SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 6. Februar 2020(1)
Rechtssache C‑833/18
SI,
Brompton Bicycle Ltd
gegen
Chedech/Get2Get
(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de l’entreprise de Liège [Unternehmensgericht Lüttich, Belgien])
„Vorabentscheidungsverfahren – Geistiges und gewerbliches Eigentum – Patentrecht – Geschmacksmuster – Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte – Richtlinie 2001/29/EG – Anwendungsbereich – Kumulation von Schutzrechten – Funktioneller Gebrauchsgegenstand – Begriff ‚Werk‘ – Durch die technische Funktion des Gegenstands bedingte Erscheinungsform – Beurteilungskriterien des nationalen Gerichts – Entgegengesetzte Interessen – Verhältnismäßigkeit – Faltrad“
1. In dem Rechtsstreit vor dem vorlegenden Gericht machen der Entwerfer eines Fahrradfaltsystems (und das Unternehmen, das diese Fahrräder herstellt) geltend, dass ein koreanisches Unternehmen, das ähnliche Fahrräder herstelle, ihr Urheberrecht verletze.
2. Das vorlegende Gericht muss entscheiden, ob ein Fahrrad, dessen Faltsystem durch ein inzwischen abgelaufenes Patent geschützt war, ein Werk darstellt, das urheberrechtlich geschützt werden kann. Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein solcher Schutz ausgeschlossen ist, wenn die Form des Gegenstands „zur Erreichung eines technischen Ergebnisses erforderlich ist“, und welche Kriterien bei der Beurteilung herangezogen werden sollten.
3. Das Vorabentscheidungsersuchen konzentriert sich zwar auf die Urheberrechtsvorschriften der Union, betrifft jedoch auch die Frage der Vereinbarkeit des für das Urheberrecht charakteristischen Schutzes mit dem Schutz des gewerblichen Eigentums, über die der Gerichtshof vor kurzem entschieden hat(2).
I. Rechtlicher Rahmen
A. Internationales Recht
1. Berner Übereinkunft(3)
4. In Art. 2 Abs. 1 und 7 heißt es:
„(1) Die Bezeichnung ‚Werke der Literatur und Kunst‘ umfasst alle Erzeugnisse auf dem Gebiet der Literatur, Wissenschaft und Kunst, ohne Rücksicht auf die Art und Form des Ausdrucks, wie: … Werke der angewandten Kunst …
…
(7) Unbeschadet des Artikels 7 Absatz 4 bleibt der Gesetzgebung der Verbandsländer vorbehalten, den Anwendungsbereich der Gesetze, die die Werke der angewandten Kunst und die gewerblichen Muster und Modelle betreffen, sowie die Voraussetzungen des Schutzes dieser Werke, Muster und Modelle festzulegen. Für Werke, die im Ursprungsland nur als Muster und Modelle geschützt werden, kann in einem anderen Verbandsland nur der besondere Schutz beansprucht werden, der in diesem Land den Mustern und Modellen gewährt wird; wird jedoch in diesem Land kein solcher besonderer Schutz gewährt, so sind diese Werke als Werke der Kunst zu schützen.“
2. TRIPS-Übereinkommen
5. Art. 7 bestimmt:
„Der Schutz und die Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums sollen zur Förderung der technischen Innovation sowie zur Weitergabe und Verbreitung von Technologie beitragen, dem beiderseitigen Vorteil der Erzeuger und Nutzer technischen Wissens dienen, in einer dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wohl zuträglichen Weise erfolgen und einen Ausgleich zwischen Rechten und Pflichten herstellen.“
6. Nach Art. 26 gilt:
„(1) Der Inhaber eines geschützten gewerblichen Musters oder Modells ist berechtigt, Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung Gegenstände herzustellen, zu verkaufen oder einzuführen, die ein Muster oder Modell tragen oder in die ein Muster oder Modell aufgenommen wurde, das eine Nachahmung oder im Wesentlichen eine Nachahmung des geschützten Musters oder Modells ist, wenn diese Handlungen zu gewerblichen Zwecken vorgenommen werden.
…“
7. Art. 27 sieht vor:
„(1) … Patente [sind] für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erhältlich …, sowohl für Erzeugnisse als auch für Verfahren, vorausgesetzt, dass sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind. …
…“
8. Art. 29 bestimmt:
„(1) Die Mitglieder sehen vor, dass der Anmelder eines Patents die Erfindung so deutlich und vollständig zu offenbaren hat, dass ein Fachmann sie ausführen kann, und können vom Anmelder verlangen, die dem Erfinder am Anmeldetag … bekannte beste Art der Ausführung der Erfindung anzugeben.
…“
B. Unionsrecht
1. Richtlinie 2001/29/EG(4)
9. Der 60. Erwägungsgrund lautet:
„Der durch diese Richtlinie gewährte Schutz sollte die nationalen und gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften in anderen Bereichen wie gewerbliches Eigentum, Datenschutz, Zugangskontrolle, Zugang zu öffentlichen Dokumenten und den Grundsatz der Chronologie der Auswertung in den Medien, die sich auf den Schutz des Urheberrechts oder verwandter Rechte auswirken, unberührt lassen.“
10. Nach den Art. 2 bis 4 sind die Mitgliedstaaten insbesondere dazu verpflichtet, für die Urheber das ausschließliche Recht vorzusehen, die Vervielfältigung ihrer Werke zu erlauben oder zu verbieten (Art. 2 Buchst. a), die öffentliche Wiedergabe ihrer Werke zu erlauben oder zu verbieten (Art. 3 Abs. 1) und ihre Verbreitung zu erlauben oder zu verbieten (Art. 4 Abs. 1).
