Language of document : ECLI:EU:C:2019:1127

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

19. Dezember 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Übereinkommen von Montreal – Art. 17 Abs. 1 – Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen – Begriff ‚Unfall‘ – In der Luft befindliches Luftfahrzeug – Umkippen eines auf dem Abstellbrett eines Sitzes abgestellten Kaffeebechers – Körperliche Verletzungen des Reisenden“

In der Rechtssache C‑532/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 26. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 14. August 2018, in dem Verfahren

GN, gesetzlich vertreten durch HM,

gegen

ZU als Masseverwalterin der Niki Luftfahrt GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter S. Rodin und D. Šváby, der Richterin K. Jürimäe und des Richters N. Piçarra (Berichterstatter),

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Juni 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von GN – gesetzlich vertreten durch HM –, vertreten durch Rechtsanwalt G. Rößler,

–        von ZU als Masseverwalterin der Niki Luftfahrt GmbH, vertreten durch Rechtsanwältin U. Reisch,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und I. Cohen als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. September 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen, von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichneten und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 39) in ihrem Namen genehmigten Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal), das in Bezug auf die Europäische Union am 28. Juni 2004 in Kraft getreten ist.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen GN, gesetzlich vertreten durch ihren Vater HM, und ZU als Masseverwalterin der Luftfahrtgesellschaft Niki Luftfahrt GmbH wegen eines Schadenersatzanspruchs, den GN erhebt, weil sie bei einem von Niki Luftfahrt durchgeführten Flug Verbrühungen erlitt.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Nach dem dritten Absatz der Präambel des Übereinkommens von Montreal erkennen die Vertragsstaaten die „Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ an.

4        Im fünften Absatz dieser Präambel wird ausgeführt:

„… [G]emeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr durch ein neues Übereinkommen [ist] das beste Mittel, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

5        Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal bestimmt:

„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.“

6        Art. 20 des Übereinkommens von Montreal lautet:

„Weist der Luftfrachtführer nach, dass die Person, die den Schadenersatzanspruch erhebt, oder ihr Rechtsvorgänger den Schaden durch eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, verursacht oder dazu beigetragen hat, so ist der Luftfrachtführer ganz oder teilweise von seiner Haftung gegenüber dieser Person insoweit befreit, als diese Handlung oder Unterlassung den Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat. Verlangt eine andere Person als der Reisende wegen dessen Tod oder Körperverletzung Schadenersatz, so ist der Luftfrachtführer ganz oder teilweise von seiner Haftung insoweit befreit, als er nachweist, dass eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung des Reisenden, sei es auch nur fahrlässig, den Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat. Dieser Artikel gilt für alle Haftungsbestimmungen in diesem Übereinkommen einschließlich Artikel 21 Absatz 1.“

7        Art. 21 des Übereinkommens von Montreal sieht vor:

„(1)      Für Schäden nach Artikel 17 Absatz 1, die 100 000 Sonderziehungsrechte je Reisenden nicht übersteigen, kann die Haftung des Luftfrachtführers nicht ausgeschlossen oder beschränkt werden.

(2)      Der Luftfrachtführer haftet nicht für Schäden nach Artikel 17 Absatz 1, soweit sie 100 000 Sonderziehungsrechte je Reisenden übersteigen, wenn er nachweist, dass

a)      dieser Schaden nicht auf eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung des Luftfrachtführers oder seiner Leute, sei sie auch nur fahrlässig begangen, zurückzuführen ist oder

b)      dieser Schaden ausschließlich auf eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung eines Dritten, sei sie auch nur fahrlässig begangen, zurückzuführen ist.“

8        Art. 29 des Übereinkommens von Montreal lautet:

„Bei der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind; die Frage, welche Personen zur Klage berechtigt sind und welche Rechte ihnen zustehen, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer derartigen Klage ist jeder eine Strafe einschließende, verschärfte oder sonstige nicht kompensatorische Schadenersatz ausgeschlossen.“

 Unionsrecht

9        Infolge der Unterzeichnung des Übereinkommens von Montreal wurde die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (ABl. 1997, L 285, S. 1) durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. 2002, L 140, S. 2) geändert (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97).

