Language of document : ECLI:EU:C:2010:582

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

5. Oktober 2010(*)

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Kinder unverheirateter Eltern – Sorgerecht des Vaters – Auslegung des Begriffs ‚Sorgerecht‘ – Allgemeine Rechtsgrundsätze und Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

In der Rechtssache C‑400/10 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Irland) mit Entscheidung vom 30. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 6. August 2010, in dem Verfahren

J. McB.

gegen

L. E.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts (Berichterstatter), der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász, T. von Danwitz und D. Šváby,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung einem Eilverfahren zu unterwerfen,

aufgrund der Entscheidung der Dritten Kammer vom 11. August 2010, diesem Antrag stattzugeben,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. September 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn McB., vertreten durch D. Browne, SC, und D. Quinn, BL, beauftragt von J. McDaid, Solicitor,

–        von Frau E., vertreten durch G. Durcan, SC, sowie durch N. Jackson und S. Fennell, BL, beauftragt von M. Quirke, Solicitor,

–        Irlands, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von M. MacGrath, SC, und N. Travers, BL,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Kemper als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A.‑M. Rouchaud-Joët und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung des Generalanwalts

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn McB., dem Vater dreier Kinder, und Frau E., der Mutter dieser Kinder, über die Rückgabe der Kinder, die sich zurzeit mit ihrer Mutter in England befinden, nach Irland.

 Rechtlicher Rahmen

 Das Haager Übereinkommen von 1980

3        Art. 1 des Haager Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980) bestimmt:

„Ziel dieses Übereinkommens ist es,

a)      die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen und

b)      zu gewährleisten, dass das in einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht zum persönlichen Umgang in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird.“

4        Art. 3 dieses Übereinkommens lautet:

„Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und

b)      dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.

Das unter Buchstabe a genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.“

5        Art. 15 des Haager Übereinkommens von 1980 lautet:

„Bevor die Gerichte oder Verwaltungsbehörden eines Vertragsstaats die Rückgabe des Kindes anordnen, können sie vom Antragsteller die Vorlage einer Entscheidung oder sonstigen Bescheinigung der Behörden des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes verlangen, aus der hervorgeht, dass das Verbringen oder Zurückhalten widerrechtlich im Sinn des Artikels 3 war, sofern in dem betreffenden Staat eine derartige Entscheidung oder Bescheinigung erwirkt werden kann. Die zentralen Behörden der Vertragsstaaten haben den Antragsteller beim Erwirken einer derartigen Entscheidung oder Bescheinigung so weit wie möglich zu unterstützen.“

 Unionsrecht

6        Im 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes sollte dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden; zu diesem Zweck sollte das Haager Übereinkommen [von] 1980, das durch die Bestimmungen dieser Verordnung und insbesondere des Artikels 11 ergänzt wird, weiterhin Anwendung finden. …“

7        Der 33. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:

„Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] anerkannt wurden. Sie zielt insbesondere darauf ab, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Artikels 24 der [Charta] zu gewährleisten“.

8        In Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 wird das „Sorgerecht“ definiert als „die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes“.

9        In Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 wird präzisiert, dass das „Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes“ widerrechtlich ist, wenn

„a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.“

10      Art. 11 („Rückgabe des Kindes“) der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„(1)      Beantragt eine sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens [von] 1980 …, um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so gelten die Absätze 2 bis 8.

(3)      Das Gericht, bei dem die Rückgabe eines Kindes nach Absatz 1 beantragt wird, befasst sich mit gebotener Eile mit dem Antrag und bedient sich dabei der zügigsten Verfahren des nationalen Rechts.

Unbeschadet des Unterabsatzes 1 erlässt das Gericht seine Anordnung spätestens sechs Wochen nach seiner Befassung mit dem Antrag, es sei denn, dass dies aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht möglich ist.

(6)      Hat ein Gericht entschieden, die Rückgabe des Kindes gemäß Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 abzulehnen, so muss es nach dem nationalen Recht dem zuständigen Gericht oder der Zentralen Behörde des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, unverzüglich entweder direkt oder über seine Zentrale Behörde eine Abschrift der gerichtlichen Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, und die entsprechenden Unterlagen, insbesondere eine Niederschrift der Anhörung, übermitteln. Alle genannten Unterlagen müssen dem Gericht binnen einem Monat ab dem Datum der Entscheidung, die Rückgabe abzulehnen, vorgelegt werden.