11. Art. 9 („Weitere Anwendung anderer Rechtsvorschriften“) sieht vor:
„Diese Richtlinie lässt andere Rechtsvorschriften insbesondere in folgenden Bereichen unberührt: Patentrechte, Marken, Musterrechte …“
2. Verordnung (EG) Nr. 6/2002(5)
12. Im 10. Erwägungsgrund heißt es:
„Technologische Innovationen dürfen nicht dadurch behindert werden, dass ausschließlich technisch bedingten Merkmalen Geschmacksmusterschutz gewährt wird. …“
13. Der 32. Erwägungsgrund lautet:
„In Ermangelung einer vollständigen Angleichung des Urheberrechts ist es wichtig, den Grundsatz des kumulativen Schutzes als Gemeinschaftsgeschmacksmuster und nach dem Urheberrecht festzulegen, während es den Mitgliedstaaten freigestellt bleibt, den Umfang des urheberrechtlichen Schutzes und die Voraussetzungen festzulegen, unter denen dieser Schutz gewährt wird.“
14. Nach Art. 3 Buchst. a bedeutet „Geschmacksmuster“
„die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt“.
15. In Art. 8 heißt es:
„(1) Ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster besteht nicht an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind.
…“
16. Art. 96 („Verhältnis zu anderen Schutzformen nach nationalem Recht“) bestimmt in Abs. 2:
„Ein als Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschütztes Muster ist ab dem Tag, an dem das Muster entstand oder in irgendeiner Form festgelegt wurde, auch nach dem Urheberrecht der Mitgliedstaaten schutzfähig. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen ein solcher Schutz gewährt wird, wird einschließlich des erforderlichen Grades der Eigenart vom jeweiligen Mitgliedstaat festgelegt.“
3. Richtlinie 2006/116/EG(6)
17. In Art. 1 Abs. 1 („Dauer der Urheberrechte“) heißt es:
„Die Schutzdauer des Urheberrechts an Werken der Literatur und Kunst im Sinne des Artikels 2 der Berner Übereinkunft umfasst das Leben des Urhebers und siebzig Jahre nach seinem Tod, unabhängig von dem Zeitpunkt, zu dem das Werk erlaubterweise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.“
II. Sachverhalt und Vorlagefrage
18. SI schuf 1975 ein Modell eines Faltrades, dem er den Namen Brompton gab.
19. Im folgenden Jahr gründete er die Brompton Ltd, um in Kooperation mit einem größeren Unternehmen, das die Herstellung und den Vertrieb sicherstellt, sein Faltrad zu vermarkten. Er fand jedoch kein interessiertes Unternehmen und arbeitete daher weiterhin allein.
20. 1981 erhielt er eine erste Bestellung für 30 Brompton-Fahrräder, die er mit einer gegenüber dem Original leicht abgewandelten Erscheinungsform herstellte.
21. Ab diesem Zeitpunkt übte er die Firmentätigkeit aus und machte sein Faltrad bekannt, das er seit 1987 in der folgenden Form vermarktete:

22. Die Brompton Ltd war Inhaberin eines Patents auf den Faltmechanismus des Fahrrads (faltbar in drei Positionen: entfaltet, „stand-by“ und gefaltet), das später gemeinfrei wurde(7).
23. SI macht außerdem geltend, Inhaber der Vermögensrechte aus dem Urheberrecht am Erscheinungsbild des Brompton-Fahrrads zu sein.
24. GET2GET ist eine südkoreanische Gesellschaft, die auf die Herstellung von Sportausrüstung spezialisiert ist. Sie produziert und vermarktet ein Faltrad (Chedech), das ebenfalls drei Positionen aufweist, die dem Brompton-Fahrrad ähnlich sind:

25. Die Brompton Ltd und SI machen geltend, GET2GET habe ihr Urheberrecht an dem Brompton-Fahrrad verletzt. Sie haben vor dem vorlegenden Gericht Klage erhoben mit folgendem Antrag: a) festzustellen, dass Chedech-Fahrräder unabhängig von den auf den Falträdern angebrachten Unterscheidungszeichen das Urheberrecht der Brompton Ltd und das Urheberpersönlichkeitsrecht von SI am Brompton-Fahrrad verletzen; und b) anzuordnen, die die Urheberrechte der Antragsteller verletzenden Tätigkeiten zu unterlassen und das Erzeugnis vom Markt zu nehmen(8).
26. GET2GET trägt vor, das Erscheinungsbild ihres Fahrrads sei durch die angestrebte technische Lösung bedingt und sie habe absichtlich die Falttechnik übernommen, die früher durch das inzwischen abgelaufene Patent der Brompton Ltd geschützt gewesen sei, da diese Methode die funktionalste sei. Diese technische Vorgabe gebe das Erscheinungsbild des Chedech-Fahrrads vor.
27. Die Brompton Ltd und SI bringen ihrerseits vor, dass es auf dem Markt andere in drei Positionen faltbare Fahrräder gebe, deren Erscheinungsbild sich von ihrem eigenen Fahrrad unterscheide, und aus diesem Grund würden sie über ein Urheberrecht an ihrem Fahrrad verfügen. Das Erscheinungsbild belege das Vorliegen kreativer Entscheidungen und somit eine Originalität.
28. Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind das Unionsrecht und insbesondere die Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, die u. a. in ihren Art. 2 bis 5 die verschiedenen ausschließlichen Rechte festlegt, die Inhabern des Urheberrechts zuerkannt werden, dahin auszulegen, dass Werke, deren Form zur Erreichung eines technischen Ergebnisses erforderlich ist, vom urheberrechtlichen Schutz ausgenommen sind?
