Language of document : ECLI:EU:C:2017:366

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NILS WAHL

vom 11. Mai 2017(1)

Rechtssache C278/16

Strafverfahren gegen Frank Sleutjes,

andere Partei:

Staatsanwaltschaft Aachen

(Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Aachen [Deutschland])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2010/64/EU – Art. 3 – Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren – Begriff der wesentlichen Unterlage – Strafbefehl“






1.        Das durch die Richtlinie 2010/64/EU(2) garantierte Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren in der gesamten Union ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, im Einklang mit den Vorgaben des Stockholmer Programms des Europäischen Rates(3). Wie der Rat der Europäischen Union klargestellt hat, muss der „Verdächtige oder Beschuldigte … verstehen können, was geschieht, und er muss sich verständlich machen können. Ein Verdächtiger oder Beschuldigter, der die Verfahrenssprache nicht spricht oder versteht, benötigt einen Dolmetscher sowie eine Übersetzung der wichtigsten Verfahrensunterlagen.“(4) Dies ist der Hintergrund des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens, das dem Gerichtshof Gelegenheit zur Festigung seiner Rechtsprechung zur Richtlinie 2010/64(5) geben wird.

2.        Im Ausgangsverfahren fragt das Landgericht Aachen (Deutschland) den Gerichtshof im Wesentlichen, ob ein Strafbefehl als eine „wesentliche Unterlage“ in einem Strafverfahren einzustufen ist und nach Art. 3 der Richtlinie 2010/64 übersetzt werden muss, falls die Person, an die er sich richtet, der deutschen Sprache nicht mächtig ist.

3.        Aus den nachstehenden Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, dies zu bejahen.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Richtlinie 2010/64

4.        Die Erwägungsgründe 14, 16 und 30 der Richtlinie 2010/64 lauten:

„(14)      Das Recht von Personen, die die Verfahrenssprache des Gerichts nicht sprechen oder nicht verstehen, auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen ergibt sich aus Artikel 6 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, im Folgenden: EMRK] in dessen Auslegung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese Richtlinie erleichtert die praktische Anwendung dieses Rechts. Zu diesem Zweck zielt diese Richtlinie darauf ab, das Recht von verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren im Hinblick auf die Wahrung des Rechts dieser Personen auf ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(16)      In einigen Mitgliedstaaten ist eine Behörde, die kein in Strafsachen zuständiges Gericht ist, für die Verhängung von Sanktionen hinsichtlich relativ geringfügiger Zuwiderhandlungen zuständig. Dies kann zum Beispiel bei häufig begangenen Verkehrsübertretungen der Fall sein, die möglicherweise nach einer Verkehrskontrolle festgestellt werden. In solchen Situationen wäre es unangemessen, die zuständige Behörde zu verpflichten, alle Rechte nach dieser Richtlinie zu gewährleisten. In den Fällen, in denen nach dem Recht eines Mitgliedstaats die Verhängung einer Sanktion wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen durch eine solche Behörde vorgesehen ist und bei einem in Strafsachen zuständigen Gericht Rechtsmittel eingelegt werden können, sollte diese Richtlinie daher nur auf das Verfahren vor diesem Gericht nach Einlegung eines solchen Rechtsmittels Anwendung finden.

(30)      Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens ist es erforderlich, dass wesentliche Unterlagen oder zumindest die maßgeblichen Passagen solcher Unterlagen für die verdächtigen oder beschuldigten Personen gemäß dieser Richtlinie übersetzt werden. Bestimmte Dokumente sollten immer als wesentliche Unterlagen in diesem Sinne gelten und sollten deshalb übersetzt werden, beispielsweise jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil. Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sollten von Amts wegen oder auf Antrag verdächtiger oder beschuldigter Personen oder ihres Rechtsbeistands entscheiden, welche weiteren Dokumente für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind und deshalb auch übersetzt werden sollten.“

5.        Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2010/64 bestimmt in seinen Abs. 1 bis 3:

„(1)      Diese Richtlinie regelt das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren …

(2)      Das in Absatz 1 genannte Recht gilt für Personen ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob sie die Straftat begangen haben, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.