(7)      Sofern die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, nicht bereits von einer der Parteien befasst wurden, muss das Gericht oder die Zentrale Behörde, das/die die Mitteilung gemäß Absatz 6 erhält, die Parteien hiervon unterrichten und sie einladen, binnen drei Monaten ab Zustellung der Mitteilung Anträge gemäß dem nationalen Recht beim Gericht einzureichen, damit das Gericht die Frage des Sorgerechts prüfen kann.

Unbeschadet der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregeln schließt das Gericht den Fall ab, wenn innerhalb dieser Frist keine Anträge bei dem Gericht eingegangen sind.

(8)      Ungeachtet einer nach Artikel 13 des Haager Übereinkommens von 1980 ergangenen Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes verweigert wird, ist eine spätere Entscheidung, mit der die Rückgabe des Kindes angeordnet wird und die von einem nach dieser Verordnung zuständigen Gericht erlassen wird, im Einklang mit Kapitel III Abschnitt 4 vollstreckbar, um die Rückgabe des Kindes sicherzustellen.“

11      Art. 60 („Verhältnis zu bestimmten multilateralen Übereinkommen“) der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet wie folgt:

„Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten hat diese Verordnung vor den nachstehenden Übereinkommen insoweit Vorrang, als diese Bereiche betreffen, die in dieser Verordnung geregelt sind:

e)      Haager Übereinkommen [von] 1980“.

12      Art. 62 („Fortbestand der Wirksamkeit“) der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht in Abs. 2 vor:

„Die in Artikel 60 genannten Übereinkommen, insbesondere das Haager Übereinkommen von 1980, behalten vorbehaltlich des Artikels 60 ihre Wirksamkeit zwischen den ihnen angehörenden Mitgliedstaaten.“

 Nationales Recht

13      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der leibliche Kindesvater nach irischem Recht nicht von Rechts wegen über ein Sorgerecht verfügt. Außerdem verleiht der Umstand, dass unverheiratete Eltern zusammengelebt haben und sich der Vater aktiv an der Erziehung des Kindes beteiligt hat, für sich genommen dem Vater kein solches Recht.

14      Nach Section 6A des Gesetzes von 1964 über Kindesvormundschaft (Guardianship of Infants Act 1964) in der Fassung von Section 12 des Gesetzes von 1987 über die Rechtsstellung des Kindes (Status of Children Act 1987) kann allerdings das Gericht in Fällen, in denen „der Vater und die Mutter nicht miteinander verheiratet sind, … auf Antrag des Vaters diesen durch gerichtliche Anordnung zum Vormund des Kindes bestellen“.

15      Section 11(4) des Gesetzes von 1964 über Kindesvormundschaft in der Fassung von Section 13 des Gesetzes von 1987 über die Rechtsstellung des Kindes bestimmt:

„Bei einem Kind, dessen Vater und Mutter nicht miteinander verheiratet sind, gilt das Recht, nach dieser Section einen Antrag in Bezug auf das Sorgerecht für das Kind und das Recht seines Vaters oder seiner Mutter zum persönlichen Umgang mit ihm zu stellen, auch für den Vater, der nicht Vormund des Kindes ist, und zu diesem Zweck sind die Bezugnahmen in dieser Section auf den Vater oder den Elternteil eines Kindes dahin auszulegen, dass er miterfasst wird.“

16      Das Gesetz von 1991 über Kindesentführung und die Vollstreckung von Entscheidungen betreffend das Sorgerecht (Child Abduction and Enforcement of Custody Orders Act 1991) in der Fassung der Verordnung von 2005 zur Durchführung von Gemeinschaftsrecht – Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (European Communities [Judgments in Matrimonial Matters and Matters of Parental Responsibility] Regulations 2005) bestimmt in Section 15:

