Language of document : ECLI:EU:C:2005:517

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 8. September 2005(1)

Rechtssache C-540/03

Europäisches Parlament

gegen

Rat der Europäischen Union

unterstützt durch

Bundesrepublik Deutschland

und

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

„Familienzusammenführung – Zulässigkeit der Teilanfechtung – Minderjährige – Wartezeit“





I –    Einführung

1.        Mit der vorliegenden Klage wendet sich das Europäische Parlament gegen Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz und Absatz 6 sowie gegen Artikel 8 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung(2) (im Folgenden: die Richtlinie). Entgegen ihrem Titel regelt diese Richtlinie nicht allgemein die Familienzusammenführung, sondern nur die Rechte von Familien, denen keine Unionsbürger angehören.

2.        Nach der Richtlinie hat ein rechtmäßig in der Gemeinschaft lebender Staatsangehöriger eines Drittstaats grundsätzlich ein Recht darauf, dass der Aufnahmestaat den Nachzug seiner Kinder im Wege der Familienzusammenführung genehmigt. Die angegriffenen Bestimmungen eröffnen den Mitgliedstaaten allerdings die Möglichkeit, unter bestimmten Bedingungen die Familienzusammenführung bei Kindern über 12 bzw. ab 15 Jahren zu beschränken und bestimmte Wartezeiten festzusetzen. Das Parlament meint, diese Regelungen seien unvereinbar mit dem menschenrechtlichen Schutz der Familie und dem Grundsatz der Gleichbehandlung.

3.        Wenn auch das Parlament offenbar keinen großen Wert auf den Beitrag der Generalanwälte legt,(3) gebieten die mit der vorliegenden Klage aufgeworfenen neuen Rechtsfragen die Vorlage von Schlussanträgen. Diese Fragen betreffen insbesondere die Zulässigkeit der Klage sowie die Anwendung der einschlägigen Grund- und Menschenrechte.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

4.        Der Rat hat die Richtlinie auf Artikel 63 erster Unterabsatz, Nummer 3 des Vertrages gestützt. Danach beschließt der Rat einstimmig über einwanderungspolitische Maßnahmen in den Bereichen:

„a)      Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen sowie Normen für die Verfahren zur Erteilung von Visa für einen langfristigen Aufenthalt und Aufenthaltstiteln, einschließlich solcher zur Familienzusammenführung, durch die Mitgliedstaaten;

b)       …“

5.        Hinzuweisen ist auch auf Artikel 63 zweiter Unterabsatz des Vertrages, der den folgenden Wortlaut hat:

„Maßnahmen, die vom Rat nach den Nummern 3 und 4 beschlossen worden sind, hindern die Mitgliedstaaten nicht daran, in den betreffenden Bereichen innerstaatliche Bestimmungen beizubehalten oder einzuführen, die mit diesem Vertrag und mit internationalen Übereinkünften vereinbar sind.“

6.        Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie betont ausdrücklich den Schutz der Familie, wie er sich aus internationalen Übereinkünften und insbesondere den Grundrechten ergebe:

„Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.“

7.        Hier sei daran erinnert, dass Artikel 7 der Grundrechtscharta (Artikel II-67 des Vertrags über eine Verfassung für Europa) zur Achtung des Privat- und Familienlebens vorsieht, dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation hat.

8.        Der fünfte Erwägungsgrund hält fest:

„Die Mitgliedstaaten sollten diese Richtlinie ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Meinung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung durchführen.“

9.        Damit erinnert der Gemeinschaftsgesetzgeber an die spezifischen Diskriminierungsverbote, die in Artikel 21 der Grundrechtscharta (Artikel II-81 des Vertrags über eine Verfassung für Europa) niedergelegt sind.

10.      Nach Artikel 3 Absatz 4 Buchstabe b lässt die Richtlinie günstigere Bestimmungen unberührt, die sich aus der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961(4), der geänderten Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996(5) und dem Europäischen Übereinkommen über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer vom 24. November 1977(6) ergeben.

11.      Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie sieht grundsätzlich vor, dass die Mitgliedstaaten dem Ehegatten und den Kindern die Einreise und den Aufenthalt gestatten. Der letzte Unterabsatz eröffnet den Mitgliedstaaten allerdings die Möglichkeit, bei Kindern über 12 Jahren zusätzliche Anforderungen an die Zusammenführung zu stellen:

„Abweichend davon kann ein Mitgliedstaat bei einem Kind über 12 Jahre, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, prüfen, ob es ein zum Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie in den nationalen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt, bevor er ihm die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestattet.“

12.      Der zugehörige zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie lautet wie folgt:

„Mit der Möglichkeit, das Recht auf Familienzusammenführung bei Kindern über 12 Jahre, die ihren Hauptwohnsitz nicht bei dem Zusammenführenden haben, einzuschränken, soll der Integrationsfähigkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren Rechnung getragen und gewährleistet werden, dass sie die erforderliche Allgemeinbildung und Sprachkenntnisse in der Schule erwerben.“

13.      Das Recht auf Zusammenführung kommt gemäß Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie gar nicht zur Anwendung, wenn ein Antrag betreffend die Familienzusammenführung eines Kindes nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt wird:

„Die Mitgliedstaaten können im Rahmen einer Ausnahmeregelung vorsehen, dass die Anträge betreffend die Familienzusammenführung minderjähriger Kinder gemäß den im Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie vorhandenen nationalen Rechtsvorschriften vor Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt werden. Wird ein Antrag nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt, so genehmigen die Mitgliedstaaten, die diese Ausnahmeregelung anwenden, die Einreise und den Aufenthalt dieser Kinder aus anderen Gründen als der Familienzusammenführung.“

14.      Artikel 8 der Richtlinie erlaubt die Festlegung von Wartezeiten:

„Die Mitgliedstaaten dürfen verlangen, dass sich der Zusammenführende während eines Zeitraums, der zwei Jahre nicht überschreiten darf, rechtmäßig auf ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten hat, bevor seine Familienangehörigen ihm nachreisen.

Abweichend davon kann ein Mitgliedstaat, dessen bei Annahme der Richtlinie geltendes nationales Recht im Bereich der Familienzusammenführung die Aufnahmefähigkeit dieses Mitgliedstaats berücksichtigt, eine Wartefrist von höchstens drei Jahren, zwischen der Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung und der Ausstellung eines Aufenthaltstitels an Familienangehörige, vorsehen.“

15.      Die Richtlinie beinhaltet verschiedene Bestimmungen über die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls.

16.      Das Kindeswohl ist gemäß Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie zu berücksichtigen:

„Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.“

Der Kommissionsvorschlag(7) bezog sich bei dieser Vorschrift noch ausdrücklich auf das Übereinkommen über die Rechte des Kindes(8).

17.      Artikel 17 betrifft alle potentiell betroffenen Personen:

„Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“

B –    Völkerrecht

1.      Europäische Abkommen

18.      Der menschenrechtliche Schutz des Familienlebens ergibt sich vor allem aus Artikel 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Rom am 4. November 1950 (im Folgenden: EMRK):

„1      Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

2       Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.“

19.      Das Diskriminierungsverbot ist in Artikel 14 EMRK niedergelegt:

„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.“

20.      Bestimmungen zur Familienzusammenführung enthält auch die Europäische Sozialcharta.(9) Nach Teil I, Nr. 19 haben Wanderarbeitnehmer, die Staatsangehörige einer Vertragspartei sind, und ihre Familien das Recht auf Schutz und Beistand im Hoheitsgebiet jeder anderen Vertragspartei. Artikel 19 konkretisiert dies in Bezug auf die Familienzusammenführung wie folgt:

„Um die wirksame Ausübung des Rechtes der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand im Hoheitsgebiet jeder anderen Vertragspartei zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien:

1. – 5. …

6.      soweit möglich, die Zusammenführung eines zur Niederlassung im Hoheitsgebiet berechtigten Wanderarbeitnehmers mit seiner Familie zu erleichtern;

7. – 10. …“(10)

21.      In dem gemäß Artikel 38 einen Bestandteil der Charta bildenden Anhang ist festgehalten, dass der Ausdruck „Wanderarbeitnehmer mit seiner Familie“ für die Anwendung dieser Bestimmung dahin auszulegen ist, dass er zumindest seine Ehefrau und seine Kinder unter 21 Jahren umfasst, für die er unterhaltspflichtig ist. In der revidierten Fassung der Europäischen Sozialcharta von 3. Mai 1996,(11) die Artikel 19 Absatz 6 gleichlautend beibehalten hat, wurde der Anhang dahin gehend neu gefasst, dass für die Zwecke der Anwendung dieser Bestimmung unter dem Ausdruck „Wanderarbeitnehmer mit seiner Familie“ zumindest der Ehegatte des Arbeitnehmers und seine unverheirateten Kinder zu verstehen sind, solange diese nach den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmestaats als Minderjährige gelten und der Arbeitnehmer für sie unterhaltspflichtig ist.

22.      Der Europarat hat auch das Europäische Übereinkommen über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer(12) aufgelegt. Die Familienzusammenführung ist in Artikel 12 geregelt. Absatz 1 lautet wie folgt:

„Dem Ehegatten eines ordnungsgemäß im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei beschäftigten Wanderarbeitnehmers und, solange sie nach den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmestaats als minderjährig gelten, seinen unverheirateten Kindern wird, soweit sie von ihm unterhalten werden, unter Voraussetzungen, die den in diesem Übereinkommen für die Zulassung von Wanderarbeitnehmern vorgesehenen entsprechen, und gemäß dem nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder völkerrechtlichen Übereinkünften für diese Zulassung vorgesehenen Verfahren die Erlaubnis erteilt, in das Hoheitsgebiet einer Vertragspartei zu dem Wanderarbeitnehmer zu ziehen, sofern dieser über Wohnraum für seine Familie verfügt, der in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, für einheimische Arbeitnehmer als normal angesehen wird. Jede Vertragspartei kann die Erteilung der Erlaubnis von einer Wartezeit von höchstens zwölf Monaten abhängig machen.“

23.      Nach der Definition des Artikels 1 sind nur Bürger der Vertragsparteien Wanderarbeitnehmer im Sinne des Abkommens.

2.      Weltweite Abkommen

24.      Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966(13) enthält in Artikel 17 die folgende – Artikel 8 EMRK vergleichbare – Gewährleistung:

„(1)      Niemand darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden.

(2)      Jedermann hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.“

25.      Weiterhin hält Artikel 23 Absatz 1 des Paktes fest:

„Die Familie ist die natürliche Kernzelle der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.“

26.      Ergänzend sei auf Artikel 24 Absatz 1 des Paktes hingewiesen:

„Jedes Kind hat ohne Diskriminierung hinsichtlich der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens oder der Geburt das Recht auf diejenigen Schutzmaßnahmen durch seine Familie, die Gesellschaft und den Staat, die seine Rechtsstellung als Minderjähriger erfordert.“

27.      Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes(14) beinhaltet ebenfalls Regelungen zum Thema Familienzusammenführung. Artikel 9 Absatz 1 stellt als Grundprinzip fest, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt werden soll. Darauf aufbauend fordert Artikel 10 Absatz 1 Satz 1:

„Entsprechend der Verpflichtung der Vertragsstaaten nach Artikel 9 Absatz 1 werden von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet.“

28.      Zu berücksichtigen ist auch die allgemeine Anforderung des Artikels 3 Absatz 1:

„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

29.      Wie der Europarat haben auch die Vereinten Nationen eine Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen aufgelegt.(15) Nach Artikel 44 Absatz 2 sollen Vertragsstaaten im Rahmen ihrer Kompetenzen alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um die Familienzusammenführung mit Ehegatten und minderjährigen Kindern zu erleichtern. Bislang hat kein Mitgliedstaat der Gemeinschaft diese Konvention ratifiziert.