(3)      In Fällen, in denen nach dem Recht eines Mitgliedstaats die Verhängung einer Sanktion wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen durch eine Behörde, die kein in Strafsachen zuständiges Gericht ist, vorgesehen ist, und gegen die Verhängung einer solchen Sanktion bei einem solchen Gericht Rechtsmittel eingelegt werden können, findet diese Richtlinie nur auf das Verfahren vor diesem Gericht nach Einlegung eines solchen Rechtsmittels Anwendung.“

6.        In Art. 3 („Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen“) der Richtlinie 2010/64 heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.

(2)      Zu den wesentlichen Unterlagen gehören jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil.

(3)      Die zuständigen Behörden entscheiden im konkreten Fall darüber, ob weitere Dokumente wesentlich sind. Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihr Rechtsbeistand können einen entsprechenden begründeten Antrag stellen.

(4)      Es ist nicht erforderlich, Passagen wesentlicher Dokumente, die nicht dafür maßgeblich sind, dass die verdächtigen oder beschuldigten Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, zu übersetzen.

(5)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, eine Entscheidung, dass keine Übersetzung von Dokumenten oder Passagen derselben benötigt wird, im Einklang mit nach einzelstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahren anzufechten, und, wenn Übersetzungen zur Verfügung gestellt wurden, die Möglichkeit haben, zu beanstanden, dass die Qualität der Übersetzungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend sei.

(9)      Nach diesem Artikel zur Verfügung gestellte Übersetzungen müssen eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen, insbesondere indem sichergestellt wird, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“

B.      Deutsches Recht

7.        § 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) bestimmt u. a., dass die Gerichtssprache Deutsch ist.

8.        § 187 GVG in der infolge der Umsetzung der Richtlinien 2010/64 und 2012/13/EU(6) geänderten Fassung lautet:

„(1)      Das Gericht zieht für den Beschuldigten oder Verurteilten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist oder der hör- oder sprachbehindert ist, einen Dolmetscher oder Übersetzer heran, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Das Gericht weist den Beschuldigten in einer ihm verständlichen Sprache darauf hin, dass er insoweit für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann.

(2)      Erforderlich zur Ausübung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ist in der Regel die schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nicht rechtskräftigen Urteilen. …

…“

9.        In § 37 Abs. 3 der Strafprozessordnung (StPO) heißt es: „Ist einem Prozessbeteiligten gemäß § 187 Absatz 1 und 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes eine Übersetzung des Urteils zur Verfügung zu stellen, so ist das Urteil zusammen mit der Übersetzung zuzustellen. …“

10.      § 407 Abs. 1 StPO, der die Möglichkeit des Erlasses eines Strafbefehls betrifft, sieht vor, dass „[i]m Verfahren vor dem Strafrichter … bei Vergehen auf schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft die Rechtsfolgen der Tat durch schriftlichen Strafbefehl ohne Hauptverhandlung festgesetzt werden [können]. Die Staatsanwaltschaft stellt diesen Antrag, wenn sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich erachtet. Der Antrag ist auf bestimmte Rechtsfolgen zu richten. Durch ihn wird die öffentliche Klage erhoben.“

11.      § 410 StPO, der den Einspruch gegen einen Strafbefehl und die Rechtskraft regelt, bestimmt:

„(1)      Der Angeklagte kann gegen den Strafbefehl innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung bei dem Gericht, das den Strafbefehl erlassen hat, schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Einspruch einlegen. …

(2)      Der Einspruch kann auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden.

(3)      Soweit gegen einen Strafbefehl nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, steht er einem rechtskräftigen Urteil gleich.“

II.    Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

12.      Am 2. November 2015 erließ das Amtsgericht Düren (Deutschland) auf Antrag der Staatsanwaltschaft Aachen (Deutschland) gegen den Angeklagten Frank Sleutjes, einen in den Niederlanden lebenden niederländischen Staatsangehörigen, einen Strafbefehl (im Folgenden: streitiger Strafbefehl), mit dem Herrn Sleutjes wegen Unfallflucht eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30 Euro auferlegt und ihm zudem die Fahrerlaubnis entzogen wurde. Die Fahrerlaubnisbehörde wurde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von neun Monaten weder das Recht, von der ausländischen Fahrerlaubnis wieder Gebrauch zu machen, noch eine inländische Fahrerlaubnis zu erteilen. Ferner heißt es im streitigen Strafbefehl, dass diese Entziehung die Wirkung einer Aberkennung des Rechts hat, von der Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen. Zudem wurden dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt.