„Das Gericht kann aufgrund eines Antrags nach Art. 15 des Haager Übereinkommens [von 1980], der von einer Person gestellt wird, die nach Ansicht des Gerichts offensichtlich ein Interesse in der Sache hat, die Feststellung treffen, dass das Verbringen eines Kindes ins Ausland oder sein Zurückhalten im Ausland

a)      im Fall des Verbringens in einen Mitgliedstaat oder des Zurückhaltens in einem Mitgliedstaat ein widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten im Sinne von Art. 2 der Verordnung … oder

b)      in allen anderen Fällen widerrechtlich im Sinne von Art. 3 des Haager Übereinkommens [von 1980] war.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

 Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits

17      Aus den beim Gerichtshof eingereichten Akten geht hervor, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr McB., der die irische Staatsangehörigkeit besitzt, und die Beklagte des Ausgangsverfahrens, Frau E., die die britische Staatsangehörigkeit besitzt, als unverheiratetes Paar mehr als zehn Jahre lang zusammenlebten, und zwar in England, in Australien, in Nordirland und, ab November 2008, in Irland. Sie haben zusammen drei Kinder, nämlich, J., geboren in England am 21. Dezember 2000, E., geboren in Nordirland am 20. November 2002, und J. C., geboren in Nordirland am 22. Juli 2007.

18      Nachdem sich die Beziehung zwischen den Eltern Ende 2008/Anfang 2009 verschlechtert hatte, nahm die Mutter insbesondere unter Berufung auf Aggressionen seitens des Vaters mit ihren Kindern wiederholt Zuflucht in einem Frauenhaus. Im April 2009 versöhnten sich die beiden Eltern und beschlossen, am 10. Oktober 2009 zu heiraten. Am 11. Juli 2009 stellte der Vater indessen bei der Rückkehr von einer Geschäftsreise nach Nordirland fest, dass die Mutter mit ihren Kindern erneut die Familienwohnung verlassen hatte, um in dem Frauenhaus unterzukommen.

19      Am 15. Juli 2009 setzten die Rechtsanwälte des Vaters in seinem Auftrag eine Klage zur Einleitung eines Verfahrens auf Zuerkennung eines Sorgerechts für seine drei Kinder bei dem zuständigen irischen Gericht, dem District Court, auf. Am 25. Juli 2009 flog allerdings die Mutter nach England und nahm diese drei Kinder sowie ihr anderes, älteres Kind aus einer früheren Beziehung mit. Zu diesem Zeitpunkt war die Klage der Mutter noch nicht zugestellt worden, so dass sie nach irischem Verfahrensrecht nicht ordnungsgemäß erhoben worden war und damit keine Rechtshängigkeit bei dem irischen Gericht eintrat.

 Das vom Vater in England eingeleitete Verfahren

20      Am 2. November 2009 erhob Herr McB. beim High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Vereinigtes Königreich), Klage auf Rückgabe der Kinder nach Irland gemäß den Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980 und der Verordnung Nr. 2201/2003. Mit Beschluss vom 20. November 2009 forderte dieses Gericht den Vater gemäß Art. 15 des genannten Übereinkommens auf, eine Entscheidung oder sonstige Bescheinigung der irischen Behörden vorzulegen, aus der hervorgeht, dass das Verbringen der Kinder widerrechtlich im Sinne von Art. 3 des Übereinkommens war.

 Das vom Vater in Irland eingeleitete Verfahren

21      Am 22. Dezember 2009 erhob Herr McB. Klage beim High Court (Irland), um zum einen eine Entscheidung oder sonstige Bescheinigung, aus der hervorgeht, dass das Verbringen seiner drei Kinder am 25. Juli 2009 widerrechtlich im Sinne von Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980 war, und zum anderen die Zuerkennung eines Sorgerechts zu erwirken.

22      Mit Urteil vom 28. April 2010 wies der High Court den ersten Klageantrag mit der Begründung ab, dass der Vater zum Zeitpunkt des Verbringens der Kinder kein Sorgerecht für sie gehabt habe, so dass das Verbringen nicht widerrechtlich im Sinne des Haager Übereinkommens von 1980 oder der Verordnung Nr. 2201/2003 gewesen sei.

23      Der Vater legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht ein. Dieses führt in seiner Vorlageentscheidung aus, dass der Vater am 25. Juli 2009 kein Sorgerecht für seine Kinder im Sinne der Bestimmungen des Haager Übereinkommens von 1980 gehabt habe. Es weist allerdings darauf hin, dass der Begriff „Sorgerecht“ im Hinblick auf Anträge auf Rückgabe von Kindern von einem Mitgliedstaat in einen anderen auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 nunmehr in Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 definiert werde.