30.      Abschließend sei auch noch auf Artikel 13 des Übereinkommens Nr. 143 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Missbräuche bei Wanderungen und die Förderung der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung der Wanderarbeitnehmer vom 24. Juni 1975(16) hingewiesen, der wie folgt lautet:

„1.      Jedes Mitglied kann alle erforderlichen Maßnahmen treffen, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, und mit anderen Mitgliedern zusammenarbeiten, um die Zusammenführung der Familien aller Wanderarbeitnehmer zu erleichtern, die sich rechtmäßig in seinem Gebiet aufhalten.

2.      Die Familienangehörigen der Wanderarbeitnehmer, für die dieser Artikel gilt, sind der Ehegatte und, soweit sie unterhaltsberechtigt sind, die Kinder, der Vater und die Mutter.“

III – Anträge

31.      Das Europäische Parlament beantragt,

–        Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz und Absatz 6 sowie Artikel 8 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung gemäß Artikel 230 EG für nichtig zu erklären;

–        dem Beklagten die gesamten Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

32.      Der Rat beantragt,

–        die Klage auf Nichtigerklärung der Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz, Artikel 4 Absatz 6 und Artikel 8 der Richtlinie 2003/86 des Rates vom 22. September 2003 abzuweisen, und

–        dem Europäischen Parlament die Kosten aufzuerlegen.

33.      Die Bundesrepublik Deutschland und die Kommission unterstützen die Anträge des Rates als Streithelfer.

IV – Würdigung

A –    Zur Zulässigkeit

1.      Zum Vorliegen eines angreifbaren Rechtsaktes

34.      Eine Nichtigkeitsklage gemäß Artikel 230 EG kann nur gegen Rechtsakte, nicht aber gegen Handlungen ohne rechtliche Bindungswirkung gerichtet werden.(17) Die rechtliche Bindungswirkung der Richtlinie wird durch Artikel 63 zweiter Unterabsatz des Vertrages in Frage gestellt. Nach dieser Vorschrift hindern „Maßnahmen, die [wie die Richtlinie] vom Rat nach den Nummern 3 und 4 [des Artikels 63] beschlossen worden sind, die Mitgliedstaaten nicht daran, in den betreffenden Bereichen innerstaatliche Bestimmungen beizubehalten oder einzuführen, die mit diesem Vertrag und mit internationalen Übereinkünften vereinbar sind.“

35.      Teilweise wird Artikel 63 zweiter Unterabsatz des Vertrages als Ermächtigung zum Erlass verstärkter Schutzmaßnahmen verstanden, wie sie bereits in den Artikeln 95 Absatz 5, 137 Absatz 5, 153 Absatz 3 und 176 EG enthalten sind.(18) Diese Auslegung überzeugt jedoch nicht, da Artikel 63 zweiter Unterabsatz EG im Unterschied zu den Klauseln über verstärkte Schutzmaßnahmen keine Zielbindung des verstärkten Schutzes enthält. Wenn die Mitgliedstaaten aber frei sind, die Ziele anderer Maßnahmen auszuwählen, dann beschreibt die Gemeinschaftsregelung keinen die Mitgliedstaaten bindenden Mindeststandard. Ein derartiger Mindeststandard kennzeichnet aber die Möglichkeit verstärkter Schutzmaßnahmen(19) im Unterschied zum völligen Mangel der Bindungswirkung.

36.      Streng nach dem Wortlaut würde aus Artikel 63 zweiter Unterabsatz des Vertrages folgen, dass Sekundärrecht nach den beiden genannten Nummern, d. h. insbesondere die vorliegende Richtlinie, innerstaatlich keine Wirkung und keinen Anwendungsvorrang hat, sofern nationales Recht andere Regelungen trifft.(20) Dementsprechend meinte auf Nachfrage des Gerichtshofes die deutsche Regierung, dass Artikel 63 zweiter Unterabsatz nationale Alleingänge erlaube. Konsequent weiter gedacht wäre sogar das Fehlen jeglicher Regelungen, d. h. die Nichtumsetzung, zulässig, da auch darin eine „andere“ Regelung liegen würde. Folglich würden Maßnahmen nach Artikel 63 erster Unterabsatz Nummern 3 und 4 des Vertrages in ihrer Rechtswirkung auf eine Empfehlung reduziert.(21) Soweit wollte die deutsche Regierung allerdings nicht gehen.

37.      Eine solche Auslegung entspräche der anzunehmenden Motivation einiger Mitgliedstaaten für die Einführung dieser Bestimmung. Zunächst waren nämlich nicht alle Mitgliedstaaten mit der Überführung von Kompetenzen für die Einwanderungspolitik in den EG-Vertrag einverstanden.(22)

38.      Die dargestellte Auslegung von Artikel 63 zweiter Unterabsatz des Vertrages als Vorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten würde allerdings die gleichzeitig mit der Einführung des Unterabsatzes erfolgte Integration der Regelungskompetenzen des Artikels 63 erster Unterabsatz Nummern 3 und 4 in den EG-Vertrag ad absurdum führen und ihrer Wirksamkeit berauben. Diese neuen Regelungskompetenzen zielen nicht darauf ab, Empfehlungen zu erlassen. Dafür hätte es keiner Rechtsgrundlage im EG-Vertrag bedurft, da Artikel K.1 und K.3 des Vertrages über die Europäische Union in der zuvor geltenden Fassung des Vertrages von Maastricht bereits entsprechende und potentiell sogar weiter gehende(23) Kompetenzen enthielten. Die Einführung der Kompetenzen des Artikels 63 erster Unterabsatz Nummern 3 und 4 sollte daher das Instrumentarium des Gemeinschaftsrechts u. a. auch zur Regelung von Fragen der Einwanderungspolitik zur Verfügung stellen.

39.      Artikel 63 des Vertrages enthält somit gegenläufige Regelungen,(24) deren jeweilige Wirksamkeit nur dadurch sichergestellt werden kann, dass ihre Auslegung sich um einen angemessenen Ausgleich bemüht – praktische Konkordanz in der Sprache des deutschen Bundesverfassungsgerichts.(25) Wie auf Nachfrage des Gerichtshofes das Parlament, der Rat und die Kommission vortrugen, kann folglich der zweite Unterabsatz nicht so verstanden werden, dass er die rechtliche Bindungswirkung von Maßnahmen auf der Grundlage der Nummern 3 und 4 aufhebt. Der Verweis auf die Vereinbarkeit mit dem Vertrag ist stattdessen – wie im übrigen Gemeinschaftsrecht – so zu verstehen, dass innerstaatliche Bestimmungen mit dem Sekundärrecht – einschließlich der Maßnahmen auf Grundlage der Nummern 3 und 4 – vereinbar sein müssen.(26)

40.      Für diese Auslegung spricht auch, dass die Regelungskompetenzen nach Artikel 63 EG erster Unterabsatz Nummern 3 und 4 nur einstimmig ausgeübt werden können.(27) Die Mitgliedstaaten können ihre Interessen daher im Rechtsetzungsverfahren hinreichend sicherstellen. Würde ein Mitgliedstaat zunächst einem auf diese Rechtsgrundlagen gestützten Rechtsakt zustimmen, dann aber ihm widersprechende innerstaatliche Vorschriften beibehalten oder einführen, so verhielte er sich im Übrigen treuwidrig (venire contra factum proprium(28)).

41.      Der zweite Unterabsatz ist daher nicht als Einschränkung der rechtlichen Wirkung von Rechtsakten zu verstehen, sondern – wie insbesondere der Rat betonte – als Auftrag an den Gemeinschaftsgesetzgeber, den Mitgliedstaaten beim Erlass von Maßnahmen auf der Grundlage der Nummern 3 und 4 ausreichende Gestaltungsspielräume zu belassen. Diesen Auftrag verwirklichen die vielfältigen Optionen, welche die vorliegende Richtlinie den Mitgliedstaaten einräumt. Auch ist aufgrund dieses rechtspolitischen Auftrags Sekundärrecht auf der Grundlage der Nummern 3 und 4 im Zweifel nicht als abschließende Harmonisierung zu verstehen.

42.      Daraus folgt, dass die Richtlinie trotz Artikel 63 zweiter Unterabsatz des Vertrages ein grundsätzlich angreifbarer Rechtsakt ist.

2.      Zur Rechtsqualität der angegriffenen Bestimmungen

43.      Trotzdem bezweifelt der Rat, dass die Klage sich gegen einen anfechtbaren Akt richtet. Er hält dem Parlament nämlich entgegen, es wende sich mit seiner Klage nicht gegen Regelungen des Gemeinschaftsrechts, sondern – was nicht zulässig wäre – gegen Bestimmungen des nationalen Rechts. Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz und Absatz 6 sowie Artikel 8 der Richtlinie würden die Mitgliedstaaten nicht zum Erlass bestimmter Regelungen verpflichten. Vielmehr würde nur auf bereits bestehendes innerstaatliches Recht verwiesen und dessen Fortgeltung zugelassen. Innerstaatliches Recht könne der Gerichtshof nicht auf seine Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsgrundrechten überprüfen.

44.      Das Parlament und die Kommission betonen demgegenüber, dass die angegriffenen Normen Teil des Gemeinschaftsrechts seien, die der Kontrolle des Gerichtshofes – insbesondere im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechten – unterlägen. Gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen, die den Mitgliedstaaten grundrechtswidrige Maßnahmen gestatten würden, seien mit diesen Grundrechten unvereinbar.

45.      Ich teile die Auffassung von Parlament und Kommission in diesem Punkt. Der Einwand des Rates ist nicht überzeugend. Der Rat verkennt in seinem Vorbringen, dass schon die gemeinschaftsrechtliche Bestätigung bestimmter Optionen für die Fortgeltung oder Einführung innerstaatlicher Vorschriften eine – u. U. gemeinschaftsrechtswidrige – Regelung darstellt. Einerseits begrenzen die Optionen potenziell die Reichweite des durch die Richtlinie eingeräumten Anspruchs auf Familienzusammenführungen. Andererseits enthalten sie die konstitutive Feststellung, dass die angesprochenen Vorschriften mit Gemeinschaftsrecht vereinbar seien. Wenn eine derartige Feststellung nicht rechtzeitig mit der Nichtigkeitsklage angegriffen wird, kann die Gemeinschaft nicht mehr aus eigener Initiative gegen nationale Maßnahmen vorgehen, die lediglich die vorgesehenen Optionen ausschöpfen.(29) Folglich muss auch eine entsprechende Klage grundsätzlich statthaft sein.