13.      Der streitige Strafbefehl enthält eine Rechtsbehelfsbelehrung. Darin wird u. a. ausgeführt, dass der streitige Strafbefehl rechtskräftig und vollstreckbar wird, wenn der Angeklagte nicht binnen zwei Wochen nach der Zustellung bei dem in der Rechtsbehelfsbelehrung bezeichneten Amtsgericht – hier dem Amtsgericht Düren – schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Einspruch einlegt. Weiter heißt es darin, bei schriftlicher Einlegung sei die Frist nur gewahrt, wenn die Einspruchsschrift vor Ablauf von zwei Wochen bei dem Gericht eingehe. Schließlich enthält die Rechtsbehelfsbelehrung in einem eigenen Absatz folgenden letzten Satz: „Die schriftliche Rechtsmitteleinlegung muss in deutscher Sprache erfolgen.“

14.      Der streitige Strafbefehl wurde dem Angeklagten am 12. November 2015 durch Einschreiben zugestellt, und zwar in deutscher Sprache. Nur die Rechtsbehelfsbelehrung wurde ihm zusätzlich und gleichzeitig in einer niederländischen Übersetzung zugestellt.

15.      Am 24. November 2015 um 20.32 Uhr sandte der Angeklagte eine E‑Mail an das Amtsgericht Düren, in der er sich in niederländischer Sprache gegen den streitigen Strafbefehl wandte. Am 26. November 2015 fragte er – ebenfalls in niederländischer Sprache – beim Amtsgericht Aachen an, ob die E‑Mail vom 24. November 2015 dort eingegangen sei. Das Amtsgericht Düren teilte dem Angeklagten mit Schreiben vom 1. Dezember 2015, abgesandt am 8. Dezember 2015, mit, dass Schreiben an das Gericht in deutscher Sprache einzureichen seien. Zuvor, am 1. Dezember 2015, hatte der jetzige Verteidiger des Angeklagten mit Telefax Einspruch gegen den streitigen Strafbefehl eingelegt und zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

16.      Mit Beschluss vom 28. Januar 2016 verwarf das Amtsgericht Düren den Einspruch des Angeklagten gegen den streitigen Strafbefehl als unzulässig, weil verspätet. Zugleich wies es den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mangels hinreichenden Vortrags von Wiedereinsetzungsgründen zurück. Dieser Beschluss wurde dem Verteidiger am 2. Februar 2016 zugestellt. Mit Telefax vom 4. Februar 2016, eingegangen am selben Tag, erhob er gegen diesen Beschluss sofortige Beschwerde. Deshalb ist das Verfahren nunmehr beim vorlegenden Gericht anhängig.

17.      Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts ist der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig (§ 187 Abs. 1 GVG). Des Weiteren hält es den Beschluss des Amtsgerichts Düren vom 28. Januar 2016 für korrekt, meint jedoch, dass sich aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 3 der Richtlinie 2010/64, etwas anderes ergeben könnte. Insoweit weist es darauf hin, dass in § 37 Abs. 3 StPO – anders als in § 187 Abs. 2 GVG – Strafbefehle nicht aufgeführt seien. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei die Frage, ob ein Strafbefehl für den Angeklagten übersetzt werden müsse, nicht eindeutig geklärt. Wäre dies zu bejahen, sähe es sich zu der Entscheidung gezwungen, dass die Einspruchsfrist noch gar nicht in Gang gesetzt worden sei. Da das vorlegende Gericht davon ausgeht, dass die Richtlinie 2010/64 eine solche Auslegung nicht gebietet, aber angesichts u. a. der unterschiedlichen Standpunkte der deutschen Gerichte zu dieser Frage Zweifel hat, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 3 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen, dass der Begriff „Urteil“ in § 37 Abs. 3 StPO auch Strafbefehle im Sinne von §§ 407 ff. StPO einschließt?