24      Das vorlegende Gericht meint, dass weder die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 noch Art. 7 der Charta implizierten, dass der leibliche Vater eines Kindes, dem ein Sorgerecht für das Kind nicht durch eine gerichtliche Entscheidung zugesprochen worden sei, im Hinblick auf die Beurteilung der eventuellen Widerrechtlichkeit des Verbringens des Kindes zwingend als Inhaber eines solchen Rechts angesehen werden müsse. Es erkennt allerdings an, dass die Auslegung dieser Vorschriften des Unionsrechts in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt.

25      Daher hat der Supreme Court beschlossen, das Verfahren auszusetzen und folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist es einem Mitgliedstaat nach der Verordnung Nr. 2201/2003, sei es bei einer Auslegung im Licht von Art. 7 der Charta oder in anderer Weise, untersagt, in seinem Recht vorzusehen, dass der Vater eines Kindes, der nicht mit der Mutter verheiratet ist, nur dann, wenn er die Anordnung eines zuständigen Gerichts erwirkt hat, mit der ihm das Sorgerecht übertragen wird, das „Sorgerecht“ besitzt, aufgrund dessen ein Verbringen dieses Kindes aus dem Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts widerrechtlich im Sinne von Art. 2 Nr. 11 dieser Verordnung wird?

 Zum Eilverfahren

26      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilverfahren zu unterwerfen.

27      Zur Begründung dieses Antrags hat es ausgeführt, dass nach dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 bei widerrechtlichem Verbringen eines Kindes dessen Rückgabe unverzüglich erwirkt werden sollte.

28      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass die vorliegende Rechtssache drei Kinder im Alter von 3, 7 und 9 Jahren betrifft, die seit mehr als einem Jahr von ihrem Vater getrennt sind. Da es sich um junge Kinder, bei dem jüngsten sogar um ein Kleinkind, handelt, könnte die Verlängerung der gegenwärtigen Situation den Beziehungen zu ihrem Vater ernsthaft schaden.

29      Daher hat die Dritte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 11. August 2010 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

 Zur Vorlagefrage

 Zur Zulässigkeit

30      Die Europäische Kommission stellt die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens in Frage, und die deutsche Regierung macht geltend, es sei unzulässig. Sie tragen im Wesentlichen vor, dass der Ausgangsrechtsstreit nicht die Rückgabe der Kinder nach Art. 11 der Verordnung betreffe, sondern die der Rückgabe vorausgehende Erwirkung einer Entscheidung, mit der gemäß Art. 15 des Haager Übereinkommens von 1980 bescheinigt werde, dass das Verbringen der Kinder widerrechtlich gewesen sei. Der Rechtsstreit betreffe somit die Frage, ob das Verbringen der Kinder rechtmäßig gewesen sei, und zwar nicht im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003, sondern im Sinne der Art. 1 und 3 dieses Übereinkommens. Der Kläger des Ausgangsverfahrens habe nämlich bei den zuständigen irischen Gerichten eine Entscheidung oder sonstige Bescheinigung beantragt, aus der hervorgehe, dass das Verbringen oder Zurückhalten seiner Kinder widerrechtlich im Sinne von Art. 3 des Übereinkommens gewesen sei. Diesen Antrag habe er deshalb gestellt, weil der High Court of Justice (England & Wales), Family Division, von ihm eine solche Entscheidung oder Bescheinigung gemäß Art. 15 des Übereinkommens verlangt habe.

31      Die Verordnung Nr. 2201/2003 und insbesondere ihr Art. 11 beträfen aber nicht das in Art. 15 des Haager Übereinkommens von 1980 vorgesehene Verfahren über die Feststellung der Widerrechtlichkeit des Verbringens eines Kindes, sondern nur das über seine Rückgabe. Daher werde Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 erst nach Abschluss des Verfahrens betreffend Art. 15 des Übereinkommens relevant, wenn das Verfahren über die Rückgabe der Kinder eingeleitet worden sei, so dass die vom vorlegenden Gericht gestellte Vorlagefrage verfrüht sei.

