Language of document : ECLI:EU:C:2017:575

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

20. Juli 2017(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherung – Richtlinie 72/166/EWG – Art. 3 Abs. 1 – Zweite Richtlinie 84/5/EWG – Art. 2 Abs. 1 – Versicherungsvertrag, der auf der Grundlage falscher Angaben zum Eigentum an dem Fahrzeug und zur Identität des gewöhnlichen Fahrers des Fahrzeugs geschlossen wurde – Versicherungsnehmer – Fehlendes wirtschaftliches Interesse am Abschluss dieses Vertrags – Absolute Nichtigkeit des Versicherungsvertrags – Wirkung gegenüber geschädigten Dritten“

In der Rechtssache C‑287/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof, Portugal) mit Entscheidung vom 4. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 2016, in dem Verfahren

Fidelidade-Companhia de Seguros SA

gegen

Caisse Suisse de Compensation,

Fundo de Garantia Automóvel,

Sandra Cristina Crystello Pinto Moreira Pereira,

Sandra Manuela Teixeira Gomes Seemann,

Catarina Ferreira Seemann,

José Batista Pereira,

Teresa Rosa Teixeira

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter) und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und M. Rebelo als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Costa de Oliveira und K.‑ P. Wojcik als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 1972, L 103, S. 1, im Folgenden: Erste Richtlinie), Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17, im Folgenden: Zweite Richtlinie) und Art. 1 der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherung (ABl. 1990, L 129, S. 33, im Folgenden: Dritte Richtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Fidelidade‑Companhia de Seguros SA einerseits und der Caisse Suisse de Compensation, dem Fundo de Garantia Automóvel (Kraftfahrzeug‑Garantiefonds), Frau Sandra Cristina Crystello Pinto Moreira Pereira, Frau Sandra Manuela Teixeira Gomes Seemann, Frau Catarina Ferreira Seemann, Herrn José Batista Pereira und Frau Teresa Rosa Teixeira andererseits betreffend die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung, nach der ein Versicherungsvertrag, der auf der Grundlage falscher Angaben zur Identität des Eigentümers und des gewöhnlichen Fahrers eines Kraftfahrzeugs geschlossen wurde, absolut nichtig ist, mit den vorstehend genannten Bestimmungen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat trifft … alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.“

4        In den Erwägungsgründen 6 und 7 der Zweiten Richtlinie heißt es wie folgt:

„Es ist notwendig, eine Stelle einzurichten, die dem Geschädigten auch dann eine Entschädigung sicherstellt, wenn das verursachende Fahrzeug nicht versichert war oder nicht ermittelt wurde. Die betreffenden Unfallopfer müssen sich unmittelbar an diese Stelle als erste Kontaktstelle wenden können; diese Möglichkeit berührt nicht die von den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Frage der Subsidiarität des Eintretens dieser Stelle angewandten Vorschriften sowie die für den Rückgriff geltenden Regeln. Den Mitgliedstaaten sollte jedoch die Möglichkeit gegeben werden, in bestimmten begrenzten Fällen die Einschaltung der betreffenden Stelle auszuschließen und bei von einem nicht ermittelten Fahrzeug verursachten Sachschäden wegen der Betrugsgefahr vorzusehen, dass die Entschädigung bei derartigen Schäden begrenzt oder ausgeschlossen werden kann.

Es liegt im Interesse der Unfallopfer, dass die Wirkungen bestimmter Ausschlussklauseln auf die Beziehungen zwischen dem Versicherer und dem für den Unfall Verantwortlichen beschränkt bleiben. Bei gestohlenen oder unter Anwendung von Gewalt erlangten Fahrzeugen können die Mitgliedstaaten jedoch vorsehen, dass zur Entschädigung des Opfers die genannte Stelle eintritt.“

5        Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie sieht vor, dass jeder Mitgliedstaat eine Stelle schafft oder anerkennt, die für Sach- oder Personenschäden, die durch ein nicht ermitteltes oder nicht versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, zumindest in den Grenzen der Versicherungspflicht Ersatz zu leisten hat. In Unterabs. 3 dieser Bestimmung heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können … von der Einschaltung dieser Stelle Personen ausschließen, die das Fahrzeug, das den Schaden verursacht hat, freiwillig bestiegen haben, sofern durch die Stelle nachgewiesen werden kann, dass sie wussten, dass das Fahrzeug nicht versichert war.“

