Language of document : ECLI:EU:C:2020:290

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

23. April 2020(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 2009/147/EG – Erhaltung der wildlebenden Vogelarten – Erlaubnis der Frühjahrsjagd auf männliche Exemplare der Vogelart Waldschnepfe (Scolopax rusticola) im Land Niederösterreich (Österreich) – Art. 7 Abs. 4 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. c – Keine ‚andere zufriedenstellende Lösung‘ – Begriff ‚geringe Mengen‘“

In der Rechtssache C‑161/19

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 22. Februar 2019,

Europäische Kommission, vertreten durch C. Hermes und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Republik Österreich, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader (Berichterstatterin),


Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klageschrift beantragt die Europäische Kommission festzustellen, dass die Republik Österreich dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 2010, L 20, S. 7, im Folgenden: Vogelschutzrichtlinie) verstoßen hat, dass sie die Frühjahrsjagd auf die Waldschnepfe (Scolopax rusticola) im Land Niederösterreich (Österreich) erlaubt hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Die Erwägungsgründe 3 und 5 der Vogelschutzrichtlinie lauten:

„(3)      Bei vielen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wildlebenden Vogelarten ist ein Rückgang der Bestände festzustellen, der in bestimmten Fällen sehr rasch vonstatten geht. Dieser Rückgang bildet eine ernsthafte Gefahr für die Erhaltung der natürlichen Umwelt, da durch diese Entwicklung insbesondere das biologische Gleichgewicht bedroht wird.

(5)      Die Erhaltung der im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wildlebenden Vogelarten ist für die Verwirklichung der [Unions]ziele auf den Gebieten der Verbesserung der Lebensbedingungen und der nachhaltigen Entwicklung erforderlich.“

3        Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie hat folgenden Wortlaut:


„Diese Richtlinie betrifft die Erhaltung sämtlicher wildlebenden Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Sie hat den Schutz, die Bewirtschaftung und die Regulierung dieser Arten zum Ziel und regelt die Nutzung dieser Arten.“

4        Art. 2 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.“

5        In Art. 5 Buchst. a und e der Vogelschutzrichtlinie heißt es:

„Unbeschadet der Artikel 7 und 9 erlassen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zur Schaffung einer allgemeinen Regelung zum Schutz aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten, insbesondere das Verbot

a)      des absichtlichen Tötens oder Fangens, ungeachtet der angewandten Methode;

e)      des Haltens von Vögeln der Arten, die nicht bejagt oder gefangen werden dürfen.“

6        Art. 7 Abs. 1 und 4 der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die in Anhang II aufgeführten Arten dürfen aufgrund ihrer Populationsgröße, ihrer geografischen Verbreitung und ihrer Vermehrungsfähigkeit in der gesamten [Union] im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften bejagt werden. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Jagd auf diese Vogelarten die Anstrengungen, die in ihrem Verbreitungsgebiet zu ihrer Erhaltung unternommen werden, nicht zunichte macht.

(4)      Die Mitgliedstaaten vergewissern sich, dass bei der Jagdausübung – gegebenenfalls unter Einschluss der Falknerei –, wie sie sich aus der Anwendung der geltenden einzelstaatlichen Vorschriften ergibt, die Grundsätze für eine vernünftige Nutzung und eine ökologisch ausgewogene Regulierung der Bestände der betreffenden Vogelarten, insbesondere der Zugvogelarten, eingehalten werden und dass diese Jagdausübung hinsichtlich der Bestände dieser Arten mit den Bestimmungen aufgrund von Artikel 2 vereinbar ist.

Sie sorgen insbesondere dafür, dass die Arten, auf die die Jagdvorschriften Anwendung finden, nicht während der Nistzeit oder während der einzelnen Phasen der Brut- und Aufzuchtzeit bejagt werden.

Wenn es sich um Zugvögel handelt, sorgen sie insbesondere dafür, dass die Arten, für die die einzelstaatlichen Jagdvorschriften gelten, nicht während der Brut- und Aufzuchtzeit oder während ihres Rückzugs zu den Nistplätzen bejagt werden.

…“

7        Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können, sofern es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt, aus den nachstehenden Gründen von den Artikeln 5 bis 8 abweichen:

c)      um unter streng überwachten Bedingungen selektiv den Fang, die Haltung oder jede andere vernünftige Nutzung bestimmter Vogelarten in geringen Mengen zu ermöglichen.