2. Sind bei der Beurteilung, ob eine Form zur Erreichung eines technischen Ergebnisses erforderlich ist, die folgenden Kriterien zu berücksichtigen:
– das Vorliegen anderer möglicher Formen, mit denen das gleiche technische Ergebnis erreicht werden kann,
– die Wirksamkeit der Form zur Erreichung dieses Ergebnisses,
– der Wille des angeblichen Rechtsverletzers, dieses Ergebnis zu erreichen,
– das Vorhandensein eines früheren und inzwischen ausgelaufenen Patents für das Verfahren, mit dem das begehrte technische Ergebnis erreicht werden kann?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
29. Der Vorlagebeschluss ist am 14. Juni 2018 beim Gerichtshof eingegangen.
30. SI und die Brompton Ltd, GET2GET, die belgische und die polnische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Kommission und die Parteien des Ausgangsverfahrens haben an der mündlichen Verhandlung vom 14. November 2019 teilgenommen.
IV. Würdigung
A. Vorbemerkungen
31. Das vorlegende Gericht stellt seine Fragen zum Urheberrechtsschutz für Werke, „deren Form zur Erreichung eines technischen Ergebnisses erforderlich“ ist. Es fragt ausschließlich nach der Auslegung der Richtlinie 2001/29 durch den Gerichtshof.
32. Bei dem „Werk“, um das sich der Rechtsstreit dreht, handelt es sich, wie bereits erläutert, um ein Fahrrad, dessen Faltsystem durch ein inzwischen abgelaufenes Patent geschützt war.
33. Aus den Erklärungen von SI und der Brompton Ltd(9) geht hervor, dass sich das ursprüngliche Erscheinungsbild des Fahrrads von dem Erscheinungsbild des Fahrrads, das im vorliegenden Fall urheberrechtlich geschützt sein soll, unterscheidet, obwohl beide Fahrräder das Faltsystem verwenden(10).
34. Aus dem Vorlagebeschluss ist nicht ersichtlich, dass das Brompton-Fahrrad als Geschmacksmuster für die gewerbliche Anwendung geschützt war. Das vorlegende Gericht verweist auch nicht auf die nationalen oder unionsrechtlichen Vorschriften über nationale oder Gemeinschaftsgeschmacksmuster.
35. Das Brompton-Fahrrad konnte zwar im Jahr 1987 nur als nationales Modell geschützt werden, jedoch hinderte nichts die Antragsteller daran, später den für Muster geltenden Schutz(11), sei es nach der Richtlinie 98/71/EG(12) oder sei es nach der Verordnung Nr. 6/2002, in Anspruch zu nehmen. Letztere sieht sogar „ein kurzfristiges nicht eingetragenes Geschmacksmuster“(13) vor.
36. In der Antwort auf das Vorabentscheidungsersuchen dürfen die Probleme im Zusammenhang mit der Kumulation des Schutzes (in Form von Urheberschutzrechten einerseits und gewerblichen Schutzrechten andererseits), auf die ich im Anschluss eingehen werde, nicht außer Acht gelassen werden. Ich halte es daher für besser, diese Probleme sowohl für den Fall, dass das Faltsystem nur durch ein Patent geschützt war, als auch für den Fall, dass das Erscheinungsbild des Fahrrads als gewerbliches Muster anzusehen wäre, zu behandeln.
37. Trotz ihrer unterschiedlichen Schutzobjekte(14) weisen beide Rechtsfiguren (Patente und Geschmacksmuster) gemeinsame Merkmale auf, an die erinnert werden sollte:
– Beide zielen auf eine praktische Anwendung ab: Der Schutz des gewerblichen Musters ist an die Ausführung von Handlungen zu gewerblichen Zwecken, der der mit dem Patent zusammenhängenden erfinderischen Tätigkeit an die gewerbliche Anwendbarkeit geknüpft.
– Die Bekanntmachung ist sowohl bei den Patenten, die eingetragen werden müssen, als auch bei den Geschmacksmustern von wesentlicher Bedeutung: Geschmacksmuster sind jedoch nur geschützt, wenn sie neu sind, was durch eine formelle Eintragung oder bei nicht eingetragenen Geschmacksmustern dadurch erreicht wird, dass sie zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden (Art. 5 der Verordnung Nr. 6/2002).
– Beide Rechtsformen haben gemeinsam, dass sie die Förderung der technologischen Innovation zum Ziel haben(15), wie sich in der Verordnung Nr. 6/2002(16) für Geschmacksmuster und in der Verordnung (EU) Nr. 1257/2012(17) für Patente zeigt.
38. Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind in einem allgemeineren Kontext zu beantworten, der die verschiedenen Ziele und Zwecke des gewerblichen Rechtsschutzes auf der einen und des Urheberrechts auf der anderen Seite sowie die beiden zugrunde liegenden Interessen berücksichtigt.
39. Zu den Allgemeininteressen gehört die Förderung von Technologie und Wettbewerb. Der Grundsatz der Kumulation des Schutzes sollte nicht zu einem unverhältnismäßigen Schutz des Urheberrechts führen, der dem öffentlichen Interesse schaden würde, indem er das System des gewerblichen Rechtsschutzes ausbremst.
40. Die Einräumung eines ausschließlichen Nutzungsrechts für den Inhaber eines Patentrechts oder für den Entwerfer zielt gerade darauf ab, einen Interessenausgleich zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich herzustellen:
– Der Erfinder oder Designer wird damit belohnt, dass für einen bestimmten Zeitraum er allein einen wirtschaftlichen Nutzen aus seinen Erfindungen oder Entwürfen ziehen kann. Dies fördert den Wettbewerb im technologischen Bereich(18).
– Als Ausgleich zugunsten des öffentlichen Interesses wird diese Schöpfung allgemein bekannt gemacht, so dass andere Forscher während der Schutzdauer neue Erfindungen entwickeln oder sie nach Ablauf der Schutzdauer in ihren Erzeugnissen anwenden können.
41. Dieses sorgfältig austarierte Gleichgewicht – das sich in der kürzeren Schutzdauer für den Erfinder oder Designer äußert – wäre gestört, wenn die zugeteilte Frist einfach so auf die im Urheberrecht geltende großzügige Frist ausgedehnt würde. Designer hätten keinen Anreiz zur Inanspruchnahme des gewerblichen Rechtsschutzes, wenn sie ihre Schöpfungen kostengünstiger und mit weniger formalen Erfordernissen (u. a. ohne Eintragungserfordernis) und noch dazu für einen viel längeren Zeitraum urheberrechtlich schützen könnten(19).