32      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur die mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichte, in deren Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen haben (Urteil vom 30. November 2006, Brünsteiner und Autohaus Hilgert, C‑376/05 und C‑377/05, Slg. 2006, I‑11383, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof somit grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. u. a. Urteile vom 13. März 2001, PreussenElektra, C‑379/98, Slg. 2001, I‑2099, Randnr. 38, und vom 1. Oktober 2009, Gottwald, C‑103/08, Slg. 2009, I‑9117, Randnr. 16).

34      Folglich kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden, und zwar insbesondere dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Bestimmungen des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht (vgl. u. a. Urteile Gottwald, Randnr. 17, und vom 22. April 2010, Dimos Agios Nikolaos, C‑82/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 15).

35      Im vorliegenden Fall hält das vorlegende Gericht eine Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 und insbesondere ihres Art. 2 Nr. 11 für erforderlich, um über den bei ihm anhängigen Antrag auf Erlass einer Entscheidung oder Ausstellung einer Bescheinigung mit der Feststellung, dass das Verbringen oder Zurückhalten der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden Kinder widerrechtlich war, zu entscheiden. Im Übrigen ergibt sich aus dem anwendbaren nationalen Recht, nämlich Section 15 des Gesetzes von 1991 über Kindesentführung und die Vollstreckung von Entscheidungen betreffend das Sorgerecht in der Fassung der Verordnung von 2005 zur Durchführung von Gemeinschaftsrecht – Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung, dass das nationale Gericht im Fall des Verbringens eines Kindes in einen anderen Mitgliedstaat über die Rechtmäßigkeit des Verbringens nach Maßgabe von Art. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 entscheiden muss, wenn ein Kläger bei ihm gemäß Art. 15 des Haager Übereinkommens von 1980 den Erlass einer solchen Entscheidung oder die Ausstellung einer solchen Bescheinigung beantragt.

36      Außerdem geht die Verordnung Nr. 2201/2003 nach ihrem Art. 60 im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten dem Haager Übereinkommen von 1980 insoweit vor, als dieses Bereiche betrifft, die in dieser Verordnung geregelt sind. Vorbehaltlich des Vorrangs der Verordnung Nr. 2201/2003 behält das Haager Übereinkommen von 1980 nach Art. 62 Abs. 2 dieser Verordnung und entsprechend ihrem 17. Erwägungsgrund unter Beachtung des genannten Art. 60 seine Wirksamkeit zwischen den ihm angehörenden Mitgliedstaaten. Somit unterliegen Entführungen von Kindern aus einem Mitgliedstaat in einen anderen nunmehr einem Komplex von Regeln, der aus den Vorschriften des Haager Übereinkommens von 1980, ergänzt durch die der Verordnung Nr. 2201/2003, besteht, wobei Letzteren in ihrem Anwendungsbereich der Vorrang zukommt.

37      Daher erscheint die von dem vorlegenden Gericht erbetene Auslegung für die von ihm zu erlassende Entscheidung nicht unerheblich.

38      Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig zu erklären.

 Zur Beantwortung der Frage

39      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehrt, in seinem Recht den Erwerb des Sorgerechts durch den Vater eines Kindes, der nicht mit dessen Mutter verheiratet ist, davon abhängig zu machen, dass er eine Entscheidung des zuständigen nationalen Gerichts erwirkt, mit der ihm das Sorgerecht zuerkannt wird, aufgrund dessen das Verbringen des Kindes durch seine Mutter oder sein Zurückhalten widerrechtlich im Sinne von Art. 2 Nr. 11 dieser Verordnung sein kann.

40      In Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 wird das „Sorgerecht“ definiert als „die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes“.

41      Da somit der Begriff „Sorgerecht“ in der Verordnung Nr. 2201/2003 definiert wird, ist er gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten autonom. Sowohl aus dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch aus dem Gleichheitsgrundsatz folgt nämlich, dass die Begriffe einer Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 17. Juli 2008, Kozłowski, C‑66/08, Slg. 2008, I‑6041, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung umfasst das Sorgerecht daher jedenfalls das Recht des Sorgerechtsinhabers, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen.