(2)      In den in Absatz 1 genannten Abweichungen ist anzugeben,

a)      für welche Vogelarten die Abweichungen gelten;

b)      die zugelassenen Fang- oder Tötungsmittel, ‑einrichtungen und ‑methoden;

c)      die Art der Risiken und die zeitlichen und örtlichen Umstände, unter denen diese Abweichungen getroffen werden können;

d)      die Stelle, die befugt ist zu erklären, ob die erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, und zu beschließen, welche Mittel, Einrichtungen und Methoden in welchem Rahmen von wem angewandt werden können;

e)      welche Kontrollen vorzunehmen sind.“

8        Nach Art. 18 der Vogelschutzrichtlinie wird die Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. 1979, L 103, S. 1) in der durch spätere Rechtsakte geänderten Fassung aufgehoben. Wie ihr erster Erwägungsgrund angibt, kodifiziert die Vogelschutzrichtlinie die Richtlinie 79/409.

9        Die Waldschnepfe (Scolopax rusticola) ist in Anhang II Teil A der Vogelschutzrichtlinie aufgeführt.


 Österreichisches Recht

10      Das niederösterreichische Jagdgesetz 1974 (LGBl. 76/1974) in der Fassung nach der 20. Novelle vom 19. Juli 2012 (LGBl. 69/2012) bestimmt in § 3 Abs. 3, dass die Waldschnepfe eine jagdbare Federwildart ist. Nach § 3 Abs. 5 Nr. 2 dieses Gesetzes gilt für das Federwild, einschließlich der Waldschnepfe, das „Verbot jeder absichtlichen Störung, insbesondere während der Brut‑, Nist- und Aufzuchtzeit“. § 3 Abs. 6 dieses Gesetzes setzt Art. 9 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie um.

11      Aufgrund von § 3 Abs. 6 des niederösterreichischen Jagdgesetzes erließ die niederösterreichische Landesregierung am 26. Februar 2008 die niederösterreichische Waldschnepfenverordnung (LGBl. 32/2008).

12      § 1 („Geltungsbereich und Ziel“) der Waldschnepfenverordnung bestimmt:

„(1)      Diese Verordnung gilt für Hahnen der jagdbaren Federwildart Waldschnepfe (Scolopax rusticola).

(2)      Ziel dieser Verordnung ist eine selektive und vernünftige Nutzung der in Abs. 1 genannten jagdbaren Federwildart in geringen Mengen unter streng überwachten Bedingungen.“

13      Art. 2 („Nutzungszeiten und ‑arten“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Waldschnepfenhahnen dürfen in der Zeit von 1. März bis 15. April während des Balzfluges im Rahmen der in § 3 festgelegten Höchstzahlen erlegt werden.

(2)      Die Entnahme von Waldschnepfenhahnen hat durch Abschuss mit geeigneter Schrotmunition zu erfolgen. Die jagdrechtlichen Vorschriften sind einzuhalten. Der Einsatz von Jagdhunden vor dem Schuss, sowie der Fang sind nicht gestattet.“

14      Art. 3 dieser Verordnung in der Fassung, die zum Ende der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission gesetzten Frist, d. h. am 29. Juli 2015, galt, legte eine Höchstabschusszahl von insgesamt 1 410 Waldschnepfen fest und verteilte diese Zahl auf die verschiedenen Bezirke des Landes Niederösterreich.

15      Am 21. Februar 2017 änderte die niederösterreichische Landesregierung diese Vorschrift und reduzierte die Höchstabschusszahl in der Summe auf 759 Waldschnepfen. Diese Änderung trat am 28. Februar 2017 in Kraft.


 Vorverfahren

16      Am 26. September 2013 leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Österreich mit einem Aufforderungsschreiben ein, das ausschließlich die niederösterreichische Beutegreiferverordnung (LGBl. 95a/2008) betraf.

17      Am 28. März 2014 richtete die Kommission im Anschluss an ein Verfahren im Rahmen des EU-Pilot-Mechanismus betreffend die Frühjahrsjagd auf die Waldschnepfe in Österreich ein zusätzliches Aufforderungsschreiben an die österreichischen Behörden, in dem sie geltend machte, dass diese Praxis in den österreichischen Ländern Burgenland, Salzburg und Niederösterreich gegen Art. 7 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie verstoße und nicht durch Art. 9 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie gerechtfertigt sei.

18      Die niederösterreichische Beutegreiferverordnung ist 2014 ausgelaufen und ist nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens.

