Language of document : ECLI:EU:C:2016:818

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

27. Oktober 2016(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 3 und 6 – Zeitliche Geltung – Gerichtliche Überprüfung der Untersuchungshaft eines Angeklagten – Nationale Regelung, die es verbietet, während der gerichtlichen Phase des Verfahrens zu prüfen, ob der hinreichende Verdacht besteht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat – Widerspruch zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 4 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Beurteilungsspielraum, den die nationale Rechtsprechung den nationalen Gerichten bei der Entscheidung über die Frage lässt, ob die Konvention angewandt wird oder nicht“

In der Rechtssache C‑439/16 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. Juli 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 5. August 2016, in dem Strafverfahren gegen

Emil Milev

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter E. Juhász und C. Vajda, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Milev, vertreten durch sich selbst und durch S. Barborski und B. Mutafchiev, advokati,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Soloveytchik, R. Troosters und V. Bozhilova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Oktober 2016

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 6 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1).

2        Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Emil Milev wegen der Aufrechterhaltung seiner Untersuchungshaft.

 Rechtlicher Rahmen

 EMRK

3        Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:

„(1)      Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

c)      rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;

(4)      Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.

…“

4        Art. 6 („Recht auf ein faires Verfahren“) Abs. 1 EMRK lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …“

 Richtlinie 2016/343

5        Art. 3 („Unschuldsvermutung“) der Richtlinie 2016/343 lautet:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.“

6        Art. 6 („Beweislast“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“

7        Nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 setzen die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 1. April 2018 nachzukommen, und setzen die Europäische Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.

8        Gemäß ihrem Art. 15 ist die Richtlinie 2016/343 am 31. März 2016, also am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, in Kraft getreten.

 Bulgarisches Recht

9        Der Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK), bestimmt in seinem Art. 63 („Untersuchungshaft“):

„Die Maßnahme ‚Untersuchungshaft‘ wird verhängt, wenn der hinreichende Verdacht erhoben werden kann, dass der Beschuldigte eine Straftat begangen hat, die mit Freiheitsstrafe oder einer anderen schwereren Strafe bewehrt ist, und wenn sich aufgrund der Beweise in der Sache ergibt, dass eine tatsächliche Gefahr besteht, dass der Beschuldigte fliehen oder eine Straftat begehen wird.

…“

10      Art. 64 NPK, der die Zwangsmaßnahme „Untersuchungshaft“ in der vorgerichtlichen Phase betrifft, sieht vor:

„(1)      In der vorgerichtlichen Phase wird die Zwangsmaßnahme ‚Untersuchungshaft‘ auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom erstinstanzlichen Gericht verhängt.

(4) Das Gericht verhängt die Zwangsmaßnahme ‚Untersuchungshaft‘, wenn die in Art. 63 Abs. 1 genannten Voraussetzungen erfüllt sind; ist dies nicht der Fall, kann das Gericht beschließen, keine Zwangsmaßnahme oder eine mildere Maßnahme zu verhängen.

…“

11      Art. 65 („Gerichtliche Überprüfung der Untersuchungshaft im vorgerichtlichen Verfahren“) NPK bestimmt:

„(1)      Der Beschuldigte oder sein Verteidiger können jederzeit während des vorgerichtlichen Verfahrens die Umwandlung der verhängten Zwangsmaßnahme ‚Untersuchungshaft‘ beantragen.

Das Gericht bewertet alle Umstände in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Haft und entscheidet durch den Parteien in der Sitzung bekannt gegebenen Beschluss.

… “

12      In Art. 256 („Vorbereitung der Sitzung“) NPK heißt es wie folgt:

„(1)      Zur Vorbereitung der Sitzung nimmt der Berichterstatter Stellung zu:

2.      der Zwangsmaßnahme, ohne zu prüfen, ob der hinreichende Verdacht besteht, dass eine Straftat begangen wurde;

(3)      Im Fall eines Antrags in Bezug auf die Zwangsmaßnahme ‚Untersuchungshaft‘ legt der Berichterstatter einen Bericht über die Sache in öffentlicher Sitzung in Gegenwart des Staatsanwalts, des Angeklagten und dessen Verteidigers vor. Beim Erlass des Beschlusses prüft das Gericht, ob die Voraussetzungen für die Umwandlung oder Aufhebung der Zwangsmaßnahme erfüllt sind, ohne zu prüfen, ob der hinreichende Verdacht besteht, dass eine Straftat begangen wurde.

