URTEIL DES GERICHTSHOFES
24. November 1998 (1)
„Freizügigkeit Gleichbehandlung Sprachenregelung für Strafverfahren“
In der Rechtssache C-274/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der Pretura
circondariale Bozen, Außenabteilung Schlanders (Italien), in dem bei dieser
anhängigen Strafverfahren gegen
Horst Otto Bickel,
Ulrich Franz
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 6, 8a
und 59 EG-Vertrag
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn, J.-P. Puissochet, G. Hirsch und P. Jann sowie
der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, C. Gulmann, J. L. Murray,
H. Ragnemalm (Berichterstatter), L. Sevón, M. Wathelet und R. Schintgen,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der italienischen Regierung, vertreten durch Professor Umberto Leanza,
Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als
Bevollmächtigten im Beistand von Avvocato dello Stato Pier Giorgio Ferri,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Pieter
van Nuffel, Juristischer Dienst, und Enrico Altieri, zum Juristischen Dienst
der Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Bickel und Herrn Franz,
vertreten durch Rechtsanwalt Karl Zeller, Meran, der italienischen Regierung,
vertreten durch Rechtsanwalt Pier Giorgio Ferri, und der Kommission, vertreten
durch Pieter van Nuffel und Lucio Gussetti, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
in der Sitzung vom 27. Januar 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. März
1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Pretura circondariale Bozen, Außenabteilung Schlanders, hat mit Beschlüssen
vom 2. August 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 12. August 1996, gemäß
Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 6, 8a und 59
EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Frage stellt sich in zwei Strafverfahren gegen Herrn Bickel bzw. gegen Herrn
Franz.
- 3.
- Herr Bickel, ein österreichischer Staatsangehöriger, wohnt in Nüziders (Österreich)
und ist von Beruf Lastwagenfahrer. Am 15. Februar 1994 wurde er mit seinem
Lastkraftwagen von einer Carabinieri-Streife in Castelbello in der Provinz Bozen
(Italien) angehalten, die gegen ihn ein Verfahren wegen Trunkenheit im Verkehr
einleitete.
- 4.
- Herr Franz, ein deutscher Staatsangehöriger, wohnt in Peissenberg (Deutschland)
und kam als Tourist nach Südtirol. Am 5. Juni 1995 wurde er einer Zollkontrolle
unterzogen, bei der festgestellt wurde, daß er ein verbotenes Messer mit sich
führte.
- 5.
- Beide Angeklagten erklärten gegenüber dem Pretore Bozen, sie beherrschten die
italienische Sprache nicht, und beantragten unter Berufung auf die zum Schutz der
deutschsprachigen Gemeinschaft in der Provinz Bozen bestimmten Vorschriften,
das Verfahren gegen sie auf deutsch durchzuführen.
- 6.
- Nach Artikel 99 des Präsidialdekrets Nr. 670 vom 31. August 1972 betreffend das
Sonderstatut für die Region Trentino-Südtirol (GURI Nr. 301 vom 20. November
1972) ist die deutsche Sprache in dieser Region der italienischen Sprache
gleichgestellt.
- 7.
- Nach Artikel 100 dieses Dekrets haben die deutschsprachigen Bürger der Provinz
Bozen dem Gebiet, in dem die deutschsprachige Minderheit hauptsächlich
ansässig ist das Recht, im Verkehr mit den Gerichten und den Dienststellen der
öffentlichen Verwaltung, die ihren Sitz in dieser Provinz haben oder regionale
Zuständigkeit besitzen, ihre Sprache zu gebrauchen.
- 8.
- Nach Artikel 13 des Präsidialdekrets Nr. 574 vom 15. Juli 1988 mit
Durchführungsbestimmungen zum Sonderstatut für die Region Trentino-Südtirol
über den Gebrauch der deutschen und der ladinischen Sprache im Verkehr der
Bürger mit der öffentlichen Verwaltung und in den Gerichtsverfahren (GURI Nr.
