagegen hat in den Niederlanden das College voor de Rechten van de Mens (Kollegium für Menschenrechte) entschieden, dass eine Regelung oder Anweisung, die das Tragen eines religiösen Zeichens ausdrücklich verbietet, als unmittelbare Diskriminierung anzusehen ist(34).
44. In einer Reihe weiterer Mitgliedstaaten werden bestimmte Beschränkungen des Tragens religiöser Bekleidung und Zeichen durch Arbeitnehmer im privaten Sektor aus Gründen i) der Gesundheit und der Sicherheit(35) und ii) der geschäftlichen Interessen des Arbeitgebers anerkannt(36).
Rechtsprechung des EGMR
45. Der EGMR hat entschieden, dass die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 EMRK einen der „Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft“ im Sinne der EMRK darstellt(37) und dass die Religionsfreiheit u. a. die Freiheit beinhaltet, seine Religion einzeln und privat oder gemeinsam mit anderen und öffentlich zu bekennen(38). Er hat einen Eingriff in dieses Recht bejaht, wenn die betreffende Maßnahme in einem Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuchs besteht(39).
46. In seiner für die vorliegenden Schlussanträge relevanten Rechtsprechung sind von vorrangiger Bedeutung i) die Ausnahme vom allgemeinen Recht auf Religionsfreiheit in Art. 9 Abs. 2 EMRK und ii) Art. 14 EMRK, der eine Diskriminierung aus einer Reihe von Gründen verbietet, zu denen die Religion gehört.
47. Diese Rechtsprechung betrifft zu einem großen Teil die Anwendung nationaler Regelungen über das Tragen islamischer Bekleidung. In diesen Fällen prüft der EGMR nach Feststellung eines Eingriffs in das allgemeine Recht in Art. 9 Abs. 1, ob die Maßnahme im Sinne von Art. 9 Abs. 2 „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war. Dazu bestimmt er, ob die auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt waren, d. h., ob die zu ihrer Rechtfertigung angeführten Gründe „relevant und ausreichend“ erscheinen und im Hinblick auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig sind. Zur Entscheidung über den letzteren Punkt muss er den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer gegen das dem Beschwerdeführer vorgeworfene Verhalten abwägen(40). Aus den unten in Nr. 81 skizzierten Gründen werde ich in den vorliegenden Schlussanträgen auf staatliche Maßnahmen nicht im Einzelnen eingehen und die Rechtsprechung des EGMR auf diesem Gebiet somit nur kurz darstellen. Es lohnt sich indes, einen kurzen Blick auf einige der Rechtssachen zu werfen, in denen der EGMR das Kriterium „im Hinblick auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig “ bejaht hat.
48. So hat der EGMR u. a. entschieden, dass
– ein Verbot des Tragens eines islamischen Kopftuchs während des Unterrichts, das gegenüber einer Lehrerin von Kindern „in jungem Alter“ im staatlichen Bildungssektor ausgesprochen worden war, grundsätzlich gerechtfertigt und im Hinblick auf das erklärte Ziel des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer, der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit verhältnismäßig war; es war demzufolge „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“(41);
– ähnliche Grundsätze jeweils für ein Verbot von Kopfbedeckungen (in diesem Fall eines islamischen Kopftuchs) gegenüber einer außerordentlichen Universitätsprofessorin, die Beamtin war(42), sowie für ein ähnliches Verbot gegenüber einer Lehrerin für religiöse Angelegenheiten an einer Sekundarschule des öffentlichen Sektors(43) gelten;
– ein Verbot des Tragens religiöser Bekleidung (in diesem Fall eines islamischen Kopftuchs) gegenüber einer in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses des öffentlichen Sektors beschäftigten Sozialarbeiterin nicht gegen Art. 9 EMRK verstieß(44).
49. Mit dem letzteren dieser Urteile entschied der EGMR erstmals über ein Verbot gegenüber Arbeitnehmern des öffentlichen Sektors außerhalb des Bildungsbereichs. Er stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Neutralität des öffentlichen Krankenhauswesens mit der Haltung seiner Bediensteten in einem Zusammenhang stehe und Patienten deshalb an dieser Unparteilichkeit keinen Zweifel haben dürften. Der Vertragsstaat hatte seinen Beurteilungsspielraum nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht überschritten(45).
50. In anderem Zusammenhang hat der EGMR entschieden, dass der Schutz der Gesundheit und Sicherheit von Krankenschwestern und Patienten in einem Krankenhaus des öffentlichen Sektors einen legitimen Zweck darstellte. Die Beurteilung der Erforderlichkeit eines derartigen Schutzes auf einer Krankenhausstation sah er als einen Bereich an, in dem den innerstaatlichen Behörden ein weiter Beurteilungsspielraum einzuräumen ist. Eine Beschränkung des Tragens eines (christlichen) Kreuzes und einer Kette, die „sowohl sichtbar als auch erreichbar“ waren, gegenüber einer auf einer geriatrischen Station eines psychiatrischen Krankenhauseses tätigen Krankenschwester war nicht unverhältnismäßig und dementsprechend in einer demokratischen Gesellschaft notwendig(46).
51. Dagegen hat der EGMR im Zusammenhang mit dem durch französische Rechtsvorschriften eingeführten vollständigen Verbot des Tragens zur Verdeckung des Gesichts bestimmter Bekleidung an öffentlichen Orten im Rahmen der Prüfung der Frage der Notwendigkeit für die öffentliche Sicherheit im Sinne u. a. von Art. 9 EMRK entschieden, dass ein solches Verbot nur insoweit als im Hinblick auf das legitime Ziel der öffentlichen Sicherheit verhältnismäßig angesehen werden kann, als eine allgemeine Bedrohung dieses Ziels vorliegt(47).
52. Im Bereich von Beschäftigungsverhältnissen des privaten Sektors gibt es derzeit nur ein Urteil des EGMR, das im Zusammenhang mit dem Tragen religiöser Bekleidung unmittelbar relevant ist, nämlich das Urteil Eweida u. a./Vereinigtes Königreich(48). Die Frage, die dem EGMR im Fall von Frau Eweida zur Entscheidung vorlag, betraf das offene Tragen eines als „dezent“ beschriebenen Kreuzes, was (zum damaligen Zeitpunkt) gegen ihre Beschäftigungsbedingungen verstieß, mit denen ein bestimmtes Unternehmensimage kommuniziert werden sollte. Der EGMR entschied, dass diese Beschränkung einen Eingriff in ihre Rechte nach Art. 9 Abs. 1 EMRK darstellte(49). Bei der Prüfung, ob die betreffende Maßnahme grundsätzlich gerechtfertigt und verhältnismäßig war, müssen die widerstreitenden Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit miteinander zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden, wobei dem Staat jedenfalls der ihm zustehende Beurteilungsspielraum vorzubehalten ist(50). Der Wunsch des Arbeitgebers, sein Unternehmensimage zu kommunizieren, war legitim, musste aber gegen den Wunsch von Frau Eweida, ihre religiöse Überzeugung zu bekennen, abgewogen werden. Da ihr Kreuz dezent war, konnte es ihr berufliches Erscheinungsbild nicht beeinträchtigen. Ihr Arbeitgeber hatte anderen Mitarbeitern seiner Arbeitnehmerschaft früher das Tragen anderer religiöser Bekleidung, wie etwa Turbane und Hidschabs, erlaubt, und das Unternehmen hatte später seine Bekleidungsvorschriften geändert, um das sichtbare Tragen religiösen symbolischen Schmucks zu erlauben. Da eine tatsächliche Beeinträchtigung der Interessen anderer nicht nachgewiesen war, hatten die innerstaatlichen Stellen – in diesem Fall die nationalen Gerichte, die die Anträge von Frau Eweida zurückgewiesen hatten – ihr Recht, ihre Religion zu bekennen, nicht geschützt und damit gegen die positive Verpflichtung nach Art. 9 EMRK verstoßen(51).