6        Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie lautet wie folgt:

„Jeder Mitgliedstaat trifft zweckdienliche Maßnahmen, damit jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] ausgestellten Versicherungspolice, mit der die Nutzung oder Führung von Fahrzeugen durch

–        hierzu weder ausdrücklich noch stillschweigend ermächtigte Personen oder

–        Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen, oder

–        Personen, die den gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Zustand und Sicherheit des betreffenden Fahrzeugs nicht nachgekommen sind,

von der Versicherung ausgeschlossen werden, bei der Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten als wirkungslos gilt.

Die im ersten Gedankenstrich genannte Vorschrift oder Klausel kann jedoch gegenüber den Personen geltend gemacht werden, die das Fahrzeug, das den Schaden verursacht hat, freiwillig bestiegen haben, sofern der Versicherer nachweisen kann, dass sie wussten, dass das Fahrzeug gestohlen war.

…“

7        Der vierte Erwägungsgrund der Dritten Richtlinie lautet:

„Den bei Kraftfahrzeug‑Verkehrsunfällen Geschädigten sollte unabhängig davon, in welchem Land der Gemeinschaft sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung garantiert werden.“

8        Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Unbeschadet des Artikels 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 der [Zweiten Richtlinie] deckt die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers.“

 Portugiesisches Recht

9        Die Erste Richtlinie wurde durch das Decreto-Lei n° 522/85 – Seguro Obrigatório de Responsabilidade Civil Automóvel (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 522/85 über die obligatorische Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherung) vom 31. Dezember 1985 in portugiesisches Recht umgesetzt. Diese gesetzesvertretende Verordnung in der durch das Decreto-Lei n° 72-A/2003 – Lei do Seguro Obrigatório (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 72-A/2003 über das Gesetz über die Pflichtversicherung) vom 14. April 2003 geänderten Fassung, die zum im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt in Kraft war (im Folgenden: gesetzesvertretende Verordnung Nr. 522/85) sieht in Art. 1 Abs. 1 die Verpflichtung zur Versicherung eines Landkraftfahrzeugs wie folgt vor:

„Jeder, der zivilrechtlich für den Ersatz von Vermögens- oder Nichtvermögensschäden haften kann, die aus Verletzungen des Körpers oder des Vermögens entstehen, die Dritte durch ein Landkraftfahrzeug oder dessen Anhänger oder Sattelanhänger erleiden, muss, damit diese Fahrzeuge am Straßenverkehr teilnehmen können, eine Versicherung zur Deckung dieser Haftung nach Maßgabe dieser gesetzesvertretenden Verordnung abschließen.“

10      Art. 2 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 522/85 betreffend die der Versicherungspflicht unterliegenden Personen lautet wie folgt:

„1.      Die Versicherungspflicht obliegt dem Eigentümer des Fahrzeugs, ausgenommen in den Fällen von Nießbrauch, Verkauf unter Eigentumsvorbehalt und Finanzierungsleasing, in denen diese Pflicht dem Nießbrauchnehmer, dem Käufer bzw. dem Leasingnehmer obliegt.

2.      Wenn eine andere Person in Bezug auf das Fahrzeug einen Versicherungsvertrag abschließt, der den Bestimmungen dieser gesetzesvertretenden Verordnung entspricht, ist die Pflicht der im vorstehenden Absatz genannten Personen erfüllt, solange der Vertrag Wirkungen entfaltet.

…“

11      Art. 14 dieser gesetzesvertretenden Verordnung betreffend die Wirkungen der Ausnahmen gegenüber Geschädigten bestimmt:

„Neben den in der vorliegenden gesetzesvertretenden Verordnung geregelten Ausschlüssen und Möglichkeiten der Nichtigerklärung kann die Versicherungsgesellschaft den Geschädigten lediglich die Beendigung des Vertrags gemäß Abs. 1 des vorstehenden Artikels oder dessen Auflösung oder Nichtigkeit gemäß den geltenden rechtlichen Bestimmungen entgegenhalten, sofern sie vor dem Zeitpunkt des Schadensereignisses eingetreten ist.“

12      Das portugiesische Handelsgesetzbuch behandelt Versicherungen in Abschnitt XV. Seine Art. 428 und 429 lauten wie folgt:

„Art. 428 Personen, für die eine Versicherung abgeschlossen werden kann

Die Versicherung kann für die betreffende Person selbst oder für eine andere Person abgeschlossen werden.