3.      Zur Teilanfechtung der Richtlinie

46.      Ein von der deutschen Regierung vorgelegtes Gutachten der Professorin Langenfeld wirft weiterhin indirekt die Frage auf, ob die vorliegend beantragte Aufhebung einiger Bestimmungen der Richtlinie ein zulässiger Klagegegenstand ist. Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Teilanfechtung unzulässig, wenn die angefochtenen Teile eines Rechtsakts untrennbar mit anderen Vorschriften des Rechtsakts verbunden sind, eine vollständige Aufhebung aber über den Klageantrag hinausgehen würde (ultra petita).(30) Die isolierte Aufhebung solcher untrennbaren Bestandteile würde nämlich die Substanz der getroffenen Regelungen verändern.(31) Eine solche Änderung ist dem Gemeinschaftsgesetzgeber vorbehalten.(32)

47.      Wie auf Nachfrage des Gerichtshofes der Rat und die deutsche Regierung vortrugen, ist nach diesen Maßstäben auch die vorliegende Klage unzulässig. Die vom Parlament beanstandeten Bestimmungen lassen sich – entgegen seiner Auffassung und der in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Auffassung der Kommission – objektiv nicht vom Rest der Richtlinie trennen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die verbleibenden Bestimmungen der Richtlinie für sich allein genommen angewendet werden können. Vielmehr beinhalten die angegriffenen Bestimmungen eine potentielle Beschränkung der durch die Richtlinie begründeten Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Familienzusammenführung zu ermöglichen. Würden Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz und Absatz 6 sowie Artikel 8 der Richtlinie vom Gerichtshof für nichtig erklärt, würde das Recht auf Familienzusammenführung ohne besondere Einschränkung auch für die minderjährigen Kinder im Alter von über 12 bzw. ab 15 Jahren und unabhängig von einer Wartefrist gelten. Folglich würde im Fall einer Aufhebung der betreffenden Teilregelungen die Substanz der Richtlinie verändert und der Gerichtshof in die Befugnisse des Gemeinschaftsgesetzgebers eingreifen.

48.      Im vorliegenden Fall ist es auch ausgeschlossen, die übrigen, nicht abtrennbaren Bestimmungen, d. h. die Richtlinie insgesamt, aufzuheben. Dies ginge über den Klageantrag des Parlaments hinaus und wäre mit dem verfolgten Klageinteresse unvereinbar, da dann im Gemeinschaftsrecht gar kein Recht auf Familienzusammenführung bestünde.(33)

49.      Die Klage ist daher unzulässig.

50.      Die Begründetheit der Klage prüfe ich aus diesem Grund nur hilfsweise.

B –    Zur Begründetheit

51.      Das Parlament behauptet in seiner Klage, das Menschenrecht auf Schutz der Familie und das Prinzip der Gleichbehandlung würden verletzt. Vorab ist ein möglicher Fehler im Gesetzgebungsverfahren zu prüfen.

1.      Zum Gesetzgebungsverfahren im Hinblick auf Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie

52.      Das Gesetzgebungsverfahren ist im Hinblick auf Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie zu untersuchen. Das Parlament merkt an, dass ihm der Rat diese Änderung nicht zur Stellungnahme vorgelegt hat.

53.      Das Parlament stützt seine Klage nicht auf das Fehlen einer Anhörung. Daher stellt sich die Frage, ob der Gerichtshof den darin möglicherweise liegenden Verfahrensfehler von Amts wegen prüfen muss. Bei Nichtigkeitsklagen gemäß Artikel 33 des EGKS-Vertrags hat der Gerichtshof bereits Verfahrensmängel aus eigener Initiative aufgegriffen.(34) Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer versteht diese Rechtsprechung so, dass zumindest die Unzuständigkeit und die Verletzung wesentlicher Formvorschriften auch im Rahmen von Artikel 230 EG von Amts wegen beachtlich sind.(35) Was die Zuständigkeit des handelnden Organs betrifft, entspricht das auch der Rechtsprechung des Gerichtshofes.(36) Die Grundsätze der Prozessökonomie und der Rechtssicherheit sprechen hier dafür, dass Verfahrensfehler die gleiche Behandlung erfahren, jedenfalls wenn der Gerichtshof im Rahmen einer laufenden Nichtigkeitsklage von ihnen Kenntnis erlangt. Daher ist vorliegend zu prüfen, ob das Parlament in Bezug auf Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie hinreichend angehört wurde.

54.      Gemäß Artikel 63 in Verbindung mit Artikel 67 Absatz 1 des Vertrages entscheidet der Rat nach Anhörung des Parlaments. Eine erneute Anhörung des Europäischen Parlaments ist immer dann erforderlich, wenn der endgültig verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem das Parlament bereits angehört worden ist, es sei denn, die Änderungen entsprechen im Wesentlichen einem vom Parlament selbst geäußerten Wunsch.(37)

55.      Eine Anhörung des Parlaments in Bezug auf Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie kann nicht festgestellt werden. Der Rat konsultierte das Europäische Parlament letztmalig mit Schreiben vom 23. Mai 2002. Nach den vorliegenden Informationen taucht Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie erstmals in einem Ratsdokument vom 25. Februar 2003 auf, als die Präsidentschaft eine entsprechende Änderung aufgrund von Vorbehalten der österreichischen Delegation vorschlug.(38) Das Parlament äußerte sich zwar erst am 9. April 2003 letztmalig zu der Richtlinie.(39) Es ist allerdings kein Hinweis darauf ersichtlich, dass der Rat das Parlament von der Änderung des Richtlinienentwurfs unterrichtet und die Anhörung darauf erstreckt hätte. Da der Rat dem Parlament in diesem Punkt auch nicht widerspricht, ist folglich davon auszugehen, dass das Parlament keine Gelegenheit hatte, sich zu Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie zu äußern.

56.      Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten, das Recht auf Nachzug minderjähriger Kinder gegenüber dem System einzuschränken, wie es dem Parlament zur Anhörung vorgelegt wurde. Ohne Artikel 4 Absatz 6 bestünde nämlich grundsätzlich auch für Kinder, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben, ein Recht auf Familienzusammenführung. Daher hat die Einführung dieser Bestimmung das Wesen der Richtlinie verändert.

57.      Die in Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie liegende Einschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung konterkariert den ausdrücklichen Wunsch des Parlaments, die Familienzusammenführung großzügiger zu gestalten, als es der ihm vorgelegte Entwurf vorsah,(40) und insbesondere alle minderjährigen Kinder gleichermaßen nachziehen zu lassen.(41)

58.      Das Parlament hätte daher vor der Annahme der Richtlinie erneut gehört werden müssen. Folglich ist die Richtlinie, insbesondere ihr Artikel 4 Absatz 6, unter Verletzung des anzuwendenden Verfahrens zustande gekommen.

2.      Zum menschenrechtlichen Schutz der Familie

a)      Zum menschenrechtlichen Schutzstandard

59.      Der Gerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung, die durch die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte und Artikel 6 Absatz 2 EU bestätigt wurde, dass das Gemeinschaftsrecht die Grundrechte schützt, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Dies schließt den insbesondere in Artikel 8 EMRK niedergelegten Schutz der Familie ein.(42)

60.      Soweit hier von Belang, ist Artikel 7 der Charta der Grundrechte, die der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie ausdrücklich in Bezug nimmt, mit Artikel 8 EMRK identisch. Er soll auch nach Artikel 52 Absatz 3 Satz 1 der Charta (Artikel II-112 des Vertrags über eine Verfassung für Europa) die gleiche Bedeutung und Tragweite haben.

61.      Beim Schutz der Familie hat sich der Gerichtshof im Bereich des Aufenthaltsrechts darüber hinaus an der Auslegung von Artikel 8 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) orientiert. Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof festgehalten, dass zwar Artikel 8 EMRK kein Recht eines Ausländers, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, als solches gewährleistet. Es könne jedoch einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, wie es in Artikel 8 Absatz 1 EMRK geschützt ist, darstellen, wenn einer Person die Einreise in ein Land, in dem ihre nahen Verwandten leben, oder der Aufenthalt dort verweigert wird. Ein solcher Eingriff verstoße gegen die EMRK, wenn er nicht den Anforderungen ihres Artikels 8 Absatz 2 genüge, d. h., wenn er nicht „gesetzlich vorgesehen“, von einem oder mehreren im Hinblick auf diesen Absatz berechtigten Zielen getragen und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“, d. h., „durch ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt“ sei und insbesondere in einem angemessenen Verhältnis zu dem berechtigten Ziel stehe, das mit ihm verfolgt werde.(43)

62.      Der Gerichtshof hat diese Rechtsprechung anhand von Fällen entwickelt, in denen es um die Aufenthaltsrechte der Angehörigen von Unionsbürgern ging, die sich in Ausübung der Grundfreiheiten in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen hatten. In den behandelten Fällen führt das Zusammentreffen eines gemeinschaftsrechtlich begründeten Aufenthaltsrechts des Unionsbürgers mit dem Schutz der Familie, wie er insbesondere durch das Gemeinschaftsrecht konkretisiert wird, zu einem Aufenthaltsrecht, das nur in Ausnahmefällen und unter strengen Bedingungen eingeschränkt werden darf.(44) Weitere Sonderregelungen können sich aus Assoziationsabkommen ergeben.(45)

63.      In Bezug auf die Zusammenführung von Familien, deren Mitglieder ausschließlich Staatsangehörige dritter Staaten sind, besteht dagegen kein gleichartiger gemeinschaftsrechtlicher Aufenthaltstitel. Daher können die oben dargestellten Aussagen des Gerichtshofes nicht direkt übertragen werden, sondern es bedarf des Rückgriffs auf die Rechtsprechung des EGMR. Maßgeblich ist dabei die menschenrechtliche Dimension des Schutzes der Familie, die sich gerade in Bezug auf die Einwanderung und den Aufenthalt von den Grundrechten der Bürger unterscheidet, d. h., typischerweise hinter diesen Bürgerrechten zurückbleibt.

64.      Der EGMR hat den gegenseitigen Genuss der Gesellschaft der anderen Familienmitglieder als grundlegendes Element des Familienlebens im Sinne von Artikel 8 EMRK anerkannt. Staatliche Maßnahmen, die ein Zusammenleben verhindern, z. B. der Entzug des Sorgerechts(46), ein Kontaktverbot(47) oder die Ausweisung von Familienmitgliedern(48), greifen in dieses Menschenrecht ein. Ein solcher Eingriff bedarf der Rechtfertigung nach Artikel 8 Absatz 2 der EMRK.

65.      Die Verweigerung der Familienzusammenführung ist allerdings nach Auffassung des EGMR grundsätzlich kein Eingriff in Artikel 8 EMRK, der einer Rechtfertigung bedürfte. Er sieht Artikel 8 EMRK bei der Familienzusammenführung nämlich nicht als Abwehrrecht betroffen, sondern als mögliche Grundlage für einen Anspruch.

66.      Insbesondere lehnt es der EGMR ausdrücklich ab, aus Artikel 8 EMRK eine allgemeine Verpflichtung zur Familienzusammenführung abzuleiten, nur um dem Wunsch von Familien zu entsprechen, in einem bestimmten Land zu leben. Die Familienzusammenführung betreffe sowohl das Familienleben als auch die Einwanderung. Die Reichweite der staatlichen Verpflichtung, Verwandte ansässiger Einwanderer nachziehen zu lassen, hänge von den besonderen Umständen der beteiligten Personen und dem Allgemeininteresse ab. Nach gesichertem Völkerrecht und unter Vorbehalt seiner vertraglichen Verpflichtungen habe ein Staat das Recht, den Zuzug von Ausländern auf sein Staatsgebiet zu kontrollieren. Er verfüge dabei über einen weiten Entscheidungsspielraum.(49)

67.      Auf dieser Grundlage hat der EGMR in drei der vier in der Sache entschiedenen Fälle einen Anspruch auf Familienzusammenführung im Aufnahmestaat abgelehnt, u. a. weil ein gemeinsames Familienleben auch im Herkunftsland möglich sei.(50) Nachfolgende Entscheidungen, in denen Beschwerden als unzulässig zurückgewiesen wurden, bestätigen diese Rechtsprechung.(51)

68.      Allerdings zeigt das Urteil Sen, dass die gebotene Abwägung im Einzelfall auch einen Anspruch auf Nachzug von Kindern begründen kann. Dort sah der EGMR Hindernisse für eine Rückkehr in den Herkunftsstaat. Dabei hat er sich auf den Umstand gestützt, dass die Eheleute Sen außer dem nachziehenden Kind auch noch Kinder hatten, die im Aufnahmestaat geboren, aufgewachsen und integriert waren.(52) Weitere Entscheidungen über die Zulässigkeit von Beschwerden lassen die Möglichkeit offen, dass auch andere Umstände zu einem Anspruch auf Nachzug von Angehörigen führen.(53) Insofern wäre z. B. an politische Verfolgung(54) oder besondere, nicht im Herkunftsstaat zu erfüllende medizinische Bedürfnisse einzelner Familienmitglieder zu denken.