42. Die Auswirkungen auf die Rechtssicherheit sind ebenfalls nicht unerheblich: Dank der für das gewerbliche Muster erforderlichen amtlichen Bekanntmachung wissen Wettbewerber genau, wo die Grenzen ihrer eigenen gewerblichen Schöpfungen liegen und bis wann sie geschützt sind.
43. Vom nicht eingetragenen Muster(20) einmal abgesehen, scheint es berechtigt, dass die Wettbewerber derer, die formell ein gewerbliches Schutzrecht erworben haben, auf die Veröffentlichung der Eintragung vertrauen und die eingetragene technische Innovation nutzen, sobald die Rechte des eingetragenen Inhabers erloschen sind. Nach dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 6/2002 steht der „ausschließliche Charakter des Rechts aus dem eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster … mit seiner größeren Rechtssicherheit im Einklang“(21). Fehlt hingegen, wie beim Urheberrecht, jegliche öffentliche Eintragung, besteht für die Wirtschaftsteilnehmer keine Sicherheit in Bezug auf den Inhalt von geistigen Schöpfungen für gewerbliche Zwecke.
44. Diese Argumente sind eigentlich nichts anderes als Variationen zum gleichen Thema, das Generalanwalt Szpunar bereits in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Cofemel(22), auf die ich mich beziehe, behandelt hat.
45. Letztlich muss die Abwägung der Ziele und Werte, die von den Rechtsvorschriften zum Schutz des gewerblichen Eigentums bzw. den Rechtsvorschriften zum Schutz des Urheberrechts angestrebt werden, in einem angemessenen Verhältnis erfolgen, um zu verhindern, dass durch einen übermäßigen Schutz des Urheberrechts die gewerblichen Schutzrechte ausgehebelt werden.
B. Die Kumulation des Schutzes und ihre Grenzen
46. Das Unionsrecht sieht vor, dass der rechtliche Schutz der Geschmacksmuster durch den Urheberrechtsschutz ergänzt werden kann. Dies wurde seinerzeit durch die Richtlinie 98/71 festgelegt, nach deren Art. 17 ein in einem Mitgliedstaat eingetragenes Recht an einem Muster auch nach dem Urheberrecht schutzfähig ist. In der Vorschrift heißt es jedoch auch: „In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen ein solcher Schutz gewährt wird, wird einschließlich der erforderlichen Gestaltungshöhe von dem einzelnen Mitgliedstaat festgelegt.“(23)
47. Der Grundsatz des „kumulativen Schutzes“ wurde später auf Art. 96 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002 übertragen, der in Bezug auf die auf Unionsebene geschützten Gemeinschaftsgeschmacksmuster im Lichte ihres 32. Erwägungsgrundes zu lesen ist.
48. Unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung speziell des Urheberrechts heißt es im 60. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/29, dass der „durch diese Richtlinie gewährte Schutz … die nationalen und gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften in anderen Bereichen … unberührt lassen“ sollte.
49. Daher „ändert die Richtlinie 2001/29 nichts am Bestehen und am Anwendungsbereich der geltenden Rechtsvorschriften im Bereich der Muster und Modelle, was den … Grundsatz des ‚kumulativen Schutzes‘ einschließt“(24).
50. Hinsichtlich der Komplementarität dieser beiden Schutzrechte blieben jedoch einige Zweifel bestehen. Insbesondere wurde diskutiert, ob die Mitgliedstaaten verlangen können, dass gewerbliche Muster strengere Anforderungen an den erforderlichen Grad der Eigenart beinhalten müssen, um den charakteristischen Schutz des Urheberrechts genießen zu können.
51. Das Urteil Cofemel hat als allgemeine Regel bestätigt, dass „der Schutz von Mustern und Modellen und der mit dem Urheberrecht verbundene Schutz nach dem Unionsrecht … kumulativ für ein und denselben Gegenstand gewährt werden können“.
52. Dieser Aussage folgen jedoch gewisse Klarstellungen, die den Grundsatz der Kumulation des Schutzes gewissermaßen abschwächen bzw. relativieren.
53. Zunächst kann „der Schutz von Mustern und Modellen und der mit dem Urheberrecht verbundene Schutz nach dem Unionsrecht zwar kumulativ für ein und denselben Gegenstand gewährt werden …, [jedoch kommt] diese Kumulierung … nur in bestimmten Fällen in Frage“(25).
54. Zweitens ist die Bedeutung des gewährten Schutzes in beiden Fällen unterschiedlich. Während mit Hilfe der Geschmacksmuster die Nachahmung durch Wettbewerber verhindert werden soll, verfolgt das Urheberrecht eine andere rechtliche und wirtschaftliche Funktion(26).
55. Drittens sind mit der Gewährung eines Urheberrechts an einem Gegenstand, der bereits den Schutz eines Geschmacksmusters genießt, gewisse Risiken verbunden, die nicht außer Acht gelassen werden sollten(27). Insbesondere darf „die Gewährung urheberrechtlichen Schutzes für einen als Muster oder Modell geschützten Gegenstand nicht dazu führen, dass die Zielsetzungen und die Wirksamkeit dieser beiden Schutzarten beeinträchtigt werden“(28).
56. Viertens ist es Sache des nationalen Gerichts festzustellen, wann eine der „bestimmten Situationen“ vorliegt, die eine Kumulation des Schutzes erlauben. Es muss daher in jedem Einzelfall das Gleichgewicht zwischen der Verteidigung des Urheberrechts und dem Allgemeininteresse bestimmt werden.