1.      Hat die Person, für die oder in deren Namen die Versicherung abgeschlossen wird, kein Interesse an dem versicherten Gegenstand, so ist die Versicherung nichtig.

2.      Ist in der Versicherungspolice nicht angegeben, dass die Versicherung für eine andere Person abgeschlossen wird, wird davon ausgegangen, dass sie für die die Versicherung abschließende Person selbst abgeschlossen wird.

Art. 429 Nichtigkeit der Versicherung aufgrund von Unrichtigkeiten oder Auslassungen

Jede unrichtige Angabe sowie jedes Verschweigen von Tatsachen oder Umständen, die dem Versicherten oder der Person, die die Versicherung abgeschlossen hat, bekannt waren und die das Bestehen oder die Bedingungen des Vertrags hätten beeinflussen können, führen zur Nichtigkeit der Versicherung.

Einziger Absatz. Hat die Partei, die die Angaben gemacht hat, bösgläubig gehandelt, hat der Versicherer Anspruch auf die Prämie.“

 Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefrage

13      Am 20. Mai 2004 ereignete sich ein Straßenverkehrsunfall, an dem ein Kraftfahrzeug, das von Herrn Teixeira Pereira geführt wurde und Frau Crystello Pinto Moreira Pereira gehörte, sowie ein Motorrad, das von dessen Eigentümer, Herrn Seemann, geführt wurde, beteiligt waren. Durch den Unfall kamen die Fahrer beider Fahrzeuge ums Leben.

14      Die Caisse Suisse de Compensation erhob am 11. Januar 2010 eine Klage gegen den Kraftfahrzeug‑Garantiefonds und Frau Crystello Pinto Moreira Pereira auf Erstattung des an die Familienangehörigen ihres Versicherten, Herrn Seemann, geleisteten Betrags von 285 980,54 Euro.

15      Die genannten Beklagten erhoben die Einrede, dass ihnen die Passivlegitimation fehle, weil zum Zeitpunkt des Unfalls ein gültiger Versicherungsvertrag mit der nunmehrigen Fidelidade‑Companhia de Seguros (im Folgenden: Versicherer) bestanden habe, der die zivilrechtliche Haftung für das Kraftfahrzeug abgedeckt habe. Nachdem dieser Gesellschaft der Streit verkündet worden war, machte diese geltend, dass der Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherungsvertrag ungültig sei, weil der Versicherungsnehmer bei Vertragsabschluss falsche Angaben gemacht habe, indem er behauptet habe, der Eigentümer und gewöhnliche Fahrer des Fahrzeugs zu sein.

16      Im Urteil des erstinstanzlichen Gerichts wurde der Versicherungsvertrag für ungültig erachtet und davon ausgegangen, dass diese Ungültigkeit den Geschädigten entgegengehalten werden könne. Das Tribunal da Relação do Porto (Berufungsgericht Porto, Portugal), bei dem Berufung eingelegt worden war, erachtete diesen Vertrag für ungültig, war jedoch der Ansicht, dass diese Ungültigkeit den Geschädigten nicht entgegengehalten werden könne. Der Versicherer legte gegen das Urteil des Tribunal da Relação do Porto (Berufungsgericht Porto) Revision zum Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof, Portugal) ein und machte geltend, dass der in Rede stehende Versicherungsvertrag absolut nichtig sei und dies dem Geschädigten, Herrn Seemann, und der Caisse Suisse de Compensation entgegengehalten werden könne.

17      Was die Auslegung der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie über die Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherung angeht, ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass Zweifel hinsichtlich der Frage bestehen, ob die absolute Nichtigkeit des Versicherungsvertrags, wie sie in Art. 428 § 1 des portugiesischen Handelsgesetzbuchs vorgesehen ist, den Geschädigten entgegengehalten werden kann.