10      In den Erwägungsgründen 7 und 10 der Verordnung Nr. 889/2002 wird ausgeführt:

„(7)      Diese Verordnung und das Übereinkommen von Montreal dienen der Verstärkung des Schutzes der Fluggäste sowie ihrer Angehörigen und dürfen nicht so ausgelegt werden, dass dieser Schutz gegenüber dem am Tag der Annahme dieser [Verordnung] geltenden Recht verringert würde.

(10)      In einem sicheren und modernen Luftverkehrssystem ist es angemessen, die Haftung für Tod oder Körperverletzung von Fluggästen nicht zu beschränken.“

11      Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2027/97 sieht vor:

„Die in dieser Verordnung verwendeten Begriffe, die nicht in Absatz 1 definiert sind, entsprechen den im Übereinkommen von Montreal verwendeten Begriffen.“

12      Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.“

 Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefrage

13      Im Jahr 2015 reiste GN, die damals sechsjährige Klägerin des Ausgangsverfahrens, an Bord eines Flugzeugs mit ihrem Vater, HM, neben dem sie saß. Der Flug ging von Mallorca (Spanien) nach Wien (Österreich) und wurde von Niki Luftfahrt durchgeführt.

14      Während des Fluges wurde HM ein Becher heißen Kaffees serviert, der von dem vor HM befindlichen Abstellbrett, auf dem er abgestellt war, über den rechten Oberschenkel von HM sowie über die Brust von GN kippte, wodurch diese Verbrühungen zweiten Grades erlitt.

15      Ob der Kaffeebecher wegen eines Defekts des ausklappbaren Abstellbretts, auf dem er abgestellt war, oder durch ein Vibrieren des Flugzeugs kippte, konnte nicht festgestellt werden.

16      Die gesetzlich durch ihren Vater vertretene Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob gestützt auf Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal Klage gegen den – nunmehr insolventen – Luftfrachtführer auf Schadenersatz in Höhe von 8 500 Euro.

17      Die Beklagte des Ausgangsverfahrens macht geltend, dass ihre Haftung mangels eines Unfalls durch diese Bestimmung nicht ausgelöst werden könne. Es habe nämlich kein plötzliches und unerwartetes Ereignis zum Rutschen des Kaffeebechers und zum Ausfließen seines Inhalts geführt. Der Begriff „Unfall“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal erfordere, dass sich ein luftfahrtspezifisches Risiko realisiere. Diese Voraussetzung sei vorliegend nicht erfüllt.

18      Mit Urteil vom 15. Dezember 2015 gab das Landesgericht Korneuburg (Österreich) der Schadenersatzklage der Klägerin des Ausgangsverfahrens statt. Es war der Ansicht, die GN entstandenen Schäden gingen auf einen Unfall zurück, der durch ein ungewöhnliches, auf äußerer Einwirkung beruhendes Ereignis verursacht worden sei.

19      Es habe sich eine im Luftverkehr typische Gefahr verwirklicht, weil ein Luftfahrzeug betriebsbedingt unterschiedliche Neigungen aufweise, die dazu führen könnten, dass auf einer waagrechten Fläche im Flugzeug abgestellte Gegenstände zu rutschen begännen, ohne dass dafür ein besonderes Flugmanöver notwendig sei. Ein Verschulden der Beklagten des Ausgangsverfahrens wurde vom Landesgericht Korneuburg verneint, weil das Servieren von heißen Getränken in Behältern ohne Abdeckung üblich und sozial adäquat sei.

20      Mit Urteil vom 30. August 2016 hob das Oberlandesgericht Wien (Österreich) das erstinstanzliche Urteil auf. Nach Ansicht dieses Gerichts erfasst Art. 17 des Übereinkommens von Montreal nur Unfälle, die auf ein für die Luftfahrt typisches Risiko zurückgingen. Der entsprechende Beweis sei der Klägerin des Ausgangsverfahrens im vorliegenden Fall nicht gelungen. Unter diesen Umständen sei eine Haftung der Beklagten des Ausgangsverfahrens ausgeschlossen.