18.      Herr Sleutjes, die deutsche, die tschechische und die niederländische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Gemäß Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung hat keine mündliche Verhandlung stattgefunden.

III. Würdigung

A.      Form

19.      Die deutsche Regierung führt aus, bei sachgerechter Auslegung der einschlägigen deutschen Vorschriften umfasse der Begriff „Urteil“ in § 37 Abs. 3 StPO auch Strafbefehle im Sinne der §§ 407 ff. StPO. Somit sei die Vorlagefrage für das Ausgangsverfahren nicht entscheidungserheblich.

20.      Insoweit genügt der Hinweis, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat(7). Es ist nicht offensichtlich, dass die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 2010/64 in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des bei ihm anhängigen Rechtsstreits steht, das im Ausgangsrechtsstreit angesprochene Problem der Übersetzung hypothetischer Natur ist oder der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Frage erforderlich sind. Die von der deutschen Regierung geäußerten Zweifel können die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens mithin nicht in Frage stellen.

21.      Die Formulierung der Vorlagefrage erweckt allerdings zunächst den Eindruck, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof um eine Auslegung von § 37 Abs. 3 StPO ersucht, für die der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV nicht zuständig wäre. Den Gründen des Vorlagebeschlusses lässt sich jedoch entnehmen, dass es dem vorlegenden Gericht tatsächlich um eine Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 2010/64 geht. Die Vorlagefrage ist daher entsprechend umzuformulieren.

22.      Ich werde hingegen nicht dem Vorschlag der Kommission folgen, die Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass auch um die Auslegung der Richtlinie 2012/13 ersucht wird. Im Einklang mit der Vermutung der Entscheidungserheblichkeit kann man nicht davon ausgehen, dass die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage deshalb mangelhaft ist, weil sie keinen Bezug auf die Richtlinie 2012/13 nimmt. Ich habe im Gegenteil keinen Grund zu der Annahme, dass dem vorlegenden Gericht die Richtlinie 2012/13 nicht bekannt ist, denn im Vorlagebeschluss wird das Urteil Covaci(8)angeführt, in dem auch diese Richtlinie ausgelegt wurde. Im Übrigen kann das Gericht dem Gerichtshof eine weitere Frage zur Auslegung der Richtlinie 2012/13 vorlegen, falls es dies für angebracht hält(9).

23.      Vor diesem Hintergrund möchte das vorlegende Gericht meines Erachtens mit seiner Frage im Wesentlichen wissen, ob zu den „wesentlichen Unterlagen“ im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2010/64 auch Strafbefehle im Sinne der §§ 407 ff. StPO gehören.

B.      Beantwortung der Frage

1.      Ein Strafbefehl ist eine „wesentliche Unterlage“ im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2010/64

24.      Das vorlegende Gericht neigt dazu, die vorstehend umformulierte Frage zu verneinen. Sämtliche Parteien, die Erklärungen eingereicht haben, vertreten hingegen die Gegenmeinung.

25.      Vor der Beantwortung der Frage sei darin erinnert, dass es sich bei dem in den §§ 407 ff. StPO festgelegten Verfahren für den Erlass von Strafbefehlen um ein vereinfachtes Verfahren ohne Verhandlung oder kontradiktorische Erörterung handelt. Insbesondere hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der im deutschen Recht vorgesehene Strafbefehl auf einem Verfahren sui generis beruht. In diesem Verfahren hat die beschuldigte Person, wenn sie eine kontradiktorische Erörterung erreichen will, in der sie ihren Anspruch auf rechtliches Gehör in vollem Umfang wahrnehmen kann, nur die Möglichkeit, gegen den Strafbefehl Einspruch einzulegen(10).

26.      Daher verwundert die Entscheidung des Gerichtshofs nicht, wonach die Situation einer Person, die gegen einen an sie gerichteten, noch nicht rechtskräftigen Strafbefehl Einspruch einlegen will, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2010/64 fällt, so dass sie die Möglichkeit haben muss, das darin garantierte Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Anspruch zu nehmen(11).