C. Erste Vorlagefrage: der Begriff „Werk“, die erforderliche Originalität und der Ausschluss des Urheberrechtsschutzes für Werke, deren Form durch technische Vorgaben bedingt ist
57. Als Ausgangspunkt verweise ich erneut auf die Schlussanträge von Generalanwalt Szpunar in der Rechtssache Cofemel, in denen er sowohl die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „Werk“ als auch die Übertragung dieser Rechtsprechung auf Geschmacksmuster analysiert(29).
58. Ich denke, dass diese Analyse vollständig genug ist, so dass keine weiteren Erklärungen meinerseits erforderlich sind. Darüber hinaus hat der Gerichtshof sie im Urteil Cofemel in seine Argumentation einbezogen und den Begriff „Werk“ als autonomen Begriff des Unionsrechts präzisiert(30).
59. Aus dieser Rechtsprechung möchte ich das Tatbestandsmerkmal der Originalität des Gegenstands betonen(31), der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs(32) die Persönlichkeit seines Urhebers widerspiegeln muss(33).
60. Hervorzuheben ist an dem Urteil Cofemel besonders, dass eine Verbindung der Originalität des angeblichen „Werkes“ (in jenem Fall Kleidungsstücke) mit seinen ästhetischen Komponenten abgelehnt wird. Der Gerichtshof schließt die Geltendmachung eines ästhetischen Effekts als Grund für den Urheberrechtsschutz eines Modells aus, indem er feststellt, dass „Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der Modelle … urheberrechtlich geschützt sind, weil sie über ihren Gebrauchszweck hinaus einen eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen“(34).
61. Nach Ausschluss der ästhetischen Gründe konzentrieren sich die Zweifel darauf, ob bei der Abwägung der Originalität als Voraussetzung für eine eigene geistige Schöpfung des Urhebers(35) das Erfordernis, ein technisches oder funktionales Ergebnis zu erzielen, als Grund für die Verweigerung des Urheberrechtsschutzes ins Spiel kommen kann. Auf dieses Problem bezieht sich das vorlegende Gericht ausdrücklich.
62. Der Gerichtshof hat sich mit dieser Frage bereits im Zusammenhang mit dem Urheberrechtsschutz von Computerprogrammen befasst(36).
63. Er hat konkret festgestellt, dass „das Kriterium der Originalität nicht erfüllt [ist], wenn der Ausdruck dieser Komponenten durch ihre technische Funktion vorgegeben ist, denn die verschiedenen Möglichkeiten der Umsetzung einer Idee sind so beschränkt, dass Idee und Ausdruck zusammenfallen“(37). Eine solche Situation würde es „dem Urheber nicht ermöglichen, seinen schöpferischen Geist in origineller Weise zum Ausdruck zu bringen und zu einem Ergebnis zu gelangen, das eine eigene geistige Schöpfung dieses Urhebers darstellt“(38).
64. In diesem Sinne hat der Gerichtshof weiterhin festgestellt, dass die eigene geistige Schöpfung des Urhebers durch das Urheberrecht geschützt werden kann, dies jedoch nicht der Fall ist, wenn die Schöpfung durch „technische Erwägungen, Regeln oder Zwänge bestimmt wird, die für künstlerische Freiheit keinen Raum lassen“(39).
65. Aus dieser Rechtsprechung lässt sich als allgemeine Regel ableiten, dass Werke (Gegenstände) der angewandten Kunst, deren Form durch ihre Funktion bedingt ist, nicht urheberrechtlich geschützt werden können. Sobald das Erscheinungsbild eines solchen Werkes ausschließlich durch seine technische Funktion als entscheidender Faktor bedingt ist, wird ihm kein Urheberrechtsschutz gewährt(40).
66. Die Heranziehung dieses Kriteriums auf den Bereich des Urheberrechts geht in die gleiche Richtung wie bei Geschmacksmustern und Marken:
– In Bezug auf die (in der Richtlinie 98/71 oder in der Verordnung Nr. 6/2002 geregelten) Muster und Modelle(41) werden sowohl nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 als auch nach Art. 7 der Richtlinie 98/71 keine Rechte „an Erscheinungsmerkmalen eines Erzeugnisses, die ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind“, gewährt(42).
– Für die Unionsmarken legt Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 40/94(43) das Verbot fest, ein Zeichen als Marke einzutragen, das aus der Form der Ware, die zur Erreichung einer technischen Wirkung erforderlich ist, besteht.
67. Im Ergebnis können Muster, deren Ausgestaltung durch technische Gründe bedingt ist, die keinen Raum für die Ausübung der künstlerischen Freiheit lassen, nicht urheberrechtlich geschützt werden. Umgekehrt schließt die bloße Tatsache, dass ein Muster einige funktionale Elemente aufweist, nicht aus, dass es diesen Urheberrechtsschutz in Anspruch nehmen kann.
68. Dieser Grundsatz wirft keine größeren Probleme auf, wenn die erwähnten technischen Gründe praktisch keinen Spielraum für Kreativität lassen. Schwierig wird es jedoch, wenn das Muster funktionelle und künstlerische Merkmale kombiniert. Diese Mischformen sind nicht von vornherein vom Urheberrechtsschutz ausgeschlossen. Ein Ausschluss erfolgt nur dann, wenn die funktionellen Elemente gegenüber den künstlerischen Elementen so weit Vorrang haben, dass letztere unerheblich sind(44).
69. Einer Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den mit funktionalen Elementen verbundenen Formen im Bereich des gewerblichen Eigentums und des Markenrechts lassen sich einige brauchbare Ansätze für die Auslegung entnehmen, die für das Urheberrecht entsprechend gelten.