18      Die Auslegung ist in der Rechtsprechung des Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof) nämlich uneinheitlich. Nach einer ersten Rechtsprechungslinie ist der Versicherungsvertrag absolut nichtig, wenn der Versicherungsnehmer fälschlicherweise angibt, Eigentümer und gewöhnlicher Fahrer des Fahrzeugs zu sein, um dadurch zu erreichen, dass der Versicherer einen Haftpflichtversicherungsvertrag abschließt und/oder dass er dies zu für den Versicherungsnehmer günstigeren Bedingungen tut. Die absolute Nichtigkeit beruht u. a. auf dem Fehlen der gesetzlichen Voraussetzung des nach Art. 428 § 1 des portugiesischen Handelsgesetzbuchs erforderlichen „Interesses“ des Versicherungsnehmers. Nach dieser Rechtsprechungslinie kann die absolute Nichtigkeit dem Geschädigten gemäß Art. 14 der gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 522/85 entgegengehalten werden. Dieser Ansatz berücksichtigt den Umstand, dass der Geschädigte nach wie vor durch den Kraftfahrzeug‑Garantiefonds geschützt ist.

19      Nach der zweiten Rechtsprechungslinie stellt die Möglichkeit, dass der Vertrag über die obligatorische Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherung durch einen Dritten abgeschlossen wird, eine Ausnahme von der genannten gesetzlichen Voraussetzung des „Interesses“ des Versicherungsnehmers dar. Die Frage sei folglich im Licht der besonderen Regelungen über falsche Angaben beim Abschluss des Versicherungsvertrags zu beantworten, wonach nur eine relative Nichtigkeit vorliege, die dem Geschädigten nicht entgegengehalten werden könne.

20      Das Supremo Tribunal de Justiça (Oberster Gerichtshof) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie und Art. 1 der Dritten Richtlinie nationalen Rechtsvorschriften entgegen, die einen Versicherungsvertrag infolge falscher Angaben über die Eigentumsverhältnisse an dem Kraftfahrzeug sowie über die Identität des gewöhnlichen Fahrers des Kraftfahrzeugs mit absoluter Nichtigkeit belegen, wenn der Vertrag durch eine Person abgeschlossen wurde, die kein wirtschaftliches Interesse an der Inbetriebnahme des Fahrzeugs hat, und dem Vertragsabschluss die betrügerische Absicht der Beteiligten (Versicherungsnehmer, Eigentümer und gewöhnlicher Fahrer) zugrunde liegt, die Deckung der Verkehrsrisiken mittels i) des Abschlusses eines Vertrags, den die Versicherungsgesellschaft nicht abgeschlossen hätte, wenn ihr die Identität des Versicherungsnehmers bekannt gewesen wäre, und ii) der Zahlung einer geringeren als der aufgrund des Alters des gewöhnlichen Fahrers zu zahlenden Prämie zu erlangen?

 Zur Vorlagefrage

21      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie und Art. 1 der Dritten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bewirken würde, dass geschädigten Dritten unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Nichtigkeit eines Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherungsvertrags entgegengehalten werden kann, die aufgrund falscher anfänglicher Angaben des Versicherungsnehmers über die Identität des Eigentümers und des gewöhnlichen Fahrers des betreffenden Fahrzeugs oder aufgrund des Umstands, dass die Person, für die oder in deren Namen der Versicherungsvertrag abgeschlossen wird, kein wirtschaftliches Interesse am Abschluss dieses Vertrags hatte, eintritt.

22      Es ist darauf hinzuweisen, dass mit der Ersten und der Zweiten Richtlinie nach ihren Erwägungsgründen zum einen der freie Verkehr sowohl der Fahrzeuge mit gewöhnlichem Standort im Gebiet der Europäischen Union als auch der Fahrzeuginsassen gewährleistet und zum anderen den bei durch diese Fahrzeuge verursachten Unfällen Geschädigten unabhängig davon, an welchem Ort innerhalb der Union sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung garantiert werden soll (Urteil vom 23. Oktober 2012, Marques Almeida, C‑300/10, EU:C:2012:656, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie schreibt zu diesem Zweck, wie er in der Zweiten und der Dritten Richtlinie präzisiert und ergänzt worden ist, den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist, und gibt insbesondere an, welche Arten von Schäden diese Versicherung zu decken hat und welchen geschädigten Dritten sie Ersatz zu gewähren hat (Urteil vom 1. Dezember 2011, Churchill Insurance Company Limited und Evans, C‑442/10, EU:C:2011:799, Rn. 28).