53. Was die Funktion islamischer Bekleidung und die Rolle betrifft, die sie im Leben der sie tragenden Frauen spielt, möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der EGMR offenbar von seiner früheren Rechtsprechung zu seinen neueren Urteilen einen Wechsel in seinem Ansatz vollzogen hat(52). Im Urteil Dahlab/Schweiz(53) stellte er z. B. fest, dass „das Tragen eines Kopftuchs eine Art proselytische Wirkung haben könnte, da es Frauen offenbar durch einen Grundsatz vorgeschrieben wird, der im Koran niedergelegt ist und der … mit dem Grundsatz der Gleichstellung der Geschlechter schwer in Einklang zu bringen ist. Das Tragen eines islamischen Kopftuchs erscheint daher mit der Botschaft der Toleranz, der Achtung anderer und vor allem der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, die alle Lehrer ihren Schülern in einer demokratischen Gesellschaft zu vermitteln haben, schwer zu vereinbaren.“(54)
54. Dagegen wies der EGMR in seinem Urteil S.A.S./Frankreich(55) Argumente der französischen Regierung zur Gleichstellung der Geschlechter mit folgenden Worten zurück:
„119. … Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass eine staatliche Partei sich nicht auf die Gleichstellung der Geschlechter berufen kann, um eine Praxis zu verbieten, die von Frauen – wie den Beschwerdeführerinnen – im Zusammenhang mit der Ausübung der Rechte nach [Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK] in Anspruch genommen wird, es sei denn, man nähme an, dass Einzelne auf dieser Grundlage vor der Ausübung ihrer eigenen Grundrechte und ‑freiheiten geschützt werden könnten. …
120. [D]ie Achtung der Menschenwürde, wie bedeutsam sie auch sei, [kann] ein vollständiges Verbot des Tragens eines das Gesicht vollständig verdeckenden Schleiers an öffentlichen Orten nicht wirksam rechtfertigen … Dem Gerichtshof ist bewusst, dass die betreffende Bekleidung von vielen, die sie sehen, als befremdlich wahrgenommen wird. Er weist jedoch darauf hin, dass sie Ausdruck einer kulturellen Identität ist, die zu dem Pluralismus beiträgt, der der Demokratie immanent ist. …“
55. Der andere Bereich, in dem ich eine Akzentverschiebung feststelle, betrifft die Freiheit von Arbeitnehmern, ihre Arbeitsstelle aufzugeben und, implizit, anderswo eine andere Stelle zu finden. In einer früheren Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte wurde hierin „letztlich die Garantie des Rechts [des Arbeitnehmers] auf Religionsfreiheit“ erkannt(56). In jüngerer Zeit hat der EGMR selbst einen anderen Standpunkt eingenommen und festgestellt, dass „angesichts der Bedeutung der Religionsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft in dem Fall, dass ein Einzelner sich durch eine Beschränkung der Religionsfreiheit am Arbeitsplatz beschwert sieht, nach Auffassung des Gerichtshofs nicht die Ansicht vertreten werden kann, dass die Möglichkeit eines Wechsels der Arbeitsstelle einen Eingriff in das Recht ausschließt, sondern dass diese Möglichkeit eher in der Gesamtabwägung im Rahmen der Prüfung zu berücksichtigen ist, ob die Beschränkung verhältnismäßig war oder nicht“(57).
56. Was mutmaßliche Verstöße gegen Art. 14 EMRK angeht, hat der EGMR entschieden, dass diese Bestimmung keine eigenständige Bedeutung hat, da sie allein in Verbindung mit den durch die anderen materiellen Bestimmungen der EMRK und ihrer Protokolle geschützten Rechten und Freiheiten Wirksamkeit entfaltet(58). Im Urteil Eweida u. a./Vereinigtes Königreich(59) entschied er in Bezug auf Frau Eweida, dass es nach dem von ihm festgestellten Verstoß gegen Art. 9 keiner gesonderten Prüfung ihrer Beschwerde nach Art. 14 bedurfte(60). In Bezug auf die zweite Beschwerdeführerin in jener Rechtssache stellte er fest, dass ähnliche Faktoren ebenso bei der Prüfung der Angemessenheit der Maßnahme nach Art. 14 in Verbindung mit Art. 9 abzuwägen wären und die Feststellung eines Verstoßes gegen die erstgenannte Bestimmung somit nicht in Betracht kam, nachdem ein Verstoß gegen Art. 9 nicht festgestellt wurde(61).
57. Das dem Protokoll Nr. 12 zur EMRK zugrunde liegende Ziel ist zwar die Gewährung eines erhöhten Schutzes vor Diskriminierung, seine Bedeutung ist bisher jedoch sehr begrenzt. Insbesondere ist es bisher nur von neun Mitgliedstaaten ratifiziert worden(62), und es liegt nur ganz vereinzelt Rechtsprechung des EGMR hierzu vor(63).
Die Unterschiede zwischen einem an Beschränkungen und einem an Diskriminierung anknüpfenden Ansatz
58. Micropole hat in ihren schriftlichen Erklärungen hervorgehoben, dass es auf diesem Rechtsgebiet einen grundlegenden Gegensatz zwischen der Beschränkung eines Rechts und dem Verbot einer Diskriminierung gebe. Deren jeweiliger Anwendungsbereich sei verschieden, und Erstere sei erheblich flexibler als Letzteres. Beide seien voneinander zu unterscheiden.
59. Der Punkt ist wichtig und verdient eine nähere Prüfung.
60. Es ist in der Tat richtig, dass der EGMR bei der Anwendung der EMRK in Bezug auf Art. 9 in erster Linie einen, wie ich sagen möchte, an Beschränkungen anknüpfenden Ansatz verfolgt. Wie oben in Nr. 56 erwähnt, hat Art. 14 eine ergänzende Funktion. Nachdem die Charta seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Unionsrecht bindende Wirkung hat, könnte angenommen werden, dass der Gerichtshof nun bei der Anwendung der entsprechenden Bestimmungen dieses Instruments, d. h. Art. 10 und Art. 21, denselben Ansatz verfolgen würde.
61. Diese Sicht ist meines Erachtens zu einfach.
62. Die Richtlinie 2000/78 sieht eine Reihe von an Diskriminierung anknüpfenden Verboten vor. Sie verfolgt damit einen Ansatz, der seit Beginn des Bestehens des jetzigen Unionsrechts verfolgt worden ist(64). Im Zusammenhang mit einer Diskriminierung wegen des Alters hat der Gerichtshof festgestellt, dass das Verbot der Diskriminierung als ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anzusehen ist, der durch die Richtlinie für den Bereich Beschäftigung und Beruf konkretisiert worden ist(65). Dies muss ebenso für das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung gelten.
63. Zugleich gibt es jedoch auch einen fundamentalen Unterschied in den Überlegungen, die den beiden Ansätzen zugrunde liegen. Zwar mag die Rechtslage im Kontext der mittelbaren Diskriminierung insoweit im Wesentlichen die gleiche sein, als für die nach dem Unionsrecht bestehenden Ausnahmen ein rechtmäßiges Ziel, das verhältnismäßig ist, vorausgesetzt wird, was die Rechtslage nach der EMRK widergespiegelt. Im Kontext der unmittelbaren Diskriminierung ist der Schutz durch das Unionsrecht jedoch stärker. Hier kann ein Eingriff in ein durch die EMRK gewährtes Recht immer noch damit gerechtfertigt werden, dass er ein rechtmäßiges Ziel verfolgt und verhältnismäßig ist. Im Unterschied dazu sind jedoch nach dem Unionsrecht Ausnahmen nur zulässig, soweit die betreffende Maßnahme sie konkret vorsieht(66).
64. Dieser unterschiedliche Ansatz erscheint mir völlig legitim: Art. 52 Abs. 3 der Charta sieht ausdrücklich vor, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz als die EMRK gewähren kann.
65. Es ist klar, wie am Rande angemerkt sei, dass die Regelungen betreffend mittelbare Diskriminierung deutlich flexibler sein mögen als diejenigen für unmittelbare Diskriminierung. Es könnte eingewendet werden, dass die Anwendung der Regelungen, die das Unionsrecht für die letztere Kategorie vorsieht, unnötig starr und eine gewisse „Annäherung“ der beiden Kategorien angezeigt sei.