70. Zwar weist jeder dieser drei Bereiche (Geschmacksmuster‑, Marken- und Urheberrecht) eigene Merkmale auf, die einer Gleichbehandlung der jeweiligen Rechtsvorschriften entgegenstehen. Meiner Ansicht nach gibt es jedoch nichts dagegen einzuwenden, dass die Ausführungen des Gerichtshofs zu einem der Bereiche mit einer gewissen Vorsicht auf die anderen Bereiche übertragen werden, wenn es darum geht, ein Kriterium auszulegen, das, wenn auch eingeschränkt, für alle gilt(45).
71. Von dieser Rechtsprechung ist meiner Ansicht nach insbesondere das Urteil vom 14. September 2010, Lego Juris/HABM(46), zu nennen, in dem die Große Kammer das Verbot auslegt, ein Zeichen als Marke einzutragen, das aus der Form der Ware besteht, die zur Erreichung einer technischen Wirkung erforderlich ist(47).
72. Nach dem Urteil des Gerichtshofs stellt dieses Verbot sicher, „dass Unternehmen nicht das Markenrecht in Anspruch nehmen können, um ausschließliche Rechte für technische Lösungen ohne zeitliche Begrenzung auf Dauer festzuschreiben“(48).
73. Weiterhin argumentiert der Gerichtshof, dass „der Gesetzgeber mit der Beschränkung des Eintragungshindernisses des Art. 7 Abs. 1 Buchst. e Ziff. ii der Verordnung Nr. 40/94 auf Zeichen, die ‚ausschließlich‘ aus der Form der Ware bestehen, die zur Erreichung einer technischen Wirkung ‚erforderlich‘ ist, gebührend berücksichtigt, dass jede Form einer Ware in gewissem Maße funktionell ist und es daher unangemessen wäre, eine Warenform nur deshalb von der Eintragung als Marke auszuschließen, weil sie Gebrauchseigenschaften aufweist. Mit den Wörtern ‚ausschließlich‘ und ‚erforderlich‘ stellt diese Bestimmung sicher, dass allein diejenigen Warenformen von der Eintragung ausgeschlossen sind, durch die nur eine technische Lösung verkörpert wird und deren Eintragung als Marke deshalb die Verwendung dieser technischen Lösung durch andere Unternehmen tatsächlich behindern würde“(49).
74. In Anbetracht dieser Prämisse hat der Gerichtshof einige relevante Klarstellungen vorgenommen in Bezug auf „das Vorhandensein eines oder mehrerer geringfügiger willkürlicher Elemente in einem dreidimensionalen Zeichen, bei dem alle wesentlichen Merkmale durch die technische Lösung bestimmt werden, der dieses Zeichen Ausdruck verleiht“:
– Zum einen ändert dieser Faktor nichts daran, „dass das Zeichen ausschließlich aus der Form der Ware besteht, die zur Erreichung einer technischen Wirkung erforderlich ist“(50).
– Zum anderen kann „die Eintragung eines solchen Zeichens als Marke nach dieser Bestimmung nicht abgelehnt werden …, wenn in der Form der betreffenden Ware ein wichtiges nichtfunktionelles Element, wie ein dekoratives oder phantasievolles Element, verkörpert wird, das für diese Form von Bedeutung ist“(51).
75. In Bezug auf den Begriff der Form, die zur Erreichung der gewünschten technischen Wirkung erforderlich ist, hat der Gerichtshof die Auffassung des Gerichts erster Instanz bestätigt, dass „diese Voraussetzung nicht bedeute, dass die betreffende Form die einzige sein müsse, die die Erreichung dieser Wirkung erlaube“(52). „Das Vorhandensein anderer Formen, die die Erreichung der gleichen technischen Wirkung ermöglichen“, stellt nach Überzeugung des Gerichtshofs „keinen Umstand dar, der das Eintragungshindernis entfallen lassen könnte“(53).
76. Diese Argumente, deren entsprechende Übertragung auf den vorliegenden Rechtsstreit ich für angemessen halte, können bei der Antwort an das vorlegende Gericht herangezogen werden. Das vorlegende Gericht scheint den Standpunkt zu vertreten, dass das Erscheinungsbild des streitigen Fahrrads erforderlich war, um das technische Ergebnis zu erreichen(54). Dabei handelt es sich jedoch um eine Tatsachenfrage, die allein vom vorlegenden Gericht zu klären ist. Sofern es mit dieser Aussage meint, dass das von mir bereits erwähnte Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen Erscheinungsform und Funktionalität gegeben ist, ist seine erste Frage dahin zu beantworten, dass kein Urheberrechtsschutz gewährt werden kann.
D. Zur zweiten Vorlagefrage
77. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, welche Auswirkungen vier spezifische Faktoren, die es selbst aufzählt, auf die Beurteilung des Verhältnisses zwischen der Konzeption der Form des Gegenstands und der Erreichung des gewünschten technischen Ergebnisses haben.
1. Das Vorhandensein eines früheren Patents
78. Ich werde die Reihenfolge dieser Faktoren, in der sie im Vorlagebeschluss aufgezählt werden, ändern und beginne mit der Frage, welche Auswirkungen die Tatsache hat, dass es ein früheres, inzwischen abgelaufenes Patent gab.
79. Aufgrund des Grundsatzes des „kumulativen Schutzes“ sollte diese Tatsache allein nicht zum Vorrang der gewerblichen Schutzrechte (insbesondere nicht, wenn diese Rechte bereits erloschen sind) oder sogar zur Verhinderung eines Urheberrechtsschutzes führen. Die vorstehenden Ausführungen zur engen Beziehung von Patenten und gewerblichen Mustern(55) sprechen, was diese Frage anbetrifft, dafür, diesen Grundsatz auch auf patentgeschützte Gegenstände auszudehnen.
80. Was jedoch die Beurteilungselemente anbetrifft, bin ich der Ansicht, dass das vorlegende Gericht zu Recht auf diese Tatsache hinweist, die in zweifacher Hinsicht Auswirkungen haben kann:
– Zum einen kann ein eingetragenes Patent zur Klärung der Frage herangezogen werden, ob technische Vorgaben existierten, die die Form des Erzeugnisses bedingt haben. Normalerweise erfolgt die Beschreibung des Musters und seiner Funktionalität in den Unterlagen zur Anmeldung eines Patents (das definitionsgemäß für eine gewerbliche Anwendung bestimmt ist) so ausführlich wie möglich, da hiervon der Schutzumfang abhängt.