…“

13      Art. 270 („Entscheidungen über die Zwangsmaßnahme und andere gerichtlicher Überprüfung unterliegende Maßnahmen im gerichtlichen Verfahren“) NPK sieht vor:

„(1)      Die Frage der Umwandlung der Zwangsmaßnahme kann jederzeit im gerichtlichen Verfahren aufgeworfen werden. Ändern sich die Umstände, kann ein neuer Antrag in Bezug auf die Zwangsmaßnahme beim zuständigen Gericht eingereicht werden.

(2)      Das Gericht entscheidet durch Beschluss in öffentlicher Sitzung, ohne zu prüfen, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat.

(4)      Der Beschluss nach den Absätzen 2 und 3 ist unter den in Kapitel 22 bestimmten Voraussetzungen mit einer Beschwerde anfechtbar.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

14      Im Rahmen eines 2013 eingeleiteten Strafverfahrens wurde Herr Milev mehrerer Straftaten beschuldigt, darunter der Leitung einer organisierten und bewaffneten kriminellen Vereinigung, einer Entführung, mehrfachen Raubes und eines versuchten Totschlags, die mit Freiheitsstrafe von drei Jahren bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe ohne Möglichkeit der Umwandlung bestraft werden können. Seit dem 24. November 2013 befindet er sich in Untersuchungshaft.

15      Das Verfahren trat am 8. Juni 2015 in seine gerichtliche Phase ein. Seit diesem Zeitpunkt hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht, Bulgarien) 15-mal über von Herrn Milev gestellte Anträge auf Aufhebung dieser Untersuchungshaft entschieden.

16      Gemäß Art. 270 Abs. 2 NPK entschied dieses Gericht über diese Anträge ohne Prüfung der Frage, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat.

17      Der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht) ist der Ansicht, dass das nationale Strafverfahrensrecht im Widerspruch zu den Anforderungen aus der EMRK stehe. Denn während das nationale Recht es dem Richter verbiete, während der gerichtlichen Phase der Sache bei der gerichtlichen Überprüfung einer Maßnahme der Untersuchungshaft über die Frage zu entscheiden, ob ein hinreichender Verdacht bestehe, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen habe, sei es nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 4 EMRK nur dann zulässig, einen Angeklagten in Haft zu belassen, „wenn ein hinreichender Verdacht besteht, dass [er] eine Straftat begangen hat“.

18      Daher wandte sich der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht) an den Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof, Bulgarien). In Hinweisen, die am 7. April 2016 in Plenarbesetzung ergangen sind, hat die Strafkammer dieses Gerichts bestätigt, dass ein Konflikt zwischen dem nationalen Strafverfahrensrecht und der EMRK bestehe, der zu zahlreichen Verurteilungen der Republik Bulgarien durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt habe, von denen die erste in das Jahr 1999 zurückreiche (vgl. EGMR vom 25. März 1999, Nikolova / Bulgarien [GK], CE:ECHR:1999:0325JUD003119596).

19      Der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) führte in diesen Hinweisen auch aus, dass zum einen der Lösung, einem anderen Spruchkörper des erstinstanzlichen Gerichts als dem Spruchkörper, der über die Verbringung in Untersuchungshaft entschieden habe, oder einem anderen Gericht die Befugnis zu übertragen, über die Gründe für eine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zu entscheiden, rechtliche wie praktische Hindernisse entgegenstünden. Zum anderen könnte es dem in Art. 6 Abs. 1 EMRK niedergelegten Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit zuwiderlaufen, dass das Gericht, das mit der Sache in deren gerichtlicher Phase befasst sei, auch über die Frage entscheide, ob ein hinreichender Verdacht bestehe, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen habe.