42      Eine ganz andere Frage ist die der Bestimmung des Inhabers des Sorgerechts. Insoweit ergibt sich aus Art. 2 Nr. 11 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003, dass die Widerrechtlichkeit des Verbringens eines Kindes von einem „Sorgerecht [abhängt], das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“.

43      Daraus folgt, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 nicht festlegt, wer ein Sorgerecht innehaben muss, aufgrund dessen das Verbringen eines Kindes im Sinne ihres Art. 2 Nr. 11 widerrechtlich sein kann, sondern in Bezug auf die Bestimmung des Inhabers des entsprechenden Sorgerechts auf das Recht des Mitgliedstaats verweist, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Voraussetzungen, unter denen der leibliche Vater das Sorgerecht für sein Kind im Sinne von Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 erwirbt, werden daher im Recht dieses Mitgliedstaats festgelegt, das gegebenenfalls den Erwerb dieses Rechts von der Erwirkung einer Entscheidung des zuständigen nationalen Gerichts abhängig macht, mit der es ihm zuerkannt wird.

44      Nach alledem ist die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin gehend auszulegen, dass die für die Anwendung dieser Verordnung zu beurteilende Widerrechtlichkeit des Verbringens eines Kindes ausschließlich vom Bestehen eines vom anwendbaren nationalen Recht zuerkannten Sorgerechts abhängt, das mit dem Verbringen verletzt wurde.

45      Das vorlegende Gericht fragt allerdings, ob die Charta, und insbesondere ihr Art. 7, sich auf diese Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 auswirkt.

46      Der Kläger des Ausgangsverfahrens wendet sich dagegen, dass das Verbringen eines Kindes durch seine Mutter ohne Wissen des leiblichen Vaters nicht widerrechtlich im Sinne des Haager Übereinkommens von 1980 und der Verordnung Nr. 2201/2003 sein soll, obwohl der Vater mit seinem Kind und mit dessen Mutter – ohne mit ihr verheiratet zu sein – zusammengelebt und sich aktiv an der Erziehung des Kindes beteiligt habe.

47      Seiner Ansicht nach kann die in Randnr. 44 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 zu einer Situation führen, die weder mit seinem in Art. 7 der Charta und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) niedergelegten Recht auf Achtung des Privat‑ und Familienlebens noch mit den in Art. 24 der Charta verbürgten Rechten des Kindes vereinbar sei. Für die Zwecke der Verordnung Nr. 2201/2003 sei das „Sorgerecht“ so auszulegen, dass es von einem leiblichen Vater von Rechts wegen erworben werde, wenn er und seine Kinder in gleicher Weise wie eine auf eine Heirat gegründete Familie ein Familienleben führten. Andernfalls könne das „potenzielle“ Recht des Vaters, das es ihm ermögliche, bei dem zuständigen nationalen Gericht einen Antrag zu stellen und gegebenenfalls ein Sorgerecht zu erhalten, durch einseitig und ohne Wissen des Vaters vorgenommene Handlungen der Mutter jeder Wirkung beraubt werden. Die Wirksamkeit des Rechts, einen entsprechenden Antrag zu stellen, müsse indessen in angemessener Weise geschützt werden.

48      Das vorlegende Gericht führt aus, dass der leibliche Vater im irischen Recht kein Sorgerecht für sein Kind habe, sofern ihm dieses Recht nicht durch eine zwischen den Eltern geschlossene Vereinbarung oder eine gerichtliche Entscheidung zuerkannt worden sei, während das Sorgerecht der Mutter von Rechts wegen zustehe, ohne dass es ihr zuerkannt werden müsste.

49      Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob die Beachtung der Grundrechte des leiblichen Vaters und seiner Kinder der in Randnr. 44 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 entgegensteht.

50      Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, wobei „die Charta … und die Verträge … rechtlich gleichrangig [sind]“.

51      Zunächst gelten die Bestimmungen der Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta dehnt diese den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und „begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben“. Somit hat der Gerichtshof im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen.

52      Daraus folgt, dass die Charta im Rahmen der vorliegenden Rechtssache allein zum Zweck der Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 heranzuziehen ist, ohne dass das nationale Recht als solches zu beurteilen wäre. Es geht insbesondere um die Prüfung, ob die Bestimmungen der Charta der in Randnr. 44 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegung dieser Verordnung insbesondere angesichts der damit implizierten Verweisung auf das nationale Recht entgegenstehen.