69.      Das Urteil Sen zeigt insbesondere, dass vor allem die Interessen der betroffenen Kinder geeignet sind, einen Anspruch auf Familienzusammenführung im Aufnahmestaat zu begründen. Diese Tendenz findet sich auch in der Entscheidung Winata des Ausschusses für Menschenrechte zur Anwendung der Artikel 17, 23 und 24 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte.(55) Ähnliches lässt sich aus den Artikeln 3, 9 und 10 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes ableiten.

70.      Die Frage einer Rechtfertigung der Verweigerung des Familiennachzugs hat der EGMR im Urteil Sen nicht mehr separat aufgeworfen. Vielmehr scheint er davon auszugehen, dass die im Rahmen einer Rechtfertigung anzustellenden Abwägungen bei einem positiven Anspruch auf Familiennachzug bereits Teil der Anspruchsbegründung sind.(56)

71.      Ebenso ist im Gemeinschaftsrecht zu verfahren. Zwar hat der Gerichtshof in den Urteilen Akrich und Carpenter ausdrücklich das Bedürfnis einer Rechtfertigung der Verweigerung der Familienzusammenführung angesprochen, doch ist das die notwendige Konsequenz weiter gehender gemeinschaftsrechtlicher Rechte von Unionsbürgern.(57) Wenn dagegen die Anspruchsvoraussetzungen so eng gefasst sind, wie in der Rechtsprechung des EGMR, bleibt für die Rechtfertigung eines Eingriffs in Form der Ablehnung regelmäßig kein Raum mehr. Die relevanten Erwägungen sind dann nämlich bereits Teil der Prüfung eines Anspruchs.(58) Entgegen der Meinung des Parlaments bedarf daher eine Verweigerung des Nachzugs minderjähriger Familienmitglieder nicht der Rechtfertigung nach Maßgabe von Artikel 8 Absatz 2 der EMRK.

72.      Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass der Schutz der Familie gemäß Artikel 8 EMRK nach Abwägung aller einschlägigen Interessen des Einzelnen und der Allgemeinheit ausnahmsweise zu einem Anspruch auf Familienzusammenführung im Aufnahmestaat führen kann.

73.      Weiter gehende Ansprüche auf Familienzusammenführung im Aufnahmestaat können auch nicht unter Berücksichtigung von Artikel 19 Absatz 6 der Europäischen Sozialcharta und weiterer völkerrechtlicher Regelungen in den menschenrechtlichen Schutz der Familie hineingelesen werden.(59)

74.      Dabei spricht viel dafür, dass Artikel 19 Absatz 6 der Sozialcharta für die Familienzusammenführung von Wanderarbeitnehmern im Aufnahmestaat großzügigere Maßstäbe setzt als die EMRK. Zumindest dürfte es im Rahmen der Abwägung nicht ausreichen, die Möglichkeit eines Familienlebens im Herkunftsstaat darzulegen. Vielmehr wäre nachzuweisen, dass der Zusammenführung im Aufnahmestaat objektive Hindernisse entgegenstehen. Für den vorliegenden Fall von Interesse erscheint auch, dass Artikel 19 Absatz 6 der Sozialcharta in Verbindung mit der im Anhang befindlichen Definition der zu begünstigenden Familienangehörigen(60) Altersgrenzen beim Nachzug minderjähriger Kinder entgegensteht. Darüber hinaus hat der Europäische Ausschuss für soziale Rechte, der die Durchführung der Sozialcharta überwacht, in seiner Spruchpraxis Wartezeiten bislang nur bis zur Dauer eines Jahres anerkannt, bei einer Dauer von drei Jahren oder mehr dagegen abgelehnt.(61) Schließlich hat der EGMR in jüngerer Rechtsprechung Bestimmungen der Sozialcharta und die Spruchpraxis des genannten Ausschusses für die Auslegung und Anwendung der EMRK und insbesondere des Artikels 8 herangezogen.(62)

75.      Der EGMR hat allerdings auf Artikel 19 Absatz 6 der Sozialcharta noch nie Bezug genommen, insbesondere nicht im Zusammenhang mit seiner Rechtsprechung zur Familienzusammenführung. Das ist konsequent, wenn man die Bestimmung gemeinsam mit Teil I, Nr. 19 der Sozialcharta liest, wonach die Regelung zur Familienzusammenführung nur Rechte für Staatsangehörige der jeweiligen Vertragsparteien begründet.(63) Die Spruchpraxis des Ausschusses auf der Grundlage dieser Bestimmung kann folglich nicht im Wege der Verallgemeinerung zur Begründung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes und Menschenrechts auf Familienzusammenführung für, wie hier, Drittstaatsangehörige dienen. Deswegen kann Artikel 19 Absatz 6 der Sozialcharta genauso wenig wie die noch weiter reichenden Gewährleistungen des Gemeinschaftsrechts für Unionsbürger einen menschenrechtlichen Anspruch auf Familienzusammenführung begründen, der weiter ginge als die Rechtsprechung des EGMR.

76.      Die gleichen Gründe sprechen dagegen, die Aussagen des Europäischen Übereinkommens über Wanderarbeitnehmer zu berücksichtigen. Auch dieses Abkommen begünstigt nur die Staatsangehörigen der Vertragsparteien. Im Unterschied zu Artikel 19 Absatz 6 der Sozialcharta, der bei der Entscheidung über die Richtlinie von allen damaligen Mitgliedstaaten akzeptiert worden war, ist das Europäische Übereinkommen bislang auch nur von einem Teil der Mitgliedstaaten ratifiziert worden.

77.      Die Internationale Konvention über die Rechte von Wanderarbeitnehmern scheint dagegen einen universellen Anspruch zu haben, wurde bislang aber von keinem einzigen Mitgliedstaat ratifiziert. Das Übereinkommen Nr. 143 der IAO über Missbräuche bei Wanderungen und die Förderung der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung der Wanderarbeitnehmer schließlich enthält in Bezug auf die Familienzusammenführung keine zwingende Regelung, sondern nur einen Hinweis auf die Möglichkeit der Vertragsstaaten, die Familienzusammenführung zu erleichtern.

78.      Selbst unter Berücksichtigung der Europäischen Sozialcharta und weiterer völkerrechtlicher Abkommen lässt sich daher kein Recht der Angehörigen von Drittstaaten ableiten, ihre Familie im Aufnahmestaat zusammenzuführen. Allerdings räumen auch der Rat und die Kommission ein, dass ein solches Recht ausnahmsweise aufgrund einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls anerkannt werden kann. Die Kommission schließt daraus zu Recht, dass das Gemeinschaftsrecht keine schematischen Beschränkungen des Nachzugs von Kindern zulassen darf, sondern hinreichend Raum für derartige Ausnahmefälle lassen muss.(64)

b)      Prüfung der angegriffenen Bestimmungen

79.      Folglich sind die angegriffenen Bestimmungen daraufhin zu untersuchen, ob sie hinreichend Raum für eine menschenrechtskonforme Anwendung lassen, wenn der Schutz des Familienlebens ausnahmsweise einen Anspruch auf Familienzusammenführung im Aufnahmestaat eröffnet.

80.      Entgegen der teilweise vom Parlament vertretenen Position muss diese Ausnahme allerdings nicht ausdrücklich in den jeweiligen Bestimmungen niedergelegt sein. Wie das Parlament nämlich an anderer Stelle anerkennt und auch die anderen Beteiligten vortragen, sind Gemeinschaftsvorschriften mit Grundrechten vereinbar, wenn eine Auslegung möglich ist, die den gebotenen grundrechtskonformen Zustand herstellt.(65)

81.      Die konforme Auslegung bindet selbstverständlich auch die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien. Sie müssen darauf achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinie stützen, die mit den durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts kollidiert.(66) Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat dies bei der vorliegenden Richtlinie ausdrücklich im zweiten Erwägungsgrund zum Ausdruck gebracht, als er feststellte, einen Rechtsakt zu erlassen, der mit dem menschenrechtlichen Schutz der Familie übereinstimmt.

82.      Es kommt also – entgegen der vom Parlament wohl in einigen Passagen vertretenen Auffassung – vorliegend nicht darauf an, welche Regelungen die Mitgliedstaaten möglicherweise erlassen wollen, um die Spielräume der angegriffenen Bestimmungen auszuschöpfen, sondern darauf, welche mitgliedstaatlichen Regelungen bei grundrechtskonformer Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen zulässig sind.

Zu Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie

83.      Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie sieht vor, dass ein Mitgliedstaat bei einem Kind über 12 Jahren, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, prüfen kann, ob es ein Integrationskriterium erfüllt, bevor er ihm die Einreise und den Aufenthalt gemäß der Richtlinie gestattet. Diese Regelung ist mit dem Schutz der Familien vereinbar, wenn das Integrationskriterium die Familienzusammenführung zulässt, soweit sie nach der vom EGMR geforderten umfassenden Würdigung des Einzelfalls geboten ist.

84.      Das Parlament hält das für ausgeschlossen, da der Begriff des Integrationskriteriums keinen Raum für die Berücksichtigung der Familieninteressen lasse.(67) Seine Auffassung geht jedoch fehl. Ein Integrationskriterium beschreibt, inwieweit ein Einwanderer in den Aufnahmestaat integriert ist bzw. integriert werden kann. Dabei geht es um die Interessen des Aufnahmestaats an der Integration von Einwanderern in die eigene Gesellschaft, aber auch um das Interesse des Einwanderers, nicht in Isolation zu leben. Die Familie kann aus beiderlei Perspektive eine Rolle spielen, insbesondere wenn bereits viele gut integrierte Angehörige im Aufnahmestaat leben.

85.      Das Integrationskriterium erlaubt insbesondere eine Berücksichtigung des im Ausnahmefall bestehenden Anspruchs auf Familienzusammenführung. Die Mitgliedstaaten müssen nämlich den Begriff des Integrationskriteriums konkretisieren, um ihn anwenden zu können. Eine Konkretisierung kann nicht willkürlich geschehen, sondern muss sich am Begriffsinhalt und den Zielen des Integrationskriteriums, aber auch an den menschenrechtlichen Anforderungen im Bereich der Familienzusammenführung orientieren.

86.      Eine hinreichend weite Ausgestaltung des Integrationskriteriums entspricht im Übrigen auch dem systematischen Zusammenhang der Richtlinie, die darauf angelegt ist, bei den notwendigen Entscheidungen den Interessen der Familie und insbesondere von Kindern umfassend Rechnung zu tragen. Nach Artikel 17 der Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten im Fall der Ablehnung eines Antrags, des Entzugs oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland. Darüber hinaus tragen die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie bei der Prüfung des Antrags auf Familienzusammenführung dafür Sorge, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird. Daher sind die Rechtsbegriffe der Richtlinie im Zweifel so auszulegen, dass die Gestaltung ihrer Umsetzung eine einen den vorgenannten Bestimmungen entsprechenden Ermessensspielraum eröffnet.