19      Am 28. Mai 2014 antwortete die Republik Österreich auf das zusätzliche Aufforderungsschreiben und trug vor, dass die Frühjahrsjagd auf die Waldschnepfe in Österreich nicht gegen Art. 7 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie verstoße und dass die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie gegeben seien. Zum einen stelle die Herbstjagd keine „andere zufriedenstellende Lösung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar, da die gewünschte selektive Bejagung balzender männlicher Waldschnepfen nur im Frühjahr möglich sei. Zum anderen halte sie das Erfordernis der „geringen Mengen“ gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie ein.

20      Am 29. Mai 2015 übermittelte die Kommission der Republik Österreich eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie daran festhielt, dass dieser Mitgliedstaat gegen Art. 7 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie verstoße, und die Gründe darlegte, warum die Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie nicht erfüllt seien. Die darin gesetzte Frist, innerhalb deren die Republik Österreich die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hatte, um dieser Stellungnahme nachzukommen, lief am 29. Juli 2015 ab.

21      Die Republik Österreich antwortete auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission mit Schreiben vom 28. Juli 2015, in dem sie den Rügen der Kommission weiterhin entgegentrat.

22      Am 20. Mai 2016 teilte die Republik Österreich der Kommission mit, dass die Frühjahrsjagd auf die Waldschnepfe in den österreichischen Ländern Burgenland und Salzburg seit Januar 2016 nicht mehr erlaubt sei.


23      Das gegen die Republik Österreich eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren beschränkt sich daher nunmehr auf die noch geltende Erlaubnis der Frühjahrsjagd auf die Waldschnepfe in Niederösterreich.

24      Am 14. Februar 2017 verringerte das Land Niederösterreich die Anzahl der zur Entnahme freigegebenen Exemplare zum 28. Februar 2017 von 1 368 auf 759 Stück.

25      Mit Schreiben vom 27. Juli 2017 teilte das für Umweltschutz zuständige Mitglied der Kommission der Landeshauptfrau des Landes Niederösterreich mit, dass die verringerte Jagdquote und die von der Republik Österreich im Jahr 2016 vorgelegte Studie über Herkunft und Altersstruktur der im Rahmen der Frühjahrsjagd in Niederösterreich getöteten Waldschnepfen (im Folgenden: Studie von 2016) die Rügen der Kommission nicht entkräfteten. Auf Ersuchen der österreichischen Behörden vom 30. August 2017 übermittelte der zuständige Direktor der Generaldirektion Umwelt der Kommission mit Schreiben vom 21. Dezember 2017 eine Analyse der Studie von 2016. Am 22. Dezember 2017 forderte das für Umweltschutz zuständige Mitglied der Kommission die Landeshauptfrau des Landes Niederösterreich erneut auf, die Frühjahrsjagd auf die Waldschnepfe zu beenden. Mit Schreiben vom 31. Januar und 22. Februar 2018 legten die österreichischen Behörden der Kommission einen ergänzenden Vermerk zu der Studie von 2016 vor.

26      Am 22. Februar 2019 hat die Kommission die vorliegende Klage eingereicht.

 Zur Klage

 Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

27      Der Kommission zufolge bestreitet die Republik Österreich den Verstoß gegen Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 3 der Vogelschutzrichtlinie nicht, sondern trägt lediglich vor, dass die österreichische Regelung mit Art. 9 dieser Richtlinie im Einklang stehe.

28      Sie meint, die Republik Österreich habe weder nachgewiesen, dass es keine „andere zufriedenstellende Lösung“ im Sinne des Einleitungssatzes von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gebe, noch, dass die zugelassenen Höchstabschusszahlen dem Erfordernis der „geringen Mengen“ in Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie entsprächen.

29      Was das Fehlen einer „anderen zufriedenstellenden Lösung“ angehe, habe die Republik Österreich nicht nachgewiesen, dass Waldschnepfen während des Herbstes in den niederösterreichischen Frühjahrsjagdgebieten abwesend oder nur in unerheblichen Mengen vorhanden seien. Außerdem zeige der Umstand, dass die Herbstjagd in den unmittelbar benachbarten österreichischen Ländern Burgenland, Oberösterreich und Steiermark sowie in Kärnten und Vorarlberg und in anderen mitteleuropäischen Mitgliedstaaten erlaubt sei, dass sie als „andere zufriedenstellende Lösung“ betrachtet werden könne.