66. Das sehe ich nicht so.
67. Die Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen von Diskriminierungen ist grundlegender Bestandteil dieses Bereichs des Unionsrechts. Es gibt meines Erachtens keinen Grund, hiervon unter Inkaufnahme des unvermeidlich daraus folgenden Verlusts an Rechtssicherheit abzurücken. Weil die Unterscheidung klar ist, ist der Arbeitgeber gezwungen, sorgfältig zu überlegen, welche Regelungen er genau in seinen Arbeitsplatzvorschriften festlegen will. Dabei muss er die Grenzen, die er ziehen möchte, und ihre Anwendung auf seine Arbeitnehmerschaft gebührend prüfen.
Das Diskriminierungsverbot im Unionsrecht
68. Als der Römische Vertrag ursprünglich angenommen wurde, war die einzige Bestimmung seines Titels über die Sozialpolitik mit substanziellem Gehalt Art. 119, der eine ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsah, gleiche Bezahlung ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu gewährleisten. Die übrigen Bestimmungen dieses Titels hatten einen begrenzten Anwendungsbereich und verliehen Bürgern kaum unmittelbare Rechte. Seitdem haben sich die Dinge in der Europäischen Union erheblich fortentwickelt.
69. Im frühen Stadium entwickelte sich der Schutz am spürbarsten im Bereich der Beschäftigung, und zwar mit dem Erlass der Richtlinie 75/117 über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen(67), auf die die Richtlinie 76/207 über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen auf dem Gebiet der Beschäftigung(68) und das grundlegende Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Defrenne (Nr. 2)(69) folgte. Infolgedessen bestand ein Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Rahmen des Anwendungsbereichs der betreffenden Rechtsvorschriften in Verbindung mit einer Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung (gemäß dem Urteil des Gerichtshofs).
70. Mit Einführung von Art. 13 EG (jetzt, nach Änderungen, Art. 19 AEUV) nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam am 1. Mai 1999 wurden verstärkte Befugnisse zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung vorgesehen. Diese Vertragsbestimmung bildet die Grundlage für die Richtlinie 2000/43 über Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft(70) und die Richtlinie 2000/78(71). Beide Richtlinien haben den gleichen Aufbau: Es gibt ein vollständiges Verbot unmittelbarer Diskriminierung, von dem nur die konkreten, in der jeweiligen Rechtsvorschrift festgelegten Abweichungen zugelassen werden, und ein Verbot mittelbarer Diskriminierung, die jedoch gerechtfertigt sein kann, sofern die betreffende Maßnahme durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind(72).
71. In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Coleman(73) hielt Generalanwalt Poiares Maduro fest, dass Gleichheit einer der tragenden Grundsätze des Unionsrechts sei. Die der Gleichheit zugrunde liegenden Werte seien die Würde des Menschen und die Selbstbestimmung. Dem Erfordernis der Würde des Menschen könne nur entsprochen werden, wenn als Minimum alle Menschen als gleichwertig anerkannt würden. Die Selbstbestimmung verlange, dass (in seinen Worten) „Menschen in der Lage sein müssen, ihre Lebenswege zu gestalten und ihnen zu folgen, indem sie unter verschiedenen wertvollen Optionen immer wieder eine Wahl treffen“. Merkmale wie religiöse Überzeugung, Alter, eine Behinderung oder die sexuelle Ausrichtung sollten keine Rolle bei der Beurteilung spielen, ob es richtig sei, jemanden weniger günstig zu behandeln(74). Er führte weiter aus:
„11. Entsprechend bedeutet ein Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht, dass Menschen in Bereichen, die für ihr Leben von grundlegender Bedeutung sind, nicht dadurch wertvolle Wahlmöglichkeiten genommen werden dürfen, dass auf fragwürdige Kategorien abgestellt wird. Der Zugang zu Beschäftigung und beruflicher Weiterentwicklung ist für jeden von grundlegender Wichtigkeit, nicht nur als Mittel, um den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch als wichtige Art der Selbstverwirklichung und Ausschöpfung der eigenen Fähigkeiten. Der Diskriminierende, der eine Person diskriminiert, die in eine fragwürdige Kategorie fällt, nimmt ihr ungerechterweise wertvolle Wahlmöglichkeiten. Als Folge davon wird die Fähigkeit dieser Person, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ernsthaft beeinträchtigt, da ein wesentlicher Aspekt ihres Lebens nicht durch ihre eigenen Entscheidungen geprägt wird, sondern durch die Vorurteile eines anderen. Indem der Diskriminierende Menschen, die in diese Gruppen fallen, wegen ihrer Merkmale schlechter behandelt, hindert er sie daran, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben. An diesem Punkt ist ein Einschreiten durch Antidiskriminierungsvorschriften gerecht und vernünftig. Im Wesentlichen streben wir, indem wir die Gleichheit hoch achten und uns zur Verwirklichung von Gleichheit durch das Recht bekennen, danach, die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben für jedermann aufrechtzuerhalten.“
72. Ich stimme mit diesen Ausführungen völlig überein. Sie machen deutlich, dass eine Diskriminierung sowohl eine finanzielle Wirkung (indem sie die Fähigkeit einer Person berühren kann, auf dem Arbeitsmarkt ihren Lebensunterhalt zu verdienen) als auch eine immaterielle Wirkung hat (indem sie das Selbstbestimmungsrecht dieser Person berühren kann). Hinzufügen möchte ich, dass Antidiskriminierungsvorschriften genau wie alle anderen Rechtsvorschriften wirksam angewendet werden müssen. Sie müssen ferner im Einklang mit anerkannten Grundsätzen angewendet werden.
Proselytismus und Verhalten bei der Arbeit
73. Wenn der Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag mit einem Arbeitnehmer abschließt, kauft er nicht dessen Seele. Tatsächlich kauft er allerdings seine Zeit. Daher ziehe ich eine scharfe Trennlinie zwischen der Freiheit, die eigene Religion zu bekennen – deren Umfang und mögliche Einschränkung im Bereich der Beschäftigung im Zentrum des beim nationalen Gericht anhängigen Verfahrens stehen –, und einem Proselytismus für diese Religion. Die erstgenannte Freiheit mit dem Recht des Arbeitgebers auf unternehmerische Freiheit in Einklang zu bringen, erfordert, wie ich darlegen werde, einen sensiblen Ausgleich zwischen beiden widerstreitenden Rechten. Für die letztgenannte Praktik ist meines Erachtens im Kontext von Arbeitsverhältnissen schlicht kein Raum. Es ist daher rechtmäßig, wenn der Arbeitgeber Regelungen vorsieht und durchsetzt, die Proselytismus verbieten, sowohl um sicherzustellen, dass die von ihm vergütete Arbeitszeit für die Zwecke seines Unternehmens genutzt wird, als auch, um harmonische Arbeitsbedingungen für seine Arbeitnehmerschaft herzustellen(75). Ich sollte klarstellen, dass das Tragen charakteristischer Bekleidung meines Erachtens als Bestandteil religiöser Observanz eindeutig in die erste und nicht in die zweite Kategorie fällt.
74. Ebenso möchte ich eine klare Trennlinie zwischen von einem Unternehmen rechtmäßig eingeführten Regelungen ziehen, die bestimmte Verhaltensweisen für erwünscht („Verhalten Sie sich Kunden gegenüber stets freundlich“) oder nicht erlaubt („Wenn Sie unser Unternehmen in Besprechungen mit Kunden vertreten, ist es Ihnen nicht gestattet, zu rauchen, Kaugummi zu kauen oder Alkohol zu trinken“) erklären, und Regelungen, die anhand eines verbotenen Merkmals (sei es die Religion oder ein sonstiges Merkmal, das der Gesetzgeber als unzulässige Grundlage für eine Diskriminierung gekennzeichnet hat) in die persönlichen Rechte einer bestimmten Kategorie von Arbeitnehmern eingreifen. Es sollte keiner näheren Ausführungen bedürfen, dass das Argument „Daraus, dass unser(e) Arbeitnehmer(in) X ein islamisches Kopftuch trägt“ (oder eine Kippa oder einen Dastar) (oder schwarz, homosexuell oder eine Frau ist), „folgt, dass er oder sie sich unseren Kunden gegenüber nicht angemessen verhalten kann“, verhängnisvoll ist.
