Language of document : ECLI:EU:C:2008:505

Rechtssache C‑288/07

Commissioners of Her Majesty’s Revenue & Customs

gegen

Isle of Wight Council u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice [England & Wales] [Chancery Division])

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Art. 4 Abs. 5 – Tätigkeiten einer Einrichtung des öffentlichen Rechts – Bewirtschaftung gebührenpflichtiger Parkeinrichtungen – Wettbewerbsverzerrungen – Bedeutung der Begriffe ‚führen würde‘ und ‚größere‘“

Leitsätze des Urteils

1.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Steuerpflichtige – Einrichtungen des öffentlichen Rechts

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2)

2.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Steuerpflichtige – Einrichtungen des öffentlichen Rechts

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2)

3.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Steuerpflichtige – Einrichtungen des öffentlichen Rechts

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2)

1.        Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob die Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden, als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde, mit Bezug auf die fragliche Tätigkeit als solche zu beurteilen ist, ohne dass sich diese Beurteilung auf einen lokalen Markt im Besonderen bezieht.

Einer Einrichtung des öffentlichen Rechts kann nämlich nach nationalem Recht im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung die Ausübung bestimmter Tätigkeiten obliegen, die im Wesentlichen wirtschaftlicher Natur sind; dieselben Tätigkeiten können parallel auch von privaten Wirtschaftsteilnehmern ausgeübt werden, so dass die Behandlung dieser Einrichtung als nicht mehrwertsteuerpflichtig gewisse Wettbewerbsverzerrungen zur Folge haben kann.

Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie soll dieses unerwünschte Ergebnis verhindern, indem er vorsieht, dass die in Anhang D dieser Richtlinie genau aufgeführten Tätigkeiten „in jedem Fall“ – sofern ihr Umfang nicht unbedeutend ist – der Mehrwertsteuer unterliegen, obwohl sie von Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübt werden. Mit anderen Worten besteht eine Vermutung, dass die Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts als für diese Tätigkeiten nicht mehrwertsteuerpflichtig zu Wettbewerbsverzerrungen führt, sofern der Umfang der Tätigkeiten nicht unbedeutend ist. Damit geht aus Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie hervor, dass sich die Mehrwertsteuerpflicht dieser Einrichtungen aus der Ausübung der in Anhang D der Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten als solche ergibt, unabhängig davon, ob eine bestimmte Einrichtung des öffentlichen Rechts auf der Ebene des lokalen Marktes, auf dem sie die betreffenden Tätigkeiten ausübt, Wettbewerb ausgesetzt ist oder nicht.

Zudem kann es auf nationaler Ebene andere Tätigkeiten, die im Wesentlichen wirtschaftlicher Art, aber nicht in Anhang D der Sechsten Richtlinie aufgeführt sind, geben, deren Liste von einem Staat zum nächsten oder von einem Wirtschaftssektor zum nächsten variieren kann und die sowohl von Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt als auch von privaten Wirtschaftsteilnehmern parallel ausgeübt werden. Auf eben diese Tätigkeiten findet Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie Anwendung, der vorsieht, dass Einrichtungen des öffentlichen Rechts, selbst wenn sie im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden, als Steuerpflichtige gelten, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

Der zweite und der dritte Unterabsatz des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie stehen also in engem Zusammenhang, da sie denselben Zweck verfolgen, nämlich die Heranziehung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts zur Mehrwertsteuer, selbst wenn diese Einrichtungen im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden. Diese Unterabsätze folgen also derselben Logik, mit der der Gemeinschaftsgesetzgeber den Anwendungsbereich der Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nichtsteuerpflichtige begrenzen wollte, damit die in Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie aufgestellte Grundregel eingehalten wird, dass jede wirtschaftliche Tätigkeit grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegt. Deshalb sind der zweite und der dritte Unterabsatz des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie in einer Gesamtschau auszulegen. Daraus folgt, dass sich die Mehrwertsteuerpflicht von Einrichtungen des öffentlichen Rechts aus der Ausübung einer bestimmten Tätigkeit als solcher ergibt, sei es auf der Grundlage des zweiten oder des dritten Unterabsatzes des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie und unabhängig davon, ob die betreffenden Einrichtungen auf der Ebene des lokalen Marktes, auf dem sie diese Tätigkeit ausüben, Wettbewerb ausgesetzt sind oder nicht.