– Zum anderen lässt die Wahl des Patents als Instrument zum Schutz der Tätigkeit des Patentanmelders vermuten, dass ein enger Zusammenhang zwischen der patentierten Form und dem angestrebten Ergebnis existiert: Der Erfinder ist davon ausgegangen, dass die patentierte Form zur Erreichung der gewünschten Funktionalität geeignet ist.
2. Das Vorliegen anderer möglicher Formen, mit denen das gleiche technische Ergebnis erreicht werden kann
81. Das vorlegende Gericht fragt, inwieweit das Vorliegen anderer möglicher Formen, mit denen das gleiche technische Ergebnis erreicht werden kann, zu berücksichtigen ist. Es verweist insbesondere auf zwei entgegengesetzte Ansätze, die auf der sogenannten „Theorie der Formenvielfalt“ und der „Theorie der Formkausalität“ beruhen.
82. In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache DOCERAM hat Generalanwalt Saugmandsgaard Øe jüngst eine vollständige Analyse dieser beiden Theorien, übertragen auf Geschmacksmuster, durchgeführt(56). Ich teile seine Erwägungen und beziehe mich hiermit darauf.
83. Im Urteil DOCERAM hat sich der Gerichtshof im Wesentlichen der Auffassung des Generalanwalts angeschlossen (das vorlegende Gericht zitiert sowohl dieses Urteil als auch die Schlussanträge des Generalanwalts)(57) und wie folgt entschieden:
– „[F]ür die Beurteilung, ob Erscheinungsmerkmale eines Erzeugnisses ausschließlich durch dessen technische Funktion bedingt sind, [ist] zu ermitteln, ob diese Funktion der einzige diese Merkmale bestimmende Faktor ist. Das Bestehen alternativer Geschmacksmuster ist insoweit nicht ausschlaggebend“(58).
– Nichts hindert das Gericht daran, das mögliche „Bestehen alternativer Geschmacksmuster, mit denen sich dieselbe technische Funktion erfüllen lässt“, zu berücksichtigen(59). Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen entscheidenden Faktor, sondern lediglich um ein zusätzliches Beurteilungselement.
84. In dem Urteil wird folglich betont, dass alternative Lösungen für die Klärung der Frage, ob eine Ausschließlichkeitsbeziehung zwischen den Erscheinungsmerkmalen und der technischen Funktion des Erzeugnisses vorliegt, irrelevant sind. Das Urteil führt jedoch nicht dazu, dass jegliche Auswirkungen solcher alternativer Lösungen als Elemente, anhand deren ein Spielraum für eine zum gleichen technischen Ergebnis führende geistige Schöpfung zu erkennen ist, auszuschließen sind.
85. Bei solchen Mustern, bei denen die Schnittmenge von Kunst und Design besonders ausgeprägt ist, besteht mehr Raum für künstlerische Freiheit(60) bei der Gestaltung des Erscheinungsbildes des Erzeugnisses. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgeschlagen hat, sollte bei Werken der angewandten Kunst die Integration der formalen mit den funktionalen Merkmalen im Detail analysiert werden, um zu klären, ob das Erscheinungsbild dieser Werke nicht vollständig durch die technischen Vorgaben bedingt ist. In einigen Fällen wird es möglich sein, zumindest im Idealfall die Elemente, die durch funktionale Erwägungen bedingt sind, von solchen Elementen zu trennen, die nur durch freie (eigene) Entscheidungen ihres Urhebers bedingt sind und urheberrechtlich geschützt werden können(61).
86. Ich verstehe, dass diese Überlegungen als eher theoretisch angesehen werden und vielleicht nicht sehr hilfreich sind für das vorlegende Gericht, das vor der schwierigen Entscheidung steht, welche Gestaltungselemente bei einem Fahrrad geschützt werden können, das für seine Funktionsfähigkeit, unabhängig von der jeweiligen Form, das Vorhandensein von Rädern, Kette, Rahmen und Lenker erfordert(62).
87. Wenn die Auslegung der Regel und nicht die Anwendung auf einen bestimmten Fall betrachtet wird, ist jedoch zu beachten, dass sich für den Gerichtshof die Antwort auf diesen Teil der zweiten Vorlagefrage aus dem Urteil DOCERAM ergibt.
88. Die für Geschmacksmuster dargestellte Entscheidung kann sinngemäß herangezogen werden, um den Grad der Eigenart von gewerblich anwendbaren „Werken“, für die Urheberrechtsschutz beansprucht wird, zu klären.
3. Der Wille des angeblichen Rechtsverletzers, das gleiche technische Ergebnis zu erreichen
89. Für die Beurteilung durch das Gericht, ob aus objektiver Sicht eine Verletzung vorliegt, ist der Wille der Person, die ohne Zustimmung einen urheberrechtlich geschützten Gegenstand vermarktet, grundsätzlich nicht von Bedeutung.
90. Eine andere Frage ist, dass der Wille, ein technisches Ergebnis zu erzielen, bei der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Form und Funktionalität gewürdigt werden kann. Logischerweise beabsichtigt der Hersteller eines Gegenstands, der durch ein inzwischen gemeinfrei gewordenes Patent geschützt wurde, nichts anderes, als das erwartete technische Ergebnis zu erzielen(63).
91. In Bezug auf die Aussage, dass die Form des Geschmacksmusters auf einer rein ästhetischen und nicht auf einer funktionellen Entscheidung beruhe, wird derjenige, der das Gegenteil geltend macht (d. h., dass er die fragliche Form allein aus technischen oder funktionalen Gründen gewählt habe), durch nichts daran gehindert, dies nachzuweisen(64).