87.      Die Zielsetzung von Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie steht einer solchen Auslegung nicht entgegen. Zwar soll das Integrationskriterium nach dem zwölften Erwägungsgrund der Integrationsfähigkeit von Kindern in den ersten Lebensjahren Rechnung tragen und den Erwerb von Allgemeinbildung und Sprachkenntnissen in der Schule fördern. Dies schließt es jedoch nicht aus, die Erfüllung des Integrationskriteriums in besonderen Fällen auch auf andere Gesichtspunkte zu stützen.

88.      Folglich erlaubt der Begriff des Integrationskriteriums, auch Sonderfälle zu berücksichtigen, in denen ausnahmsweise ein menschenrechtlicher Anspruch auf Nachzug von Kindern über 12 Jahren zum Zweck der Familienzusammenführung besteht. Innerstaatliche Umsetzungsmaßnahmen sind nur dann mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar, wenn sie gleichfalls diese Möglichkeit eröffnen.

89.      So ausgelegt respektiert Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie den menschenrechtlichen Schutz der Familie. Mit dem vorliegenden Klagegrund kann das Parlament daher keinen Erfolg haben.

Zu Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie

90.      Die Mitgliedstaaten können nach Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie im Rahmen einer Ausnahmeregelung vorsehen, dass die Anträge betreffend die Familienzusammenführung minderjähriger Kinder gemäß den im Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie vorhandenen nationalen Rechtsvorschriften(68) vor Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt werden. Wird ein Antrag nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt, so genehmigen die Mitgliedstaaten, die diese Ausnahmeregelung anwenden, die Einreise und den Aufenthalt dieser Kinder aus anderen Gründen als der Familienzusammenführung.

91.      Im Widerspruch zum Parlament meint der Rat, dass auch diese Regelung einer grundrechtskonformen Auslegung zugänglich ist. Ähnlich wie Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie bezwecke auch Artikel 4 Absatz 6 einen möglichst frühzeitigen Kindesnachzug, um die Integration der Kinder in den Aufnahmestaat zu fördern. Die Altersgrenze orientiere sich am Schulbesuch, der der Integration förderlich ist.

92.      Darüber hinaus könnten nach Auffassung des Rates auch Kinder nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahrs mit ihren Familien zusammenleben, da die Mitgliedstaaten, die diese Ausnahmeregelung anwenden, nach Artikel 4 Absatz 6 Satz 2 der Richtlinie die Einreise und den Aufenthalt dieser Kinder aus anderen Gründen als der Familienzusammenführung genehmigen. Der Rat meint, nach dem Wortlaut der Bestimmung sei jeder Spielraum („marge de manoeuvre“) bei der Entscheidung der nationalen Stellen über den Aufenthalt aus anderen Gründen ausgeschlossen. Da alle anderen Gründe zu berücksichtigen seien, wäre damit zu rechnen, dass die meisten derartigen Anträge bewilligt würden.

93.      Das Parlament räumt selbst ein, dass die „anderen Gründe“ auch humanitäre Erwägungen einschließen würden. Darunter wären – wie die Kommission zu Recht betont – nicht nur die typischen Fälle der Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, sondern auch menschenrechtlich begründete Ansprüche auf Familienzusammenführung zu fassen. Wahrscheinlich existieren entsprechende Aufenthaltstitel in den meisten, wenn nicht sogar in allen Mitgliedstaaten. Sie sind jedoch nicht gemeinschaftsrechtlich garantiert. Es ist daher vorstellbar, dass einzelne Mitgliedstaaten in ihrem Einwanderungsrecht eine solche Möglichkeit nicht kennen und somit kein „anderer Grund“ zur Verfügung steht, um einen menschenrechtlich gebotenen Nachzug von älteren Kindern zu ermöglichen. Vielleicht auch aus diesem Grund vermeidet der Rat, im Unterschied zur Kommission, die Behauptung eines solchen nationalen Anspruchs.

94.      Gleichwohl ist auch insofern eine menschenrechtskonforme Auslegung von Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie möglich: Satz 2 kann nämlich so verstanden werden, dass er bei einer menschenrechtlich gebotenen Familienzusammenführung die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine entsprechende Nachzugsmöglichkeit zu eröffnen.

95.      Ähnlich wie die oben vorgeschlagene Auslegung des Artikels 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie würde auch die Auslegung von Artikel 4 Absatz 6 dazu beitragen, Raum für die Anwendung von Artikel 5 Absatz 5 und Artikel 17 zu lassen.(69)

96.      Daher kann auch Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie menschenrechtskonform ausgelegt werden. Das Parlament dringt also auch mit diesem Klagegrund nicht durch.

Zu Artikel 8 der Richtlinie

97.      Artikel 8 erster Unterabsatz der Richtlinie belässt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, für die Nachreise von Familienangehörigen einen rechtmäßigen Aufenthalt von zwei Jahren vorauszusetzen. Der zweite Unterabsatz erlaubt sogar eine Wartefrist von drei Jahren nach Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung, wenn das Recht des betreffenden Mitgliedstaats bei Annahme der Richtlinie im Bereich der Familienzusammenführung seine Aufnahmefähigkeit berücksichtigte.

98.      Der Rat beruft sich darauf, dass Wartezeiten ein allgemein übliches Instrument der Einwanderungspolitik sind. Dem ist zuzugeben, dass Wartezeiten in fast allen Fällen der Familienzusammenführung zulässig sein mögen. Der menschenrechtliche Anspruch auf Familienzusammenführung im Aufnahmestaat ist jedoch gerade dadurch gekennzeichnet, dass er im Ausnahmefall aufgrund besonderer Umstände entsteht. Derartige Umstände können auch dazu führen, dass weiteres Zuwarten nicht mehr zumutbar ist.(70) Folglich ist zu prüfen, ob Artikel 8 der Richtlinie einem solchen Fall hinreichend Rechnung trägt.

99.      Das Parlament hält dies für ausgeschlossen, während insbesondere die Kommission in großer Detaildichte Vorschläge für eine konforme Auslegung unterbreitet. Insofern ist zunächst festzustellen, dass die Regelungen über die Wartezeiten – im Unterschied zu den bereits geprüften Regelungen über Altersgrenzen – keine Anhaltspunkte für eine Berücksichtigung menschenrechtlicher Anforderungen im Zusammenhang mit der Familienzusammenführung enthalten.

100. Allerdings käme anknüpfend an die unbestimmten Rechtsbegriffe des „dürfen“ (erster Unterabsatz) und des „kann“ (zweiter Unterabsatz) eine menschenrechtskonforme Auslegung der durch die Richtlinie belassenen Optionen in Betracht.

101. Dies wirft die Frage auf, ob es ausreicht, wenn das Gemeinschaftsrecht den nationalen Gesetzgebern Spielräume dafür lässt, aus eigener Initiative eine menschenrechtlich gebotene Einzelfallprüfung zu ermöglichen oder ob der Wortlaut der entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung zumindest einen Anknüpfungspunkt für eine solche Prüfung enthalten muss. Entscheidend dafür sind Erwägungen betreffend die jeweilige Verantwortung des Gemeinschaftsgesetzgebers und der nationalen Parlamente für die Einhaltung der Menschenrechte und die Rechtsklarheit.

102. Ausgelegt im Lichte von Artikel 63 zweiter Unterabsatz EG, einem Bestandteil der Ermächtigungsgrundlage, der auf die internationalen Verpflichtungen verweist, des zweiten Erwägungsgrundes der Richtlinie, wonach sie im Einklang mit den Grundrechten steht und die Grundsätze berücksichtigt, die insbesondere in Artikel 8 der EMRK und der Charta der Grundrechte anerkannt wurden, sowie im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts würde „dürfen“ und „kann“ bedeuten, dass die Mitgliedstaaten Wartezeiten nur unter Beachtung der gemäß Artikel 8 EMRK zu berücksichtigenden Härtefallausnahmen verlangen dürfen.

103. Eine solche Auslegung von „dürfen“ und „kann“ ist zwar möglich, liegt aber nicht nahe. In erster Linie definiert Artikel 8 der Richtlinie nämlich den Spielraum der mitgliedstaatlichen Gesetzgeber im Verhältnis zum Gemeinschaftsgesetzgeber, indem er Ausnahmen zum sekundärrechtlich eingeführten Recht auf Familienzusammenführung normiert. „Dürfen“ und „kann“ besagt also, dass die Mitgliedstaaten gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber berechtigt sind, Wartezeiten von bis zu zwei bzw. weiteren drei Jahren vorzusehen. Setzt ein Mitgliedstaat dies sozusagen eindimensional um – ohne seine Verpflichtungen aus den Menschenrechten zu beachten – so ergehen mitgliedstaatliche Regelungen über Wartezeiten ebenfalls ohne die durch die Rechtsprechung des EGMR gebotene Möglichkeit, Härtefälle zu berücksichtigen. Die nationale Verwaltung müsste solche Gesetze anwenden. Auch für die Anwendung von Artikel 5 Absatz 5 und Artikel 17 der Richtlinie bliebe dabei kein Raum. Die Verletzung von Grund- und Menschenrechten in den einschlägigen Härtefällen könnte nur durch gerichtlichen Rechtsschutz – unter Umständen nach Vorlage an den Gerichtshof – vermieden werden. Der Versuch einer menschenrechtskonformen Auslegung des Artikels 8 der Richtlinie verlagert folglich allenfalls die Probleme.

104. Die Bezugnahme auf die Menschenrechte im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie leistet einer solchen fehlgehenden, eindimensionalen Umsetzung sogar Vorschub. Statt die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen gegenüber den Grund- und Menschenrechten zu erinnern, stellt dieser Erwägungsgrund nämlich fest, die Richtlinie – so wie sie formuliert ist – sei mit den Grund- und Menschenrechten vereinbar. Verlassen sich die Mitgliedstaaten auf die Wertung des Gemeinschaftsgesetzgebers, so besteht für sie kein Anlass, grund- und menschenrechtliche Erwägungen anzustellen, die im Wortlaut der Richtlinie nicht angelegt sind.

105. Artikel 8 der Richtlinie ist folglich, so wie er formuliert ist, mindestens missverständlich. Seine Missverständlichkeit wegen der fehlenden Berücksichtigung von Härtefällen erhöht das Risiko von Menschenrechtsverletzungen. Diese hätte nicht nur der umsetzende mitgliedstaatliche Gesetzgeber, sondern auch der Gemeinschaftsgesetzgeber zu verantworten. Die Gebote eines effektiven Menschenrechtsschutzes und der Rechtsklarheit führen somit zur Gemeinschaftsrechtswidrigkeit von Artikel 8 der Richtlinie.

3.      Zur Gleichbehandlung

106. Das Parlament trägt vor, die Unterscheidungen zwischen jüngeren und älteren Kindern, zwischen Kindern und Ehegatten sowie die nach der Richtlinie zulässigen Unterschiede bei der Umsetzung in verschiedenen Mitgliedstaaten würden gegen das Prinzip der Gleichbehandlung verstoßen.

107. Unabhängig von Artikel 14 EMRK, auf den sich das Parlament beruft, hat der Gerichtshof einen allgemeinen Gleichheitssatz des Gemeinschaftsrechts entwickelt, in der Rechtsprechung auch als allgemeiner Gleichheitsgrundsatz, Grundsatz der Gleichbehandlung oder Diskriminierungsverbot bezeichnet. Er besagt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt wäre.(71) Dabei muss die Unterscheidung im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig sein.(72)

108. Artikel 21 der Charta der Grundrechte untersagt ausdrücklich besondere Formen der Diskriminierung, darunter insbesondere die Altersdiskriminierung. Wenngleich die Charta der Grundrechte noch keine dem Primärrecht vergleichbaren bindenden Rechtswirkungen entfaltet,(73) gibt sie doch zumindest als Rechtserkenntnisquelle Aufschluss über die durch die Gemeinschaftsrechtsordnung garantierten Grundrechte.(74) Für die vorliegende Richtlinie kommt hinzu, dass sie nach ihrem zweiten Erwägungsgrund mit den Grundrechten vereinbar sein soll, wie sie u. a. in der Charta anerkannt wurden. Auch werden die Mitgliedstaaten im fünften Erwägungsgrund ausdrücklich dazu angehalten, die Richtlinie ohne Diskriminierung wegen des Alters durchzuführen. Daher ist dem Verbot der Altersdiskriminierung bei der Anwendung des Gleichheitssatzes auf die Richtlinie besonderes Gewicht zuzumessen.