30      Auch wenn die Jagd während des Balzflugs im Frühjahr eine selektivere Entnahme von männlichen Waldschnepfen ermögliche als die Herbstjagd, die zu etwa gleichen Teilen männliche und weibliche Vögel betreffe, bestreitet die Kommission jedoch die Behauptung der Republik Österreich, die selektivere Entnahme männlicher Waldschnepfen während der Frühjahrsjagd sei für die Bestände der Art schonender als die Herbstjagd; die Republik Österreich habe für diese Behauptung, für die sie die Beweislast trage, keine überzeugenden Nachweise erbracht.

31      Im Übrigen gebe es keine belastbare wissenschaftliche Grundlage für die Auffassung der Republik Österreich, dass die Frühjahrsjagd sich auf die Bestände der Art schonender auswirke als die Herbstjagd. Darüber hinaus wirke sich diese selektive Entnahme besonders auf die dominanten Männchen aus, was negative Auswirkungen auf die Vermehrungsrate der Art habe.

32      Was die „geringen Mengen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie angehe, räume die Republik Österreich ein, dass die Höchstabschusszahl von 1 410 Waldschnepfen, die das österreichische Recht in seiner zum Zeitpunkt des Ablaufs der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission vorgesehenen Frist, d. h. am 29. Juli 2015, geltenden Fassung festlegte, auf Berechnungen beruht habe, die aufgrund der Berücksichtigung von falschen Referenzbeständen unrichtig gewesen seien, und sie habe diese daher im Jahr 2017 auf 759 reduziert. Damit gestehe dieser Mitgliedstaat den Verstoß gegen das Merkmal „geringe Mengen“ zum maßgebenden Zeitpunkt ein.

33      Die Republik Österreich ist im Wesentlichen der Ansicht, dass die Waldschnepfenverordnung den Anforderungen von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie genüge, so dass die Voraussetzungen für eine Ausnahme von Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie gegeben seien.

34      Erstens stelle die Herbstjagd keine „andere zufriedenstellende Lösung“ dar. Da es sich bei Waldschnepfen um eine polygyne Art handle, bei der sich die Männchen mit mehreren Weibchen verpaarten und sich weder an der Brut noch an der Jungenaufzucht beteiligten, sei das Überleben der Hennen für das Überleben der Bestände wichtiger als jenes der Hähne.

35      Im vorliegenden Fall ermögliche die Frühjahrsjagd die selektive Entnahme ausschließlich männlicher Waldschnepfen.


36      Da jedoch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen empfohlen werde, die Bejagung auf weibliche Tiere zu konzentrieren, um den Bestand besonders effizient zu reduzieren, habe eine Fokussierung der Bejagung auf Hähne und damit die Erhöhung der Überlebensrate der Hennen einen deutlich höheren Zuwachs zur Folge, als wenn auch Hennen bejagt würden.

37      Somit stelle eine selektive Entnahme der männlichen Waldschnepfen eine andere, für die niederösterreichische Waldschnepfenpopulation schonendere Art der Bejagung dar.

38      Außerdem bestreitet die Republik Österreich, dass es bei Waldschnepfen dominante Männchen gebe; eine etwaige „Dominanz“ der Hähne sei eher als „Lufthoheit“ zu verstehen.

39      In ihrer Gegenerwiderung fügt die Republik Österreich hinzu, die selektive Frühjahrsbejagung ausschließlich männlicher Waldschnepfen in geringer Menge sei einer unlimitierten Bejagung beider Geschlechter im Herbst vorzuziehen.

40      Zweitens macht die Republik Österreich zunächst geltend, sie habe die „geringen Mengen“ zutreffend und unter Einbeziehung aller damals verfügbaren wissenschaftlichen Daten und Studien definiert. Sodann umfasse die Referenzpopulation für die Berechnung dieser „geringen Mengen“ nicht nur die örtliche Brutvogelpopulation, sondern auch jene der Herkunftsländer. Schließlich werde die lokale Brutpopulation durch die selektive Frühjahrsbejagung von Waldschnepfen im Frühjahr nicht übermäßig beeinträchtigt.

 Würdigung durch den Gerichtshof

41      Mit ihrer Klage beantragt die Kommission festzustellen, dass die Republik Österreich dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 7 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie verstoßen hat, dass sie die Frühjahrsjagd auf die männliche Waldschnepfe im Land Niederösterreich erlaubt hat.

42      Im vorliegenden Fall ist die Waldschnepfe eine in Anhang II Teil A der Vogelschutzrichtlinie aufgeführte Art.

43      § 2 Abs. 1 der Waldschnepfenverordnung erlaubt ausdrücklich die Jagd auf männliche Waldschnepfen während des Balzflugs, in folgendem Wortlaut: „Waldschnepfenhahnen dürfen in der Zeit von 1. März bis 15. April während des Balzfluges … erlegt werden“.