21      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob daraufhin Revision zum Obersten Gerichtshof (Österreich), mit der sie die Feststellung der Haftung des Luftfrachtführers sowie der Begründetheit ihrer Schadenersatzklage begehrt.

22      Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ist die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal in Bezug auf die Frage strittig, ob der Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung auf Fälle begrenzt sei, in denen sich ein für die Luftfahrt typisches Risiko verwirklicht habe. Es verweist hierfür auf zwei unterschiedliche Auslegungsansätze.

23      Nach einer ersten Meinung erfasse der Unfallbegriff des Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal nur die Fälle, in denen sich ein für die Luftfahrt typisches Risiko verwirklicht habe. Danach sei es erforderlich, dass sich ein Risiko verwirkliche, das sich aus der Beschaffenheit, dem Zustand oder dem Betrieb des Luftfahrzeugs oder aus einer beim Ein- oder Ausstieg verwendeten luftfahrttechnischen Einrichtung ergebe. Dies habe somit zur Folge, dass Unfälle wie der des Ausgangsverfahrens, die in keinem Zusammenhang mit der Tätigkeit der Beförderung im Luftverkehr ständen und sich auch unter anderen Umständen ereignen könnten, entsprechend der Absicht der Vertragsstaaten des Übereinkommens von Montreal nicht die Haftung des Luftfrachtführers auslösen könnten. Im Übrigen trage die Beweislast in diesem Fall der den Anspruch geltend machende Geschädigte. Im vorliegenden Fall würde dieser Ansatz nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts zur Klageabweisung führen, da es nicht möglich gewesen sei, die Unfallursache zu ermitteln.

24      Demgegenüber solle es nach einer zweiten Meinung für die Auslösung der Haftung des Luftfrachtführers nicht erforderlich sein, dass sich ein für die Luftfahrt typisches Risiko verwirklicht habe. Diese Meinung stütze sich auf den Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, der ein solches Erfordernis nicht aufstelle. Außerdem ließe die Anerkennung eines derartigen Erfordernisses die in dieser Bestimmung vorgesehene Haftungsregelung leerlaufen. Aus dieser Regelung fiele nämlich so gut wie jedes Schadensereignis heraus, weil es in ähnlicher Weise auch unter anderen Lebensumständen vorkommen könne. Jedenfalls sei eine uferlose Haftung des Luftfrachtführers, wenn man dieser zweiten Meinung folge, nicht zu befürchten, da er bei einem Mitverschulden des Geschädigten nach Art. 20 des Übereinkommens von Montreal von seiner Haftung befreit werden könne.

25      Teile der Lehre stuften insoweit das Verschütten von heißen Getränken oder Speisen auf den Körper eines Reisenden als „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal ein. Im vorliegenden Fall würde dieser Ansatz zur Bejahung der Haftung der Beklagten des Ausgangsverfahrens führen.

26      Das vorlegende Gericht erwägt auch als „vermittelnde Lösung“ eine Auslegung von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, nach der die Haftung, ohne dass die Verwirklichung eines luftfahrttypischen Risikos erforderlich wäre, allein darauf beruhen würde, dass sich ein Unfall an Bord des Luftfahrzeugs oder bei Benutzung der Ein- und Aussteigevorrichtungen ereigne. Dabei würde der Luftfrachtführer die Beweislast dafür tragen, dass kein Zusammenhang mit dem Betrieb oder der Beschaffenheit des Luftfahrzeugs bestehe, um sich von dieser Haftung zu befreien. Im vorliegenden Fall würde dieser Ansatz ebenfalls zur Bejahung der Haftung der Beklagten des Ausgangsverfahrens führen, da die Ursache des Unfalls nicht habe aufgeklärt werden können.

27      Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Handelt es sich um einen die Haftung des Luftfrachtführers begründenden „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, wenn ein Becher mit heißem Kaffee, der in einem in der Luft befindlichen Flugzeug auf dem Ablagebrett des Vordersitzes abgestellt ist, aus ungeklärter Ursache ins Rutschen gerät und umfällt, wodurch ein Fluggast Verbrühungen erleidet?