109. Allerdings ist nicht jede Unterscheidung anhand des Alters zugleich eine verbotene Altersdiskriminierung. Die Betonung des gebotenen Schutzes von Kindern zeigt, dass das Alter ein objektives Merkmal unterschiedlicher Sachverhalte sein kann, die nicht gleich behandelt werden dürfen. Auch Altersgrenzen können daher zulässig sein.(75)

a)      Zu den Kindern über 12 Jahren

110. In Bezug auf Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie ist zunächst darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung nicht allgemein zwischen jüngeren und älteren Kindern unterscheidet, sondern die Möglichkeit eröffnet, Kinder über 12 Jahren einer zusätzlichen Anforderung zu unterwerfen, nämlich dem Integrationskriterium, wenn sieunabhängig vom Rest der Familie ankommen. Es handelt sich daher nicht um eine reine Altersgrenze, sondern um eine anders geartete Unterscheidung, in der das Alter eines von mehreren Unterscheidungskriterien bildet, die kumulativ zur Anwendung kommen.

111. Wenn Familien einzelne Kinder über 12 Jahren nachziehen lassen möchten, so beruht das regelmäßig auf ihrer freien Entscheidung. Sie sind nicht gezwungen, ihr Kind der Anwendung des Integrationskriteriums auszusetzen. Das Kind kann nämlich in jüngerem Alter nachkommen oder gemeinsam mit einem Elternteil bzw. einem anderen Kind.

112. Die Ungleichbehandlung zwischen allein ankommenden Kindern über 12 Jahren und anderen Kindern kann durch objektive Gründe gerechtfertigt werden. Gemäß dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie bezweckt Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz, Kinder möglichst jung in den Aufnahmestaat nachziehen zu lassen, um ihre Integrationschancen zu verbessern. Dahinter steht das legitime Ziel der Mitgliedstaaten, Einwanderer möglichst gut zu integrieren. Die Einschätzung, dass jüngere Kinder leichter zu integrieren sind, ist vom Beurteilungsspielraum des Gemeinschaftsgesetzgebers gedeckt.

113. Die Unterscheidung ist auch verhältnismäßig. Das gewählte Mittel ist geeignet, den Integrationszweck zu fördern, da es Familien bei der Zusammenführung benachteiligt, die ihre Kinder im Herkunftsland aufwachsen lassen und erst spät nachholen. Ein milderes Mittel ist nicht offensichtlich. Auch steht die Regelung nicht außer Verhältnis zu ihren Zielen, insbesondere wenn man die Möglichkeiten der Familien berücksichtigt, Kinder ohne Anwendung des Integrationskriteriums nachkommen zu lassen.

114. Sollten ausnahmsweise besondere Umstände vorliegen, die dem Nachzug des Kindes zu einem früheren Zeitpunkt oder gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern entgegenstanden, so wären sie bei der Auslegung, Ausgestaltung und Anwendung des Integrationskriteriums zu berücksichtigen. Andernfalls würde man nicht vergleichbare Sachverhalte ohne objektive Gründe den gleichen Anforderungen unterwerfen.

115. In dieser Auslegung ist Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie folglich mit dem Gleichheitssatz vereinbar.

b)      Zu den Kindern ab 15 Jahren

116. Die Altersgrenze nach Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie ist anderer Art als die Grenze des Artikels 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz. Sie erfasst nämlich jeden Nachzug von Kindern, die das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben, bevor für sie ein Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wurde. Betroffen sind daher auch Familien, die sich nicht bewusst entscheiden konnten, das Kind vor Erreichen der Altersgrenze nachziehen zu lassen, z. B. Familien, die erst zu diesem Zeitpunkt überhaupt zusammengeführt werden können.

117. Wenig überzeugend ist die Auffassung der Kommission, dass auch hier die Familien durch rechtzeitige Anträge auf Zusammenführung den drohenden Nachteil vermeiden können. Die Richtlinie unterwirft nämlich den Antrag auf den Nachzug von Angehörigen vielfältigen Anforderungen. So muss der Zusammenführende nach Artikel 3 Absatz 1 im Besitz eines Aufenthaltstitels von mindestens einjähriger Gültigkeit sein und begründete Aussicht darauf haben, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen. Auch muss er nach Artikel 7 über hinreichenden Wohnraum, eine Krankenversicherung für die Familienangehörigen und feste, ausreichende Einkünfte verfügen. Wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, kann ein Antrag abgewiesen werden. Daher steht der Nachzug der betroffenen Kinder regelmäßig nicht zur Disposition der jeweiligen Familien. Es handelt sich also letztlich um eine Altersgrenze ohne Relativierung durch zusätzliche Kriterien.

118. Allerdings kann auch in derartigen Fällen das Integrationsinteresse der Aufnahmestaaten die aus der Altersgrenze resultierende Ungleichbehandlung rechtfertigen. Der Gesetzgeber darf nämlich von der Annahme ausgehen, dass die Integration dieser Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich schwieriger ist als die von jüngeren Kindern.

119. Hinzu kommt, dass die betroffenen Jugendlichen nach einer Zusammenführung nur noch kurze Zeit als Minderjährige bei ihren Eltern leben würden, dadurch aber möglicherweise ein Aufenthaltsrecht erwerben könnten, ohne die Anforderungen an Erwachsene erfüllen zu müssen. Selbst bei sofortiger Einreise nach Antragstellung wären sie bei einer Volljährigkeitsgrenze von 18 Jahren nur noch drei Jahre minderjährig. Die Richtlinie lässt jedoch eine Bearbeitungsdauer von neun Monaten zu, die in Ausnahmefällen sogar noch weiter ausgedehnt werden kann. Nachziehende Jugendliche können daher bei der Einreise fast volljährig sein. Es wäre folglich nicht auszuschließen, dass Kinder mit einem minimalen Aufenthalt als Familienangehörige einen eigenen Aufenthaltstitel erwerben würden – sei es, weil der Mitgliedstaat den Aufenthalt bei Erreichen der Volljährigkeit nicht gemäß Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie beendet, sei es, dass die Rechtsprechung des EGMR zur Trennung von Familien, die im Aufnahmestaat zusammenleben, der Beendigung des Aufenthalts entgegensteht.(76)

120. Vor diesem Hintergrund ist die Altersgrenze als geeignetes und erforderliches Unterscheidungsmerkmal anzusehen. Wenn man berücksichtigt, dass Kinder nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahrs regelmäßig weniger stark auf ihre Eltern angewiesen sind als jüngere Kinder, besteht auch kein Zweifel daran, dass es im Hinblick auf seine Ziele angemessen ist.

121. Soweit allerdings besondere Umstände des Einzelfalls trotzdem den Nachzug im Rahmen der Familienzusammenführung gebieten, so greift der menschenrechtlich begründete Anspruch auf Nachzug ein.(77)

122. Daher ist die Unterscheidung des Artikels 4 Absatz 6 der Richtlinie in menschenrechtskonformer Auslegung durch objektive Gründe gerechtfertigt.

c)      Zur Unterscheidung zwischen dem Ehegatten und den Kindern

123. Das Parlament wendet sich auch dagegen, dass zwar Kinder über 12 Jahren ein Integrationskriterium erfüllen müssen, nicht aber der Ehegatte. Minderjährige Kinder seien in der Regel schutzbedürftiger als erwachsene Ehegatten. Der Rat betont demgegenüber, dass die Regelung darauf abziele, die besseren Integrationschancen junger Kinder auszunutzen.

124. Der Gemeinschaftsgesetzgeber durfte jedoch davon ausgehen, dass die Situation von Ehegatten und Kindern nicht vergleichbar ist. Beispielsweise ist die Ehe auf lebenslange Hausgemeinschaft angelegt. Die Unterscheidung zwischen Ehegatten und Kindern verletzt daher nicht den Gleichheitssatz.

d)      Zu den Einwendungen gegen die Ausgestaltung der Optionen

125. Schließlich sieht das Parlament in den Optionen, die den Mitgliedstaaten eröffnet werden, Verletzungen des Gleichheitssatzes. Wegen der Optionsregelungen und der jeweils unterschiedlichen Stichtage für ihre Ausschöpfung könnten vergleichbare Fälle in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich behandelt werden.

126. Das Parlament verkennt jedoch, dass die Gemeinschaft nicht verpflichtet ist, das Recht der Familienzusammenführung vollständig zu harmonisieren. Vielmehr kann sie den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume belassen, die sie selber ausfüllen können. Artikel 63 zweiter Unterabsatz des Vertrages enthält diesbezüglich sogar einen rechtspolitischen Auftrag.(78) Die Eröffnung von Gestaltungsspielräumen hat aber als notwendige Konsequenz, dass sich die Regeln in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterscheiden. Dies kann keine Verletzung des Gleichheitssatzes darstellen.(79)

C –    Zusammenfassung

127. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Klage unzulässig ist, weil eine isolierte Anfechtung der vom Parlament beanstandeten Regelungen nicht möglich ist. Sollte der Gerichtshof jedoch den Fall in der Sache prüfen, so wäre Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie wegen der unterbliebenen Anhörung des Parlaments und Artikel 8 der Richtlinie wegen Verletzung des Menschenrechts auf Schutz des Familienlebens für nichtig zu erklären.

V –    Zu den Kosten

128. Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klage als unzulässig abzuweisen ist, sind dem Parlament die Kosten des Rates und seine eigenen Kosten aufzuerlegen.

129. Die Kommission und die Bundesrepublik Deutschland tragen nach Artikel 69 § 4 der Verfahrensordnung die Kosten, die ihnen durch die Streithilfe entstanden sind, selbst.

VI – Ergebnis

130. Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Das Europäische Parlament trägt die Kosten des Rates der Europäischen Union und seine eigenen Kosten.

3.      Die Bundesrepublik Deutschland und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften tragen ihre eigenen Kosten.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2  – ABl. L 251, S. 12.


3 – In der Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Bemerkungen, die Bestandteil des Beschlusses betreffend die Entlastung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2003 sind, Einzelplan IV – Gerichtshof (C6-0017/2005 – 2004/2043(DEC) vom 12. April 2005, Dokument P6_TA-PROV(2005)0095, Bericht A6-0066/2005, noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht, begrüßt das Parlament den Rückgang der Anzahl der Schlussanträge der Generalanwälte.


4 – ETS 35.


5 – ETS 163, die Richtlinie bezieht sich fälschlicherweise auf das Jahr 1987.


6 – ETS 93.


7  –      KOM(2002) 225, S. 19.


8 –      Zur Unterzeichnung aufgelegt am 20. November 1989 (UN Treaty Series, Band 1577, S. 43). Alle Mitgliedstaaten haben dieses Übereinkommen ratifiziert. Auch sieht der Vertrag über eine Verfassung für Europa in Artikel I-3 Absatz 3 zweiter Unterabsatz ausdrücklich vor, dass die Union den Schutz der Rechte des Kindes fördert, denen darüber hinaus in Artikel 24 der Charta der Grundrechte (Artikel II-84 des Vertrags über eine Verfassung für Europa) grundrechtliche Qualität zugesprochen wird.