Gleichstellung der Geschlechter
75. Manche sehen im Tragen des Kopftuchs eine feministische Aussage, da es das Recht einer Frau verkörpere, ihre Entscheidungsfreiheit und ihre Religionsfreiheit wahrzunehmen, eine Muslima zu sein, die ihren Glauben auf diese Weise bekennen möchte. Andere sehen im Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung von Frauen. Für beide Ansichten lässt sich zweifellos in konkreten Fällen und bestimmten Zusammenhängen Bestätigung finden(76). Was der Gerichtshof meines Erachtens vermeiden sollte, ist die Annahme, dass das Tragen des Kopftuchs unter allen Umständen als unterdrückend angesehen werden muss, nur weil es Situationen geben mag, unter denen dies der Fall sein könnte. Ich würde mich vielmehr der oben in Nr. 54 angeführten Haltung des EGMR anschließen; die Frage lässt sich am besten als Ausdruck kultureller und religiöser Freiheit auffassen.
Würdigung
Umfang der Vorlagefrage
76. Mit seiner Frage ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise zur Anwendung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 auf den von einem Kunden gegenüber einem Arbeitgeber geäußerten Wunsch (der offenbar letztlich zur Entlassung der Arbeitnehmerin geführt hat), die Dienstleistungen des Arbeitgebers nicht mehr durch eine Arbeitnehmerin erbringen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt. Es möchte wissen, ob dieser Wunsch aufgrund der Art der betreffenden bestimmten beruflichen Tätigkeiten oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellen kann.
77. Der Wortlaut dieser Frage und der Hintergrund des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens werfen einige Fragen auf.
78. Erstens verwendet das vorlegende Gericht in seiner Frage an den Gerichtshof zwar das Wort „Kopftuch“ („foulard“), spricht in der Vorlageentscheidung jedoch an anderer Stelle von einem „Schleier“ („voile“)(77). Aus den Antworten auf Fragen des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung ist klar geworden, dass die beiden Begriffe synonym verstanden werden sollten. Die fragliche Bekleidung bestand aus einer Kopfbedeckung, die das Gesicht völlig frei ließ. Aus Gründen der Einheitlichkeit und Klarheit verwende ich im Folgenden den Begriff „Kopftuch“.
79. Zweitens verdeutlicht Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 zwar, dass der Geltungsbereich der Richtlinie sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor umfasst, doch kann es im Hinblick auf die Geltung nationaler Regelungen für diese Bereiche zweifellos – in manchen Fällen erhebliche – Unterschiede geben(78). Die französische Regierung hat sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in ihrem mündlichen Vortrag nachdrücklich die strikte Trennung betont, die aufgrund der Geltung des Grundsatzes der „laïcité“ für den öffentlichen Sektor dieses Mitgliedstaats gelte. Da die vorliegende Rechtssache ein Beschäftigungsverhältnis des privaten Sektors betreffe, solle der Gerichtshof seine Antwort auf diesen Sektor beschränken. Mit anderen Worten, auf Fragen in Bezug auf Beschäftigte des öffentlichen Sektors solle nicht eingegangen werden.
80. Die französische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung zwar anerkannt, dass der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 den öffentlichen Sektor umfasse, sie hat jedoch auf dem übergeordneten Charakter der Regelungen über die „laïcité“ auf diesem Gebiet beharrt, was sie in ihren schriftlichen Erklärungen in erster Linie auf Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie in seiner Auslegung im Licht von Art. 4 Abs. 2 EUV gestützt hat.
81. Ich räume ein, dass das genaue wechselseitige Verhältnis zwischen der Richtlinie und nationalen Regelungen, einschließlich solcher des Verfassungsrechts, in diesem Zusammenhang Anlass zu komplexen Diskussionen geben kann. Klarstellen möchte ich dabei, dass ich dem Standpunkt der französischen Regierung im Hinblick auf die Geltung des Grundsatzes der „laïcité“ für Beschäftigungsverhältnisse des öffentlichen Sektors im Kontext der Richtlinie 2000/78 weder zustimme noch widerspreche. Die anderen Beteiligten, die in der vorliegenden Rechtssache vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind auf diese Frage nicht eingegangen, so dass eine eingehende Erörterung der Fragen, die sich stellen würden oder könnten, nicht stattgefunden hat. Ich werde meine Ausführungen im Folgenden daher auf den privaten Sektor beschränken.
82. Drittens enthält die Vorlageentscheidung nur wenige Angaben zum tatsächlichen Hintergrund des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens. Es lässt sich daher schwer mit Gewissheit feststellen, in welchem genauen Zusammenhang die Frage des vorlegenden Gerichts gestellt wurde. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen(79).
Lag im Fall des Ausgangsverfahrens eine unzulässige Diskriminierung vor?
83. Der Ausgangspunkt jeder Würdigung der Frage, ob im Fall des Ausgangsverfahrens eine unzulässige Diskriminierung vorlag, muss das Entlassungsschreiben sein. Aus diesem Schreiben geht jedoch nicht klar hervor, welchen Inhalt das für Frau Bougnaoui geltende Verbot genau hatte. In der mündlichen Verhandlung um eine Stellungnahme zu diesem Punkt gebeten, hat Frau Bougnaoui die Ansicht vertreten, dass das Verbot für das Tragen des islamischen Kopftuchs während des Kontakts mit Kunden des Unternehmens des Arbeitgebers gegolten habe. Micropole hat vorgetragen, dass es ein allgemeines Verbot für das Tragen religiöser Zeichen (einschließlich, so ist zu vermuten, Bekleidung) während der Anwesenheit in den Räumlichkeiten dieser Kunden gegeben habe. Dieses Verbot habe für alle Religionen und Überzeugungen gegolten.
84. Wie dem auch sei, offenbar steht jedenfalls fest, dass die Entlassung von Frau Bougnaoui mit einer Regelung der Bekleidungsvorschriften ihres Arbeitgebers in Verbindung stand, die ein Verbot des Tragens religiöser Bekleidung vorsahen.
85. Allerdings kann auch festgehalten werden, dass diese Entlassung tatsächlich nicht aufgrund ihrer Religion (d. h. des Umstands, dass sie Angehörige des islamischen Glaubens ist) erfolgte, sondern aufgrund dessen, dass sie diese Religion bekannte (d. h. des Umstands, dass sie ein Kopftuch trug). Gilt das Diskriminierungsverbot nach der Richtlinie 2000/78 nicht nur für die Religion oder die Weltanschauung eines Arbeitnehmers, sondern auch für das Bekennen dieser Religion oder Weltanschauung?
86. Meines Erachtens ist dies zu bejahen.
87. Gewiss wird in der Richtlinie die Frage des Bekennens nicht ausdrücklich angesprochen. Ein Blick auf Art. 9 EMRK und Art. 10 der Charta zeigt jedoch, dass das Recht, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, in beiden Fällen als fester Bestandteil der dort verankerten Freiheit zu verstehen ist. So heißt es in jeder dieser Bestimmungen nach der Festschreibung des Rechts auf Religionsfreiheit weiter, dass diese Freiheit das Recht, diese Religion zu bekennen, „umfasst“. Meines Erachtens lässt sich daher nichts daraus ableiten, dass die Richtlinie hierzu schweigt(80). Um nur ein Beispiel zu geben: Würde das anders gesehen, genösse ein männlicher Sikh, der durch seine Religion zum Tragen eines Turbans verpflichtet ist, keine Rechte, seine Überzeugungen auf seine bestimmte Weise zu bekennen, und liefe somit Gefahr, dass ihm genau der Schutz vorenthalten würde, den die Richtlinie gewähren soll.