92. Bei der Entscheidung, ob ein Anspruch auf Schutz des Gegenstands als Werk besteht, kann das Gericht an erster Stelle den ursprünglichen Willen des Erfinders oder Designers klären, bevor es sich dem Willen der Person zuwendet, die seine Erfindung oder sein Muster nachbildet.
93. Um beurteilen zu können, ob der Entwerfer wirklich eine eigene geistige Schöpfung anstrebte oder ob er vielmehr eine auf die Herstellung eines Industrieerzeugnisses anwendbare Idee schützen wollte, um dieses Erzeugnis herzustellen und in großer Stückzahl auf den Markt zu bringen, sollte auf den Zeitpunkt ihrer ursprünglichen Konzeption abgestellt werden(65). Die Tatsache, dass eine gewerbliche Anwendung erfolgt ist oder ein kommerzieller Nutzen aus der Erfindung oder dem Muster erzielt wurde, kann hierfür wesentliche Hinweise bieten.
94. Dass der Entwurf später Anerkennung genießt und sogar in einem Museum ausgestellt wird, erscheint mir von diesem Standpunkt aus nicht von Bedeutung. Dieser Faktor oder ähnliche Faktoren, wie z. B. die Verleihung von Preisen aus dem Bereich gewerblicher Muster, bestätigt vielmehr, dass es sich um einen gewerblichen Gegenstand handelt, der in seinem eigenen Bereich Lob oder sogar Bewunderung verdient bzw. der wesentliche ästhetische Komponenten aufweist.
4. Die Wirksamkeit der Form zur Erreichung des technischen Ergebnisses
95. Das vorlegende Gericht stellt keine ausreichenden Erklärungen zu diesem Teil der zweiten Vorlagefrage zur Verfügung, und daher ist nicht klar, welcher Sinn genau hiermit verfolgt wird.
96. Aus diesem Grund und weil ich der Überzeugung bin, dass die vorstehenden Ausführungen ausreichen, um das Verhältnis zwischen der Form des Erzeugnisses und seiner Funktion oder des angestrebten technischen Ergebnisses zu beschreiben, habe ich nicht viel hinzuzufügen.
97. Sollte die Form, die der Designer des Erzeugnisses (im vorliegenden Fall ein Fahrrad) entworfen hat, für die angestrebte Funktionsweise nicht geeignet sein, würde logischerweise das Vorhaben der zukünftigen gewerblichen Anwendung selbst ins Leere gehen. Es ist daher davon auszugehen, dass die vorgeschlagene Form dem Zweck (in der vorliegenden Rechtssache die Herstellung eines Fahrrads, das sowohl gefahren als auch zusammengefaltet werden kann) dienlich ist.
98. Auf jeden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, diesen Umstand im Licht der vorgelegten Beweise (insbesondere der Gutachten) zu beurteilen.
E. Schlussbemerkung
99. Es existieren wahrscheinlich neben den vier bisher analysierten Kriterien noch weitere Kriterien für die Beurteilung des Ausschließlichkeitsverhältnisses zwischen dem Erscheinungsbild des Erzeugnisses und seinem technischen Ergebnis. Wie Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache DOCERAM(66) festgestellt hat, muss jedoch keine – abschließende oder nicht abschließende – abstrakte Liste der Kriterien aufgestellt werden, wenn diese (tatsachenbasierte) Beurteilung tatsächlich mit einer Reihe von Umständen verbunden ist, die a priori schwer zu erfassen sind.
100. Abschließend möchte ich hinzufügen, dass eine eventuelle Verweigerung des Urheberrechtsschutzes die Inanspruchnahme anderer Vorschriften zur Bekämpfung sklavischer oder parasitärer Nachahmungen nicht ausschließt. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, sind die Rechtsvorschriften zum unlauteren Wettbewerb zwar auf Unionsebene noch nicht vollständig harmonisiert(67), können jedoch Abhilfe gegen dieses unerwünschte Phänomen bieten(68).
101. Wie ich bereits in einer anderen Rechtssache ausgeführt habe, möchte ich mich mit dem letzten Punkt „keinesfalls in die Möglichkeiten des vorlegenden Gerichts einmischen, das streitgegenständliche Verhalten nach seinem nationalen Recht zu würdigen. Ich möchte mich darauf beschränken, den Blickwinkel dafür zu öffnen, dass sich auch jenseits des Anwendungsbereichs des Markenrechts prozessuale Vorgehensweisen gegen ein möglicherweise rechtswidriges Verhalten abzeichnen“(69).
V. Ergebnis
102. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Tribunal de l’entreprise de Liège (Unternehmensgericht Lüttich, Belgien) wie folgt zu antworten:
1. Die Art. 2 bis 5 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft bieten keinen urheberrechtlichen Schutz für Schöpfungen gewerblich anwendbarer Erzeugnisse, deren Form ausschließlich durch ihre technische Funktion bedingt ist.
2. Für die Entscheidung, ob die konkreten Merkmale der Form eines Erzeugnisses ausschließlich durch seine technische Funktion bedingt sind, muss das zuständige Gericht alle in der jeweiligen Rechtssache relevanten objektiven Umstände berücksichtigen, einschließlich des Vorhandenseins eines früheren Patents oder Geschmacksmusters für dasselbe Erzeugnis, der Wirksamkeit der Form zur Erreichung des technischen Ergebnisses und des Willens, dieses Ergebnis zu erreichen.
3. Wenn die technische Funktion der einzige Faktor ist, der das Erscheinungsbild des Erzeugnisses bedingt, ist das Vorhandensein alternativer Formen unerheblich. Von Bedeutung kann es jedoch sein, dass die gewählte Form wichtige nicht funktionelle Elemente enthält, die durch eine freie Entscheidung ihres Urhebers bedingt sind.