24      In Bezug auf die Ansprüche, die geschädigten Dritten zustehen, steht Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie einer Regelung entgegen, nach der sich die Versicherungsgesellschaft auf Rechtsvorschriften oder Vertragsklauseln berufen kann, um Dritten, die Opfer eines durch das versicherte Fahrzeug verursachten Unfalls sind, Schadensersatz zu verweigern (Urteil vom 1. Dezember 2011, Churchill Insurance Company Limited und Evans, C‑442/10, EU:C:2011:799, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Der Gerichtshof hat weiter entschieden, dass Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 der Zweiten Richtlinie auf diese Verpflichtung nur insoweit Bezug nimmt, als es in diesem Artikel um Rechtsvorschriften oder Versicherungsvertragsklauseln geht, mit denen Schäden, die Dritten aufgrund der Nutzung oder Führung von Fahrzeugen durch zum Führen des Fahrzeugs nicht ermächtigte Personen, durch Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen, oder Personen, die den gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Zustand und Sicherheit des betreffenden Fahrzeugs nicht nachgekommen sind, zugefügt wurden, von der Deckung durch die Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherung ausgeschlossen sind (Urteil vom 1. Dezember 2011, Churchill Insurance Company Limited und Evans, C‑442/10, EU:C:2011:799, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Abweichend von dieser Verpflichtung sieht Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 zwar vor, dass bestimmte Unfallopfer in Anbetracht der Situation, die sie selbst geschaffen haben, d. h. Personen, die das Fahrzeug, das den Schaden verursacht hat, freiwillig bestiegen haben, von der Versicherungsgesellschaft nicht entschädigt zu werden brauchen, sofern diese Gesellschaft nachweisen kann, dass sie wussten, dass das Fahrzeug gestohlen war, doch ist, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, eine Ausnahme von Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 der Zweiten Richtlinie nur in diesem besonderen Fall zulässig (Urteil vom 1. Dezember 2011, Churchill Insurance Company Limited und Evans, C‑442/10, EU:C:2011:799, Rn. 35).

27      Folglich ist davon auszugehen, dass der Umstand, dass die Versicherungsgesellschaft diesen Vertrag auf der Grundlage von Auslassungen oder falschen Angaben seitens des Versicherungsnehmers geschlossen hat, es dieser nicht ermöglichen kann, sich auf Rechtsvorschriften über die Nichtigkeit des Vertrags zu berufen und diese Nichtigkeit dem geschädigten Dritten entgegenzuhalten, um sich von ihrer Verpflichtung nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie zu dessen Entschädigung für den durch das versicherte Fahrzeug verursachten Unfall zu befreien.

28      Dies gilt auch für den Umstand, dass der Versicherungsnehmer nicht der gewöhnliche Fahrer des Fahrzeugs ist.

29      Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der Umstand, dass ein Fahrzeug von einer in der Versicherungspolice für dieses Fahrzeug nicht eingetragenen Person geführt wird, unter Berücksichtigung insbesondere des mit der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie verfolgten Zwecks des Schutzes der Opfer von Verkehrsunfällen nicht die Annahme begründen kann, dass ein solches Fahrzeug nicht versichert im Sinne von Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 3 der Zweiten Richtlinie ist (Urteil vom 1. Dezember 2011, Churchill Insurance Company Limited und Evans, C‑442/10, EU:C:2011:799, Rn. 40).

30      In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof auch, ob eine Versicherungsgesellschaft im Fall eines laufenden Vertrags über eine obligatorische Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherung berechtigt ist, sich auf eine Rechtsvorschrift wie Art. 428 § 1 des portugiesischen Handelsgesetzbuchs, der für Fälle, in denen die Person, für die oder in deren Namen die Versicherung abgeschlossen wird, kein wirtschaftliches Interesse am Abschluss dieses Vertrags hat, die Nichtigkeit eines Versicherungsvertrags vorsieht, zu berufen, um sich ihrer Verpflichtung zur Entschädigung von Dritten zu entziehen, die durch einen von dem versicherten Fahrzeug verursachten Unfall geschädigt wurden.