88. Ausgehend hiervon kommt kaum eine andere Schlussfolgerung in Betracht, als dass Frau Bougnaoui wegen ihrer Religion eine weniger günstige Behandlung erfahren hat als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfahren hätte. Ein(e) für Micropole tätige(r) Softwaredesigner(in), der/die sich nicht dafür entschieden hätte, seine/ihre religiöse Überzeugung durch das Tragen einer bestimmten Bekleidung zu bekennen, wäre nicht entlassen worden(81). Durch ihre Entlassung wurde Frau Bougnaoui daher im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 wegen ihrer Religion oder Weltanschauung unmittelbar diskriminiert.
89. Demnach wäre die Entlassung nur zulässig gewesen, wenn sie unter eine der von dieser Richtlinie vorgesehenen Abweichungen gefallen wäre. Da das nationale Gericht seine Frage auf Art. 4 Abs. 1 bezogen formuliert hat, beginne ich mit der Prüfung dieser Bestimmung.
Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78
90. Art. 4 hat die Überschrift „Berufliche Anforderungen“. Sofern die Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind, ist eine Ungleichbehandlung, die andernfalls eine Diskriminierung darstellen würde, vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgenommen. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich bei der aus der Ungleichbehandlung folgenden Diskriminierung um eine unmittelbare oder eine mittelbare Diskriminierung handelt. Diesen Voraussetzungen wende ich mich jetzt zu.
91. Erstens findet Art. 4 nicht automatisch Anwendung. Ein Mitgliedstaat muss dies zunächst „vorsehen“(82). Das vorlegende Gericht bezieht sich in seinem Vorlagebeschluss auf Art. L. 1133-1 des Arbeitsgesetzbuchs, ohne diesen konkret als die Bestimmung des nationalen Rechts zu bezeichnen, mit der Art. 4 Abs. 1 umgesetzt werden solle. Ich gehe gleichwohl davon aus, dass dies der Fall ist.
92. Zweitens können die Mitgliedstaaten nur vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung keine Diskriminierung darstellt, wenn diese Ungleichbehandlung „wegen eines Merkmals“ erfolgt, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 genannten Diskriminierungsgründe steht. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass „nicht der Grund, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine ‚wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung‘ darstellen muss“(83).
93. Im vorliegenden Fall besagt das Schreiben, mit dem das Arbeitsverhältnis von Frau Bougnaoui beendet wurde, dass sie entlassen werde, weil sie es unterlassen oder sich geweigert habe, den von ihrem Arbeitgeber vorgegebenen Regelungen zum Tragen einer religiösen Kopfbedeckung während des Kontakts mit Kunden nachzukommen. Da das Tragen des islamischen Kopftuchs ein Bekennen einer religiösen Überzeugung darstellt (oder zumindest als solches anerkannt werden sollte)(84), kann eine Regelung, die das Tragen einer solchen Kopfbedeckung verbietet, eindeutig ein „Merkmal, das im Zusammenhang mit“ der Religion oder Weltanschauung steht, darstellen. Diese Voraussetzung ist ebenfalls als erfüllt anzusehen.
94. Drittens muss das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung „eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ darstellen. Ferner muss der Zweck rechtmäßig und die Anforderung verhältnismäßig sein.
95. Der Gerichtshof hat entschieden, dass Art. 4 Abs. 1 eng auszulegen ist(85). Angesichts der Aussage im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie, wonach eine Abweichung nur „unter sehr begrenzten Bedingungen“ möglich sein sollte, ist in der Tat äußerst schwer vorstellbar, dass etwas anderes gelten könnte. Folglich muss Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 in einer Weise Anwendung finden, die spezifisch ist(86). Er kann nicht zur Rechtfertigung einer pauschalen Abweichung für alle Tätigkeiten dienen, die ein bestimmter Arbeitnehmer möglicherweise ausüben könnte.
96. Wie begrenzt die Abweichungsmöglichkeit ist, kommt im Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 zum Ausdruck. Die berufliche Anforderung muss nicht nur „wesentlich“, sondern auch „entscheidend“ sein. Das bedeutet, wie die schwedische Regierung meines Erachtens zu Recht vorträgt, dass die Abweichung auf Belange zu begrenzen ist, die absolut erforderlich sind, um die betreffende berufliche Tätigkeit auszuüben.
97. Im Kontext der Anwendung der Bestimmung im Rahmen der Altersdiskriminierung hat der Gerichtshof anerkannt, dass eine auf das Alter abstellende Anforderung in Bezug auf eine besonders ausgeprägte körperliche Eignung dieser Voraussetzung genügen kann, wenn sie auf Personen im feuerwehrtechnischen Dienst angewendet wird, deren Tätigkeiten körperlicher Art sind und die Brandbekämpfung und Personenrettung umfassen(87). Diese Voraussetzung hat er auch für eine altersabhängige Bedingung zum Eintritt in den Ruhestand bei Verkehrspiloten als erfüllt angesehen, da körperliche Fähigkeiten unbestreitbar mit zunehmendem Alter abnehmen und körperliche Schwächen in diesem Beruf beträchtliche Konsequenzen haben können(88). Ebenso bejaht hat er eine mögliche Erfüllung der Voraussetzung für das Vorhandensein besonderer körperlicher Fähigkeiten im Zusammenhang mit einer altersabhängigen Anforderung für die Zulassung zu Stellen im Polizeidienst, da der Schutz von Personen und Sachen, die Festnahme und Ingewahrsamnahme von Straftätern sowie der präventive Streifendienst die Anwendung körperlicher Gewalt erfordern können(89).
98. Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit, zu einer entsprechenden Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung wegen des Geschlechts in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 76/207(90) im Zusammenhang mit einer unmittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts und dem Dienst in den Streitkräften Stellung zu nehmen. Die unterschiedlichen Ergebnisse, zu denen er hinsichtlich der Anwendbarkeit der Abweichung in Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie(91) im Urteil Sirdar(92) und (weniger als drei Monate später) im Urteil Kreil(93) gelangte, bestätigen, wie wichtig eine sorgfältige Prüfung des Arguments ist, dass ein bestimmtes Merkmal für die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit wesentlich sein soll. Sie zeigen auch, dass sowohl die Tätigkeit als auch ihr Kontext (und nicht nur das eine oder das andere isoliert) betrachtet werden müssen, um bestimmen zu können, ob ein bestimmtes Merkmal wirklich wesentlich (oder, in den Worten der Richtlinie 2000/78, eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“) ist.
99. Was das Verbot einer Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung angeht, wäre ein offensichtlicher Anwendungsfall der Ausnahme der Bereich der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. So wäre es z. B. möglich, einen Arbeitnehmer, der ein männlicher Sikh ist und aus religiösen Gründen darauf bestanden hat, einen Turban zu tragen, deswegen von einer Beschäftigung auszuschließen, bei der eine schützende Kopfbedeckung getragen werden muss. Das Gleiche könnte für eine Muslima gelten, die an potenziell gefährlichen Fabrikmaschinen arbeitet, wenn die von ihr getragene bestimmte Bekleidung ernsthafte Sicherheitsbedenken begründen könnte. Ich möchte mich zwar nicht darauf festlegen, dass sonst keine Umstände in Betracht kommen, unter denen das Diskriminierungsverbot wegen der Religion oder Weltanschauung unter Art. 4 Abs. 1 fallen könnte, doch kann ich mir schwer vorstellen, welche dies sein sollten.
100. Ich kann jedoch nicht erkennen, auf welcher Grundlage die von Micropole in dem Entlassungsschreiben für die Entlassung von Frau Bougnaoui offenbar angeführten Gründe, d. h. das geschäftliche Interesse ihres Unternehmens an den Beziehungen mit seinen Kunden, die Anwendung der Abweichung nach Art. 4 Abs. 1 rechtfertigen könnten. Wie die Kommission zu Recht vorträgt, hat erstens der Gerichtshof entschieden, dass eine unmittelbare Diskriminierung (die hier meines Erachtens vorliegt) nicht mit dem finanziellen Nachteil gerechtfertigt werden kann, der dem Arbeitgeber entstehen könnte(94). Zweitens gehört zwar die unternehmerische Freiheit zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts(95) und ist jetzt in Art. 16 der Charta verankert, der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass diese Freiheit „keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen [kann], sondern … im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden [muss]. Somit können Einschränkungen der Ausübung dieser Freiheit vorgenommen werden, vorausgesetzt, dass sie gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta vom Gesetz vorgesehen sind und dass sie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“(96) Insoweit hat der Gerichtshof in Bezug auf die Wahrung des Grundrechts auf Information sowie die Freiheit und den Pluralismus der Medien, wie sie durch Art. 11 der Charta garantiert werden, festgestellt, dass es dem Unionsgesetzgeber freisteht, Bestimmungen zu erlassen, die Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit vorsehen und zugleich bei der erforderlichen Gewichtung der betroffenen Rechte und Interessen den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen gegenüber der Vertragsfreiheit, die der unternehmerischen Freiheit immanent ist, privilegieren(97).