9 – Zitiert in Fußnote 4.


10 –      Nach dem Vertragsbüro auf http://conventions.coe.int, besucht am 14. April 2005, wurde diese Bestimmung von Österreich, Belgien, Portugal, Estland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Slowenien, Spanien, Deutschland, Griechenland, Finnland, Niederlande, Polen, Schweden, dem Vereinigten Königreich und Zypern anerkannt, nicht aber von Lettland, Malta, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn. Dänemark scheint bei der Ratifikation der revidierten Charta im Jahr 1996 Artikel 19 Absatz 6 akzeptiert zu haben. Litauen hat bei der Ratifikation der revidierten Charta eine Bindung an Artikel 19 Absatz 6 abgelehnt.


11 – Zitiert in Fußnote 5.


12 – Zitiert in Fußnote 6. Bislang von 8 Staaten ratifiziert, darunter Spanien, Frankreich, Italien, die Niederlande, Portugal und Schweden.


13 – UN Treaty Series, Band 999, S. 171.


14 – Zitiert in Fußnote 8.


15 – New York, 18. Dezember 1990, UN Treaty Series, Band 2220, I-39481.


16 – Ratifiziert von 18 Staaten, darunter Zypern, Italien, Portugal, Slowenien und Schweden.


17 – Vgl. meine Schlussanträge vom 16. Juni 2005 in den verbundenen Rechtssachen C-138/03, C-324/03 und C-431/03 (Italien/Kommission, Slg. 2005, I-0000, Nr. 45 mit weiteren Nachweisen).


18  – Fungueiriño-Lorenzo, Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik vor und nach dem Amsterdamer Vertrag, S. 81 ff. In diese Richtung wohl auch Röben in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Stand Mai 1999, Artikel 63 EGV, Randnr. 43.


19 – Vgl. zu Artikel 176 EG die Urteile vom 22. Juni 2000 in der Rechtssache C-318/98 (Fornasar u. a., Slg. 2000, I-4785, Randnr. 46) und vom 14. April 2005 in der Rechtssache C-6/03 (Deponiezweckverband Eiterköpfe, Slg. 2005, I-0000, Randnrn. 27 ff.).


20  – Siehe z. B. Weiß in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Artikel 63 EGV, Randnr. 68, und Brechmann in: Callies/Ruffert, Kommentar zum EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage 2002, Artikel 63 EGV, Randnr. 42.


21  – Diese erhebliche Einschränkung der rechtlichen Bindungswirkung würde sich nicht auf die vorliegende Richtlinie beschränken, sondern zumindest auch die folgenden, ebenfalls ausschließlich auf Artikel 63 erster Unterabsatz Nummern 3 und 4 EG gestützten Rechtsakte betreffen: Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst (ABl. L 375, S. 12), Entscheidung 2004/573/EG des Rates vom 29. April 2004 betreffend die Organisation von Sammelflügen zur Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die individuellen Rückführungsmaßnahmen unterliegen, aus dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten (ABl. L 261, S. 28), Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren (ABl. L 261, S. 19), Entscheidung 2004/191/EG des Rates vom 23. Februar 2004 zur Festlegung der Kriterien und praktischen Einzelheiten zum Ausgleich finanzieller Ungleichgewichte aufgrund der Anwendung der Richtlinie 2001/40/EG über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen (ABl. L 60, S. 55), Richtlinie 2003/110/EG des Rates vom 25. November 2003 über die Unterstützung bei der Durchbeförderung im Rahmen von Rückführungsmaßnahmen auf dem Luftweg (ABl. L 321, S. 26), Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. L 16, S. 44), Verordnung (EG) Nr. 859/2003 des Rates vom 14. Mai 2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese Bestimmungen fallen (ABl. L 124, S. 1), Verordnung (EG) Nr. 1030/2002 des Rates vom 13. Juni 2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige (ABl. L 157, S. 1) und die Richtlinie 2001/40/EG des Rates vom 28. Mai 2001 über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen (ABl. L 149, S. 34).


22  – Vgl. das Dokument der irischen Präsidentschaft „Die Europäische Union heute und morgen“, CONF/2500/96 vom 5. Dezember 1996, Teil A, Abschnitt I, Kapitel 2. Der damalige Vorschlag für Vertragsänderungen enthielt zwar bereits die Regelungskompetenzen, aber noch keine dem zweiten Unterabsatz vergleichbare Klausel.


23 – Die Mitgliedstaaten konnten im Rahmen des damaligen Unionsvertrags neben gemeinsamen Standpunkten und gemeinsamen Maßnahmen auch rechtverbindliche Abkommen ausarbeiten.


24  – Schon diese Auslegungsprobleme sprechen für den in Artikel III-267 des Vertrags über eine Verfassung für Europa gewählten Weg, auf eine Artikel 63 zweiter Unterabsatz EG vergleichbare Regelung zu verzichten.


25 – Vgl. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 in der Rechtssache 1 BvR 1087/91 (Kruzifix, BVerfGE 93, 1, 21 mit weiteren Nachweisen).


26  – So z. B. Hailbronner, European Immigration and Asylum Law under the Treaty, Common Market Law Review 1998, 1047 (1051). Das scheint auch die Meinung der Kommission zu sein, die wegen Nichtumsetzung der Richtlinie 2001/40 (ABl. L 149, S. 34) bereits vier Vertragsverletzungsverfahren beim Gerichtshof anhängig gemacht hat: Rechtssachen C-448/04 gegen Luxemburg (ABl. C 314, S. 6), C-450/04 gegen Frankreich (ABl. C 314, S. 7), C-462/04 gegen Italien (ABl. 2005 C 6, S. 30) und C-474/04 gegen Griechenland (ABl. C 314, S. 10). Die betroffenen Mitgliedstaaten beriefen sich in diesen Verfahren ebenfalls nicht auf Artikel 63 zweiter Unterabsatz EG, sondern teilten mit, dass die Umsetzung vorbereitet werde.


27 – Lediglich für Nummer 3 Buchstabe b hat der Rat mit dem (einstimmigen) Beschluss vom 22. Dezember 2004 über die Anwendung des Verfahrens des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf bestimmte Bereiche, die unter Titel IV des Dritten Teils dieses Vertrags fallen, seit dem 1. Januar 2005 die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit eingeführt (ABl. L 396, S. 45).


28  – Vgl. dazu meine Schlussanträge vom 8. Juli 2004 in der Rechtssache C-117/03 (Dragaggi, Slg. 2005, I-0000, Nrn. 24 f.).


29 – Siehe in diesem Sinne das Urteil vom 5. Oktober 2004 in der Rechtssache C-475/01 (Kommission/Griechenland [Ouzo], Slg. 2004, I-0000, Randnrn. 15 ff.).


30  – Urteile vom 28. Juni 1972 in der Rechtssache 37/71 (Jamet/Kommission, Slg. 1972, 483, Randnrn. 10/12), vom 23. Oktober 1974 in der Rechtssache 17/74 (Transocean Marine Paint/Kommission, Slg. 1974, 1063, Randnr. 21), vom 31. März 1998 in den verbundenen Rechtssachen C-68/94 und C-30/95 (Frankreich u. a./Kommission, [Kali und Salz], Slg. 1998, I-1375, Randnr. 256), vom 10. Dezember 2002 in der Rechtssache C-29/99 (Kommission/Rat [Übereinkommen über nukleare Sicherheit], Slg. 2002, I-11221, Randnr. 45) und vom 24. Mai 2005 in der Rechtssache C-244/03 (Frankreich/Parlament und Rat [Tierversuche], Slg. 2005, I-0000, Randnrn. 12 und 21).


31 – Vgl. das Urteil Tierversuche (zitiert in Fußnote 30, Randnr. 15).


32  – Vgl. das Urteil vom 5. Oktober 2000 in der Rechtssache C-376/98 (Deutschland/Parlament und Rat (Tabak), Slg. 2000, I-8419, Randnr. 117).


33 – Hier kann dahinstehen, ob der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung die beanstandeten Bestimmungen isoliert aufheben könnte, wenn sie sich als rechtswidrig erweisen. Es spricht allerdings viel dafür, dass in diesem Verfahren nur die Gesamtnichtigkeit der Richtlinie, nicht aber eine Teilnichtigkeit festzustellen wäre.


34 – Urteile vom 21. Dezember 1954 in den Rechtssachen 1/54 (Frankreich/Hohe Behörde, Slg. 1954-1955, 7, 33) und vom 10. Mai 1960 in der Rechtssache 19/58 (Deutschland/Hohe Behörde, Slg. 1960, 483, 500).


35 – Schlussanträge vom 28. April 2005 in den verbundenen Rechtssachen C-346/03 und C-529/03 (Atzeni u. a., Slg. 2005, I-0000, Nr. 70) und vom 16. Dezember 2004 in der Rechtssache C-110/03 (Belgien/Kommission, Slg. 2005, I-0000, Nr. 29).


36 – Urteil vom 13. Juli 2000 in der Rechtssache C-210/98 P (Salzgitter/Kommission, Slg. 2000, I-5843, Randnr. 56) für die Kommission.


37 – Urteile vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-65/90 (Parlament/Rat [Güterkraftverkehr], Slg. 1992, I-4593, Randnr. 16), vom 5. Oktober 1993 in den Rechtssachen C-13/92 bis C-16/92 (Drießen u. a., Slg. 1993, I-4751, Randnr. 23) und vom 5. Oktober 1994 in der Rechtssache C-280/93 (Deutschland/Rat [Bananenmarktordnung], Slg. 1994, I-4973, Randnr. 38)


38 – Vermerk des Vorsitzes, Ratsdokument 6585/03, S. 9, Fußnote 3.


39 – Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem geänderten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 9. April 2003, ABl. 2004, C 64E, S. 283 und 373. Die Begründung ergibt sich aus dem Bericht A5-0086/2003 vom 24. März 2003 der Abgeordneten Cerdeira Morterero.


40 – Vgl. insbesondere die Änderungsanträge 22 bis 25 der legislativen Entschließung, zitiert in Fußnote 39.


41 – Vgl. Änderungsantrag 26 der legislativen Entschließung, zitiert in Fußnote 39.


42  – Urteile vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C-60/00 (Carpenter, Slg. 2002, I-6279, Randnr. 41) und vom 23. September 2003 in der Rechtssache C-109/01 (Akrich, Slg. 2003, I-9607, Randnr. 58).


43 – Urteile Carpenter, Randnr. 42 und Akrich, Randnr. 59 (beide zitiert in Fußnote 42).


44 – Vgl. meine Schlussanträge vom 10. März 2005 in der Rechtssache C-503/03 (Kommission/Spanien, Slg. 2005, I-0000, Nr. 37 mit weiteren Nachweisen).


45  – Hier ist vor allem an das EWR-Recht zu denken.


46 – Urteil des EGMR vom 22. Juni 1989 in der Rechtssache Eriksson/Schweden (Series A no. 156, § 58).


47 – Urteil des EGMR vom 13. Juli 2000, in der Rechtssache Elsholz/Deutschland (Recueil des arrêts et décisions 2000-VIII, § 44).


48 – Urteil des EGMR vom 26. September 1997 in der Rechtssache Mehemi/Frankreich (Recueil des arrêts et décisions 1997-VI, § 27).