105 vom 8. Mai 1989) müssen sich die Gerichtsämter und Gerichtsorgane im
Verkehr mit den Bürgern der Provinz Bozen und in den Akten, die sich auf diese
beziehen, der Sprache des Antragstellers bedienen.
- 9.
- Artikel 14 des Dekrets Nr. 574 bestimmt ferner, daß bei Verhaftung auf frischer
Tat oder bei Polizeigewahrsam die Gerichtsbehörde oder das Polizeiorgan
verpflichtet ist, vor der Vernehmung oder anderen Verfahrenshandlungen den
Beschuldigten zu fragen, welches seine Muttersprache ist. Wird als Sprache
Deutsch angegeben, so haben die Vernehmung und jede weitere
Verfahrenshandlung in dieser Sprache zu erfolgen.
- 10.
- Nach Artikel 15 des Dekrets Nr. 574 schließlich hat die Gerichtsbehörde, die einen
Prozeßakt zu verfassen hat, der dem Verdächtigten oder dem Beschuldigten
mitzuteilen oder zuzustellen ist, dessen mutmaßliche Sprache zu verwenden, die
aufgrund der offenkundigen Sprachgruppenzugehörigkeit und anderer beim Prozeß
bereits ermittelten Anhaltspunkte festgestellt wurde. Der Beschuldigte oder
Verdächtigte kann sich innerhalb von zehn Tagen nach der Mitteilung oder
Zustellung des ersten Prozeßaktes gegen die verwendete Sprache mit persönlich
abgegebener oder dem handelnden Gerichtsorgan übermittelter Erklärung
aussprechen. In diesem Fall hat die Gerichtsbehörde zu verfügen, daß die bis dahin
erstellten Akte übersetzt werden und die folgenden Akte in der angegebenen
Sprache verfaßt werden.
- 11.
- Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob die für die Bürger der Provinz
Bozen geltenden Verfahrensvorschriften nach Gemeinschaftsrecht auch auf
Besucher der Provinz anzuwenden sind, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten
sind; es hat das Verfahren daher bis zu einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes
über folgende Frage ausgesetzt:
Gebieten es die Grundsätze der Nichtdiskriminierung im Sinne von Artikel 6
Absatz 1 des Vertrages, des Rechts der Unionsbürger, sich frei zu bewegen und
aufzuhalten, im Sinne von Artikel 8a und des freien Dienstleistungsverkehrs im
Sinne von Artikel 59 des Vertrages, daß einem Unionsbürger, der die
Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und sich in einem anderen
Mitgliedstaat aufhält, das Recht gewährt wird, zu verlangen, daß ein Strafverfahren
gegen ihn in einer anderen Sprache geführt wird, wenn die Staatsangehörigen
dieses Staates, die sich in der gleichen Lage befinden, dieses Recht haben?
- 12.
- Diese Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob der durch
eine nationale Regelung eröffnete Anspruch darauf, daß ein Strafverfahren in einer
anderen als der Hauptsprache des betreffenden Staates durchgeführt wird, in den
Anwendungsbereich des Vertrages fällt und daher mit Artikel 6 dieses Vertrages
im Einklang stehen muß. Für den Fall, daß dies bejaht wird, fragt das vorlegende
Gericht weiter, ob Artikel 6 des Vertrages einer nationalen Regelung wie der hier
streitigen entgegensteht, die Bürgern, die eine bestimmte Sprache sprechen, bei der
es sich nicht um die Hauptsprache des betreffenden Mitgliedstaats handelt, und die
im Gebiet einer bestimmten Körperschaft leben, den Anspruch darauf einräumt,
daß Strafverfahren in ihrer Sprache durchgeführt werden, ohne dieses Recht auch
den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten einzuräumen, die dieselbe Sprache
sprechen und sich in diesem Gebiet bewegen und aufhalten.
Zum ersten Teil der Frage
- 13.