27.      In dem dem Urteil Covaci zugrunde liegenden Fall hatte die Staatsanwaltschaft beim nationalen Gericht den Erlass eines Strafbefehls beantragt, in dem u. a. angegeben war, dass ein Einspruch in deutscher Sprache abgefasst werden müsse. Da das nationale Gericht Zweifel hegte, fragte es den Gerichtshof u. a., ob die Richtlinie 2010/64 nationalen Vorschriften entgegensteht, die der Person, an die ein Strafbefehl gerichtet ist und die der deutschen Sprache nicht mächtig ist, nicht gestatten, gegen den Strafbefehl Einspruch in einer ihr verständlichen Sprache einzulegen. Der Gerichtshof verneinte dies, fügte aber hinzu, dass die nationalen Behörden der den Einspruch einlegenden Person ausdrücklich erlauben können, so zu verfahren, wenn sie der Auffassung sind, dass es sich dabei um ein „wesentliches Dokument“ handelt(12).

28.      Mit der Frage der Übersetzung des Strafbefehls selbst, die im Mittelpunkt des vorliegenden Falls steht, war der Gerichtshof in der Rechtssache Covaci nicht befasst. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die kein Deutsch verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung des Strafbefehls erhalten müssen. Hierfür sprechen Wortlaut, Systematik und Ziel von Art. 3 der Richtlinie 2010/64.

29.      Was zunächst den Wortlaut betrifft, ist in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 die Rede von „alle[n] Unterlagen …, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten“. Nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 gehören „[z]u den wesentlichen Unterlagen … jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil“. Wie durch den 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/64 bestätigt wird, ist diese Aufzählung nicht erschöpfend(13).

30.      Anders als die Kommission bin ich mir nicht sicher, dass ein Strafbefehl einer „Anklageschrift“ gleichzustellen ist. Der Gerichtshof hat zwar ausgeführt, dass ein Strafbefehl als eine Form der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegen den Betroffenen im Sinne der Richtlinie 2012/13 anzusehen ist(14). Im Gegensatz zu einer Anklageschrift handelt es sich bei einem Strafbefehl jedoch um eine gerichtliche Entscheidung, die rechtskräftig wird, wenn gegen sie nicht rechtzeitig Einspruch eingelegt wird. Der Strafbefehl weist somit auch gewisse Ähnlichkeit mit einem „Urteil“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 auf(15). Unabhängig davon, wie der Strafbefehl einzuordnen ist, dürfte auf der Hand liegen, dass seine Übersetzung von entscheidender Bedeutung ist, um zu gewährleisten, dass die Person, an die er sich richtet, seinen Inhalt verstehen und infolgedessen ihre Verteidigungsrechte in Bezug auf die Strafe, die mit ihm verhängt werden soll, wahrnehmen kann. Der Strafbefehl wäre daher in jedem Fall als „wesentliche Unterlage“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie einzustufen.

31.      Zweitens bestätigt die Systematik der Richtlinie 2010/64, dass ein Strafbefehl eine „wesentliche Unterlage“ im Sinne ihres Art. 3 darstellt.

32.      An dieser Stelle möchte ich wie die niederländische Regierung auf Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64 hinweisen. Nach dieser Vorschrift sind bestimmte behördliche Sanktionen wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen. Nach dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/64 wird damit das Ziel verfolgt, die Verwaltungsbehörden von der ihnen andernfalls obliegenden Pflicht zu entbinden, alle Rechte nach der Richtlinie zu gewährleisten, wenn dieses Erfordernis unangemessen wäre. Weiter heißt es dort, dies sei insbesondere bei häufig begangenen Verkehrsübertretungen der Fall, die nach einer Verkehrskontrolle festgestellt würden – ein Paradebeispiel hierfür wären Geschwindigkeitsübertretungen. Umgekehrt bestätigt dies auch, dass eine gerichtliche Entscheidung wie der streitige Strafbefehl, die zur Verhängung einer Strafe wegen einer Verkehrsübertretung in einem Fall führen kann, bei dem es nicht um eine bloße Geschwindigkeitsüberschreitung geht, ein typischer Fall ist, in dem die in der Richtlinie vorgesehenen Rechte Anwendung finden.