53      Ferner geht aus Art. 52 Abs. 3 der Charta hervor, dass, soweit sie Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, diese die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Diese Vorschrift verwehrt es allerdings nicht, dass das Unionsrecht einen weiter reichenden Schutz gewährt. Nach Art. 7 der Charta hat „[j]ede Person … das Recht auf Achtung ihres Privat‑ und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation“. Der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 EMRK entspricht dem von Art. 7 der Charta, abgesehen davon, dass dort der Ausdruck „und ihrer Korrespondenz“ anstelle des Ausdrucks „sowie ihrer Kommunikation“ verwendet wird. Auf dieser Grundlage ist festzustellen, dass Art. 7 der Charta Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten entsprechen. Somit ist Art. 7 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen wie Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Februar 2008, Varec, C‑450/06, Slg. 2008, I‑581, Randnr. 48).

54      Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits eine Rechtssache geprüft, in der der Sachverhalt dem des Ausgangsverfahrens entsprach, da das Kind eines nicht verheirateten Paares von seiner Mutter, der allein die elterliche Sorge für dieses Kind zustand, in einen anderen Staat verbracht worden war. Er hat insoweit im Kern entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, mit denen die elterliche Sorge für ein Kind von Rechts wegen allein der Mutter des Kindes zuerkannt wird, nicht gegen Art. 8 EMRK – in einer Auslegung im Licht des Haager Übereinkommens von 1980 – verstoßen, sofern der Vater des Kindes, dem die elterliche Sorge nicht zusteht, darin ermächtigt wird, beim zuständigen nationalen Gericht die Änderung der Zuerkennung der elterlichen Sorge zu beantragen (Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 2. September 2003, Guichard/Frankreich, Reports of Judgments and Decisions 2003‑X; vgl. in diesem Sinne auch Entscheidung vom 14. September 1999, Balbontin/Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 39067/97).

55      Zum Zweck der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 muss daher dem leiblichen Vater eines Kindes, das von seiner Mutter in einen anderen Mitgliedstaat verbracht wird, im Hinblick auf die Bestimmung der Rechtmäßigkeit dieses Verbringens das Recht zustehen, sich – vor dem Verbringen – an das zuständige nationale Gericht zu wenden, um die Zuerkennung eines Sorgerechts für sein Kind zu beantragen, was in diesem Zusammenhang gerade den Wesensgehalt des Rechts eines leiblichen Vaters auf ein Privat- und Familienleben ausmacht.

56      Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nämlich auch entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, die dem leiblichen Vater in Ermangelung der Zustimmung der Mutter in keiner Weise die Möglichkeit gewähren, ein Sorgerecht für sein Kind zu erhalten, eine ungerechtfertigte Diskriminierung des Vaters darstellen und daher gegen Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK verstoßen (Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 3. Dezember 2009, Zaunegger/Deutschland, Beschwerde Nr. 22028/04, Nrn. 63 und 64).

57      Dagegen berührt der Umstand, dass der leibliche Vater anders als die Mutter nicht automatisch Inhaber eines Sorgerechts für sein Kind im Sinne von Art. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist, nicht den Wesensgehalt seines Rechts auf Privat‑ und Familienleben, sofern das in Randnr. 55 des vorliegenden Urteils genannte Recht gewahrt bleibt.

58      Diese Feststellung wird nicht dadurch entkräftet, dass es einem solchen Vater, wenn er nicht rechtzeitig Schritte unternimmt, um ein Sorgerecht zu erlangen, dann, wenn das Kind von seiner Mutter in einen anderen Mitgliedstaat verbracht wird, nicht möglich ist, die Rückkehr des Kindes in den Mitgliedstaat zu erwirken, in dem es vorher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Denn mit einem solchen Verbringen übt die Mutter, die das Sorgerecht für das Kind hat, rechtmäßig ihr eigenes, in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV und Art. 21 Abs. 1 AEUV niedergelegtes Recht auf Freizügigkeit und ihr Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes aus, ohne dass dem leiblichen Vater dadurch die Möglichkeit genommen würde, sein Recht auf Stellung eines Antrags auszuüben, um anschließend das Sorgerecht für dieses Kind oder ein Recht zum persönlichen Umgang mit ihm zu erwirken.