49 – Urteile des EGMR vom 28. Mai 1985 in der Rechtssache Abdulaziz, Cabales and Balkandali/Vereinigtes Königreich (Series A no. 94, §§ 67 f.), vom 19. Februar 1996 in der Rechtssache Gül/Schweiz (Recueil des arrêts et décisions 1996-I, § 38), vom 28. November 1996 in der Rechtssache Ahmut/Niederlande (Recueil des arrêts et décisions 1996-VI, §§ 63 und 67) sowie vom 21. Dezember 2001 in der Rechtssache Sen/Niederlande (§§ 31 und 36).


50 – Urteile Abdulaziz, § 68, Gül, § 39, Ahmut, § 70 (alle zitiert in Fußnote 49). Während das Urteil Abdulaziz noch einstimmig erging, erging das Urteil Gül mit sieben zu zwei Stimmen und das Urteil Ahmut nur mit fünf zu vier Stimmen.


51 – Siehe z. B. die Entscheidungen des EGMR vom 23. März 2003 in der Rechtssache I. M./Niederlande, vom 13. Mai 2003 in der Rechtssache Chandra/Niederlande, vom 6. Juli 2004 in der Rechtssache Ramos Andrade/Niederlande und vom 5. April 2005 in der Rechtssache Benamar/Niederlande.


52 – Urteil Sen (zitiert in Fußnote 49, § 40).


53 – Siehe die Entscheidungen des EGMR über die Zulässigkeit der Beschwerden vom 19. Oktober 2004 in der Rechtssache Tuquabo-Tekle/Niederlande und vom 14. September 2004 in der Rechtssache Rodrigues da Silva und Hoogkamer/Niederlande.


54 – Daher ist es folgerichtig, dass Artikel 10 Absatz 1 der Richtlinie auch die Anwendung von Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz im Fall von Flüchtlingen ausschließt.


55 – Communication No. 930/2000: Australia, vom 16. August 2001, CCPR/C/72/D/930/2000, Absätze 7.1 bis 7.3, (Jurisprudence), http://www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/(Symbol)/488b0273fa4febfbc1256ab7002e5395?Opendocument.


56 – Siehe aber das Minderheitsvotum des Richters Martens mit Zustimmung des Richters Russo zum Urteil Gül (zitiert in Fußnote 49, §§ 6 ff.), das zwar die Betrachtungsweise als positiver Anspruch nicht in Frage stellt, aber trotzdem eine klassische Rechtfertigungsprüfung vornimmt. Siehe auch die zustimmenden Minderheitsvoten der Richter Thoìr Vilhjaìlmsson und Bernhardt zum Urteil Abdulaziz (zitiert in Fußnote 49), die ihre Auffassung auf eine Rechtfertigung nach Artikel 8 Absatz 2 EMRK stützen.


57 – Siehe oben, Nr. 61.


58 – Hier liegt der wahre Meinungsunterschied zwischen dem Minderheitsvotum des Richters Martens (zitiert in Fußnote 56) und dem EGMR: Martens ist bei der Annahme eines Anspruchs auf Familienzusammenführung deutlich großzügiger als der EGMR.


59 – So für die Sozialcharta das deutsche Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 76, 1 (82 f.) – Familiennachzug. Vgl. die zurückhaltende Berücksichtigung von anderen Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta in den Urteilen vom 15. Juni 1978 in der Rechtssache 149/77 (Defrenne III, Slg. 1978, 1365, Randnrn. 26/29) und vom 2. Februar 1988 in der Rechtssache 24/86 (Blaizot, Slg. 1988, 379, Randnr. 17) sowie in den Schlussanträgen von Generalanwalt Jacobs vom 28. Januar 1999 in der Rechtssache C-67/96 (Albany, Slg. 1999, I-5751, Nr. 146) und von Generalanwalt Lenz vom 15. Juni 1988 in der Rechtssache 236/87 (Bergemann, Slg. 1988, 5125, Nr. 28).


60 – Siehe oben, Nr. 21.


61 – Digest of the Case Law of the ECSR, Stand März 2005, S. 84, http://www.coe.int/T/F/Droits_de_l'Homme/Cse/Digest_bil_mars_05.pdf. Siehe auch Conclusions 2004 Volume 1, Section 89/174, zu Estland und Conclusions XVI-1 vol. 2, Section 72/257, zu den Niederlanden unter Bezugnahme auf Conclusions I, S. 216 (wohl Section 363/374 zu Deutschland), alle zugänglich über http://hudoc.esc.coe.int/esc/search/default.asp


62 – Urteile des EGMR vom 27. Juli 2004, Sidabras und Dziautas/Litauen, Randnr. 47, zu Berufsverboten, vom 30. September 2003, Koua Poirrez/Frankreich, Randnrn. 39 und 29, zu sozialrechtlichen Ansprüchen sowie vom 2. Juli 2002, Wilson, National Union of Journalists and others/Vereinigtes Königreich, Randnr. 40, 32 f. und 37, zur Benachteiligung von Gewerkschaftern. Der Gerichtshof hat sich dagegen bislang nur einmal – ablehnend – im Urteil vom 17. Februar 1998 in der Rechtssache C-249/96 (Grant, Slg. 1998, I-621, Randnrn. 46 f.) zur Spruchpraxis eines nichtgerichtlichen Kontrollorgans geäußert, in diesem Fall des Ausschusses für Menschenrechte des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte.


63 – Artikel 3 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie stellt vielleicht auch aus diesem Grunde klar, dass Mitgliedstaaten, soweit sie Vertragsparteien der Europäischen Sozialcharta und/oder des Europäischen Übereinkommens über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer sind, gegenüber Wanderarbeitnehmern aus anderen Vertragsstaaten weitergehenden Verpflichtungen im Hinblick auf die Familienzusammenführung unterliegen können, als sie sich allein aus der Richtlinie [und Artikel 8 EMRK] ergeben.


64 – Eine ähnliche Auffassung vertritt der österreichische Verfassungsgerichtshof zu den menschenrechtlichen Anforderungen an das österreichische Recht in seinem Erkenntnis vom 8. Oktober 2003 in der Rechtssache G 119, 120/03-13 (http://www.vfgh.gv.at/presse/G119_13_03.pdf, S. 20 f.).


65  – Urteil vom 13. Juli 1989 in der Rechtssache 5/88 (Wachauf, Slg. 1989, 2609, Randnr. 19).


66 – Urteil vom 6. November 2003 in der Rechtssache C-101/01 (Lindqvist, Slg. I-12971, Randnr. 87), vgl. auch das Urteil vom 26. April 2005 in der Rechtssache C-376/02 (Stichting „Goed Wonen“, Slg. 2005, I-0000, Randnr. 32).


67 – In die gleiche Richtung geht die vom Parlament erwähnte Kritik des von der Kommission eingesetzten Netzwerks von Grundrechtsexperten in seinem Jahresbericht 2003, http://europa.eu.int/comm/justice_home/cfr_cdf/doc/report_eu_2003_en.pdf, S. 55.


68 – Nach Angaben des Rates findet sich eine entsprechende Altersgrenze allein im österreichischen Recht.


69 – Siehe oben, Nr. 86.


70 – Vgl. das Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes vom 8. Oktober 2003, zitiert in Fußnote 64, unter III. Nr. 2 Buchstabe c.


71 – Urteile vom 20. September 1988 in der Rechtssache 203/86 (Spanien/Rat, Slg. 1988, 4563, Randnr. 25), vom 17. Juli 1997 in den verbundenen Rechtssachen C-248/95 und C-249/95 (SAM Schiffahrt und Stapf, Slg. 1997, I-4475, Randnr. 50), vom 13. April 2000 in der Rechtssache C-292/97 (Karlsson u. a., Slg. 2000, I-2737, Randnr. 39), vom 12. März 2002 in den verbundenen Rechtssachen C-27/00 und C-122/00 (Omega Air u. a., Slg. 2002, I-2569, Randnr. 79), vom 9. September 2003 in der Rechtssache C-137/00 (Milk Marque und National Farmers’ Union, Slg. 2003, I-7975, Randnr. 126), vom 9. September 2004 in der Rechtssache C-304/01 (Spanien/Kommission, Slg. 2004, I-0000, Randnr. 31) und vom 14. Dezember 2004 in der Rechtssache C-210/03 (Swedish Match, Slg. 2004, I-0000, Randnr. 70).


72 – Urteile des Gerichts vom 23. März 1994 in der Rechtssache T-8/93 (Huet, Slg. 1994, II-103, Randnr. 45), vom 2. März 2004 in der Rechtssache T-14/03 (Di Marzio/Kommission, Slg. 2004, II-0000, Randnr. 83) und vom 15. Februar 2005 in der Rechtssache T-256/01 (Pyres, Slg. 2005, II-0000, Randnr. 61). Siehe auch zur „positiven Diskriminierung“ die Urteile vom 6. Juli 2000 in der Rechtssache C-407/98 (Abrahamsson und Anderson, Slg. 2000, I-5539, Randnr. 55) und vom 30. September 2004 in der Rechtssache C-319/03 (Briheche, Slg. 2004, I-0000, Randnr. 31).


73 – Dies betont das Gericht in seinen Urteilen vom 28. Oktober 2004 in den verbundenen Rechtssachen T-219/02 und T-337/02 (Lutz Herrera/Kommission, Slg. 2004, II-0000, Randnr. 88) und Pyres (zitiert in Fußnote 72, Randnr. 66) bei der Behandlung von Altersgrenzen, ohne aber die Anforderungen des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes an Altersgrenzen zu diskutieren.


74 – In diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom 8. Februar 2001 in der Rechtssache C-173/99 (BECTU, Slg. 2001, I-4881, Nr. 28), des Generalanwalts Léger vom 10. Juli 2001 in der Rechtssache C-353/99 P (Hautala, Slg. 2001, I-9565, Nrn. 82 und 83), des Generalanwalts Mischo vom 20. September 2001 in den verbundenen Rechtssachen C-20/00 und C-64/00 (Booker Aquaculture und Hydro Seafood, Slg. 2003, I-7411, Nr. 126), des Generalanwalts Poiares Maduro vom 29. Juni 2004 in der Rechtssache C-181/03 P (Nardone, Slg. 2005, I-0000, Nr. 51) sowie meine Schlussanträge vom 14. Oktober 2004 in den verbundenen Rechtssachen C-387/02, C-391/02 und C-403/02 (Berlusconi u. a., Slg. 2005, I-0000, Fußnote 83) und vom 27. Januar 2005 in der Rechtssache C-186/04 (Housieaux, Slg. 2005, I-0000, Fußnote 11).


75 – Der Gerichtshof hat sogar das Fehlen einer – allerdings im Beamtenstatut als Regelfall vorgesehenen – Altersgrenze zum Anlass genommen, eine Ausschreibung aufzuheben: Urteil vom 22. März 1972 in der Rechtssache 78/71 (Costacurta/Kommission, Slg. 1972, 163, Randnrn. 9 ff.).


76 – Der EGMR stellt in ständiger Rechtsprechung fest, dass es einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstellen kann, wenn eine Person aus einem Land ausgewiesen wird, in dem ihre nahen Verwandten wohnen, vgl. Urteile des EGMR vom 16. Dezember 2004 in der Rechtssache Radovanovic/Österreich (§ 30), vom 2. August 2001 in der Rechtssache Boultif/Schweiz (Recueil des arrêts et décisions 2001-IX, § 39), sowie vom 18 Februar 1991 in der Rechtssache Moustaquim/Belgien (Series A no. 193, S. 18, § 36).


77 – Siehe oben, Nr. 94.


78 – Siehe oben, Nr. 41.


79 – Vgl. in diesem Sinne das Urteil vom 11. Dezember 2003 in der Rechtssache C-127/00 (Hässle, Slg. 2003, I-14781, Randnrn. 35 ff.).