Language of document : ECLI:EU:C:2009:616

Rechtssache C-123/08

Dominic Wolzenburg

(Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam)

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen Mitgliedstaaten – Art. 4 Nr. 6 – Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann – Umsetzung in das nationale Recht – Verhaftete Person, die die Staatsangehörigkeit des ausstellenden Mitgliedstaats besitzt – Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch den Vollstreckungsmitgliedstaat bei einem fünfjährigen Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet – Art. 12 EG“

Leitsätze des Urteils

1.        Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit – Verbot – Geltungsbereich

(Art. 12 Abs. 1 EG)

2.        Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann

(Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 16 Abs. 1 und Art. 19; Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates, Art. 4 Nr. 6)

3.        Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann

(Art. 12 Abs. 1 EG; Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates, Art. 4 Nr. 6)

1.        Ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, hat das Recht, sich gegenüber einer nationalen Regelung, die die Voraussetzungen festlegt, unter denen die zuständige Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern kann, auf Art. 12 Abs. 1 EG zu berufen. Die Mitgliedstaaten dürfen nämlich bei der Durchführung eines auf der Grundlage des EU-Vertrags erlassenen Rahmenbeschlusses nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen, insbesondere nicht gegen die Vorschriften des EG-Vertrags über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

(vgl. Randnrn. 43, 45, 47, Tenor 1)

2.        Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat im Fall eines Unionsbürgers für die Anwendung des in dieser Vorschrift vorgesehenen Grundes, aus dem die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigert werden kann, neben Anforderungen an die Aufenthaltsdauer in diesem Staat keine ergänzenden verwaltungsrechtlichen Anforderungen wie den Besitz einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung stellen kann. Art. 16 Abs. 1 und Art. 19 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sehen nämlich für Unionsbürger, die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufgehalten haben, nur vor, dass auf ihren Antrag hin ein Dokument ausgestellt wird, in dem ihr dauerhafter Aufenthalt bestätigt wird, ohne dass eine solche Formalität vorgeschrieben würde. Ein solches Dokument hat nur deklaratorische Wirkung und Beweisfunktion, kann aber keine konstitutive Bedeutung haben.

(vgl. Randnrn. 51, 53, Tenor 2)

3.        Art. 12 Abs. 1 EG ist dahin auszulegen, dass er den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach die zuständige Justizbehörde dieses Staates die Vollstreckung eines gegen einen seiner Staatsangehörigen zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigert, während eine solche Verweigerung im Fall eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der ein auf Art. 18 Abs. 1 EG gestütztes Aufenthaltsrecht hat, voraussetzt, dass sich dieser Staatsangehörige rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Hoheitsgebiet dieses Vollstreckungsmitgliedstaats aufgehalten hat.

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der der Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/854 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten zugrunde liegt, bedeutet insoweit nach dessen Art. 1 Abs. 2, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Außer den in Art. 3 dieses Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fällen, in denen die Vollstreckung abzulehnen ist, können sie die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls nämlich nur in den in Art. 4 des Rahmenbeschlusses aufgezählten Fällen verweigern. Folglich verstärkt ein nationaler Gesetzgeber, der sich entsprechend den ihm durch Art. 4 des Rahmenbeschlusses eröffneten Möglichkeiten dafür entscheidet, die Fälle, in denen seine vollstreckende Justizbehörde die Übergabe einer gesuchten Person verweigern kann, zu begrenzen, nur das mit diesem Rahmenbeschluss im Sinne eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts errichtete System der Übergabe. In diesem Rahmen verfügen die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Art. 4 des Rahmenbeschlusses und insbesondere seiner Nr. 6 notwendigerweise über einen bestimmten Wertungsspielraum.

Mit dem fakultativen Ablehnungsgrund in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wird insbesondere bezweckt, dass der Frage, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe erhöht werden können, besondere Bedeutung beigemessen werden kann. Es ist daher legitim, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat dieses Ziel nur gegenüber Personen verfolgt, die ein bestimmtes Maß an Integration in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats nachgewiesen haben. Es kann davon ausgegangen werden, dass die bloße Voraussetzung der Staatsbürgerschaft für die eigenen Staatsbürger einerseits und die Voraussetzung eines ununterbrochenen Aufenthalts von fünf Jahren für die Staatsbürger der anderen Mitgliedstaaten andererseits gewährleisten, dass die gesuchte Person hinreichend in den Vollstreckungsmitgliedstaat integriert ist. Diese Voraussetzung eines ununterbrochenen Aufenthalts von fünf Jahren geht nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um das Ziel zu erreichen, dass ein bestimmtes Maß an Integration der gesuchten Personen, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten sind, im Vollstreckungsmitgliedstaat gewährleistet ist.

(vgl. Randnrn. 57-58, 61, 67-68, 73-74, Tenor 3)