59      Die Anerkennung eines Sorgerechts des leiblichen Vaters für sein Kind gemäß Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 ungeachtet der fehlenden Zuerkennung eines solchen Rechts nach nationalem Recht stünde daher im Widerspruch zu den Erfordernissen der Rechtssicherheit und zum erforderlichen Schutz der Rechte und Freiheiten anderer im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta, hier der Mutter. Zudem bestünde bei einer solchen Lösung die Gefahr, dass gegen Art. 51 Abs. 2 der Charta verstoßen wird.

60      Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta, den das vorlegende Gericht in seiner Frage erwähnt, in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in Art. 24 Abs. 3 der Charta niedergelegten Grundrechts des Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen zu lesen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat, C‑540/03, Slg. 2006, I‑5769, Randnr. 58). Im Übrigen ergibt sich aus dem 33. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003, dass diese im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen steht, die mit der Charta anerkannt wurden, und insbesondere darauf abzielt, die Wahrung der Grundrechte des Kindes im Sinne des Art. 24 der Charta zu gewährleisten. Die Bestimmungen dieser Verordnung können daher nicht so ausgelegt werden, dass sie dem genannten Grundrecht, dessen Wahrung unbestreitbar dem Kindeswohl entspricht, zuwiderliefen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, Slg. 2009, I‑0000, Randnrn. 53 bis 55).

61      Unter diesen Umständen ist noch zu prüfen, ob Art. 24 der Charta, deren Beachtung vom Gerichtshof gewährleistet wird, der in Randnr. 44 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegung der Verordnung Nr. 2201/2003 entgegensteht.

62      Insoweit ist die vom nationalen Gericht in seiner Vorlageentscheidung erwähnte große Vielfalt der außerehelichen Beziehungen und der sich daraus ergebenen Eltern-Kind-Beziehungen zu berücksichtigen, die ihren Ausdruck in einer unterschiedlichen Anerkennung des Umfangs und der Aufteilung der elterlichen Verantwortung innerhalb der Mitgliedstaaten findet. Daher ist Art. 24 der Charta dahin gehend auszulegen, dass er es nicht verwehrt, dass für die Zwecke der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 das Sorgerecht grundsätzlich ausschließlich der Mutter zuerkannt wird und ein leiblicher Vater nur aufgrund einer Gerichtsentscheidung über ein Sorgerecht verfügt. Ein solches Erfordernis ermöglicht es nämlich dem zuständigen nationalen Gericht, eine Entscheidung über die Sorge für das Kind und die Rechte auf persönlichen Umgang mit ihm unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände wie der von dem vorlegenden Gericht genannten zu treffen, darunter insbesondere die Umstände betreffend die Geburt des Kindes, die Art der Beziehung zwischen den Eltern, die zwischen jedem Elternteil und dem Kind bestehende Beziehung sowie die Fähigkeit jedes Elternteils, die Aufgabe der Sorge zu übernehmen. Durch die Berücksichtigung dieser Umstände wird das Kindeswohl gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta geschützt.

63      Nach alledem stehen die Art. 7 und 24 der Charta der in Randnr. 44 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegung der Verordnung nicht entgegen.

64      Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, in seinem Recht den Erwerb des Sorgerechts durch den Vater eines Kindes, der nicht mit dessen Mutter verheiratet ist, davon abhängig zu machen, dass er eine Entscheidung des zuständigen nationalen Gerichts erwirkt, mit der ihm dieses Recht zuerkannt wird, aufgrund dessen das Verbringen des Kindes durch seine Mutter oder sein Zurückhalten widerrechtlich im Sinne von Art. 2 Nr. 11 dieser Verordnung sein kann.

 Kosten

65      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, in seinem Recht den Erwerb des Sorgerechts durch den Vater eines Kindes, der nicht mit dessen Mutter verheiratet ist, davon abhängig zu machen, dass er eine Entscheidung des zuständigen nationalen Gerichts erwirkt, mit der ihm dieses Recht zuerkannt wird, aufgrund dessen das Verbringen des Kindes durch seine Mutter oder sein Zurückhalten widerrechtlich im Sinne von Art. 2 Nr. 11 dieser Verordnung sein kann.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.