Language of document : ECLI:EU:C:2009:127

Rechtssache C‑350/07

Kattner Stahlbau GmbH

gegen

Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft

(Vorabentscheidungsersuchen des Sächsischen Landessozialgerichts)

„Wettbewerb – Art. 81 EG, 82 EG und 86 EG – Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten – Begriff ‚Unternehmen‘ – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Freier Dienstleistungsverkehr – Art. 49 EG und 50 EG – Beschränkung – Rechtfertigung – Erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit“

Leitsätze des Urteils

1.        Wettbewerb – Gemeinschaftsvorschriften – Unternehmen – Begriff – Einrichtung für die Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten

(Art. 81 EG und 82 EG)

2.        Freier Dienstleistungsverkehr – Beschränkungen – Nationale Regelung, mit der ein System der Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten errichtet wird – Rechtfertigung durch Gründe des Allgemeininteresses – Finanzielles Gleichgewicht eines Zweigs der sozialen Sicherheit

(Art. 49 EG und 50 EG)

1.        Eine Berufsgenossenschaft, der die Unternehmen, die in einem bestimmten Gebiet einem bestimmten Gewerbezweig angehören, für die Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten beitreten müssen, ist kein Unternehmen im Sinne der Art. 81 EG und 82 EG, sondern nimmt eine Aufgabe rein sozialer Natur wahr, soweit sie im Rahmen eines Versicherungssystems tätig wird, mit dem der Grundsatz der Solidarität umgesetzt wird und das staatlicher Aufsicht unterliegt. Der Umstand, dass die Berufsgenossenschaft unmittelbar Versicherungsdienstleistungen erbringt, ändert als solcher nichts am rein sozialen Charakter dieser Aufgabe, da er weder den solidarischen Charakter des entsprechenden Systems noch die vom Staat darüber ausgeübte Aufsicht beeinträchtigt.

Die Voraussetzung des solidarischen Charakters des Versicherungssystems ist erfüllt, wenn es durch Beiträge finanziert wird, deren Höhe nicht streng proportional zum versicherten Risiko ist, und der Wert der erbrachten Leistungen nicht notwendigerweise proportional zum Arbeitsentgelt des Versicherten ist. Der solidarische Charakter der Finanzierung wird weder dadurch in Frage gestellt, dass es keine Obergrenze für die Beiträge gibt, noch dadurch, dass das entsprechende System nicht von einer einzigen Einrichtung, sondern von mehreren Einrichtungen auf sektorieller und/oder geografischer Grundlage durchgeführt wird, und schließlich auch nicht dadurch, dass diese Einrichtungen einen einheitlichen Mindestbeitrag festsetzen können.

Was die Voraussetzung der staatlichen Aufsicht betrifft, so kann der Umstand, dass den Berufsgenossenschaften im Rahmen eines Selbstverwaltungssystems ein Handlungsspielraum gewährt wird, um Faktoren festzusetzen, die für die Höhe der Beiträge und der Leistungen ausschlaggebend sind, als solches die Natur der von den ihnen ausgeübten Tätigkeit nicht ändern, da dieser Handlungsspielraum durch das Gesetz vorgesehen ist und strikt begrenzt wird und die Berufsgenossenschaften insoweit zudem staatlicher Aufsicht unterstehen.

(vgl. Randnrn. 44, 50-55, 61-62, 64-68, Tenor 1)

2.        Eine nationale Regelung, mit der ein System der Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten errichtet wird, die ein soziales Ziel verfolgt, so funktioniert, dass der Grundsatz der Solidarität umgesetzt wird, und staatlicher Aufsicht untersteht, kann insoweit ein Hindernis für die freie Erbringung von Dienstleistungen darstellen, als sie die Ausübung dieser Freiheit durch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Versicherungsdienstleister, die Versicherungs­verträge für derartige Risiken in dem betreffenden Mitgliedstaat anbieten möchten, und durch Unternehmen, die diesem System unterliegen und sich an solche Dienstleister wenden möchten, behindert oder weniger attraktiv macht, ja sogar unmittelbar oder mittelbar verhindert. Die Regelung entspricht allerdings zwingenden Gründen des Allgemeinwohls, die die Gewährleistung des finanziellen Gleichgewichts eines Zweigs der sozialen Sicherheit betreffen, da die Pflichtmitgliedschaft, indem sie den Zusammenschluss aller dem entsprechenden System unterliegenden Unternehmen innerhalb von Gefahrengemeinschaften gewährleistet, die Durchführung des Grundsatzes der Solidarität erlaubt. Die Art. 49 EG und 50 EG stehen daher einer solchen Regelung nicht entgegen, soweit das entsprechende System nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels der Gewährleistung des finanziellen Gleichgewichts eines Zweigs der sozialen Sicherheit erforderlich ist, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.

Der Umstand, dass dieses System eine Mindestabdeckung bietet, so dass es den ihm unterliegenden Unternehmen trotz der damit verbundenen Pflichtmitgliedschaft freisteht, diese Abdeckung dadurch zu ergänzen, dass sie zusätzliche Versicherungen abschließen, sofern diese auf dem Markt angeboten werden, stellt insoweit einen Faktor dar, der für die Verhältnismäßigkeit spricht.

(vgl. Randnrn. 77, 82-89, Tenor 2)