- Unter dem Gesichtspunkt einer Gemeinschaft, die auf den Grundsätzen der
Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit aufbaut, kommt dem Schutz der
Rechte und Möglichkeiten der einzelnen im sprachlichen Bereich besondere
Bedeutung zu (Urteil vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 137/84, Mutsch, Slg.
1985, 2681, Randnr. 11).
- 14.
- Aus dem in Artikel 6 des Vertrages niedergelegten Verbot „jeder Diskriminierung
aus Gründen der Staatsangehörigkeit“ folgt, daß Personen, die sich in einer
gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befinden, genauso behandelt werden
müssen wie Angehörige des betreffenden Mitgliedstaats (Urteil vom 2. Februar
1989 in der Rechtssache 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr. 10).
- 15.
- Zu den gemeinschaftsrechtlich geregelten Situationen gehören u. a. diejenigen, die
unter das durch Artikel 59 des Vertrages eingeräumte Recht auf freien
Dienstleistungsverkehr fallen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes schließt
dieses Recht die Freiheit der Leistungsempfänger ein, sich zur Inanspruchnahme
einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben (Urteil Cowan,
Randnr. 15). Unter Artikel 59 fallen somit alle Angehörigen der Mitgliedstaaten,
die sich, ohne ein anderes durch den Vertrag gewährleistetes Freiheitsrecht in
Anspruch zu nehmen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben und dort
Dienstleistungen in Empfang nehmen wollen oder die Möglichkeit haben, sie in
Empfang zu nehmen. Diese Staatsangehörigen, zu denen auch Herr Bickel und
Herr Franz gehören, können sich in den Aufnahmestaat begeben und sich dort frei
bewegen. Im übrigen bestimmt Artikel 8a des Vertrages: „Jeder Unionsbürger hat
das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem
Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und
Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“
- 16.
- Für die Unionsbürger ist die Möglichkeit, mit den Verwaltungs- und Justizbehörden
eines Staates mit gleichem Recht wie die Bürger dieses Staates in einer bestimmten
Sprache kommunizieren zu können, geeignet, die Ausübung der Freiheit, sich in
einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern. Folglich
haben Personen, die wie Herr Bickel und Herr Franz von ihrem Recht, sich in
einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen,
grundsätzlich nach Artikel 6 des Vertrages einen Anspruch darauf, nicht gegenüber
den Angehörigen dieses Staates ungleich behandelt zu werden, was die Benutzung
der dort verwendeten Sprachen angeht.
- 17.
- Für das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht, zu dem die streitigen Vorschriften
über die Verfahrenssprache gehören, sind zwar grundsätzlich die Mitgliedstaaten
zuständig, doch setzt das Gemeinschaftsrecht nach ständiger Rechtsprechung dieser
Zuständigkeit Schranken: Derartige Rechtsvorschriften dürfen weder zu einer
Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen
Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht
garantierten Grundfreiheiten beschränken (in diesem Sinne Urteil Cowan,
Randnr. 19).
- 18.
- Soweit sie den Anspruch der Angehörigen der Mitgliedstaaten, die von ihrem
Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch
machen, auf Gleichbehandlung beeinträchtigen kann, muß folglich eine nationale
Regelung über die vor den Strafgerichten dieses Staates zu verwendende
Verfahrenssprache Artikel 6 des Vertrages beachten.
- 19.
- Auf den ersten Teil der vorgelegten Frage ist daher zu antworten, daß der durch
eine nationale Regelung eröffnete Anspruch darauf, daß ein Strafverfahren in einer
anderen als der Hauptsprache des betreffenden Staates durchgeführt wird, in den
Anwendungsbereich des Vertrages fällt und mit Artikel 6 dieses Vertrages im
Einklang stehen muß.
Zum zweiten Teil der Frage
- 20.
- Um jeden Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Artikels 6 des Vertrages
zu vermeiden, muß nach Auffassung von Herrn Bickel und Herrn Franz der
Anspruch darauf, daß der Prozeß auf deutsch durchgeführt wird, allen
Unionsbürgern gewährt werden, wenn dieser Anspruch allen Bürgern eines der
Staaten eröffnet ist, die zur Union gehören.