 Zur Vorlagefrage

28      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung einen Sachverhalt erfasst, in dem ein bei der Fluggastbetreuung eingesetzter Gegenstand eine körperliche Verletzung eines Reisenden verursacht hat, ohne dass ermittelt werden müsste, ob dieser Unfall auf ein luftfahrtspezifisches Risiko zurückgeht.

29      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren anwendbare Verordnung Nr. 2027/97 in Bezug auf die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr im Gebiet der Union die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal umsetzt. Insbesondere ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung, dass für die Haftung der Luftfahrtunternehmen der Union für Fluggäste und deren Gepäck alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2010, Walz, C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 18).

30      Dieses für die Union seit dem 28. Juni 2004 in Kraft befindliche Übereinkommen ist seit diesem Zeitpunkt integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung, so dass der Gerichtshof dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden (Urteil vom 12. April 2018, Finnair, C‑258/16, EU:C:2018:252, Rn. 19 und 20 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Insoweit stellt Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331), das allgemeines Völkerrecht kodifiziert, an das die Union gebunden ist, klar, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist (Urteil vom 12. April 2018, Finnair, C‑258/16, EU:C:2018:252, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Der Gerichtshof hat auch bereits festgestellt, dass die im Übereinkommen von Montreal enthaltenen Begriffe einheitlich und autonom auszulegen sind, so dass er bei der Auslegung dieser Begriffe im Wege der Vorabentscheidung nicht die verschiedenen Bedeutungen zu berücksichtigen hat, die sie möglicherweise in den internen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Union haben, sondern die Auslegungsregeln des allgemeinen Völkerrechts, an die die Union gebunden ist (Urteil vom 7. November 2019, Guaitoli u. a., C‑213/18, EU:C:2019:927, Rn. 47).

33      Hier ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, dass es für die Auslösung der Haftung des Luftfrachtführers einer Einstufung des Ereignisses, das den Tod oder die körperliche Verletzung des Reisenden verursacht hat, als „Unfall“ bedarf und dass sich der Unfall an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet haben muss.

34      Da der Begriff „Unfall“ im Übereinkommen von Montreal nicht definiert wird, ist im Licht des Ziels und Zwecks dieses Übereinkommens die gewöhnliche Bedeutung dieses Begriffs im gegebenen Zusammenhang heranzuziehen.

35      Die gewöhnliche Bedeutung, die dem Begriff „Unfall“ zukommt, ist die eines unvorhergesehenen, unbeabsichtigten, schädigenden Ereignisses.

36      Im Übrigen haben die Vertragsstaaten des Übereinkommens von Montreal nach dem dritten Absatz von dessen Präambel im Bewusstsein „der Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ beschlossen, eine Regelung der verschuldensunabhängigen Haftung von Luftfahrtunternehmen vorzusehen. Eine solche Regelung impliziert jedoch, wie aus dem fünften Absatz der Präambel dieses Übereinkommens hervorgeht, dass für einen „gerechten Interessenausgleich“ gesorgt wird, namentlich zwischen den Interessen der Luftfahrtunternehmen und der Reisenden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Mai 2010, Walz, C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 31 und 33, sowie vom 22. November 2012, Espada Sánchez u. a., C‑410/11, EU:C:2012:747, Rn. 29 und 30).

37      Hierzu ergibt sich aus den Vorarbeiten zum Übereinkommen von Montreal, dass der Begriff „Unfall“ von den Vertragsparteien dem Begriff „Ereignis“ vorgezogen wurde, der im ursprünglichen Entwurf vorgeschlagen war (vgl. insbesondere die von der International Union of Aviation Insurers vorgelegte Stellungnahme, DCW Doc No. 28, 13. Mai 1999, sowie den Bericht des Berichterstatters für die Modernisierung und Konsolidierung des Warschauer Systems, C‑WP/10576). Der Grund hierfür war, dass „Ereignis“ als ein zu weiter Begriff angesehen wurde, der alle beliebigen Umstände erfasse und zu einer Häufung von Forderungen führen könne.