33.      Schließlich spricht auch das Ziel der Richtlinie 2010/64, das sich ihrem 14. Erwägungsgrund entnehmen lässt, dafür, Strafbefehle als „wesentliche Unterlagen“ anzuerkennen, die übersetzt werden müssen, wenn der Beschuldigte der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Sie zielt darauf ab, „das Recht von verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren im Hinblick auf die Wahrung des Rechts dieser Personen auf ein faires Verfahren zu gewährleisten“. Das Recht von Personen, die die Verfahrenssprache nicht sprechen oder nicht verstehen, auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen ergibt sich aus Art. 6 EMRK. Um den Anforderungen an ein faires Verfahren zu genügen, muss nämlich sichergestellt werden, dass der Beschuldigte verstehen kann, was ihm vorgeworfen wird, und sich verteidigen kann(16). Die Richtlinie erleichtert die praktische Anwendung dieses Rechts.

34.      Wäre keine Übersetzung eines Strafbefehls vorgeschrieben, obwohl er möglicherweise zur rechtskräftigen Verhängung einer Strafe führt – insbesondere wenn die Person, an die er sich richtet, ihn nicht versteht, weil sie der deutschen Sprache nicht mächtig ist –, würde das Recht dieser Person auf ein faires Verfahren offenkundig beeinträchtigt. Der Sache nach würde ihr Rechtsschutz verweigert.

35.      Dem steht nicht entgegen, dass es nach Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2010/64 Sache der zuständigen Behörden ist, im konkreten Fall darüber zu entscheiden, ob weitere Dokumente wesentlich sind. Diese Bestimmung betrifft nämlich Unterlagen, die nicht bereits nach Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie als wesentlich angesehen werden(17).

36.      Die von mir vorgeschlagene Lösung wird auch durch das Urteil Balogh nicht in Frage gestellt. Dort ging es um ein Verfahren in Ungarn zur Anerkennung der Rechtsfolgen eines rechtskräftigen Urteils, mit dem Herr István Balogh in Österreich zu einer Freiheitsstrafe und zur Tragung der Kosten verurteilt worden war. Das Strafverfahren gegen Herrn Balogh in Österreich war bereits abgeschlossen, und in diesem Verfahren war auch sein Recht auf Übersetzung gewahrt worden. Infolgedessen kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Richtlinie 2010/64 auf das Anerkennungsverfahren keine Anwendung fand(18).

37.      Aus dem Vorstehenden folgt, dass ein Dokument wie der Strafbefehl im Sinne der §§ 407 ff. StPO eine „wesentliche Unterlage“ im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2010/64 darstellt. Somit muss es übersetzt werden, falls die Person, an die es sich richtet, der deutschen Sprache nicht mächtig ist.

2.      Weitere Erwägungen zum Recht auf Übersetzung in Strafverfahren gemäß Art. 3 der Richtlinie 2010/64

38.      Angesichts der Konsequenzen, die mit der oben vertretenen Auffassung verbunden sind, bedarf es einiger weiterer Erwägungen zum Recht auf Übersetzung in Strafverfahren gemäß Art. 3 der Richtlinie 2010/64, da sie für das vorlegende Gericht bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache zweckdienlich sein könnten.

39.      Zum einen gilt das genannte Recht universell, da die Richtlinie 2010/64 den Personenkreis, der den durch sie gewährten Schutz in Anspruch nehmen kann, nicht begrenzt. Die einzige Voraussetzung dafür, dass der Schutz zum Tragen kommt, lautet, dass die Personen davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind.

40.      Zum anderen ist in der Richtlinie 2010/64 nicht vorgegeben, in welcher Sprache die Person, die der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt ist und die Verfahrenssprache nicht versteht, eine Übersetzung der wesentlichen Unterlagen erhalten muss. Es gibt somit keine Vorgabe, wonach die Übersetzung in die Muttersprache des Betroffenen erfolgen muss. Aus Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie ergibt sich vielmehr, dass die Übersetzung verdächtige oder beschuldigte Personen in die Lage versetzen soll, zu „wissen, was ihnen zur Last gelegt wird“. Es dürfte daher möglich sein, auf eine „Relaissprache“ zurückzugreifen, die der Betroffene versteht, sofern dies nicht aus willkürlichen Gründen geschieht.