101. Die gleichen Erwägungen müssen hier für das Recht gelten, nicht diskriminiert zu werden. Zumindest würde eine Auslegung von Art. 4 Abs. 1, wie sie von Micropole vertreten wird, das Risiko bergen, diese Abweichung „zur Regel zu machen“. Das kann nicht richtig sein. Wie ich bereits ausgeführt habe(98), soll die Abweichung nur unter äußerst begrenzten Umständen zulässig sein.
102. Ich kann somit nicht erkennen, auf welcher Grundlage Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 auf die von Frau Bougnaoui als Arbeitnehmerin von Micropole ausgeführten Tätigkeiten anwendbar sein könnte. Der Vorlageentscheidung oder den sonstigen dem Gerichtshof vorliegenden Angaben ist nichts dafür zu entnehmen, dass sie deshalb, weil sie ein islamisches Kopftuch trug, in irgendeiner Weise nicht in der Lage gewesen wäre, ihre Pflichten als Softwaredesignerin wahrzunehmen – vielmehr werden im Entlassungsschreiben ausdrücklich ihre beruflichen Fähigkeiten erwähnt. Ungeachtet dessen, welchen genauen Inhalt das für sie geltende Verbot hatte, kann die Anforderung, während des Kontakts mit Kunden ihres Arbeitgebers kein Kopftuch zu tragen, meines Erachtens keine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ gewesen sein.
Übrige Abweichungen im Bereich der unmittelbaren Diskriminierung
103. Bevor ich meine Würdigung in Bezug auf eine unmittelbare Diskriminierung abschließe, sind die übrigen Abweichungen zu prüfen, die für diese Art der Diskriminierung nach der Richtlinie 2000/78 in Betracht kommen könnten.
104. Die erste ist Art. 2 Abs. 5. Diese Bestimmung ist insoweit ungewöhnlich, als sich in sonstigen Antidiskriminierungsvorschriften des Unionsrechts hierfür keine Entsprechung findet(99). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass sie dem Entstehen eines Spannungsfelds zwischen dem Grundsatz der Gleichbehandlung auf der einen und der notwendigen Gewährleistung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, der Verhütung von Rechtsverstößen sowie dem Schutz der individuellen Rechte und Freiheiten, die für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unerlässlich sind, auf der anderen Seite vorbeugen und vermittelnd eingreifen soll. Er hat ferner festgestellt, dass die Bestimmung, da sie eine Abweichung vom Grundsatz des Verbots der Diskriminierungen begründet, eng auszulegen ist(100).
105. Die Abweichung nach Art. 2 Abs. 5 kann auf den Fall des Ausgangsverfahrens keine Anwendung finden. Erstens gibt es keinen Hinweis darauf, dass relevante nationale Rechtsvorschriften erlassen worden wären, durch die diese Abweichung umgesetzt werden sollte. Zweitens kann ich, selbst wenn es solche Rechtsvorschriften gäbe, nicht erkennen, wie sie einer Diskriminierung der hier in Rede stehenden Art zu einer Rechtfertigung verhelfen sollten. Ich weise den Gedanken zurück, dass „zum Schutz individueller Rechte und Freiheiten, die für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind“, eine Notwendigkeit für ein Verbot für Arbeitnehmer bestehen könnte, während des Kontakts mit Kunden des Unternehmens ihres Arbeitgebers religiöse Bekleidung zu tragen(101). Soweit ein solches Argument für die Zwecke der Richtlinie 2000/78 relevant ist, ist es im Rahmen des Beurteilungsspielraums zu würdigen, den die Regelungen über die mittelbare Diskriminierung möglicherweise lassen(102), und nicht im Rahmen der Abweichung nach Art. 2 Abs. 5.
106. Die zweite ist die Ausnahme nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78. Diese Bestimmung gilt für „berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht“. Der 24. Erwägungsgrund der Richtlinie zeigt, dass sie der Erklärung Nr. 11 zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften Wirksamkeit verleihen sollte(103). Aufgrund der Art der Tätigkeiten von Micropole kann die Abweichung im vorliegenden Fall keine Anwendung finden.
107. Die verbleibenden beiden Bestimmungen, die Abweichungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung beinhalten, sind die Art. 6 und 7 der Richtlinie. Die erste bezieht sich auf bestimmte gerechtfertigte Ungleichbehandlungen wegen des Alters und die zweite auf von den Mitgliedstaaten beibehaltene oder eingeführte Maßnahmen, mit denen Benachteiligungen wegen eines in Art. 1 genannten Diskriminierungsgrundes verhindert oder ausgeglichen werden. Sie sind für den vorliegenden Fall eindeutig nicht relevant.
108. Nach alledem bin ich der Ansicht, dass eine in den Arbeitsplatzvorschriften eines Unternehmens enthaltene Regelung, die Arbeitnehmern des Unternehmens während des Kontakts mit Kunden des Unternehmens das Tragen religiöser Zeichen oder Bekleidung verbietet, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung beinhaltet, auf die weder Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 noch eine der sonstigen Abweichungen von dem in dieser Richtlinie aufgestellten Verbot der unmittelbaren Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung Anwendung findet. Dies gilt erst recht, wenn die betreffende Regelung ausschließlich für das Tragen des islamischen Kopftuchs gilt.
Mittelbare Diskriminierung
109. Das soeben dargelegte Ergebnis könnte als ausreichend angesehen werden, um die Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass der Gerichtshof mit meiner Würdigung nicht übereinstimmt. Außerdem habe ich die Schwierigkeiten erwähnt, mit denen der Gerichtshof im Hinblick darauf konfrontiert ist, die genauen Konturen des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens zu bestimmen(104). Es könnte sein, dass ein Beteiligter dieses Verfahrens dem nationalen Gericht noch weitere Tatsachen vorträgt, aus denen sich ergibt, dass es sich bei der betreffenden Diskriminierung um eine mittelbare Diskriminierung handelt oder dass die Rechtslage der Beteiligten eine andere ist. Aus diesem Grunde werde ich noch auf die Frage der mittelbaren Diskriminierung eingehen und prüfen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 auf den Fall des Ausgangsverfahrens anwendbar ist. Dabei werde ich mich indes kurz fassen.
110. Bei der sich anschließenden Würdigung in Bezug auf eine mittelbare Diskriminierung gehe ich davon aus, dass es in dem Unternehmen eine (hypothetische) Regelung gibt, wonach allen Arbeitnehmern eine völlig neutrale Bekleidung vorgeschrieben ist. Jedes Bekleidungselement, das in irgendeiner Weise die Individualität des Trägers zum Ausdruck bringt, ist somit verboten. Nach diesen Bekleidungsvorschriften sind (selbstverständlich) alle Symbole und Bekleidung religiöser Art untersagt – doch gilt dies ebenso für das Tragen eines FC‑Barcelona-Fan-Shirts oder einer Krawatte, die darauf hinweist, dass man ein bestimmtes College in Cambridge oder Oxford besucht hat. Wer gegen die Regelung verstößt, wird an die Unternehmensvorschriften erinnert und dahin gehend abgemahnt, dass die Einhaltung der Vorschriften über die neutrale Bekleidung für alle Arbeitnehmer verbindlich ist. Wer mit seinem Verhalten weiterhin gegen diese Vorschriften verstößt, wird entlassen. Die hier formulierte Regelung ist dem Anschein nach neutral. Sie diskriminiert augenscheinlich diejenigen nicht, die nach ihren religiösen Überzeugungen zum Tragen bestimmter Bekleidung verpflichtet sind. Sie diskriminiert sie gleichwohl mittelbar. Wenn sie ihren religiösen Überzeugungen treu bleiben wollen, haben sie keine andere Wahl, als gegen die Regelung zu verstoßen und die Konsequenzen zu tragen.
111. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i können Anforderungen, die eigentlich diskriminierend und daher unzulässig wären, trotzdem zulässig sein, wenn die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.
Rechtmäßiges Ziel
112. Die Richtlinie 2000/78 definiert den Begriff eines rechtmäßigen Ziels im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i nicht. Es ist jedoch klar, dass die Rechtmäßigkeit eines Ziels ihre Grundlage in der Sozialpolitik haben kann, insbesondere wenn diese Politik in Bestimmungen des Vertrags ein spezifisches Echo findet. So nennt Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie als Ziele, die rechtmäßig sind, „rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung“, die sämtlich ihren Ursprung in Art. 3 Abs. 3 EUV haben können(105).
113. In einem größeren Zusammenhang ist ein rechtmäßiges Ziel meines Erachtens auch der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer – so etwa der Schutz von Personen mit einer möglicherweise empfindsamen Wahrnehmung, wie etwa Kinder in jungem Alter und solche älteren Menschen, die vielleicht nicht mehr über ihre vollen geistigen Fähigkeiten verfügen und somit Personen der ersteren Kategorie gleichgestellt werden können(106).
114. Weiterhin dürfte meines Erachtens dann, wenn die Voraussetzung eines rechtmäßigen Zwecks im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 erfüllt ist, z. B. im Fall eines Verbots aufgrund von Belangen der Gesundheit und der Sicherheit, auch ein „rechtmäßiges Ziel“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i gegeben sein(107). Die Voraussetzungen dürften insoweit die gleichen sein.
115. Ferner stellt das Interesse des Unternehmens des Arbeitgebers meines Erachtens ein rechtmäßiges Ziel dar; diese Freiheit soll durch die Rechtsvorschriften nicht über das angemessene und erforderliche Maß hinaus eingeschränkt werden(108).
116. Diesem Aspekt kommt meines Erachtens in den folgenden Bereichen besondere Relevanz zu:
– Der Arbeitgeber kann seinen Auftraggebern oder Kunden ein bestimmtes Image kommunizieren wollen; somit dürfte eine Politik, wonach Arbeitnehmer eine Uniform oder Bekleidung eines bestimmten Stils zu tragen oder ein „gepflegtes“ äußeres Erscheinungsbild zu wahren haben, meines Erachtens unter den Begriff eines „rechtmäßigen Ziels“ fallen(109);
– dies kann ebenso für Regelungen über die Arbeitszeit gelten; eine Verpflichtung, für flexible Arbeitszeiten, auch außerhalb üblicher Arbeitszeiten, zur Verfügung zu stehen, soweit die Anforderungen der Tätigkeit dies erforderlich machen, ist meines Erachtens rechtmäßig(110);
– Maßnahmen eines Arbeitgebers, um die Harmonie innerhalb seiner Arbeitnehmerschaft zum Wohl seines Unternehmens insgesamt zu wahren.
117. Wie bereits erwähnt, hat der Gerichtshof indes entschieden, dass die unternehmerische Freiheit keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann, sondern Einschränkungen unterliegen kann, soweit sie u. a. gesetzlich vorgesehen sind(111). In der vorliegenden Rechtssache sind die durch den Anspruch auf Gleichbehandlung vorgegebenen Einschränkungen in Bezug auf die Freiheit von Diskriminierung, u. a. wegen der Religion oder der Weltanschauung, eindeutig gesetzlich vorgesehen. Sie sind in der Richtlinie 2000/78 ausdrücklich geregelt.
118. An dieser Stelle ist zu betonen, dass für einen praktizierenden Angehörigen eines Glaubens die religiöse Identität ein integraler Bestandteil seines ganzen Lebens ist. Die Anforderungen seines Glaubens – seine Ordnung und die Regeln, die er für die eigene Lebensführung vorgibt – sind nicht etwas, was außerhalb der Arbeit gelten soll (etwa für diejenigen, die einer Bürotätigkeit nachgehen, am Abend und am Wochenende), aber während der Arbeitszeit höflich abgelegt werden kann. Natürlich mag je nach den jeweiligen Regeln der betreffenden Religion und dem Maß der Betätigung der einzelnen Person dieses oder jenes Element für diese Person nicht zwingend und daher verhandelbar sein. Doch wäre die Annahme gänzlich verfehlt, dass zwar das Geschlecht und die Hautfarbe jeden Menschen überallhin begleiten, seine Religion jedoch nicht(112).
119. Das vorliegende Verfahren ist ein klassisches Beispiel für eben diese Situation. Zwei geschützte Rechte – das Recht, eine Religion zu haben und sie zu bekennen, und die unternehmerische Freiheit – stehen potenziell miteinander im Konflikt. Es muss eine Lösung gefunden werden, damit beide harmonisch und ausgeglichen miteinander koexistieren können. Mit diesem Gedanken wende ich mich der Frage der Angemessenheit zu.
Verhältnismäßigkeit
120. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 müssen die Mittel zur Erreichung der der betreffenden Maßnahme zugrunde liegenden Ziele auch angemessen und erforderlich sein. Mit anderen Worten müssen diese Mittel verhältnismäßig sein.
121. Im Rahmen ihrer Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Sinne der Richtlinie 2000/78 in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Ingeniørforeningen i Danmark (113) hat Generalanwältin Kokott ausgeführt, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „Maßnahmen, selbst wenn sie zur Erreichung legitimer Ziele geeignet und erforderlich sind, keine Nachteile verursachen [dürfen], die außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen“. Es ist erforderlich „einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen widerstreitenden Interessen zu finden“. Hiermit stimme ich völlig überein.
122. Insoweit muss meines Erachtens Ausgangspunkt jeder Würdigung sein, dass ein Arbeitnehmer grundsätzlich das Recht hat, religiöse Bekleidung oder ein religiöses Zeichen zu tragen, dass jedoch der Arbeitgeber auch das Recht hat oder haben kann, Beschränkungen vorzusehen(114).
123. Wenn es Politik eines Unternehmens ist, dass seine Arbeitnehmer eine Uniform tragen müssen, dürfte es somit meines Erachtens nicht unzumutbar sein, von den Arbeitnehmern zu verlangen, das Möglichste zu tun, um ihr zu entsprechen. Ein Arbeitgeber kann daher vorschreiben, dass Arbeitnehmer, die ein islamisches Kopftuch tragen, bei der Wahl ihres Kopftuchs die Farbe dieser Uniform übernehmen (oder er kann eine Uniformversion dieses Kopftuchs vorschlagen)(115).
124. Soweit es einem Arbeitnehmer möglich ist, ein religiöses Symbol dezent zu tragen, wie z. B. im Fall von Frau Eweida im Urteil des EGMR(116), kann es ebenso verhältnismäßig sein, dies von ihm oder ihr zu verlangen.
125. Was verhältnismäßig ist, kann von der Größe des betreffenden Unternehmens abhängen. Je größer das Unternehmen, desto eher wird es über Mittel verfügen, die ihm Flexibilität bei der Wahl der seinen Arbeitnehmern zugewiesenen Aufgaben ermöglichen. Von einem Arbeitgeber in einem großen Unternehmen können somit weiter gehende Schritte erwartet werden, um seine Arbeitnehmerschaft in einer ihm zumutbaren Weise zu organisieren, als von einem Arbeitgeber in einem kleinen oder mittleren Unternehmen.
126. Soweit eine bestimmte Form religiöser Betätigung von dem Angehörigen dieser Religion nicht als wesentlich betrachtet wird, mindert sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Standpunkte miteinander in einen Konflikt geraten, wie er dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegt. Der Arbeitgeber wird den Arbeitnehmer bitten, von einer bestimmten Praxis Abstand zu nehmen. Weil diese Praxis für den Arbeitnehmer (relativ) unwichtig war, mag er oder sie sich dafür entscheiden, dem nachzukommen. Der potenzielle Konflikt entfällt.
127. Was aber sollte geschehen, wenn die fragliche Praxis von dem einzelnen Arbeitnehmer als wesentlich angesehen wird?
128. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass es Fälle geben kann, in denen die bestimmte Art von Betätigung, die der/die Arbeitnehmer/in als wesentlich für das Praktizieren seiner/ihrer Religion betrachtet, dazu führt, dass er/sie eine bestimmte Tätigkeit nicht ausüben kann(117). Häufiger, so meine ich, werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam prüfen müssen, welche Möglichkeiten zu einer Lösung führen können, die sowohl dem Recht des Arbeitnehmers, seine religiöse Überzeugung zu bekennen, als auch der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers Rechnung trägt(118). Zwar hat der Arbeitnehmer meines Erachtens keinen absoluten Anspruch, darauf zu bestehen, dass ihm innerhalb der Organisation eine bestimmte Tätigkeit zu seinen eigenen Bedingungen ermöglicht wird, er sollte jedoch auch nicht ohne Weiteres darauf verwiesen werden können, sich eine andere Beschäftigung zu suchen(119). Eine Lösung, die irgendwo zwischen diesen beiden Positionen liegt, wird wahrscheinlich verhältnismäßig sein. Je nachdem, worum es genau geht, kann sie eine gewisse Beschränkung der ungehinderten Möglichkeit des Arbeitnehmers, seine Religion zu bekennen, mit sich bringen oder nicht; sie wird jedoch keinen Aspekt der religiösen Betätigung beeinträchtigen, den dieser Arbeitnehmer als wesentlich betrachtet(120).
129. Darüber hinaus möchte ich zu der Fragestellung in der vorliegenden Rechtssache noch eine besondere Überlegung anschließen.
130. Die westliche Gesellschaft misst dem Blick- oder Augenkontakt grundlegende Bedeutung in jedem Verhältnis zu, bei dem eine Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zwischen Vertretern eines Unternehmens und seinen Kunden stattfindet(121). Daraus folgt meines Erachtens, dass eine Regelung verhältnismäßig wäre, mit der ein Verbot des Tragens von die Augen und das Gesicht vollständig verdeckender religiöser Bekleidung während einer Tätigkeit eingeführt würde, bei der ein solcher Kontakt mit Kunden stattfindet. Die Interessenabwägung fiele zugunsten des Arbeitgebers aus. Umgekehrt fiele die Rechtfertigung für dieselbe Regelung weg, wenn der betreffende Arbeitnehmer in einer Position eingesetzt werden soll, bei der kein Blick- oder Augenkontakt mit Kunden stattfindet, z. B. in einem Call-Center. Die Abwägung wird zugunsten des Arbeitnehmers ausfallen. Und wenn der Arbeitnehmer lediglich eine Form der Kopfbedeckung tragen will, die das Gesicht und die Augen völlig frei lässt, ist für mich keine Rechtfertigung für ein Verbot des Tragens dieser Kopfbedeckung ersichtlich.
131. Micropole hat in ihrem schriftlichen und mündlichen Vortrag nachdrücklich betont, dass der Anteil der Arbeitszeit von Frau Bougnaoui, in dem sie in Kontakt mit Kunden gestanden habe und ihr somit das Tragen eines islamischen Kopftuchs verboten gewesen sei, nicht mehr als 5 % betragen habe. Auf dieser Grundlage sei die Beschränkung verhältnismäßig gewesen. Dieses Argument trifft meines Erachtens nicht den Punkt. Die zeitliche Dauer, für die ein Verbot gelten mag, kann für den Grund, aus dem der Arbeitnehmer die betreffende Kopfbedeckung tragen will, ohne Bedeutung sein. Ihre religiöse Überzeugung sagt Frau Bougnaoui, dass die für sie als praktizierende Muslima angebrachte Bekleidung darin besteht, dass sie während der Arbeit ein islamisches Kopftuch (den Hidschab) trägt. Wenn dies dann gilt, wenn sie sich innerhalb des vertrauten täglichen Umfelds des Unternehmens ihres Arbeitnehmers bewegt, dann kann vernünftigerweise angenommen werden, dass dies erst recht gilt, wenn sie sich außerhalb dieses Umfelds bewegt und mit Beteiligten in Kontakt steht, die gegenüber dem Unternehmen ihres Arbeitgebers Außenstehende sind.
132. Auch wenn die Frage letztlich Sache des nationalen Gerichts ist, das für die endgültige Entscheidung in der Rechtssache zuständig ist, und auch wenn es andere Fragen geben mag, die für die Erörterung der Verhältnismäßigkeit relevant und dem Gerichtshof nicht mitgeteilt worden sind, halte ich es für unwahrscheinlich, dass eine Argumentation auf der Grundlage der Verhältnismäßigkeit des in den Arbeitsplatzvorschriften von Micropole vorgesehenen Verbots – ungeachtet dessen, ob das Verbot sich auf das Tragen religiöser Zeichen oder Bekleidung allgemein oder ausschließlich auf das islamische Kopftuch bezog – im Fall des Ausgangsverfahrens durchdringen könnte.
133. Abschließen möchte ich mit der folgenden Bemerkung. In der großen Mehrheit der Fälle wird es meines Erachtens möglich sein, im Rahmen eines vernünftigen Gesprächs zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine Lösung zu finden, die die widerstreitenden Rechte des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin, seine/ihre Religion zu bekennen, und des Arbeitgebers, sein Unternehmen frei zu führen, miteinander angemessen in Einklang bringt. Gelegentlich mag dies jedoch nicht möglich sein. Als letztes Mittel sollte das unternehmerische Interesse an der Erzielung maximaler Gewinne dann meines Erachtens hinter dem Recht des einzelnen Arbeitnehmers, seine religiösen Überzeugungen zu bekennen, zurücktreten. Hinweisen möchte ich hier auf die Tücke des Arguments „aber wir müssen X tun, weil es unseren Kunden sonst nicht gefällt“. Dort, wo die Haltung des Kunden selbst auf Vorurteile wegen eines der „verbotenen Faktoren“, wie etwa der Religion, schließen lässt, dürfte es meines Erachtens besonders gefährlich sein, den Arbeitgeber von der Einhaltung einer Pflicht zur Gleichbehandlung zu entbinden, um diesem Vorurteil nachzugeben. Die Richtlinie 2000/78 soll im Bereich der Beschäftigung Schutz vor einer Benachteiligung (d. h. einer Diskriminierung) wegen eines der verbotenen Faktoren gewähren. Sie regelt nicht, wie man seine Beschäftigung verliert, um die Gewinnmarge des Arbeitgebers zu verbessern.
134. Nach alledem komme ich zu dem Ergebnis, dass im Fall mittelbarer Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Interessen des Unternehmens des Arbeitgebers ein rechtmäßiges Ziel für die Zwecke dieser Bestimmung darstellen. Eine solche Diskriminierung ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn sie im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig ist.
Ergebnis
135. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, der Cour de Cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) auf die vorgelegte Frage wie folgt zu antworten:
1. Eine in den Arbeitsplatzvorschriften eines Unternehmens enthaltene Regelung, die Arbeitnehmern des Unternehmens während des Kontakts mit Kunden des Unternehmens das Tragen religiöser Zeichen oder Bekleidung verbietet, beinhaltet eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, auf die weder Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 noch eine der sonstigen Abweichungen von dem in dieser Richtlinie aufgestellten Verbot der unmittelbaren Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung Anwendung findet. Dies gilt erst recht, wenn die betreffende Regelung ausschließlich für das Tragen des islamischen Kopftuchs gilt.
2. Im Fall einer mittelbaren Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass die Interessen des Unternehmens des Arbeitgebers ein rechtmäßiges Ziel für die Zwecke dieser Bestimmung darstellen. Eine solche Diskriminierung ist jedoch nur gerechtfertigt, wenn sie im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig ist.