31      Diese Frage betrifft die gesetzlichen Voraussetzungen der Gültigkeit des Versicherungsvertrags, die nicht durch das Unionsrecht, sondern durch das Recht der Mitgliedstaaten geregelt sind.

32      Diese sind jedoch verpflichtet, sicherzustellen, dass die nach ihrem nationalen Recht geltende Haftpflicht durch eine Versicherung gedeckt ist, die mit den Bestimmungen der erwähnten drei Richtlinien im Einklang steht. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich außerdem, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse in diesem Bereich das Unionsrecht beachten müssen und dass die nationalen Vorschriften über den Ersatz von Verkehrsunfallschäden die Erste, die Zweite und die Dritte Richtlinie nicht ihrer praktischen Wirksamkeit berauben dürfen (Urteil vom 23. Oktober 2012, Marques Almeida, C‑300/10, EU:C:2012:656, Rn. 30 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung.

33      Wie die Europäische Kommission ausgeführt hat, kann das Recht der Unfallopfer auf Entschädigung jedoch durch die Voraussetzungen der Gültigkeit des Versicherungsvertrags, wie die in den Art. 428 § 1 und 429 Abs. 1 des portugiesischen Handelsgesetzbuchs vorgesehenen allgemeinen Klauseln, beeinträchtigt werden.

34      Diese Vorschriften können somit bewirken, dass geschädigte Dritte keine Entschädigung erhalten, und folglich die praktische Wirksamkeit der genannten Richtlinien beeinträchtigen.

35      Diese Feststellung kann nicht durch die Möglichkeit in Frage gestellt werden, dass der Geschädigte vom Kraftfahrzeug‑Garantiefonds eine Entschädigung erhält. Die Einschaltung der in Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie vorgesehenen nationalen Stelle war nämlich als allerletzte Maßnahme gedacht, die nur für den Fall vorgesehen war, dass die Schäden durch ein Fahrzeug verursacht worden sind, das entgegen der Verpflichtung nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie nicht versichert wurde, d. h., ein Fahrzeug, für das kein Versicherungsvertrag besteht. Eine solche Einschränkung erklärt sich daraus, dass diese Bestimmung, wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, jeden Mitgliedstaat verpflichtet, dafür zu sorgen, dass vorbehaltlich der Abweichungen nach Art. 4 dieser Richtlinie jeder Eigentümer oder Halter eines Fahrzeugs mit gewöhnlichem Standort im Inland mit einer Versicherungsgesellschaft einen Vertrag abschließt, damit innerhalb der durch das Unionsrecht definierten Grenzen seine Haftpflicht für dieses Fahrzeug garantiert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2013, Csonka u. a., C‑409/11, EU:C:2013:512, Rn. 30 und 31).

36      Wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kann der Umstand, dass ein Fahrzeug von einer in der Versicherungspolice für dieses Fahrzeug nicht eingetragenen Person geführt wird, jedoch nicht die Annahme begründen, dass dieses Fahrzeug nicht versichert im Sinne von Art. 1 Abs. 4 Unterabs. 3 der Zweiten Richtlinie ist.

37      Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie und Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bewirken würde, dass geschädigten Dritten unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Nichtigkeit eines Kraftfahrzeug‑Haftpflichtversicherungsvertrags entgegengehalten werden kann, die aufgrund falscher anfänglicher Angaben des Versicherungsnehmers über die Identität des Eigentümers und des gewöhnlichen Fahrers des betreffenden Fahrzeugs oder aufgrund des Umstands, dass die Person, für die oder in deren Namen der Versicherungsvertrag abgeschlossen wird, kein wirtschaftliches Interesse am Abschluss dieses Vertrags hatte, eintritt.

 Kosten

38      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der KraftfahrzeugHaftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht und Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die bewirken würde, dass geschädigten Dritten unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Nichtigkeit eines KraftfahrzeugHaftpflichtversicherungsvertrags entgegengehalten werden kann, die aufgrund falscher anfänglicher Angaben des Versicherungsnehmers über die Identität des Eigentümers und des gewöhnlichen Fahrers des betreffenden Fahrzeugs oder aufgrund des Umstands, dass die Person, für die oder in deren Namen der Versicherungsvertrag abgeschlossen wird, kein wirtschaftliches Interesse am Abschluss dieses Vertrags hatte, eintritt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Portugiesisch.