41.      Insbesondere erlaubt es die letztgenannte Bestimmung den Mitgliedstaaten, Passagen wesentlicher Dokumente, die nicht dafür maßgeblich sind, dass die verdächtige oder beschuldigte Person weiß, was ihr zur Last gelegt wird, nicht zu übersetzen. Sie erlaubt es jedoch nicht, der betroffenen Person anstelle der Übersetzung eines wesentlichen Dokuments lediglich, wie im Ausgangsverfahren geschehen, ergänzende Informationen über die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe in einer ihr verständlichen Sprache zu geben. Des Weiteren muss die Übersetzung – unabhängig von der gewählten Sprache – nach Art. 3 Abs. 9 der Richtlinie 2010/64 eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen. Der Betroffene hat nach Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie das Recht, im Einklang mit einzelstaatlichen Vorschriften zu beanstanden, dass die Qualität der Übersetzung unzureichend sei, oder eine Entscheidung anzufechten, dass keine Übersetzung benötigt wird.

42.      In zeitlicher Hinsicht gilt das in Art. 3 der Richtlinie 2010/64 vorgesehene Recht auf Übersetzung in Strafverfahren nach ihrem Art. 1 Abs. 2 ab dem Zeitpunkt, zu dem die betroffene Person davon in Kenntnis gesetzt wird, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt ist, bis zur endgültigen Klärung der Frage, ob sie die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und etwaiger Rechtsmittelverfahren. Die Übersetzung eines wesentlichen Dokuments muss jedoch nicht gleichzeitig mit dem wesentlichen Dokument zugestellt werden; nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie muss die betroffene Person sie nur „innerhalb einer angemessenen Frist“ erhalten. Im Übrigen liegt es auf der Hand, dass der betroffenen Person auch eine angemessene Frist zur Verfügung stehen muss, um sich mit dem Inhalt der wesentlichen Unterlage vertraut zu machen und gegebenenfalls dazu Stellung zu nehmen.

43.      Für den Fall einer Verletzung des Rechts auf Übersetzung schreibt die Richtlinie 2010/64 den Mitgliedstaaten keine bestimmte Maßnahme vor. Es steht ihnen daher frei, welche der verschiedenen zur Verwirklichung des Ziels der genannten Bestimmung geeigneten Lösungensie nach Maßgabe der unterschiedlichen denkbaren Sachverhalte wählen(19). Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass bei Fristversäumnis einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattgegeben wird(20), oder erforderlichenfalls dadurch, dass eine nationale Vorschrift, die eine Einspruchsfrist vorsieht, unangewendet bleibt(21).

44.      Klar ist jedenfalls, dass ein Mitgliedstaat die strafrechtliche Verfolgung einer Person, die der Verfahrenssprache nicht mächtig ist, nicht auf wesentliche Unterlagen stützen darf, die für die betreffende Person übersetzt werden müssten, aber nicht übersetzt wurden. Ein solches Vorgehen würde nicht nur der Richtlinie jede praktische Wirksamkeit nehmen, sondern auch die Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK verletzen, dessen praktische Anwendung die Richtlinie erleichtern soll. Meines Erachtens liegt es daher im Interesse der Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass die „angemessene Frist“, innerhalb deren die der Begehung einer Straftat verdächtigen oder beschuldigten Personen solche Übersetzungen erhalten, möglichst kurz ist.

45.      Das vorlegende Gericht legt im Vorlagebeschluss dar, welche Konsequenzen seiner Ansicht nach eine Verletzung von Art. 3 der Richtlinie 2010/64 für die Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl hat. Es führt aus, dass die Zustellung des streitigen Strafbefehls ohne beigefügte niederländische Übersetzung des gesamten Textes unwirksam gewesen sei, so dass die Einspruchsfrist noch gar nicht in Gang gesetzt worden sei.