38      Dafür wurde nach dieser Begriffsänderung beschlossen, den letzten Satz von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal zu streichen, der bei durch den Gesundheitszustand des Reisenden bedingtem Tod oder Verletzung eine Haftungsbefreiung für den Luftfrachtführer vorsah. Es wurde nämlich im Wesentlichen die Auffassung vertreten, dass die Beibehaltung einer solchen Freistellung zu einer Ungleichgewichtung der beteiligten Interessen zulasten des Reisenden führen würde und dass das Übereinkommen jedenfalls in seinem Art. 20 bereits eine allgemeine Haftungsbefreiungsklausel vorsehe.

39      Somit sieht das Übereinkommen von Montreal, um den Interessenausgleich zu wahren, in bestimmten Fällen die Befreiung des Luftfrachtführers von der Haftung oder eine Beschränkung seiner Schadenersatzpflicht vor. Art. 20 dieses Übereinkommens bestimmt nämlich, dass der Luftfrachtführer ganz oder teilweise von seiner Haftung gegenüber dem Reisenden befreit ist, wenn er nachweist, dass dieser den Schaden durch eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, verursacht oder dazu beigetragen hat. Im Übrigen ergibt sich aus Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, dass für Schäden nach Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens die Haftung des Luftfrachtführers weder ausgeschlossen noch beschränkt werden kann, wenn diese Schäden eine bestimmte Entschädigungsschwelle nicht übersteigen. Nur oberhalb dieser Schwelle kann nach Art. 21 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal der Luftfrachtführer seiner Haftung entgehen, indem er nachweist, dass der Schaden nicht von ihm oder aber ausschließlich von einem Dritten verschuldet wurde.

40      Diese Beschränkungen ermöglichen eine einfache und schnelle Entschädigung der Fluggäste, ohne dass jedoch den Luftfahrtunternehmen eine übermäßige, schwer feststell- und berechenbare Ersatzpflicht aufgebürdet würde, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit gefährden oder sogar zum Erliegen bringen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Mai 2010, Walz, C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 34 bis 36, sowie vom 22. November 2012, Espada Sánchez u. a., C‑410/11, EU:C:2012:747, Rn. 30).

41      Daraus folgt, dass es – wie vom Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt – weder mit der gewöhnlichen Bedeutung des Begriffs „Unfall“ im Sinne des Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal noch mit den von diesem Übereinkommen verfolgten Zielen zu vereinbaren ist, die Haftung des Luftfrachtführers daran zu knüpfen, dass der Schaden auf das Eintreten eines luftfahrtspezifischen Risikos zurückgeht oder dass es einen Zusammenhang zwischen dem „Unfall“ und dem Betrieb oder der Bewegung des Luftfahrzeugs gibt.

42      Im Übrigen ist die Beschränkung der den Luftfrachtführern obliegenden Schadenersatzpflicht allein auf die Unfälle, die mit einem luftfahrtspezifischen Risiko zusammenhängen, nicht erforderlich, um zu vermeiden, dass den Luftfrachtführern eine übermäßige Ersatzpflicht aufgebürdet wird. Deren Haftung kann nämlich, wie oben in Rn. 39 festgestellt, ausgeschlossen oder beschränkt werden.

43      Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung jeden an Bord eines Luftfahrzeugs vorfallenden Sachverhalt erfasst, in dem ein bei der Fluggastbetreuung eingesetzter Gegenstand eine körperliche Verletzung eines Reisenden verursacht hat, ohne dass ermittelt werden müsste, ob der Sachverhalt auf ein luftfahrtspezifisches Risiko zurückgeht.

 Kosten

44      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 17 Abs. 1 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichnet und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung jeden an Bord eines Luftfahrzeugs vorfallenden Sachverhalt erfasst, in dem ein bei der Fluggastbetreuung eingesetzter Gegenstand eine körperliche Verletzung eines Reisenden verursacht hat, ohne dass ermittelt werden müsste, ob der Sachverhalt auf ein luftfahrtspezifisches Risiko zurückgeht.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.