44      Somit ist diese Zeit Teil des Zeitraums, in dem Art. 7 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie grundsätzlich jede Bejagung der Waldschnepfe untersagt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2007, Kommission/Österreich, C‑507/04, EU:C:2007:427, Rn. 195).

45      Die Republik Österreich ist jedoch der Ansicht, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie die erteilte Erlaubnis rechtfertigen könne.

46      Diese Bestimmung lässt nämlich für alle Vogelarten, sofern es keine „andere zufriedenstellende Lösung“ gibt, eine Abweichung von den Art. 5 und 7 dieser Richtlinie zu, um unter streng überwachten Bedingungen selektiv den Fang, die Haltung oder jede andere „vernünftige Nutzung“ bestimmter Vogelarten „in geringen Mengen“ zu ermöglichen.

47      Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die als Freizeitbeschäftigung ausgeübte Jagd auf wildlebende Vögel während der in Art. 7 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie genannten Zeiten eine durch Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie gestattete „vernünftige Nutzung“ sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2003, Ligue pour la protection des oiseaux u. a., C‑182/02, EU:C:2003:558, Rn. 11 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Im Rahmen einer Ausnahmeregelung wie der in Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie, die eng auszulegen ist und bei der die Beweislast für das Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen für jede Abweichung die Stelle treffen muss, die über sie entscheidet, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, sicherzustellen, dass jeder Eingriff, der die geschützten Arten betrifft, nur auf der Grundlage von Entscheidungen genehmigt wird, die mit einer genauen und angemessenen Begründung versehen sind, in der auf die in dieser Vorschrift vorgesehenen Gründe, Bedingungen und Anforderungen Bezug genommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2006, WWF Italia u. a., C‑60/05, EU:C:2006:378, Rn. 34).

49      Zu den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Mitgliedstaaten von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch machen können, gehört gemäß Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie das Fehlen einer „anderen zufriedenstellenden Lösung“. Mit diesem Ausdruck wollte der Unionsgesetzgeber eine Abweichung von dieser Bestimmung – nur in notwendigem Umfang – zulassen, wenn die zu anderen Zeiten eröffneten Jagdmöglichkeiten so beschränkt sind, dass das von der Richtlinie angestrebte Gleichgewicht von Artenschutz und bestimmten Freizeitaktivitäten gestört wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Kommission/Malta, C‑76/08, EU:C:2009:535, Rn. 56).

50      Aus den Bestimmungen von Art. 9 der Vogelschutzrichtlinie, die auf die strenge Überwachung dieser Abweichung und die Selektivität der Fänge wie im Übrigen auch den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bezug nehmen, ergibt sich jedoch, dass die Abweichung, von der ein Mitgliedstaat Gebrauch machen möchte, im rechten Verhältnis zu den Bedürfnissen stehen muss, die sie rechtfertigen (Urteil vom 10. September 2009, Kommission/Malta, C‑76/08, EU:C:2009:535, Rn. 57).

51      Was erstens das Fehlen einer „anderen zufriedenstellenden Lösung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie betrifft, ist zunächst unstreitig, dass Waldschnepfen auch im Herbst in den Gebieten vorhanden sind, in denen sie bejagt werden, und dass sie gemäß Art. 7 dieser Richtlinie in dieser Zeit bejagt werden dürfen.

52      Sodann beruht das Vorbringen der Republik Österreich, wonach im Vergleich zur Herbstjagd die selektive Entnahme nur der männlichen Waldschnepfen während der Brut- und Aufzuchtzeit eine für die Bestände dieser Art in Niederösterreich schonendere Art der Bejagung darstelle, im Wesentlichen auf einem Umkehrschluss aus einer von der Kommission angeführten Studie über die Hirschjagd.

53      Abgesehen davon, dass sich die Argumentation dieses Mitgliedstaats auf Arbeiten zu Hirschen stützt, beruht sie auf der These, dass, wenn wissenschaftliche Veröffentlichungen empfehlen, die Jagd auf Weibchen zu konzentrieren, falls die Verringerung der Bestände der betreffenden Art gewünscht ist, umgekehrt die Konzentration der Jagd auf Hähne die Erhöhung ihrer Bestände ermögliche.

54      Dieser These kann jedoch nicht gefolgt werden, da die Jagderlaubnis, selbst wenn sie auf Hähne beschränkt ist, zwangsläufig die Entnahme eines Teils der Bestände der betreffenden Art bedingt, die, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, aus der Gemeinschaft aller Individuen besteht, die eine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden (Urteil vom 12. Juli 2007, Kommission/Österreich, C‑507/04, EU:C:2007:427, Rn. 235).

55      Folglich zielt der Schutz von Wildvögeln während der Nistzeit und während der einzelnen Phasen der Brutzeit gemäß Art. 7 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie sowohl auf Männchen als auch auf Weibchen in ihrer Gesamtheit. Daher kann die Änderung des Gleichgewichts zwischen Männchen und Weibchen infolge einer selektiven Entnahme ausschließlich von Männchen nicht als den Anforderungen von Art. 7 der Vogelschutzrichtlinie entsprechend angesehen werden.

56      Im Übrigen ist zum Vorbringen der Republik Österreich, wonach eine selektive Frühjahrsbejagung ausschließlich männlicher Waldschnepfen in geringer Menge einer unlimitierten Bejagung beider Geschlechter im Herbst vorzuziehen sei, darauf hinzuweisen, dass nach Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 1 der Vogelschutzrichtlinie “[d]ie Mitgliedstaaten [sich] vergewissern …, dass bei der Jagdausübung … die Grundsätze für eine vernünftige Nutzung und eine ökologisch ausgewogene Regulierung der Bestände der betreffenden Vogelarten, insbesondere der Zugvogelarten, eingehalten werden und dass diese Jagdausübung hinsichtlich der Bestände dieser Arten mit den Bestimmungen aufgrund von [Art. 2 der Richtlinie] vereinbar ist“. Eine Jagderlaubnis außerhalb der in Art. 7 Abs. 4 Unterabs. 2 und 3 der Richtlinie genannten Zeiträume dürfte nicht unbegrenzt sein und müsste jedenfalls dem Erfordernis einer „vernünftigen Nutzung“ genügen.

57      Daher hat die Republik Österreich nicht nachgewiesen, dass die Frühjahrsjagd von Hähnen für die niederösterreichischen Bestände der betreffenden Art schonender wäre als die Herbstjagd und dass es daher keine „andere zufriedenstellende Lösung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie gibt.

58      Zweitens ist in Bezug auf die Voraussetzung der „geringen Mengen“ in Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, und dass spätere Änderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (Urteil vom 16. Juli 2015, Kommission/Slowenien, C‑140/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:501, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59      Im vorliegenden Fall steht fest, dass die am 29. Juli 2015, d. h. bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist geltende Anzahl an Waldschnepfen auf unzutreffenden Berechnungen beruhte und dass diese Zahl deshalb später herabgesetzt wurde.

60      Diese auf Initiative der niederösterreichischen Behörden vorgenommene Reduzierung zur Berichtigung des Bestandes an Waldschnepfen, auf dessen Grundlage die zu entnehmende Anzahl dieser Vögel unrichtig berechnet worden war, beweist zur Genüge, dass diese Behörden zum Stichtag nicht über belastbare Daten verfügten, so dass die Republik Österreich nicht in der Lage war, das Erfordernis der „geringen Mengen“ nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie zu erfüllen.

61      Folglich sind im vorliegenden Fall das Erfordernis des Fehlens einer „anderen zufriedenstellenden Lösung“ und das Erfordernis der „geringen Mengen“ nicht erfüllt, und die Republik Österreich kann daher nicht mit Erfolg geltend machen, dass die nationalen Rechtsvorschriften mit Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Vogelschutzrichtlinie vereinbar seien.

62      Nach alledem ist festzustellen, dass die Republik Österreich dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 7 Abs. 4 der Vogelschutzrichtlinie verstoßen hat, dass sie die Frühjahrsjagd auf die männliche Waldschnepfe im Land Niederösterreich erlaubt hat.

 Kosten

63      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Österreich mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Republik Österreich hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten verstoßen, dass sie die Frühjahrsjagd auf die männliche Waldschnepfe (Scolopax rusticola) im Land Niederösterreich (Österreich) erlaubt hat.

2.      Die Republik Österreich trägt die Kosten.

Bonichot

Silva de Lapuerta

Safjan

Bay Larsen

 

Toader

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 23. April 2020.

Der Kanzler

 

Der Präsident der Ersten Kammer

A. Calot Escobar

 

J.-C. Bonichot


*      Verfahrenssprache: Deutsch.