46.      Insoweit möchte ich daran erinnern, dass die Mitgliedstaaten mangels einschlägiger Unionsvorschriften berechtigt sind, die Gerichtsverfahren zu regeln, indem sie entsprechend dem Grundsatz der Verfahrensautonomie ihnen angemessen erscheinende Fristen festlegen. Nach Maßgabe des Äquivalenzgrundsatzes dürfen jedoch Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, die Verfahrenssprache nicht verstehen und sich deshalb auf ihre Rechte aus der Richtlinie 2010/64 berufen wollen, nicht gegenüber Personen benachteiligt werden, die die Verfahrenssprache verstehen und deshalb alles in allem mit höherer Wahrscheinlichkeit Staatsangehörige des die Strafverfolgung betreibenden Mitgliedstaats sind(22). Ich pflichte dem vorlegenden Gericht daher bei, dass die Frist für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl nicht zu laufen beginnen sollte, bevor die betroffene Person eine ordnungsgemäße Übersetzung des Strafbefehls erhält. Bei jeder kürzeren Frist bestünde die Gefahr, die Verteidigungsrechte und damit den Effektivitätsgrundsatz zu verletzen(23).

IV.    Ergebnis

47.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Landgerichts Aachen (Deutschland) zu antworten, dass bei sachgerechter Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ein Dokument wie der Strafbefehl im Sinne der §§ 407 ff. der deutschen Strafprozessordnung eine „wesentliche Unterlage“ darstellt, die übersetzt werden muss, falls die Person, an die er sich richtet, der deutschen Sprache nicht mächtig ist.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1).


3      Europäischer Rat, „Das Stockholmer Programm – ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“ (ABl. 2010, C 115, S. 1 und 10).


4      Anhang der Entschließung des Rates vom 30. November 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren, S. 3 (ABl. 2009, C 295, S. 3).


5      Vgl. Urteile vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686), und vom 9. Juni 2016, Balogh (C‑25/15, EU:C:2016:423).


6      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012      über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).


7      Vgl. Urteil vom 8. Dezember 2016, Eurosaneamientos u. a. (C‑532/15 und C‑538/15, EU:C:2016:932, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8      Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686).


9      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2014, Torresi (C‑58/13 und C‑59/13, EU:C:2014:2088, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 20 und 41).


11      Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 27).


12      Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 47 bis 50).


13      Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 45).


14      Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 61).


15      Insoweit ist der in der englischen Sprachfassung sowohl der Richtlinie 2010/64 als auch der Brüsseler Regelung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen verwendete Begriff „judgment“ weit gefasst. Vgl. insbesondere Art. 2 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1), der lautet: „‚judgment‘ means any judgment given by a court or tribunal of a Member State, whatever the judgment may be called, including a decree, order, decision or writ of execution, as well as a decision on the determination of costs or expenses by an officer of the court“. Vgl. in diesem Zusammenhang Urteil vom 2. April 2009, Gambazzi (C‑394/07, EU:C:2009:219, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci (C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 49).


18      Urteil vom 9. Juni 2016, Balogh (C‑25/15, EU:C:2016:423, Rn. 36 bis 40).


19      Vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juli 2008, Raccanelli (C‑94/07, EU:C:2008:425, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20      Vgl. z. B. Urteil vom 22. März 2017, Tranca u. a. (C‑124/16, C‑188/16 und C‑213/16, EU:C:2017:228, Rn. 51).


21      Als Beispiel für die den nationalen Gerichten nach dem Unionsrecht obliegende Pflicht, einer Auslegung des nationalen Rechts, die gegen das Unionsrecht verstößt, nicht zu folgen, vgl. Urteil vom 19. April 2016, DI (C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22      Vgl. – zu einem zugegebenermaßen etwas anders gelagerten Sachverhalt – Urteile vom 24. November 1998, Bickel und Franz (C‑274/96, EU:C:1998:563, Rn. 26), und vom 27. März 2014, Grauel Rüffer (C‑322/13, EU:C:2014:189, Rn. 20).


23      Vgl. zur Einspruchsfrist bei Strafbefehlen nach Maßgabe der Richtlinie 2012/13 Urteil vom 22. März 2017, Tranca u. a. (C‑124/16, C‑188/16 und C‑213/16, EU:C:2017:228, Rn. 51).