- 21.
- Die italienische Regierung trägt vor, das streitige Recht sei ausschließlich den
Bürgern gewährt, die zur deutschen Sprachgruppe der Provinz Bozen gehörten und
in dieser Provinz wohnten. Zweck der streitigen Vorschriften sei es, die
ethnisch-kulturelle Identität der Person, die zu der geschützten Minderheit gehöre,
anzuerkennen. Daraus folge, daß der Anspruch auf Verwendung der Sprache der
betreffenden ethnisch-kulturellen Minderheit nicht auf einen Angehörigen eines
anderen Mitgliedstaats ausgedehnt werden dürfe, der sich in der fraglichen Region
gelegentlich und vorübergehend aufhalte, da er über die Mittel verfüge, um sich,
ungeachtet dessen, daß er nicht die Amtssprache des betreffenden Staates spreche,
angemessen verteidigen zu können.
- 22.
- Die Kommission verweist darauf, daß der Anspruch darauf, daß das Verfahren auf
deutsch durchgeführt werde, im Ausgangsfall nicht allen Personen mit italienischer
Staatsangehörigkeit zuerkannt sei, sondern lediglich denjenigen, die in der Provinz
Bozen wohnten und die zur deutschen Sprachgruppe dieser Provinz gehörten. Es
sei daher Sache des nationalen Gerichts, zunächst einmal konkret festzustellen, obdie fragliche Regelung eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
darstelle, sodann die Gruppe von Personen, die Opfer dieser Diskriminierung
wären, abzugrenzen und schließlich zu prüfen, ob diese Diskriminierung durch
objektive Umstände gerechtfertigt werden könnte.
- 23.
- Wie sich aus den Akten ergibt, behält die italienische Regelung den
deutschsprachigen Bürgern der Provinz Bozen den Anspruch darauf vor, daß das
Verfahren in dieser Sprache durchgeführt wird. Deutschsprachige Angehörige
anderer Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschlands und Österreichs, die sich wie
Herr Bickel und Herr Franz in dieser Provinz bewegen oder aufhalten, können
folglich nicht verlangen, daß ein Strafverfahren auf deutsch durchgeführt wird,
obwohl diese Sprache nach den nationalen Vorschriften der italienischen Sprache
gleichgestellt ist.
- 24.
- Daraus ergibt sich, daß deutschsprachige Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die
sich in der Provinz Bozen bewegen und aufhalten, gegenüber den
deutschsprachigen italienischen Staatsangehörigen, die in dieser Region wohnen,
benachteiligt sind. Während nämlich ein deutschsprachiger italienischer
Staatsangehöriger, der in der Provinz Bozen wohnt und gegen den dort Anklage
erhoben wird, erreichen kann, daß das Verfahren auf deutsch durchgeführt wird,
wird dieses Recht einem deutschsprachigen Angehörigen eines anderen
Mitgliedstaats, der sich in dieser Provinz bewegt, verweigert.
- 25.
- Selbst unterstellt, daß, wie die italienische Regierung vorträgt, die
deutschsprachigen Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die in der Provinz Bozen
wohnen, sich auf die streitige Regelung berufen und dort auf deutsch plädieren
können, so daß keine Ungleichbehandlung der Einwohner der Region aus Gründen
der Staatsangehörigkeit vorläge, ist doch festzustellen, daß die italienischen
Staatsangehörigen gegenüber den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten begünstigt
sind. Die meisten deutschsprachigen italienischen Staatsangehörigen können
nämlich verlangen, daß während des gesamten Verfahrens in der Provinz Bozen
deutsch verwendet wird, weil sie das in der streitigen Regelung vorgesehene
Wohnsitzerfordernis erfüllen, während die meisten deutschsprachigen Angehörigen
der anderen Mitgliedstaaten sich auf das durch diese Regelung eingeräumte Recht
nicht berufen können, da sie dieses Kriterium nicht erfüllen.