20      Unter diesen Umständen stellte der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) fest, dass die nationalen strafverfahrensrechtlichen Vorschriften in jedem Fall den Bestimmungen der EMRK zuwiderlaufen könnten, und führte in den Hinweisen vom 7. April 2016 aus, dass „wir offenkundig nicht in der Lage [sind], eine Lösung für das Problem vorzuschlagen. Es bleibt daher dem jeweiligen Spruchkörper überlassen, zu beurteilen, ob er der EMRK oder dem nationalen Recht den Vorrang einräumt und ob er in der Lage ist, in diesem Rahmen zu entscheiden“. Dabei unterstrich er, die Notwendigkeit eines Tätigwerdens des Gesetzgebers, um den dargestellten Widerspruch auszuräumen. Das Gericht führte in diesen Hinweisen auch aus, dass es beschlossen habe, sie dem Justizministerium zu übermitteln, damit eine Änderung der in Rede stehenden gesetzlichen Vorschriften in Gang gesetzt werde.

21      Der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht) ist der Ansicht, dass die Wirkung der Hinweise vom 7. April 2016 mit der eines Auslegungsurteils zu vergleichen sei und die Gründe, die sie enthielten, daher für alle nationalen Gerichtsinstanzen verbindlich seien. Zweifel hat er jedoch an der Vereinbarkeit dieser Gründe mit den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2016/343. In dem Bewusstsein, dass die Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie noch nicht abgelaufen ist, weist er gleichwohl darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die zuständigen nationalen Stellen, einschließlich der Gerichte, keine Maßnahmen erlassen dürften, die geeignet seien, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen.

22      Daher hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Besonderes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist mit den Art. 3 und 6 der Richtlinie 2016/343 (die die Unschuldsvermutung und die Beweislast im Strafverfahren betreffen) eine nationale Rechtsprechung vereinbar, die in (nach dem Erlass der Richtlinie, aber vor dem Ablauf ihrer Umsetzungsfrist erteilten) bindenden Hinweisen des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) besteht, wonach dieser, nachdem er einen Widerspruch zwischen Art. 5 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 Buchst. c EMRK und dem nationalen Gesetz (Art. 270 Abs. 2 NPK) bezüglich der Erörterung oder Nichterörterung des hinreichenden Verdachts der Begehung einer Straftat (im Rahmen des Gerichtsverfahrens zur Überprüfung der Fortdauer der Zwangsmaßnahme „Untersuchungshaft“ in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens) festgestellt hat, den in der Sache entscheidenden Gerichten die Beurteilung überlässt, ob sie die EMRK beachten oder nicht?

 Zum Eilverfahren

23      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

24      Zur Stützung dieses Antrags macht es geltend, dass sich Herr Milev seit dem 24. November 2013 in Untersuchungshaft befinde. Außerdem müsse Herr Milev, falls die Vorlagefrage verneint werde und das zur Entscheidung über die Aufrechterhaltung der Haft von Herrn Milev berufene Gericht dann feststellen sollte, dass kein hinreichender Verdacht bestehe, dass er die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen habe, unverzüglich freigelassen werden.

25      Insoweit ist erstens hervorzuheben, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Richtlinie 2016/343 betrifft, die unter den Titel V („Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) im Dritten Teil des AEU-Vertrags fällt. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

26      Zweitens ist hinsichtlich des Kriteriums der Dringlichkeit nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, dass der im Ausgangsverfahren Betroffene derzeit seiner Freiheit beraubt ist und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt (Urteil vom 28. Juli 2016, JZ, C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den vom vorlegenden Gericht übermittelten und in den Rn. 17 bis 20 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Angaben, dass sich Herr Milev derzeit in Untersuchungshaft befindet und dass die Entscheidung des Ausgangsverfahrens dazu führen könnte, dass das vorlegende Gericht beschließt, diese Haft aufzuheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 24).

27      Unter diesen Umständen hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs am 17. August 2016 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben und das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

 Zur Vorlagefrage

28      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 3 und 6 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie den am 7. April 2016 zu Beginn des Zeitraums für die Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen Hinweisen des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) entgegenstehen, die den für die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen eine Anordnung der Untersuchungshaft zuständigen nationalen Gerichten die Befugnis verleihen, zu entscheiden, ob in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Angeklagten einer gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen ist, die sich auf die Frage bezieht, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass er die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat.

29      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343 nach ihrem Art. 15 am 31. März 2016 in Kraft getreten ist und dass die Umsetzungsfrist für diese Richtlinie nach ihrem Art. 14 Abs. 1 am 1. April 2018 abläuft.

30      Da diese Frist den Mitgliedstaaten insbesondere die für den Erlass der Umsetzungsmaßnahmen erforderliche Zeit geben soll, kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Richtlinie nicht vor Ablauf dieser Frist in ihre Rechtsordnung umsetzen (vgl. Urteile vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie, C‑129/96, EU:C:1997:628, Rn. 43, und vom 15. Oktober 2009, Hochtief und Linde-Kca-Dresden, C‑138/08, EU:C:2009:627, Rn. 25).

31      Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten während der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie den Erlass von Vorschriften unterlassen, die geeignet sind, das in dieser Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen (vgl. Urteile vom 18. Dezember 1997, Inter-Environnement Wallonie, C‑129/96, EU:C:1997:628, Rn. 45, und vom 2. Juni 2016, Pizzo, C‑27/15, EU:C:2016:404, Rn. 32). In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob solche nach Inkrafttreten der betreffenden Richtlinie erlassenen Vorschriften deren Umsetzung bezwecken oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 121).

32      Daraus folgt, dass die Behörden der Mitgliedstaaten sowie die nationalen Gerichte ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie es so weit wie möglich unterlassen müssen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf von deren Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C‑212/04, EU:C:2006:443, Rn. 122 und 123).

33      Das vorlegende Gericht stellt sich nun aber die Frage, ob die Hinweise, die der Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) erlassen hat, eine Maßnahme der Auslegung des nationalen Rechts darstellen könnten, die die Erreichung des von der Richtlinie 2016/343 verfolgten Ziels ernsthaft gefährden würde.

34      Insoweit ist, wie sich aus dem Wortlaut selbst dieser Hinweise ergibt, festzustellen, dass sie den nationalen Gerichten, die mit Rechtsbehelfen gegen Maßnahmen der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft befasst sind, nicht vorschreiben, in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens eine bestimmte Entscheidung zu erlassen. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich vielmehr, dass diese Hinweise den Gerichten die Freiheit belassen, die Bestimmungen der EMRK in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder die des nationalen Strafverfahrensrechts anzuwenden.

35      Infolgedessen sind die Hinweise des Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) nicht geeignet, nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2016/343 die Erreichung der von ihr vorgeschriebenen Ziele ernstlich in Frage zu stellen.

36      Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die vom Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof) am 7. April 2016 zu Beginn der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2016/343 erlassenen Hinweise, die den für die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen eine Anordnung der Untersuchungshaft zuständigen Gerichten die Befugnis verleihen, zu entscheiden, ob in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Angeklagten einer gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen ist, die sich auch auf die Frage bezieht, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass er die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat, nicht geeignet sind, nach Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie die von ihr vorgeschriebenen Ziele ernstlich in Frage zu stellen.

 Kosten

37      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Die vom Varhoven kasatsionen sad (Oberster Kassationsgerichtshof, Bulgarien) am 7. April 2016 zu Beginn der Frist für die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen erlassenen Hinweise, die den für die Prüfung eines Rechtsbehelfs gegen eine Anordnung der Untersuchungshaft zuständigen nationalen Gerichten die Befugnis verleihen, zu entscheiden, ob in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Angeklagten einer gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen ist, die sich auch auf die Frage bezieht, ob ein hinreichender Verdacht besteht, dass er die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat, sind nicht geeignet, nach Ablauf der Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie die von ihr vorgeschriebenen Ziele ernstlich in Frage zu stellen.

Unterschriften.


* Verfahrenssprache: Bulgarisch.