Damit bleibt der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gewahrt, da alle Einrichtungen des öffentlichen Rechts entweder mehrwertsteuerpflichtig sind oder nicht, wobei die einzige Beeinträchtigung dieses Grundsatzes nur die Beziehungen zwischen diesen Einrichtungen und den privaten Wirtschaftsteilnehmern betrifft und dies nur, sofern die Wettbewerbsverzerrungen einen geringen Umfang haben. Die Frage, ob Wettbewerbsverzerrungen vorliegen, mit Blick auf jeden einzelnen der lokalen Märkte zu beurteilen, auf denen die lokalen Behörden ihre Tätigkeit ausüben, würde eine systematische Neubewertung auf der Grundlage oft komplexer wirtschaftlicher Analysen der Wettbewerbsbedingungen auf einer Vielzahl von lokalen Märkten voraussetzen, deren Ermittlung sich als besonders schwierig erweisen kann, da die Grenzen dieser Märkte nicht unbedingt mit der örtlichen Zuständigkeit der lokalen Behörden zusammenfallen. In diesem Fall wären weder die lokalen Behörden noch die privaten Wirtschaftsteilnehmer in der Lage, mit der für die Führung ihrer Geschäfte notwendigen Gewissheit vorherzusehen, ob die von den lokalen Behörden auf einem bestimmten lokalen Markt ausgeübte Tätigkeit der Mehrwertsteuer unterliegt oder nicht, was die Gefahr einer Beeinträchtigung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit bergen würde.

(vgl. Randnrn. 33-41, 46, 49, 51-53, Tenor 1)

2.        Der Begriff „führen würde“ im Sinne des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ist dahin auszulegen, dass er nicht nur den gegenwärtigen, sondern auch den potenziellen Wettbewerb umfasst, sofern die Möglichkeit für einen privaten Wirtschaftsteilnehmer, in den relevanten Markt einzutreten, real und nicht rein hypothetisch ist.

Die Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts nach Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie als nicht mehrwertsteuerpflichtig stellt nämlich eine Abweichung von der allgemeinen Regel der Besteuerung jeder Tätigkeit wirtschaftlicher Art dar, so dass diese Bestimmung eng auszulegen ist. Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 dieser Richtlinie stellt aber die genannte allgemeine Regel wieder her, um zu verhindern, dass die Behandlung öffentlicher Einrichtungen als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führt. Diese Bestimmung darf daher nicht eng ausgelegt werden.

Jedoch kann die rein theoretische, durch keine Tatsache, kein objektives Indiz und keine Marktanalyse untermauerte Möglichkeit für einen privaten Wirtschaftsteilnehmer, in den relevanten Markt einzutreten, nicht mit dem Vorliegen eines potenziellen Wettbewerbs gleichgesetzt werden. Eine solche Gleichsetzung setzt vielmehr voraus, dass sie real und nicht rein hypothetisch ist.

(vgl. Randnrn. 60, 64-65, Tenor 2)

3.        Der Begriff „größere“ im Sinne des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ist dahin zu verstehen, dass die gegenwärtigen oder potenziellen Wettbewerbsverzerrungen mehr als unbedeutend sein müssen.

Dieser Begriff ist nämlich dahin zu verstehen, dass er den Anwendungsbereich der in Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts als für diese Tätigkeiten nicht steuerpflichtig einschränken soll. Mit einem Verständnis dahin, dass der Begriff „erheblich“ oder „außergewöhnlich“ meint, würde der Anwendungsbereich der Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nichtsteuerpflichtige unzulässig ausgedehnt. Ließe man hingegen ihre Behandlung als Nichtsteuerpflichtige nur dann zu, wenn sie lediglich zu unbedeutenden Wettbewerbsverzerrungen führte, würde ihr Anwendungsbereich wirksam eingeschränkt.

Ferner ergibt sich aus Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie, dass die Behandlung von Einrichtungen des öffentlichen Rechts als in Bezug auf die in Anhang D dieser Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten nicht mehrwertsteuerpflichtig zulässig ist, sofern der Umfang der genannten Tätigkeiten unbedeutend ist, womit unterstellt wird, dass die sich daraus ergebenden Wettbewerbsverzerrungen ebenfalls unbedeutend wären. Da der zweite und der dritte Unterabsatz des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie in engem Zusammenhang stehen, weil sie denselben Zweck verfolgen und derselben Logik unterliegen, ist der Begriff „größere“ dahin zu verstehen, dass die Behandlung öffentlicher Einrichtungen als Nichtsteuerpflichtige nur zugelassen werden kann, wenn sie lediglich zu unbedeutenden Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

Schließlich käme es durch die Behandlung dieser Einrichtungen als nicht mehrwertsteuerpflichtig in den Fällen, in denen sie nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung oder nur zu unbedeutenden Verzerrungen führte, zur geringstmöglichen Beeinträchtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität.

(vgl. Randnrn. 72-76, 78-79, Tenor 3)