- 26.
- Folglich begünstigt eine Regelung wie diejenige des Ausgangsrechtsstreits, nach der
der Anspruch darauf, daß ein Strafverfahren im Gebiet einer bestimmten
Körperschaft in der Sprache des Betroffenen durchgeführt wird, davon abhängig
ist, daß dieser dort wohnt, begünstigt folglich die einheimischen Staatsangehörigen
gegenüber den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten, die ihr Recht auf freien
Verkehr ausüben, und verstößt somit gegen das Diskriminierungsverbot des
Artikels 6 des Vertrages.
- 27.
- Ein solches Wohnorterfordernis wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es auf
objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen
beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stünde, der mit den
nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird (vgl. in diesem Sinn
Urteil vom 15. Januar 1998 in der Rechtssache C-15/96,
Schöning/Kougebetopoulou, Slg. 1998, I-47, Randnr. 21).
- 28.
- Dies trifft jedoch, wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, auf die streitige
Regelung nicht zu.
- 29.
- Das Vorbringen der italienischen Regierung, diese Regelung solle die in der
betreffenden Provinz wohnende ethnisch-kulturelle Minderheit schützen, stellt im
vorliegenden Zusammenhang keine gültige Rechtfertigung dar. Gewiß kann der
Schutz einer Minderheit wie der hier betroffenen ein legitimes Ziel darstellen. Aus
den Akten ergibt sich jedoch nicht, daß dieses Ziel durch die Ausdehnung der
streitigen Regelung auf deutschsprachige Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die
von ihrem Recht auf freien Verkehr Gebrauch machen, gefährdet würde.
- 30.
- Überdies haben Herr Bickel und Herr Franz in der mündlichen Verhandlung
unwidersprochen vorgetragen, die betroffenen Gerichte könnten die Verfahren auf
deutsch durchführen, ohne daß dies zu Schwierigkeiten oder zusätzlichen Kosten
führen würde.
- 31.
- Daher ist auf den zweiten Teil der Vorlagefrage zu antworten, daß Artikel 6 des
Vertrages einer nationalen Regelung entgegensteht, die Bürgern, die eine
bestimmte Sprache sprechen, bei der es sich nicht um die Hauptsprache des
betreffenden Mitgliedstaats handelt, und die im Gebiet einer bestimmten
Körperschaft leben, den Anspruch darauf einräumt, daß Strafverfahren in ihrer
Sprache durchgeführt werden, ohne dieses Recht auch den Angehörigen anderer
Mitgliedstaaten einzuräumen, die dieselbe Sprache sprechen und sich in diesem
Gebiet bewegen und aufhalten.
Kosten
- 32.
- Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei
dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm von der Pretura circondariale Bozen, Außenabteilung Schlanders, mit
Beschlüssen vom 2. August 1996 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Der durch eine nationale Regelung eröffnete Anspruch darauf, daß ein
Strafverfahren in einer anderen als der Hauptsprache des betreffenden
Staates durchgeführt wird, fällt in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags
und muß mit Artikel 6 dieses Vertrages im Einklang stehen.
2. Artikel 6 des Vertrages steht einer nationalen Regelung entgegen, die
Bürgern, die eine bestimmte Sprache sprechen, bei der es sich nicht um die
Hauptsprache des betreffenden Mitgliedstaats handelt, und die im Gebiet
einer bestimmten Körperschaft leben, den Anspruch darauf einräumt, daß
Strafverfahren in ihrer Sprache durchgeführt werden, ohne dieses Recht
auch den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten einzuräumen, die dieselbe
Sprache sprechen und sich in diesem Gebiet bewegen und aufhalten.
Rodríguez IglesiasKapteyn
Puissochet
Hirsch Jann
Mancini Moitinho de Almeida
Gulmann
Murray Ragnemalm
Sevón Wathelet
Schintgen
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 24. November 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias